W&F 2017/2

Migration und Flucht als Prozess

Die individuelle und gesellschaftliche Perspektive

von Yuriy Nesterko und Heide Glaesmer

Im Jahr 2015 waren weltweit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Vertreibung, davon ca. ein Drittel über die Staatsgrenzen des jeweiligen Herkunftslandes hinweg (UNHCR 2016). Dies ist die höchste Zahl Schutzsuchender bzw. Vertriebener seit Ende des Zweiten Weltkrieges und spiegelt die Zunahme an bewaffneten Konflikten wider. Die Geflüchteten sind häufigen und wiederholten Belastungen und Traumatisierungen ausgesetzt, wobei diese nicht nur im Herkunftsland, sondern auch während und nach der Flucht erlebt werden. Sie stellen einen zentralen Risikofaktor für die psychische und physische Gesundheit dieses Personenkreises dar. Dieser Artikel erläutert den prozesshaften Charakter von Migration und Flucht aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive.

In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Konzepte zur Beschreibung von Migration entwickelt. In einigen Ansätzen wird die Migrationserfahrung als kritisches Lebensereignis oder gar als traumatisch aufgefasst. Andere Autoren gehen von einer weniger defizitorientierten Betrachtung aus und sehen Migration als Chance (Faltermeier 2001). Im Folgenden werden das Akkulturationsmodell von Berry (1997), das Migrationsphasenmodell von Sluzki (2001) sowie die Fluchtprozessmodelle von Berry (1991), Keilson (1979) und Becker (2006) vorgestellt.

Strategien der Akkulturation

Im Akkulturationsmodell von Berry werden Akkulturationsstrategien als Anpassungen an eine neue bzw. andere kulturelle Umgebung beschrieben (Berry 1997). Hier ist zwischen der Ebene der Gesellschaft und der des Individuums zu unterscheiden.

Manche Gesellschaften akzeptieren kulturelle Diversität und fördern diese, andere erwarten von Zuwanderer*innen eine Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, wieder andere grenzen Migrant*innen aus (Berry 2005). Berry beschreibt zwei Dimensionen der Orientierung: die Aufrechterhaltung der Herkunftskultur und die Hinwendung zur Aufnahmekultur. Er nimmt an, dass eine Ausprägung auf beiden Dimensionen hoch oder niedrig sein kann, was in vier Akkulturationsorientierungen resultiert (siehe Abb. 1). Dies gilt für die gesellschaftliche Ebene (Migrationspolitik, Einstellungen) wie auch für das Individuum. Wenn es das politische Ziel ist, die Migrant*innen an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen, spricht Berry (2005) von einem »Melting Pot«, und wenn sowohl die Herkunftskultur aufrechterhalten als auch eine Hinwendung zur Aufnahmegesellschaft stattfinden soll, von »Multikulturalität«. Wenn die Integration der Einwanderer*innen nicht gewollt ist, können diese entweder ihre eigene Kultur weiter leben und sich in ethnischen Gruppen zusammenschließen (Segregation) oder ihnen wird die Aufrechterhaltung der Ursprungskultur verwehrt, was zur Exklusion führt.

Mehr noch als die Orientierungen auf gesellschaftlicher Ebene werden die auf der individuellen Ebene diskutiert. Analog zu der gesellschaftlichen Ebene spricht Berry (1997) von Assimilation, wenn Individuen ihre Herkunftskultur aufgeben und sich der Mehrheitskultur zuwenden, wenn sie im Gegenteil nur die »alte« Kultur aufrechterhalten und die neue Kultur nicht annehmen, von Separation. Wenn an beiden Kulturen partizipiert wird, wird von Integration gesprochen, und wenn ein Verlust der Ursprungskultur stattfindet, aber auch kein Interesse an der Aufnahmekultur besteht, von Marginalisierung. Auf individueller Ebene ändern sich nach Berry (1990, zitiert nach Schrader 2010) durch Akkulturation Verhalten, Identität, Werte und Einstellungen und nach Trimble (2003, zitiert nach Schrader 2010) auch Affekte und religiöse Glaubenssätze. Die individuelle und die gesellschaftliche Ebene sind nicht unabhängig voneinander. Es kann nur aus allen vier Strategien gewählt werden, wenn die Gesellschaft offen und inklusiv ist und dies zulässt (Berry 2005). Weiterhin wird die Orientierung der Gesamtgesellschaft von der Orientierung einzelner Personen beeinflusst.

Ausgehend von einer Vielzahl empirischer Untersuchungen bezüglich der gesundheitlichen Auswirkungen der Akkulturationsstile wird davon ausgegangen, dass die Integrationsstrategie auf längere Sicht zur nachhaltigen Reduktion von Akkulturationsstress führt und daher mit dem größten Wohlbefinden einhergeht (Schmitz 2001; Gavranidou und Abdallah-Steinkopff 2007).

Phasen der Migration

Ähnlich wie Berry beschreibt Sluzki (2001) Migration als ein Stress verursachendes Ereignis. Er erkennt im Prozess der Migration „[… -] sowohl über kulturelle Grenzen hinweg als auch innerhalb ähnlicher Kulturräume – eine erstaunliche Regelhaftigkeit“ und spricht sogar von einer „kulturübergreifenden Validität“ seines Modells. Den Verlauf der Migration unterteilt er in fünf Phasen (Abb.2).

Bei der Beschreibung der Phasen wird der Schwerpunkt auf Konflikte, Krisen und Anpassungserfordernisse aus dem Blickwinkel der Migrant*innen und ihres familiären Systems gelegt.

In der Vorbereitungsphase werden Informationen gesammelt, die die Entscheidung auszuwandern unterstützen bzw. in Frage stellen. Die meisten Migrant*innen bewältigen diese Phase recht erfolgreich (Gavronidou und Abdallah-Steinkopff 2007).

Als nächstes folgt der eigentliche Akt der Migration, der in seiner Dauer variieren und je nach Umständen Krisen verursachen kann.

In der Überkompensierungsphase sieht der Autor die erste Anpassung an die neue Umgebung. In dieser Zeit ist der Migrant/die Migrantin darauf bedacht, das Alltagsleben effektiv zu organisieren und neigt dazu, Widersprüchen und Unstimmigkeiten aus dem Weg zu gehen, indem diese »verleugnet« und «schöngeredet« werden. Die Phase ist durch erhöhte Anspannung gekennzeichnet, die oft in die Bereitschaft und den Wunsch mündet, sich möglichst gut der neuen Situation anzupassen. Diese Herangehensweise kann allerdings nicht dauerhaft aufrechterhalten werden, da „Träume und Sehnsüchte unter dem Druck der Realität zusammenbrechen“, was zu erneuten Spannungen führen kann.

Die Phase der Dekompensation ist durch Konflikte gekennzeichnet. Es ist die Zeit, in der Widersprüche realistisch eingeschätzt werden, die Anforderungen der Aufnahmegesellschaft eventuell zu hoch sind und die gewohnten Bewältigungsmechanismen nicht greifen. Infolgedessen können psychische und körperliche Symptome auftreten. Gavranidou und Abdallah-Steinkopff (2007) sehen in dieser Phase eine Verbindung zu Berrys Akkulturationsmodell, weil ein Abwägen zwischen den kulturellen Riten, Normen und Werten des Herkunftslandes und der Kultur der Aufnahmegesellschaft stattfindet.

Beendet wird der Prozess der Migration mit der Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse und der Integration. In diesem Stadium kommt es innerhalb der Familie zu Auseinandersetzungen mit noch offenen Migrationskonflikten und noch nicht bewältigten Anpassungsleistungen. Diese Aufgaben haben gegebenenfalls Vertreter*innen der nachfolgenden Generationen zu lösen.

Die Dauer der Phasen kann sehr unterschiedlich sein, und je nach Fragestellung kann das Modell unterschiedlich angewendet werden. Man kann die Stadien als biographiebezogene Etappen des Migrationsprozesses betrachten, gleichzeitig kann man die Phasen auf ein kurzes migrationsspezifisches Ereignis projizieren. Das Modell von Sluzki ist nicht nur wegen des dynamischen Verständnisses von Migration interessant, es liefert auch Hinweise für Reifungsschritte während des Verlaufs und berücksichtigt damit den Entwicklungsaspekt einer jeden Migration.

Menschen, die aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen, organisierter Gewalt und Verfolgung ihr Heimatland verlassen, sich lebensbedrohlichen Situationen während der Flucht aussetzen und nicht selten unter schwierigen Verhältnissen in dem Aufnahmeland leben, sind nicht nur im Hinblick auf ihre psychische Verfassung, d.h. auf der Individualebene, von den »regulären« Migranten zu unterscheiden. Auf Grundlage einer Vielzahl rechtlicher Bestimmungen der Herkunfts- und Aufnahmeländer, variierender politischer Haltungen innerhalb des jeweiligen Aufnahmelandes und folglich eines sehr breiten Spektrums an unterschiedlichen Institutionen, die die Aufnahme koordinieren bzw. übernehmen, durchlaufen die meisten Geflüchteten einen von der »regulären« Migration stark abweichenden Einwanderungsprozess.

Phasen der Flucht

Berry, der mit der oben beschriebenen Akkulturationstheorie die Migrationsforschung nachhaltig prägte, hatte einige Jahre zuvor bereits ein Modell vorgelegt, welches die typischen Phasen einer Flucht beschreibt. Neben den sechs aufeinanderfolgenden Phasen postuliert Berry (1991) eine Reihe von typischen Ereignissen und Erfahrungen, die Geflüchtete und Asylsuchende während der Flucht durchlaufen.

Mit der Aufbruchsphase wird vor allem der Zeitraum beschrieben, der die größte Notlage des Geflüchteten markiert. Je nach Umständen und Möglichkeiten kann es sich um eine kürzere oder längere Phase handeln, die häufig von Kriegsgeschehen, wirtschaftlicher Not, Verfolgung, Inhaftierung, politischer Unterdrückung, direkter körperlicher Gewalt und/oder anderen existentiellen Bedrohungslagen gekennzeichnet ist. Die Länge und Schwere dieser Phase haben einen direkten Einfluss auf den späteren Akkulturationsprozess, auch weil die Entscheidung hinsichtlich eines potentiellen Aufnahmelandes, d.h. die Auseinandersetzung mit dem zukünftigen Leben im Exil, in dieser Zeit stattfindet.

Die Fluchtphase, die in ihrer Dauer ebenfalls stark variieren kann, geht meist mit weiteren traumatischen Erfahrungen, wie Ausbeutung, physischen und sexuellen Übergriffen, Verletzungen oder Tod und nicht zuletzt gefährlichen Reiserouten, einher. Eine zusätzliche Belastung in dieser Phase kann die Trennung von Familie bzw. die Abwesenheit von nahen sozialen Kontakten bedeuten.

Die erste Asylphase ist die Zeit der Unterbringung in Camps für Geflüchtete, meist nahe der Grenze zum Herkunftsland, die mit der Gefahr von Bombardierung, Inhaftierung oder Rückführung, aber auch mit häufig sehr widrigen Lebensumständen, wie mangelnder Hygiene, Wasser- und Nahrungsmangel, begrenzten bzw. nicht vorhandenen Rückzugsmöglichkeiten u.ä., einhergeht. Der überwiegende Anteil der aktuell Geflüchteten weltweit verbleibt in dieser Phase.

Ist das Zielland erreicht, folgt die Phase der Antragsstellung, womit das Warten auf die rechtliche Anerkennung beginnt. Diese Zeit, in der das Individuum auf institutioneller Ebene mit dem Fehlen von Entscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten im Hinblick auf seine Zukunft konfrontiert wird, ist oft von Unsicherheit, sozialer Isolation, unklaren Aufenthaltsbestimmungen und zum Teil drohender Abschiebung geprägt.

Nach einer Entscheidung im Asylprozess – sofern diese keine Rückführung nach sich zieht – folgt die Phase der Niederlassung. Erst hier, im anerkannten Asylstatus, sind die notwendigen Grundlagen für den Prozess der Akkulturation geschaffen. Diese Phase wird, vergleichbar mit Erfahrungen anderer Migrant*innen, durch »klassische« Migrationsbarrieren, wie z.B. Erlernen der neuen Sprache, erlebter Diskriminierung, erschwerter Arbeitssuche oder Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem, charakterisiert.

Abschließend wird im Sinne der erfolgreichen Akkulturation die Adaptionsphase postuliert, in der Integrationsbemühungen der Geflüchteten und der Aufnahmegesellschaft ineinandergreifen. Berry (1991) betont, dass nicht alle diese Phase erreichen und im Vergleich zu den »regulären« Migranten die persönlichen Ressourcen zur erfolgreichen Bewältigung aufgrund der vorangegangenen Belastungen bei Geflüchteten oft schwächer ausgeprägt sind.

Sequentielle Traumatisierung

Das Konzept der sequentiellen Traumatisierung von Keilson (1979) gewinnt in den letzten Jahren vermehrt an Aufmerksamkeit. In einer Reihe von Untersuchungen, die auf der therapeutischen Arbeit mit in den Niederlanden verfolgten jüdischen Kriegswaisen basieren, postuliert Keilson drei Sequenzen des Traumaerlebens, die sich aus den Erfahrungen dieser Jugendlichen vor, während und nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten manifestierten. Im Kern seiner theoretischen Überlegungen erweitert Keilson das klassische, auf der Individualebene stattfindende Konzept der Traumatisierung um einen größeren sozialen und politischen Rahmen, der zum Bedingungsfeld des individuell erlebten Traumas erklärt wird. Eine weitere bedeutende Erkenntnis seiner langjährigen Forschung ist die Beschreibung der kumulativen Wirkung der erlebten Belastung in der jeweiligen Phase, wobei der letzten Sequenz – der Wiedereingliederungsphase nach dem Nationalsozialismus – die stärkste kumulative Wirkung des erlebten Traumas zugeschrieben wird. Genau diese Zeit, d.h. der Neuanfang und die Rückkehr zur Normalität, wurde von den erwachsenen Befragten Jahrzehnte später als die schwierigste Zeit beschrieben (Keilson, 1979).

In Anlehnung an Keilsons Idee der gesellschaftlichen Kontextualisierung eines jeden traumatischen Erlebnisses erweiterten Becker und Weyermann (2006) auf Grundlage ihrer Arbeit mit politisch Verfolgten in Chile das Modell der sequentiellen Traumatisierung um drei weitere Sequenzen.

Die erste Sequenz nach Becker und Weyermann beschreibt den Beginn des traumatischen Prozesses, das heißt die Vorbedingungen, wie etwa Krieg oder politische Verfolgung, wirtschaftliche und soziale Not. Die zweite Sequenz ist die Phase der Eskalation der Bedingungen vor Ort, die jedoch noch keine unmittelbare Bedrohung des Einzelnen bedeutet. Die dritte Sequenz ist die Phase der akuten Verfolgung, die durch extreme existentielle Erfahrungen, wie Verhaftung, Folter, Kriegsgeschehen oder Tod, gekennzeichnet ist. Die vierte Phase, auch Chronifizierungsphase genannt, beschreibt neben der anhaltenden akuten Bedrohung die kurzen Zeiten des Wartens zwischen den unmittelbaren Verfolgungs- bzw. Bedrohungssituationen. Die fünfte Sequenz definiert die Zeit des Übergangs nach der akuten Bedrohung. Die Phase ist durch kontextuelle Umbrüche und persönliche Krisen gekennzeichnet. Je länger diese Sequenz dauert, umso traumatischer wird sie erlebt. Die sechste und letzte Sequenz ist die Zeit nach der Verfolgung, in der der traumatische Prozess weiter andauert, auch wenn die eigentliche Bedrohung nicht mehr existiert. Ähnlich der dritten Sequenz von Keilson ist es die Phase der Wiedereingliederung sowohl auf individueller als auch gesamtgesellschaftlicher Ebene.

In einer weiterführenden Arbeit übertrug Becker (2006) das Sechs-Sequenzen-Konzept auf die Situation der Geflüchteten und entwickelte ein Verlaufsmodell der potentiell traumatischen Sequenzen im Kontext von Flucht und Zwangsmigration (Abb. 3).

Die einzelnen Phasen bzw. Sequenzen sind dem Konzept von Berry (1991) sehr ähnlich und markieren die einzelnen, zum Teil von außen geschaffenen, institutionellen Stationen, die die meisten Geflüchteten durchlaufen. Eine Besonderheit des Ansatzes von Becker stellt die vierte Sequenz dar, die Chronifizierung der Vorläufigkeit. Es ist die Zeit, in der über den Asylantrag entschieden wird und Unklarheit hinsichtlich der eigenen Zukunft vorherrscht. Ein Ankommen im Aufnahmeland ist strukturell und innerpsychisch kaum möglich, der Bruch mit der Heimat setzt jedoch bereits ein. Diese Phase, in der der Einzelne eines wesentlichen Aspekts der eigenen Identität, nämlich der kulturellen bzw. ethnischen Zugehörigkeit, beraubt und als Geflüchteter seitens der Aufnahmegesellschaft stigmatisiert wird, kann unter Umständen mehrere Jahre dauern.

Psychische Belastungen

Die oben vorgestellten Modelle verdeutlichen den Prozesscharakter von Flucht und Migration aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive. Die verfügbaren Befunde zu psychischen Belastungen bei Geflüchteten in Deutschland und international weisen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung auf ein deutlich erhöhtes Risiko für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und andere psychische Störungen. Auch wenn verlässliche epidemiologische Daten fehlen, müssen wir davon ausgehen, dass mindestens 30-40 % der Geflüchteten klinisch relevante psychische Störungen aufweisen. In manchen Subgruppen mit besonders schwerwiegenden und langfristigen traumatischen Erfahrungen (z.B: Folteropfer, Kindersoldaten, Opfer sexualisierter Kriegsgewalt) dürfte die Häufigkeit psychischer Störungen deutlich höher sein (BAfF, 2015; Böttche et al. 2016).

Generell erleben Geflüchtete häufig lang andauernde, wiederholte und interpersonelle Traumatisierungen wie Krieg, Verfolgung und Folter (Johnson and Thompson 2008). Dazu kommen die Erfahrungen während der Flucht, in manchen Fällen über Wochen, Monate oder gar Jahre andauernd, welche mit weiteren traumatischen Ereignissen einhergehen können, aber auch mit Veränderungen, die sowohl kulturelle Werte als auch den sozioökonomischen Status und die sozialen Bezüge betreffen können (Assion et al. 2011).

Im Aufnahmeland erleben Geflüchtete häufig weitere Belastungssituationen, wie die Unsicherheit über den Aufenthalt und den Ausgang des Asylverfahrens. Zudem bietet das Leben in einer Erstaufnahmeeinrichtung bzw. einer Notunterkunft auf engstem Raum mit fehlenden Rückzugsmöglichkeiten und kaum vorhandenen Beschäftigungsangeboten unzureichende Bewältigungsmöglichkeiten, um angemessen mit Traumafolgen umzugehen (Steel et al. 2009). Betrachtet man Flucht als Prozess, der mit der Ankunft im Zielland nicht abgeschlossen ist, so spielen die Bedingungen und Erfahrungen im Aufnahmeland für den Verlauf psychischer Belastungen sowie für die Fähigkeiten zur Akkulturation eine wichtige Rolle. Die psychosoziale und therapeutische Betreuung kann dabei nur einen Teil leisten; bei der Verbesserung der Gegebenheiten und Regularien im Aufnahmeland (z.B. Unterbringung, Länge des Asylverfahrens, Arbeitserlaubnis) sind vor allem die Akteure auf politischer und Verwaltungsebene gefragt.

Unterscheidung zwischen Flucht und Migration

Ziel des Aufsatzes war es, theoretische Konzepte aus der Migrationsforschung heranzuziehen, um sich mit Migration und Flucht als Prozess auseinanderzusetzen und dessen Implikationen herauszuarbeiten. Zentraler Punkt ist die Betonung des Prozesscharakters der Migration bzw. der Flucht und dessen Bedeutung für die psychische Verfassung von Geflüchteten vor, während und nach der Flucht. Eine zu frühe Intervention oder eine pauschale Pathologisierung aller Geflüchteten als »Traumatisierte«, hinter der sich oft die Erwartung verbirgt, dass alle Geflüchteten psychische Probleme haben, ist in diesem Zusammenhang wenig sinnvoll.

Vor dem Hintergrund der teilweise sehr kontrovers geführten Migrations- bzw. Integrationsdebatten in den meisten Aufnahmeländern sollte die Unterscheidung zwischen »regulären« Migranten und Asylsuchenden stets mitgedacht werden. Aus der Theorie wissen wir, dass die strukturell vorgegebenen und individuell erlebten Etappen eines »klassischen« Migrationsprozesses keinesfalls mit den Phasen einer Flucht gleichzusetzen sind. Wir wissen, dass bei »regulären« Migranten der Prozess der Akkulturation mit der Ankunft im Aufnahmeland einsetzt, wohingegen Geflüchtete erst in einem anerkannten Status in der Lage sind, der politisch und medial häufig zu lautstark geforderten Forderung nach Integration nachzukommen.

An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, dass das von Berry (1997) entwickelte und definierte Konzept der erfolgreichen Akkulturation (im Sinne der Integration bzw. Multikulturalismus) eine zweiseitige Auseinandersetzung – d.h. sowohl seitens der Migrant*innen bzw. Geflüchteten als auch vonseiten der Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft – mit der neuen und unbekannten Kultur meint. Ebenfalls psychologisch bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die unter Umständen über Monate und Jahre andauernde Phase des Wartens auf die Entscheidung über den Asylantrag, die Becker (2006) als „chronifizierte Vorläufigkeit“ beschreibt. Es ist naheliegend, dass sich in dieser Zeit die kumulative Wirkung eines erlebten Traumas mit schwerwiegenden Folgen für die psychische und physische Gesundheit des Betroffenen potenziert. Daher ist von großer Bedeutung, dass die aus der Forschung gewonnen Befunde und Erkenntnisse eine stärkere Berücksichtigung in der unmittelbaren Arbeit mit Geflüchteten erfahren – sowohl auf der Ebene der Versorgung als auch in der politischen und medialen Auseinandersetzung.

Literatur

Assion, H.; Bransi, A.; Koussemou, J. (2011): Migration und Posttraumatische Belastungsstörung. In: Seidler, G.H.; Freyberger, H.J.; Maercker, A. (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 528-536.

Becker, D. (2006): Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Berlin: Edition Freitag.

Becker, D and Weyermann, B. (2006): Toolkit – Gender, Conflict Transformation and the Psychosocial Approach. Bern: Swiss Development Co-operation.

Berry, J.W. (1991): Refugee Adaption in Settlement Countries – An Overview with an Emphasis on Primary Prevention. In: Ahearn, F.L. and Athey, J.L. (eds.): Refugee children – theory, research, and services. The John Hopkins series in contemporary medicine and public health. Baltimore: John Hopkins University Press, S. 20-38.

Berry, J.W. (1997): Immigration, Acculturation, and Adaptation. Applied Psychology – An International Review, 46, S. 5-68.

Berry, J.W. (2005): Acculturation – Living successfully in two cultures (Special Issue: Conflict, negotiation, and mediation across cultures – highlights from the fourth biennial conference of the International Academy for Intercultural Research). International Journal of Intercultural Relations, 29(6), S. 697-712.

Böttche, M.; Heeke, C; Knaevelsrud, C. (2016): Sequenzielle Traumatisierungen, Traumafolgestörungen und psychotherapeutische Behandlungsansätze bei kriegstraumatisierten erwachsenen Flüchtlingen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 59, S. 621-626.

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer/BafF (2015): Frühfeststellung und Versorgung traumatisierter Flüchtlinge – Konzepte und Modelle zur Umsetzung der EU-Richtlinien für besonders schutzbedürftige Asylsuchende. Verfügbar unter baff-zentren.org.

Faltermeier, T. (2001): Migration und Gesundheit – Fragen und Konzepte aus einer salutogenetischen und gesundheitspsychologischen Perspektive. In: Marschalck, P. und Wiedl, K.H. (Hrsg.): Migration und Krankheit. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 93-113.

Gavranidou, M. und Abdallah-Steinkopff, B. (2007): Brauchen Migrantinnen und Migranten eine andere Psychotherapie? Psychotherapeutenjournal, 4, S. 353-361.

Johnson, H. and Thompson, A. (2008): The development and maintenance of post-traumatic stress dis-order (PTSD) in civilian adult survivors of war trauma and torture – A review. Clinical Psychology Review, 28, S. 36-47.

Keilson, H. (1979 [2005]). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern – Untersuchung zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1979. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Schrader, A.-C. (2010): Die Gesundheit spanischer Migranten in Deutschland – Effekte nach Migration aus interkultureller, stresspsychologischer und gesundheitspsychologischer Sicht. Dissertation; verfügbar unter https://repositorium.uni-osnabrueck.de/handle/urn:nbn:de:gbv:700-201005126250.

Schmitz, P.G. (2001). Akkulturation und Gesundheit. In: Marschalck, P. und Wiedl, K.H. (Hrsg.): Migration und Krankheit. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 123-145.

Sluzki, C.E. (2001): Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. In: Hegemann, T. und Salman, R. (Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 101-115.

Steel, Z.; Chey, T.; Silove, D.; Marnane, C.; Bryant, R.A.; van Ommerenn, M. (2009): Association of torture and other potentially traumatic events with mental health outcomes among populations exposed to mass conflict and displacement – a systematic review and meta-analysis. The Journal of the American Medical Association, 302, S. 537-549.

United Nations High Commissioner for Refugees/UNHCR (2016): Global Trends – Forced Discplacement in 2015. Geneva.

Dr. rer. med Yuriy Nesterko ist Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Med. Psychologie und Med. Soziologie, Universität Leipzig. Er forscht im Bereich Migration und Gesundheit.
PD Dr. P.H. Heide Glaesmer ist Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin und stellvertretende Abteilungsleiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Leipzig. Sie leitet die Arbeitsgruppe »Psychotraumatologie und Migrationsforschung«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/2 Flucht und Konflikt, Seite 14–18