W&F 2000/4

Naturwissenschaftliche Zugänge zur Friedensforschung

von Wolfgang Liebert

Wissenschaftlich-technische Innovation heißt auch heute noch in weiten Bereichen zuallererst militärische Neuerungsmöglichkeit. Diese führte in der Ost-West-Konfrontation zu einem schier unausweichlich empfundenen Rüstungswettlauf, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte und auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der damit verbundenen zunehmenden Auflösung der antagonistischen Rüstungspartnerschaft erscheint die Rüstungsdynamik keineswegs gebrochen. Das alte Worst-Case-Denken des Kalten Krieges lebt fort und wird lediglich aktualisiert: »Ich muss technologisch immer mindestens einen Schritt vorausdenken, um damit allen möglichen GegnerInnen einen Schritt voraus zu bleiben.« So stehen die USA und mit ihnen das NATO-Bündnis zunehmend im Rüstungswettlauf mit sich selbst.
Anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises an die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt am 9. März 2000 nahm Wolfgang Liebert vor o.g. Hintergrund zu den Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung Stellung. Der folgende Artikel gibt diese Ausführungen stark gekürzt wieder.

Durch die Erzeugung und Zurverfügungstellung modernster Gewaltmittel werden die Möglichkeiten politischer Macht irreversibel beeinflusst. Technologien, werden sie einmal beherrscht, sind nur schwerlich wieder zu verbannen, so sehr auch die Politik das Gegenteil hoffen mag. Das gefährliche Know-how geht einher mit dem Vorhandensein entsprechend ausgebildeter und sozialisierter Menschen und ExpertInnen und den zugehörigen institutionalisierten Strukturen. Das hat Rückwirkungen auf die Lebensgrundlagen der Gesellschaft selbst. Wir beobachten das in drastischer Weise im Bereich der Rüstungsdynamik und bei militärtechnisch geprägten Sicherheitsarchitekturen.

In der Friedens- und Konfliktforschung wird versucht, ein Gegengewicht gegen die Tendenzen aufzubauen. Das fällt strukturell schwer, stehen doch die finanziellen Ressourcen für die Forschung in Deutschland immer noch im Verhältnis 1:1000 im Vergleich mit dem übermächtigen Rüstungskomplex.

Aus unserer Perspektive ist wesentlich: Wir halten es für illusionär, darauf zu hoffen, dass politische Akte allein die nachhaltige Umkehr bewirken können. Im Vorfeld und begleitend müssen die technologische Dynamik und ihre Tiefenstruktur, die unser Bewusstsein prägen und mit den gesellschaftlichen Prozessen verbunden sind, genauso scharf in den Blick genommen werden. Gesellschaften stehen heute real ja gar nicht vor der Wahl, diese oder jene entwickelte Technologie zu nutzen. Mannigfache Vorprägungen sorgen für eine automatische Einführung fast jeder Technologie, die zur Verfügung gestellt werden kann. Demgegenüber ergibt sich im Bereich militärischer oder militärisch nutzbarer Technologie ein Regelungsbedarf auf Ebenen, die den Beschaffungs- oder Nutzungsentscheidungen vorgelagert sind; es besteht eine frühzeitige Gestaltungsnotwendigkeit im Vorfeld fertiger, nutzbarer Artefakte.

Carl Friedrich von Weizsäcker und seine Mitarbeiter haben vor gut 30 Jahren mit der Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« darauf hingewiesen, dass „solange Machtpolitik getrennter Mächte und technischer Fortschritt zusammenwirken“ kaum ein Stillstand der Rüstung organisierbar ist. Dabei spielte die „Undurchschaubarkeit der technischen Weiterentwicklung“ eine wichtige Rolle und führte zu der Mahnung, nicht auf die Kriegsverhinderung durch Abschreckung zu vertrauen. Wir versuchen heute weiterzugehen mit unserem Anspruch, eine spezifische Ergänzung der bislang eher politik- und sozialwissenschaftlich geprägten Friedens- und Konfliktforschung zu leisten. Wir möchten mehr Durchschaubarkeit in der technologischen Dynamik erzeugen, mit dem Ziel, nicht lediglich technische Stabilisierungen des Status quo zu erreichen, sondern ein Zurückdrehen der Rüstungsspirale zu bewirken. Eine grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung ist nötig, um eine Präventionsstrategie zu entfalten, die nicht nur von Fall zu Fall reagiert, sondern auch umfassendere Lösungskonzepte anstrebt.

Aufgabe der Friedens- und Konfliktforschung (FuK-Forschung) insgesamt sollte es sein, gestörte, konfliktträchtige soziale Verhältnisse, seien sie innergesellschaftlich, zwischenstaatlich, global oder auch im Wechselverhältnis zur Natur anzusiedeln, zu analysieren mit dem Ziel, gerechte und Frieden stiftende Lösungen aufzufinden. Dabei sind vielfältige Aspekte zu berücksichtigen: politische und soziale Strukturen, Macht- und Hierarchieverhältnisse, sozialpsychologische Dynamiken, Gewaltpotenziale, wissenschaftlich-technische Triebkräfte und Sachverhalte, Interessenskonstellationen und anderes mehr.

FuK-Forschung muss zunehmend eine Frühwarnfunktion in Hinblick auf innergesellschaftliche, regionale oder globale Konfliktkonstellationen übernehmen. Formen der nicht-militärischen und gewaltfreien Konfliktaustragung müssen im Vordergrund stehen, da hier immer noch das unübersehbar große Defizit für zwischenstaatliches, gesamtgesellschaftliches und individuelles Handeln besteht.

FuK-Forschung muss sich der Praxis einer prospektiven und konstruktiven Friedenspolitik verpflichtet fühlen. Was für die Forschung insgesamt gilt, wird in der FuK-Forschung besonders deutlich: Die Subjektivität wissenschaftlicher Tätigkeit muss ernst genommen werden und sollte offengelegt werden. Ein normativer Orientierungsrahmen ist in der FuK-Forschung unvermeidbar und sogar notwendig.

Die Kompetenz der Forschenden darf sich dabei nicht nur im Beschreiben und Analysieren des Ist-Zustandes erweisen, sondern ebenso in einer Zukunftsorientierung, die Visionen des Soll-Zustandes klärt und gangbare Wege in diese Richtung aufzeigt. Das Bedienen der politischen Apparate mit sachdienlichen Fachinformationen allein steht im Widerspruch zu den vornehmsten Aufgaben einer nach vorne gerichteten FuK-Forschung, die von der Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Zustände ausgehen muss, um schließlich Wege in vernünftig sondiertes Neuland zu ermöglichen.

Natürlich ist es für die Friedensforschung erforderlich, eine Nähe zur Politik anzustreben, allerdings nicht im Sinne der Unterstützung für eine »Realpolitik«, die den Pragmatismus des Gewordenen pflegt oder unter Preisgabe von Idealen nur dem Erfolg Versprechenden nachläuft.

Die Aufgabe heutiger Friedensforschung sehe ich als eine transzendental-pragmatische: Mögliche Bedingungen für das Ziel des Friedens müssen gründlich analysiert werden und gangbare Wege dorthin aufgezeigt werden. Das alte Diktum, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg, muss in Zeiten ökologischer Krisen und angesichts der offensichtlichen Ungerechtigkeiten in der Welt sehr ernst genommen werden.

Ansätze der Forschung

Aus diesen Überlegungen ergeben sich aus unserer Sicht Notwendigkeiten für die Forschung.

Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung

Wir sehen Friedens- und Konfliktforschung als Teil einer transdisziplinär angelegten Nachhaltigkeitsforschung. Es geht darum, spezifische Hindernisse auf dem Weg in eine nachhaltigere und zukunftsfähige Entwicklung aus dem Wege zu räumen. Zukunftsfähige Entwicklung ist ein offener gesellschaftlicher Suchprozess. Im Bereich der FuK-Forschung geht es in aller Regel um ein vielfältiges Geflecht disziplinenübergreifender Fragestellungen politischer, gesellschaftswissenschaftlicher, sozialpsychologischer, zeitgeschichtlicher, pädagogischer, sozio-ökonomischer, völkerrechtlicher, naturwissenschaftlicher, technischer, ethischer Provenienz, um einige wesentliche Aspekte zu benennen. FuK-Forschung ist somit keineswegs mit einer etablierten politikwissenschaftlichen Teildisziplin, den »Internationalen Beziehungen«, zu identifizieren.

Wir verfolgen einen problem- und lösungsorientierten Ansatz in unserer Arbeit. Dabei ist weit über traditionelle disziplinäre Zugänge hinauszugehen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit wird dann Sinn stiftend, wenn bereits bei der Wahrnehmung und Definition anzugehender Problemlagen disziplinenübergreifend gearbeitet wird und ein ständiger Bezug darauf im Forschungsprozess ersichtlich wird. Wir nehmen das neue Wort der Transdisziplinarität auf, um deutlich zu machen, dass es nicht nur um die Integration von Problembewusstsein, relevanten disziplinären Perspektiven, gesellschaftlichen Bezügen und Lösungsorientierung in einer neuen Ausrichtung der Forschung geht, sondern auch um einen bewussten Reflexionsprozess, der auf die Themenstellungen und Bearbeitungsmodalitäten zurückwirkt. Dazu gehört die Verantwortung der Wissenschaft, eine kritische Haltung und Offenheit für eine Veränderung traditioneller Formen von Forschung und Lehre, die Generierung von Querschnittsthemenfeldern, die beständiger zu bearbeiten sind und nicht in additiv multidisziplinärer oder begrenzter interdisziplinärer Projektarbeit abbildbar sind. Beständigere Brücken über die traditionellen Disziplinengrenzen hinweg sollen geschlagen werden, die die vielfältigen relevanten Wechselbeziehungen in den Blick nehmen. Offensichtliche Problemstellungen müssen einerseits verstanden und tiefgehend analysiert werden, aber gleichzeitig sollen praktische Handlungsmöglichkeiten befördert werden.

Naturwissenschaftliche Schwerpunkte

Friedensforschung – wie in anderem Zusammenhang auch Technikforschung – steht in der Gefahr, neben einer Analyse allgemeinerer und gesellschaftswissenschaftlich definierter Zusammenhänge den notwendigen Bezug zur naturwissenschaftlich-technischen Basis der Sachthemen unterzubelichten. In vielen Fällen hat sich auch gezeigt, dass die naturwissenschaftliche Rüstungsforschung geradezu der Motor für militärtechnische Modernisierungsschübe und entsprechende militärstrategische Konzeptionen wurde – und nicht so sehr politische oder militärstrategische Vorgaben. Es zeichnet sich sogar ab, dass die Forschungs- und Technologieentwicklung insgesamt, auch die augenscheinlich zivile, zunehmend wichtig wird für militärische Innovationen. Die aktuelle Gefahr besteht, dass Schritte zur Abrüstung weiter mit einer qualitativen Aufrüstung einhergehen. Die neuen oder qualitativ verbesserten Waffensysteme, die in den nächsten Jahrzehnten eingesetzt werden sollen, werden bereits jetzt in den Forschungslabors vorbereitet.

Neuartige internationale Konfliktsituationen sind absehbar, die an die Verletzung einer Nachhaltigkeitsorientierung mit regionaler und globaler Wirkung gekoppelt sind. Es wächst die Gefahr, dass Umwelt- und Ressourcenkonflikte militärisch ausgetragen werden oder zumindest als Begründungsmuster militärischer Interessen herangezogen werden. Dies in ihren Ursachen und Folgen zu verstehen, sie zu entschärfen oder ohne Einsatz von Gewalt überstehen zu können ist für die Zukunft von lebenswichtiger Bedeutung. Auch hier ist die Verschränkung von sozialen und technikbedingten Faktoren der Konflikt- und Lösungskonstellation zu analysieren.

Eine unabhängige Forschung, die sich entsprechender Themenstellungen annimmt, ist in einigen wenigen Ländern bereits fest verankert, insbesondere in den USA und in skandinavischen Ländern. In Deutschland konnte sich ähnliches bislang kaum dauerhaft etablieren. Vielversprechende Ansätze in unserem Land werden nun vom Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit e.V. (FONAS) vertreten und der interessierten Öffentlichkeit bekannt gemacht.

Abrüstung und präventive Rüstungskontrolle

Nach wie vor gibt es internationale Konflikte um die Abrüstung und Nichtverbreitung bzw. die Beibehaltung und Weiterentwicklung von Massenvernichtungswaffen. Eine Fülle von Detailfragen ist zu bearbeiten, verbunden mit konzeptionellen Überlegungen. Der Bann der Biowaffen muss wasserdichter gemacht werden durch die Entwicklung und Implementierung angemessener Verifikationsmethoden. Das bislang erst teilweise erreichte internationale Verbot von Massenvernichtungswaffen muss umfassend durchgesetzt werden. Daher hat IANUS die Aushandlung einer Nuklearwaffenkonvention vorgeschlagen und an der Erarbeitung eines Entwurfes mitgewirkt, der nun in der UN zirkuliert. Es ist zu klären, wie Waffenstoffe unschädlich gemacht oder beseitigt werden können. Wie beschäftigen uns mit der besonders virulenten Frage nach dem Umgang mit den vorliegenden riesigen Plutoniummengen im militärischen wie im zivilen Bereich. Die Kontrolle und Begrenzung der Weiterentwicklung von Trägersystemen und Raketen sind bislang nur unzureichend entwickelt. Hierzu werden ebenfalls Vorschläge entwickelt.

In der Anfangsphase der bundesdeutschen Friedensforschung konnte Ekkehard Krippendorf 1968 noch formulieren, „dass Abrüstungsforschung strictu sensu ein totes Gleis von Friedensforschung“ darstelle. Heute kommen entscheidende Impulse zur Wiederbelebung der Abrüstungsforschung und Neudefinition der Rüstungskontrolle aus unseren naturwissenschaftlichen und interdisziplinären Kreisen. Wir versuchen, präventive Rüstungskontrolle als Antwort auf die alte, klassische Rüstungskontrolle aus der Zeit des Kalten Krieges zu konzeptionieren, die tatsächlich eher ein Konzept der Rüstungsbegrenzung durch kontrollierte Aufrüstung war. Wir wehren uns gegen die Umfunktionalisierung von scheibchenweiser Abrüstung und Rüstungskontrolle zum Instrument um den Status quo zu erhalten. Natürlich muss die positive Seite der klassischen Rüstungskontrolle erhalten bleiben: die Schaffung von Krisenstabilität zwischen atomar noch immer hochgerüsteten Staaten und ihren Bündnissystemen. Aber die Technologiedynamik muss an der Wurzel angegangen werden. Insbesondere muss endlich die qualitative militärische Fortentwicklung in den Griff bekommen werden, denn zunehmend überholt die technologische Fortentwicklung die Durchgriffskraft politischer Regelungen. Technologisch determinierte Rüstungswettläufe können nur unterbunden werden, wenn eine vorausschauende Analyse erfolgen kann und Eingriffsmöglichkeiten frühzeitig diskutiert werden.

Die strukturelle Frage ergibt sich, ob nicht Rüstungskontrolle, Abrüstung, Nichtweiterverbreitung sowie Kriegs- und Krisenprävention miteinander verkoppelt werden müssen. Präventive Rüstungskontrolle soll als Schritt in diese Richtung entwickelt werden.

Ambivalenz und Dual-use

Im Kontext der Rüstungskontrolle ist zu berücksichtigen, dass sich Tendenzen des bewussten Dual-use in der Forschungs- und Technologieförderung verstärken. War es früher in der bundesdeutschen Forschungspolitik der Versuch, verdeckt und intransparent – bei vergleichsweise kleineren Rüstungsforschungsetats – militärisch relevante Projekte über Umwegfinanzierungen und unter Nutzung einer breiter angelegten Grundlagenforschung zu stärken, so gibt es heute in der westlichen Hemisphäre weit verbreitete Bemühungen, mit dem Argument der Kostenersparnis eine frühzeitige Parallelität von zivilen und militärischen Entwicklungslinien und Techniknutzungskonzepten zu erzeugen. Damit werden neue, zivil-militärisch ambivalente Grauzonen im Forschungs- und Technologiebereich erzeugt, die genauer analysiert werden müssen und offenbar rüstungskontrollpolitische Bemühungen weiter erschweren.

Die Problematik wird dadurch verschärft, dass sich längst auch andere Länder die Dual-use-Strategie zu nutzen machen, die, unterstützt durch den weltweiten zivilen Technologie- und Wissenstransfer und in nachholender Eigenentwicklung, ebenso militärische Interessen verfolgen. Dies ist besonders bedrohlich, wenn damit die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen ermöglicht wird. Die Erforschung und Entwicklung einer Reihe gentechnisch herzustellender Impfstoffe ist nur schwerlich von der Erforschung und Entwicklung von Kampfmitteln zu trennen. Bei der gegenwärtigen Nutzung der Kernenergie werden Forschungsanlagen und Technologien genutzt und es werden Materialien erzeugt oder verwendet, die für die Herstellung von Kernwaffen oder ihre qualitative Fortentwicklung höchste Bedeutung haben.

Eine Analyse der Ambivalenz muss konkret anhand von relevanten Forschungs- und Technologiefeldern durchgeführt werden. Das Ziel ist die Auffindung von inner- und außerwissenschaftlichen Bifurkationspunkten, damit Handlungsmöglichkeiten vorgeschlagen werden können.

Die zivil-militärische Ambivalenz naturwissenschaftlich-technischer Forschung und Entwicklung lässt sich aber nicht von dem umfassendem Problem des ambivalenten Fortschritts von Naturwissenschaft und Technik insgesamt abtrennen. Die Ambivalenz ist auch in Hinblick auf andere Widersprüche – beispielsweise zwischen ökonomischer Effizienz und Interessenlage und ökologischen Interessen und Risiken – zu problematisieren, denn sicher wird es Fälle geben, in denen man auf die Förderung ambivalenter Forschungsgebiete nicht verzichten möchte, da starke zivile Interessen berührt sind. Dann kommt es darauf an zu prüfen, inwieweit solche zivile Entwicklungen und Anwendungen tatsächlich wünschenswert sind, zielorientiert verfolgt werden können, für unsere zukünftige Gesellschaft unverzichtbar sind und wie sie gegebenenfalls speziell zu fördern sind.

Prospektive Technikfolgenabschätzung

So tritt die Forderung nach Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit im Bereich von Forschung und Technik hinzu. Diskurse der Technikfolgenabschätzung greifen auch hier bislang zumeist zu spät, da sie noch all zu oft nachsorgend angelegt sind. Wir plädieren daher für einen problemorientierten und vorausschauenden Ansatz, der technikfixierte Verkürzungen zu vermeiden sucht. Dabei spielen drei von Wolfgang Bender formulierte Leitkriterien eine wesentliche Rolle: Erhaltung, Entfaltung und Gestaltung. Erhaltung der Menschheit und der Lebenswelt, die nach vorne gerichtete Entfaltung der mit-natürlichen menschlich-gesellschaftlichen Möglichkeiten sowie die Gestaltung der Forschungs- und Technologieentwicklung. Die Langfristfolgen wissenschaftlicher Tätigkeit müssen endlich angemessen in den Blick genommen werden. Für uns erscheint es nur konsequent, sich ausgehend von dem Bereich der Massenvernichtungswaffen mit einer verantwortbaren Energieversorgung der Zukunft unter einer gezielten Analyse nuklearer Technologien zu beschäftigen oder sich grundlegenden Problemstellungen im Bereich der modernen Biotechnologien oder der Weltraumnutzung zuzuwenden.

Wir hoffen auf konsensuale Beschreibbarkeit der jeweils wesentlichen Betrachtungsebenen. Wir wissen um die dann zu erwartenden Differenzen bei der Bewertung wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten. Schließlich streben wir eine gesellschaftliche Gestaltung des Fortschritts in Wissenschaft und Technik an, die ohne die Mitwirkung der Beteiligten auf der Innenseite der wissenschaftlichen Entwicklung nicht gelingen kann. Ebensowenig kann auf eine ausreichende Transparenz nach außen verzichtet werden, die eine ernst zu nehmende Mitwirkung der politischen EntscheidungsträgerInnen und der interessierten Öffentlichkeit überhaupt erst ermöglicht. Die Alternativenstruktur der Wissenschaft, die es uns erlaubt, diesen oder jenen Pfad der Forschung und Entwicklung einzuschlagen, kann genutzt werden, um gesellschaftlich akzeptable und akzeptierte Forschungsaufgaben anzupacken – mit entsprechenden Konsequenzen für die Forschungsförderung.

Es gilt, Zukunftsfähigkeit zu gewinnen, gerade auch im Bereich von Forschung und Technik. Voraussetzung dafür ist die Bewusstmachung und Klärung der Werte und Ziele auf diesem Weg.

Arbeit in der Hochschule

Viele der hier angesprochenen Arbeitsgebiete beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Konflikten, die durch moderne Technologien mitverursacht sind oder durch diese qualitativ verändert wurden. Bei der Suche nach kooperativen Lösungen geht es um empirische und theoretische Klärung von Konfliktursachen, Konfliktkonstellation und Konfliktdynamik. Es geht um die Bearbeitung von Kooperationshindernissen und die Auffindung von Möglichkeiten ihrer Überwindung. Dies kann nur gelingen bei Berücksichtigung bzw. Einbeziehung aller KonfliktpartnerInnen. Ein normativer Anspruch wird mit dem Bezug auf Sicherheit und Nachhaltigkeit erhoben.

Die Hochschule ist unserer Ansicht nach ein richtiger – vielleicht sogar der beste – Platz, um solche Forschung fruchtbringend durchführen zu können. Dies garantiert notwendige Freiräume und ein hohes Maß an Unabhängigkeit, die Voraussetzung sind für eine glaubwürdige Beratung von Politik und Öffentlichkeit. Der interdisziplinäre Ansatz kann und muss hier besonders befördert werden. Die Kombination von Forschung und Lehre anhand unserer praxisrelevanten Themen ist wichtig für die Befruchtung des akademischen Prozesses. Insbesondere kann dies über die Lehre zu Veränderungsprozessen führen, die Auswirkungen auf die Verhaltensweisen zukünftiger Generationen von WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen haben. Das frühzeitige Bedenken der Konsequenzen unseres wissenschaftlichen Tuns für die Zukunft braucht seinen Platz innerhalb der Universität. Aber wir lernen auch selbst, von den Studierenden, im Dialog untereinander, in unseren Suchprozessen in Forschungs- und Lehrprojekten.

Eine Erweiterung des wissenschaftlichen Arbeitens aus den Disziplinen heraus bei Überwindung ihrer beschränkten Fähigkeit zur Wahrnehmung und Behandlung komplexerer Probleme ist die eine Seite unseres Ansatzes. Unseren Suchprozess in die Friedensforschung und Technikforschung hinein habe ich beschrieben. Umgekehrt sind wir davon überzeugt, dass Elemente der Friedensforschung und -lehre zum Selbstverständnis einer heute verantwortbar betriebenen Naturwissenschaft gehören sollten. Daher ist es wichtig, dass friedenswissenschaftliches Engagement nicht nur in spezielle außeruniversitäre oder universitätsnahe Institute ausgegliedert wird, sondern seinen Platz in der Hochschule hat.

Es gilt, den Gedanken der lebensweltlich und problemorientierten Interdisziplinarität in die Disziplinen einfließen zu lassen. Die Erkenntnis der Janusköpfigkeit der Wissenschaft, der verschiedenen Möglichkeiten ihres Gebrauchs, gehört in die Disziplinen selbst, dies betrifft insbesondere die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer. Natürlich erweisen sich hier etablierte Strukturen als höchst widerständig. Im Grunde befinden wir uns mitten in der virulenten Diskussion um Sinn, Zweck, Aufgabe und Selbstverständnis der Universität. Wir sind zu einem interdisziplinären Dauerexperiment geworden und zu einem kleinen Kristallisationspunkt des Nachdenkens über Wissenschaft und Hochschule, ihre Rollen in der Gesellschaft, der tätigen Wahrnehmung von Verantwortung, der Bemühung um eine engagierte Wissenschaft sowie einer Selbstverständigung darüber innerhalb einer heterogenen Allianz Gleichgesinnter.

Wir sind uns dessen bewusst, dass wir trotz unserer breit angelegten Bemühungen nur einen Ausschnitt aus dem Ganzen, dem Problemfeld Gewinnung des Friedens, bearbeiten können. Auch wenn unser Engagement nicht auf das rein Akademische begrenzt ist und wir im Schnittfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit arbeiten, so wissen wir, dass es einer Fülle darüber hinausgehender, vornehmlich praktischer Friedensaktivitäten bedarf.

Dr. Wolfgang Liebert ist Wissenschaftlicher Koordinator von IANUS an der TU Darmstadt und Mitbegründer des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/4 Frieden als Beruf, Seite