Offener Himmel über Bosnien
Politische Perspektiven und technische Optionen
von Hartwig Spitzer
Die Idee des offenen Himmels ist einfach und zukunftsweisend zugleich. Jedes beteiligte Land öffnet seinen gesamten Luftraum für Bildüberflüge der anderen Seite und zeigt damit, daß es nichts zu verbergen hat. Die Flüge werden kooperativ durchgeführt. Kopien der aufgenommenen Luftbilder stehen allen beteiligten Staaten zur Verfügung. All das trägt dazu bei, daß Vertrauen durch Offenheit und Transparenz auf Regierungsebene gestärkt wird – im Gegensatz zur Praxis beim Umgang mit den Bildern militärischer Aufklärungssatelliten.
Ungarn und Rumänien haben sich bereits 1991 auf ein gegenseitiges Open-Skies-Abkommen verständigt. Seit 1992 werden jährlich je drei bis vier gegenseitige Überflüge von militärischen und anderen Einrichtungen durchgeführt. Die Militärs beider Länder schauen sich also auch nach der Wende gegenseitig in die Karten: Die Flüge haben wesentlich dazu beigetragen, daß die politischen Spannungen beider Länder niemals bis auf die militärische Ebene eskalierten, sondern eher abgebaut wurden.
Parallel dazu ist von 1990 bis 1992 ein multilateraler Open-Skies-Vertrag ausgehandelt worden. Dem Vertrag sind inzwischen 27 Staaten beigetreten, darunter alle 16 NATO-Staaten (nach dem Stand von 1992), sowie Rußland, Weißrußland, die Ukraine, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Georgien und Kirgistan. Bemerkenswert ist dabei, daß praktisch das ganze Gebiet der Teilnehmerstaaten von Vancouver bis Wladiwostok für Beobachtungsflüge offen ist. Anfangs kommen fotografische und Videokameras mit einer Bodenauflösung von 30 cm zum Einsatz, später auch Wärmebildkameras und Radarbildsysteme. Damit läßt sich unverdecktes, großes militärisches Gebiet dem Typ nach ohne weiteres erkennen.
Der Vertrag ist allerdings noch nicht in Kraft, weil die Ratifizierung durch die Parlamente in Moskau, Kiew und Minsk noch aussteht. Trotzdem wurden bereits zahlreiche bilaterale Versuchsflüge durchgeführt. Deutschland hat als einziges westliches Land 1995 einen Beobachtungsflug über Sibirien mit einer Gesamtlänge von 6 500 km durchgeführt.
Open-Skies für Bosnien
Einer der Väter der beiden Open-Skies-Verträge ist der ungarische Botschafter Marton Krasznai. Krasznai wurde 1996 zum persönlichen Beauftragten des Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für die Umsetzung von Teilbereichen des Dayton-Abkommens in Bosnien ernannt. Das Dayton-Abkommen verpflichtet die drei bosnischen »Parteien« zu einer Bekanntgabe und Begrenzung der Bestände ihrer konventionellen Waffensysteme. Die OSZE hat seit 1996 zahlreiche Vor-Ort-Inspektionen organisiert, bei denen Militärvertreter der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten die deklarierten Militärstandorte der jeweils anderen Seiten inspizieren. Mitarbeiter der OSZE müssen dabei die Vertreter der drei Parteien durch das geteilte Land eskortieren. Denn ein bosnisch-serbischer Offizier wagt es heute (trotz der vereinbarten Bewegungsfreiheit) immer noch nicht, im eigenen Wagen in die nichtserbischen Landesteile zu fahren.
Das Dayton-Abkommen sieht zusätzlich weitere vertrauensbildende Maßnahmen auf freiwilliger Basis vor. Botschafter Krasznai brachte nun die Idee eines offenen Himmels über Bosnien ins Spiel. Mit diplomatischem Geschick wurde ein schrittweises Vorgehen inszeniert. Zunächst wurden im Oktober 1996 Militärvertreter der drei bosnischen Parteien, aber auch aus Zagreb und Belgrad zu einem amerikanisch-ungarischen Open-Skies-Übungsflug über Ungarn eingeladen. Ich hatte Gelegenheit, an diesem Flug teilzunehmen. Das viertägige Programm bot viele gute Gelegenheiten für praktische Erfahrungen und informelle Kontakte zwischen den verschiedenen Parteien.
Als nächstes hat die OSZE im Februar dieses Jahres ein zweitägiges Seminar in Sarajevo durchgeführt. Thema waren regionale vertrauensbildende Maßnahmen und die Praxis des offenen Himmels. Die politischen und militärischen Führungen der drei bosnischen Parteien sowie die Regierungen in Belgrad und Zagreb waren durch hochrangige Delegationen vertreten. Die Idee des offenen Himmels begann Fuß zu fassen. Die Parteien sehen dabei natürlich zunächst ihre eigenen Interessen. Denn der Luftraum über Bosnien ist für militärische Flüge und damit auch für Bildflüge der drei Parteien weiterhin gesperrt.
Der erste Vorführflug
Im März haben sich dann Ungarn und Rumänien darauf verständigt, einen gemeinsamen Open-Skies-Vorführflug über Bosnien anzubieten. Das Angebot ging formal an die Regierung der Republik von Bosnien und Herzegowina. Aber erst nach komplizierten Verhandlungen mit den Militärführungen der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten konnte eine Einigung erzielt werden. Die SFOR, die den Luftraum über Bosnien kontrolliert, gab ebenfalls ihre Einwilligung und Unterstützung.
Im Juni war es dann so weit. Das ungarische Open-Skies-Flugzeug landete bei bestem Sommerwetter in Sarajevo. Das Flugteam wurde von einer stattlichen Zahl internationaler Beobachter, Pressevertreter und Militärs aus den drei bosnischen Kantonen empfangen.
Der Einflug nach Sarajevo hat immer noch etwas Atemberaubendes. Südlich des Flughafens ragen hohe Berge in den Himmel. Vor zwei Jahren schossen von dort noch die Geschütze. Auf der anderen Seite des Flughafens liegt das total zerschossene Olympia-Dorf fast leblos da. Der Flughafen gleicht mit Stacheldrahtverhauen und Behelfsbauten eher einem Militärlager. Irgendwo auf der Ankunftsbaracke weht eine Trikolore, und ein handbemaltes Schild zeigt eine »Rue des Champs Elysées« an. Im babylonischen Sprachengewirr der an- und abreisenden SFOR-Truppen sorgen französische Militärpolizisten für Ordnung.
Die internationalen Beobachter wurden teils im serbischen Kanton, teils im kroatischen Kanton untergebracht. Ich fuhr mit nach Kiseljak im bosnisch-kroatischen Teil, eine Autostunde von Sarajevo entfernt. In dem üppig grünen Tal und seinen ansehnlichen Ortschaften konnte man kaum Kriegsspuren entdecken. Erst als ich mich in Kiseljak genauer umsah, entdeckte ich eine zerstörte Moschee und eine abgesperrte orthodoxe Kirche. Vor dem Krieg machten die Kroaten hier 52 Prozent der Bevölkerung aus. Heute sind es 95 Prozent.
Im Hotel war für uns eine martialische Bewachung aufgezogen. Auf jeder Etage standen Tag und Nacht zwei Soldaten der bosnisch-kroatischen Armee (HVO). Das war offensichtlich als Machtdemonstration gedacht. Denn aus Sicherheitsgründen wäre es nicht nötig gewesen. Die bosnisch-kroatische Armee ist zwar die kleinste im ganzen Land, sie scheint aber am besten ausgerüstet zu sein und am besten bezahlt zu werden. Ein Sergeant erzählte mir, daß er 1200 Mark im Monat verdiene, weit mehr als die ungarischen und rumänischen Offiziere im Open-Skies-Team. Die muslimischen und serbischen Landesteile und ihre Armeen haben dagegen massive Finanzierungsprobleme.
An den beiden folgenden Tagen wurde dann je ein Bildflug durchgeführt. An Bord waren Vertreter der bosnischen Parteien und internationale Beobachter. Die SFOR hatte aus Sicherheitsgründen eine Flughöhe von 5000 Metern vorgeschrieben. Der Flug führte über Mostar und Tuzla auf einer Gesamtlänge von 800 Kilometern. Die vereinbarten Fotoziele waren vier Militärstandorte im muslimischen Kanton, drei im serbischen und zwei im kroatischen. Durch eine Mehrfach-Aufnahmetechnik konnten mehrere Bilder derselben Objekte aufgenommen werden. Am Ende erhielten der Staat Bosnien-Herzegowina und die Militärführungen der drei Parteien je einen Bildsatz. Das heißt, jeder weiß, was der andere sieht. Abschließend fand ein Empfang im Dom Armija statt, einem Offiziersclub mit üppigen Fresken, die noch aus der Zeit der österreichischen Herrschaft stammen. Dabei war zu spüren, wie sich die Atmosphäre – trotz tiefer Gegensätze in anderen Fragen – gelockert hatte.
Weitere Flüge
In den folgenden Monaten fanden zwei Open-Skies-Flüge über Bosnien statt. Deutschland hatte schon früh Interesse gezeigt. Nach dem Erfolg des ungarisch-rumänischen Fluges wurde ein Flugtermin für Ende August vereinbart. Der Flug führte von Split auf einer Zick-Zack-Route praktisch über jeden Landesteil von Bosnien-Herzegowina. Es wurden insgesamt 120 Orte fotografiert – davon die Hälfte mit ausschließlich zivilen Anlagen. Die Zielgebiete waren von den Konfliktparteien selbst vorgeschlagen und abgestimmt worden. Jede der Parteien erhielt einen kompletten Satz von Bildkopien. Deutschland behielt die Originale.
Mit dem deutschen Flug ist eine neue Qualität erreicht worden. Die Bilder haben nicht nur symbolischen Charakter, sondern – dank guter Qualität (Bodenauflösung ca. 30 cm) und großer Zahl der Zielgebiete – operationellen Nutzen für die beteiligten bosnischen Parteien. Die Bilder der zivilen Anlagen sollten auch dem zivilen Wiederaufbau und der Regionalplanung zugute kommen.
Der jüngste Flug über Bosnien wurde am 5. und 6. November 1997 gemeinsam von den USA und Rußland mit einer russischen Maschine vom Typ Antonov-30 durchgeführt. Dieser Flug unterstrich auch die Kooperationsbereitschaft der beiden Mächte bei der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Bosnien.
Ratifzierungsaussichten
Die Aussichten für eine baldige Ratifizierung des multilateralen Open-Skies-Vertrages durch die russische Duma sind inzwischen deutlich gestiegen. Auch kommunistische und nationalistische Duma-Abgeordnete haben begriffen, daß die Aufklärungmöglichkeiten durch Open-Skies-Flüge angesichts der NATO-Osterweiterung im ureigensten russischen Interesse liegen. Bereits im Sommer dieses Jahres konnten Duma-Abgeordnete an einem russischen Open-Skies-Probeflug in den USA teilnehmen und den kooperativen Charakter des Vertrages persönlich kennenlernen. Im September dieses Jahres wurde das Ratifizierungsverfahren in einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses der Duma begonnen. Nach der Ratifizierung des Chemiewaffenabkommens durch beide Häuser des russischen Parlamentes, die Ende Oktober erfolgte, wird nun bis zum Jahresende mit einer Ratifizierung des Open-Skies-Vertrages durch die Duma gerechnet. Dem dürften sich dann die Parlamente in Kiew und Minsk relativ bald anschließen, so daß der Vertrag im Jahre 1998 endlich in Kraft treten kann.
Ein tragischer Absturz
In diese insgesamt positive Entwicklung platzte eine Schreckensnachricht. Das deutsche Open-Skies-Flugzeug kollidierte am 13. September 1997 – einen Tag nach einem erfolgreichen Probeflug über Nordrußland (Gebiet um Archangelsk) – über dem Südatlantik vor der Küste Angolas mit einem amerikanischen Militärflugzeug. Durch den Zusammenstoß in großer Höhe wurden alle 24 Insassen in den Tod gerissen. Das Flugzeug war übrigens nicht auf einer Open-Skies-Mission, sondern führte einen Personenflug der Flugbereitschaft der Luftwaffe nach Südafrika aus. Im Verteidigungsministerium werden jetzt verschiedene Varianten für eine Fortführung des deutschen Open-Skies-Programmes geprüft. Wenn das Geld reicht, spricht einiges dafür, eine zweite Tupolev 154 der Luftwaffe, die zur Zeit außer Betrieb gestellt ist, für Open-Skies-Zwecke umzubauen.
Perspektiven für Bosnien
Vertrauensbildung in Bosnien-Herzegowina: Reichen Rüstungskontrolle und die Friedensarbeit ziviler Organisationen aus, um den Weg zu einem dauerhaften Frieden zu ebnen? Wir wissen es nicht. Zu groß sind die geschlagenen Wunden und der wirtschaftliche Niedergang in vielen Landesteilen. Skeptiker verweisen mit Recht auf das Scheitern der im Dayton-Abkommen vereinbarten Integrationspolitik. Demgegenüber steht das aktive Interesse der drei Konfliktparteien an Rüstungskontrollmaßnahmen und Garantien, die – wie Open-Skies – einen Wiederausbruch der Feindseligkeiten verhindern oder zumindestens unwahrscheinlich machen sollen. Auch scheint die Strategie von OSZE und SFOR zur allmählichen Zurückdrängung von Hardlinern und Kriegsverbrechern gewisse Erfolge zu zeigen. Alle Beteiligten, mit denen ich sprach, können sich ein Einhalten des Waffenstillstandes nur bei längerfristiger Anwesenheit einer schlagkräftigen Truppe wie der SFOR vorstellen. Tenor: „Der Westen muß uns helfen, sonst bleiben wir ein Problem für Europa“. Ein nächster logischer Schritt wäre es, die Open-Skies-Praxis in Bosnien-Herzegowina durch ein Abkommen oder Protokoll auf eine festere legale Basis zu stellen. Entsprechende Gespräche haben bereits begonnen. Ebenso wichtig werden der wirtschaftliche Wiederaufbau und die zivile Versöhnungsarbeit sein, um Haß, Angst und Hilflosigkeit in Eigenverantwortung und Akzeptanz zu verwandeln.
Professor Dr. Hartwig Spitzer leitet die Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit an der Universität Hamburg