Perspektiven der Erweiterung der NATO und die Interessen Rußlands
Auslandsaufklärung der Russischen Föderation*
von Forschungsinstitut für Friedenspolitik
Dies ist ein offenes Dokument der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation, es ist ihre Einschätzung und Analyse einer der aktuellsten Fragen der Gegenwart – die Probleme der Erweiterung der NATO um den nicht mehr existierenden Warschauer Vertrag. Früher »war alles einfach«: es fand ein Kampf zweier Blöcke statt. Heute gibt es diesen Kampf zum Glück nicht mehr. Aber wie wird die Sicherheit der verschiedenen Staaten in der Periode der Postkonfrontation gewährleistet – davon hängt das Schicksal Europas und der Welt im ganzen ab. Die unterbreitete Variante, die in diesem Dokument einer Betrachtung unterzogen wird – das ist die Vergrößerung des Geltungsbereiches jenes Blockes, der den Westen in der Periode des Kampfes verkörperte. Inwieweit ist das gerechtfertigt, ist solch eine Entscheidung optimal? Die Auslandsaufklärung legt ihren Standpunkt zu diesem Problem unter Berücksichtigung ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Kompliziertheit dar.
Ich denke, daß die im Dokument zum Ausdruck gebrachten Einschätzungen nicht nur Anhänger finden werden, sondern auch solche, die sie – wenn auch nur teilweise – nicht teilen. Wir sind darauf vorbereitet.
Wahrscheinlich entsteht die Frage nach den Quellen der in dieser Analyse enthaltenen Angaben. Ich sag es direkt: das sind sowohl offene Informationen als auch jene, die man durch spezifische Mittel der Aufklärung erhalten hat. Das Wichtigste liegt, wie man sich vorstellen kann, in den Schlußfolgerungen der Analytiker der Auslandsaufklärung, die sie auf der Grundlage der eingegangenen Angaben gezogen haben, und diese Schlußfolgerungen sind einheitlich. Rußland ist nicht gleichgültig bezüglich der Entwicklung der Ereignisse, die seine Interessen berühren. Rußland hat allen Grund, den Verlauf dieser Ereignisse mit möglichen Veränderungen in der geopolitischen und militärischen Lage zu messen. Das erneuerte Rußland hat ein Recht darauf, daß seine Meinung Berücksichtigung findet.
Der Direktor der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation
Akademiemitglied E. Primakow
Die Frage der möglichen Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO nach Mittel- und Osteuropa ist eine der Schlüsselfragen bei der Bestimmung des zukünftigen Antlitzes der europäischen Sicherheit, der Kräfteverteilung auf dem Kontinent in der Periode der Postkonfrontation. Die Bewegung der Staaten Mittel- und Osteuropas (MOE-Staaten) in Richtung NATO berührt die Interessen Rußlands und erfordert eine sorgfältige Analyse.
1. Probleme der Erweiterung
1.1 Allgemeines Herangehen der NATO an die Mitgliedschaftsbedingungen der MOE-Länder in der Allianz
Es gibt allen Grund anzunehmen, daß die Aufnahme der MOE-Länder in die NATO in den USA und den Staaten Westeuropas als eines der wichtigen Probleme angesehen wird, vom Charakter deren Lösung in vielerlei Hinsicht die reale Entwicklung der internationalen Beziehungen in der Periode der Postkonfrontation abhängt. Zugunsten der Aufnahme dieser Länder in die NATO werden folgende Argumente vorgebracht:
nach der Beendigung des »kalten Krieges« ist es für die Stabilisierung der Lage in Europa auf einem qualitativ neuen Niveau notwendig, im Westen und Osten des Kontinentes die Unterschiede in den Systemen zur Gewährleistung der Sicherheit zu beseitigen;
das beständige Bestreben der MOE-Länder zum Eintritt in die NATO kann nicht ignoriert werden, ohne daß jenen politischen Kräften Schaden zugefügt wird, die sich in der Führung der genannten Länder nach Westen orientieren;
die sehr wahrscheinliche Einbeziehung der NATO in die Regelung von Konflikten in Mittel- und Osteuropa diktiert die Notwendigkeit der Vervollkommnung der Kontrollmechanismen zur Lage in der Region, einschließlich des z.Z. ruhenden Systems der politischen Konsultationen, die Vorbereitung einer einheitlichen Infrastruktur, die Erarbeitung einer Ordnung des Zusammenwirkens auf dem Gebiet der Verteidigung und des Aufbaus von Streitkräften;
die Mitgliedschaft der MOE-Länder in der NATO wird als Alternative zur Formierung eigener subregionaler Sicherheitsstrukturen angesehen, die bei bestimmten Lageveränderungen in entsprechende Strukturen der GUS hineingezogen werden könnten.
Bei der Diskussion der Frage über die Erhöhung der Mitgliedszahl der Nordatlantischen Allianz wird die Aufmerksamkeit auf den rein militärischen Aspekt des Problems gerichtet. Hierbei wird unter Berücksichtigung der gegenwärtigen geopolitischen Situation der Schwerpunkt auf die Verlagerung der NATO-Grenzen gelegt. Vor dem Hintergrund der in den GUS-Ländern bestehenden innenpolitischen Instabilität wird diese Situation nach Einschätzungen der NATO-Führung durch die Möglichkeit der Existenz mehrerer Nuklear-Staaten auf dem Territorium der früheren UdSSR charakterisiert.
Die Verschiebung der NATO-Grenzen unter solchen Bedingungen wird als Ausfüllung eines »Sicherheitsvakuums« in Mittel- und Osteuropa betrachtet. NATO-Generalsekretär Wörner ist der Meinung, daß es ein »tragischer Fehler« wäre, die Bitten der MOE-Länder um die Gewährung von Garantien für ihre Stabilität und Sicherheit zurückzuweisen, die nur die NATO zu geben in der Lage ist.
Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung ist eine detaillierte Analyse der dargelegten Motive zur Erweiterung der NATO notwendig, um die realen Auswirkungen der angelaufenen Prozesse auf die Interessen Rußlands aufzudecken.
Im Zusammenhang damit kann man die Schlußfolgerung ziehen, daß die unverzügliche Aufnahme der MOE-Staaten als vollberechtigte Mitglieder in die NATO von ihrer Führung nicht als zweckmäßig angesehen wird. Hierbei berücksichtigen die NATO-Leute folgende Umstände:
übereilte und nichtvorbereitete Schritte in diese Richtung können zu einem Rückfall in die Politik der Konfrontation auf dem Kontinent führen;
die Aufnahmekandidaten in die Allianz werden mit einer Reihe von zwischenstaatlichen, darunter territorialen, Widersprüchen belastet, was die inneren Schwierigkeiten in der NATO erhöht, die schon in der gegenwärtigen Form bestimmten Schaden von den angespannten, wenn nicht feindlichen Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei nimmt;
die Erweiterung der zahlenmäßigen Zusammensetzung der NATO um jene Länder, die das westliche Niveau des Verständnisses der Aufgaben der internationalen Sicherheit nicht erreicht haben und die keine Erfahrungen in der Harmonisierung ihrer nationalen Interessen mit denen einer Koalition haben, kann zu einer Senkung der Effektivität der Führungsmechanismen der NATO führen und die Durchführung einer abgestimmten Politik beim von den Alliierten praktizierten Prinzip der Einstimmigkeit erschweren;
Rußland kann Korrektive in seinen nach Europa gerichteten Kurs einbringen, indem es die Erweiterung der NATO um die MOE-Länder als die Schaffung eines »Cordon Sanitaire« interpretiert, der seine Integration in ein einheitliches Europa behindert;
der Eintritt der Länder Mittel- und Osteuropas in die Nordatlantische Allianz bewegt auch andere Staaten, analoge Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird es schwierig, sie abzulehnen, ohne daß den Beziehungen mit ihnen Schaden zugefügt wird. Aber im Falle der Aufnahme z.B. der Ukraine in die NATO ohne Rußland entsteht eine neue geopolitische Lage, die fähig ist, den Widerstand Moskaus hervorzurufen;
die Reorganisation, die Umschulung und die Umrüstung der Armeen der MOE-Länder erfordert bedeutende Ressourcen und einen langen Zeitraum;
die MOE-Länder sind nicht vorbereitet, die ihnen durch eine NATO-Mitgliedschaft auferlegten zusätzlichen finanziellen und materiellen Ausgaben zu tragen;
die Erweiterung der NATO ruft die Notwendigkeit einer Umarbeitung der ausbalancierten Entwicklungsprogramme der Allianz auf einigen Gebieten (Ausstattung der Kriegsschauplätze, wissenschaftliche Forschungsarbeit, gemeinsame Militärproduktion, militärische und operative Einsatzbereitschaft) hervor, schafft im Verlauf der Ausarbeitung einer neuen Militärstrategie der Allianz zusätzliche schmerzhafte Probleme, besonders zu solch »sensiblem« Punkt wie die Rolle der Nuklearkomponenten, vor allem der taktischen.
Schließlich werden die rein juristischen Hindernisse für die schnellste Aufnahme neuer Mitglieder in die Allianz untersucht. Sie sind vor allem mit den Besonderheiten des Funktionierens des Mechanismus der Zusammenarbeit in einer Koalition und ihren völkerrechtlichen Grundlagen verbunden. So gibt es in der NATO praktisch einen Konsens in der Frage gegen eine sofortige Ausweitung der Gültigkeit von Artikel 5 des Nordatlantischen Vertrages auf die MOE-Länder, der seinem Wesen nach einen automatischen Ablauf des Zusammenwirkens der Allianz mit dem Ziel der Abwehr einer Aggression vorsieht.
Die Gegenüberstellung der beiden aufgeführten Gruppen von Argumenten läßt den Schluß zu, daß der Eintritt neuer Mitglieder in die NATO einen Prozeß darstellt, der aus einigen Etappen besteht. Für die Zeit der »Vorbereitungsperiode« können sie einen Zwischenstatus erhalten, der sich von einer vollberechtigten Mitgliedschaft durch ein niedrigeres Niveau der Integration ihrer nationalen Streitkräfte in die Militärstrukturen der Koalition, durch einen eingeschränkten Zugang zur Beratung und zur Annahme gemeinsamer Entscheidungen, durch einen flexiblen Grad der Teilnahme an der Finanzierung und Realisierung gemeinsamer Programme und – als wichtigstes – durch den Umfang der Garantien der Allianz auf dem Gebiet der Verteidigung unterscheidet.
Als die wahrscheinlichste Variante der Erweiterung der Nordatlantischen Allianz kann man die anfängliche Einbeziehung der »Visegrad-Gruppe« in diesen Prozeß ansehen. Berücksichtigt wird, daß Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei bedeutende Erfahrungen beim Zusammenwirken auf dem Gebiet der Sicherheit sowohl untereinander als auch mit den westlichen Nachbarn gesammelt haben. Sie haben einen ausreichend gefestigten Mechanismus bi-und multilateraler Konsultationen zu einem breiten Kreis politischer und militärischer Fragen geschaffen. Die Staaten der »Visegrad-Gruppe« haben sich nach Einschätzung des Westens mehr als andere auf dem Weg der Festigung demokratischer Institutionen und der Annahme westlicher Werte bewegt. Doch sogar in Bezug auf diese Länder gibt es praktisch keine Möglichkeit ihrer sofortigen Aufnahme mit den Rechten eines vollberechtigten Mitglieds in die Allianz.
In der NATO hat sich kein Konsens zu dem von ihrer Führung unterbreiteten »evolutionären Schema der Bewegung der Allianz nach Osten« herausgebildet. Dieses Schema sah vor: 1. die Gewährung des Status als assoziiertes Mitglied für Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn; 2. Entwicklung einer militärischen Zusammenarbeit mit Bulgarien und Rumänien; 3. Festigung der strategischen Verbindungen mit Rußland und der Ukraine. Bei allgemeiner Zustimmung in der Frage, in einer langfristigen Perspektive die MOE-Länder in dieser oder jener Form in die Allianz aufzunehmen, herrscht das Streben vor, diesen Prozeß nicht zu forcieren.
Groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine prinzipielle Entscheidung, die die Perspektive der NATO-Erweiterung bedeutet, schon auf dem im Januar 1994 bevorstehenden Treffen der Staats-und Regierungschefs der Mitglieder der Allianz angenommen wird. Ein wichtiges Element der unterbreiteten Deklaration kann die Auflistung der Kriterien werden, deren Einhaltung für alle zukünftigen Mitglieder obligatorisch ist: Verzicht auf territoriale Ansprüche; Achtung der Rechte nationaler Minderheiten; Treue zur friedlichen Regelung von Streitfragen und zu den demokratischen Prinzipien des Staatsaufbaus und zu Marktreformen; Errichtung der Bürgerkontrolle über die Streitkräfte usw.
Zusammen damit muß berücksichtigt werden, daß eine stufenweise Mitgliedschaft in der NATO durch den Nordatlantischen Vertrag nicht vorgesehen ist, zu dessen allgemeiner Revision die Alliierten nicht geneigt sind.
1.2. Nuancen im Herangehen einzelner Mitgliedsländer der NATO
Die Gemeinsamkeit des prinzipiellen Herangehens an das Problem der Erweiterung der NATO schließt spezifische Besonderheiten in den Positionen einzelner Mitgliedsländer der Allianz nicht aus. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen folgende Fragen, zu denen es Meinungsverschiedenheiten gibt:
die Fristen der Annahme eines prinzipiellen Beschlusses über die Erweiterung der NATO;
die Zusammensetzung der Antragsteller und die Formen ihrer Eingliederung oder Assoziierung mit der Allianz;
die völkerrechtlichen und zeitlichen Rahmen dieses Prozesses;
der Inhalt der »Übergangs-Periode« für die Eingliederung neuer Staaten in die NATO;
der Mechanismus der Integration der Antragsteller, die Notwendigkeit und Reihenfolge der Ausnutzung der Zwischenstrukturen, insbesondere der Institutionen der europäischen Sicherheit (EG, WEU, NATO-Kooperationsrat, KSZE);
der Charakter und der Grad der Berücksichtigung des russischen Faktors im Verlauf der europäischen Umgestaltung in der Periode der Postkonfrontation.
Man muß bemerken, daß die Ansichten der westlichen Partner zu dem genannten Problem ständig korrigiert werden, gemeinsam »geölt« und an neuen Momenten in der internationalen Lage gemessen werden, darunter an »Signalen« aus Moskau. (…)
1.4 Über die Position der MOE-Länder zu den Fragen der NATO-Mitgliedschaft
Die Haupttriebkraft des Prozesses der Erweiterung der NATO sind die Kandidaten für den Beitritt in die Allianz selbst – die MOE-Länder. Im Streben, sich mit der Nordatlantischen Allianz zu vereinen, nutzen sie folgende Argumentation:
die jugoslawische Krise hat gezeigt, daß Europa unter den neuen Bedingungen eine Zone internationaler Konflikte geworden ist; »tektonische Verwerfungen«, genährt durch ethnische, religiöse und ökonomische Widersprüche, können sich auf das Territorium anderer MOE-Staaten ausbreiten;
die Entwicklung der Lage auf dem Territorium der früheren UdSSR zeigte einerseits eine unzureichende Effektivität der auf den Mechanismen der kollektiven Sicherheit der GUS beruhenden Anstrengungen zur Verhütung und Regelung von Krisen und militärischen Konflikten und andererseits eine reale Bedrohung für Mittel- und Osteuropa aus der »nicht voraussehbaren Lage« in der Russischen Föderation, in der Ukraine, in Moldova und den baltischen Ländern;
die bestehenden Strukturen internationaler Sicherheit, darunter die UNO und die KSZE, sind als Instrument zur Gewährleistung von Frieden und Stabilität in Europa ungenügend wirksam, und die Vorstellungen über die Möglichkeit der raschen Schaffung eines auf ihrer Grundlage beruhenden Systems kollektiver Sicherheit im europäisch-asiatischen Raum erwiesen sich als illusorisch;
die Osteuropäer selbst sind nicht in der Lage, effektive Strukturen zu schaffen, die sie vor einer miltärischen Bedrohung und möglichen Erschütterungen von außen bewahren sollen: sogar die Mitglieder der »Visegrad-Gruppe«, die in militärischer Beziehung weiter entwickelt sind, stießen bei ihrem Versuch, zumindest eine Art eigener Verteidigungsallianz zu schaffen, auf unüberwindliche politische, wirtschaftliche, organisatorische und technische Schwierigkeiten;
der Beitritt der MOE-LÄnder in die NATO kann die Garantie der Unumkehrbarkeit des von ihnen eingeschlagenenen Kurses auf Annäherung an den Westen werden, der auf der Gemeinsamkeit der politischen Ziele und der sozial-ökonomischen Werte beruht;
der Status als Mitglied der Nordatlantischen Allianz gibt den MOE-Ländern die Möglichkeit, ein Maximum ökonomischer Vorteile zu erhalten und voll die Vorteile der »Diversifikation« ihrer Politik zu nutzen.
Die Unterschiede in den Positionen der Osteuropäer werden durch den Grad ihrer Bereitschaft zur Erfüllung der Forderungen der Allianz sowie durch das mit ihnen erreichte Niveau der Zusammenarbeit bestimmt. Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung sind die innenpolitischen Umstände weniger bedeutsam.
2. Die Interessen Rußlands
Vom Standpunkt der Interesses Rußlands hat das Problem der NATO-Erweiterung mehrere Aspekte, die man im Prozeß der Entwicklung der Beziehungen mit der Nordatlantischen Allianz, mit Mittel- und Osteuropa und den Ländern des nahen Auslands berücksichtigen muß.
2.1. Die Perspektiven der Nordatlantischen Allianz
Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung erfordert die Analyse des Einflusses des Prozesses der NATO-Erweiterung auf die Interessen Rußlands vor allem prognostische Einschätzungen, die mit der Möglichkeit der Evolution dieser Allianz nach Beendigung des »kalten Krieges« verbunden sind.
Die offiziell unterbreiteten Ziele und logischen Impulse, bedingt durch die reale Lage, diktieren die Transformation der Allianz aus einer militärpolitischen Gruppierung, die auf die Abwehr einer Bedrohung von außen gerichtet war, in ein auf den Prinzipien der kollektiven Sicherheit beruhendes Instrument der Sicherung des Friedens und der Stabilität. Im vorliegenden Kontext wird auch die Aufgabe der Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO in östliche Richtung untersucht. Wobei nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung Moskau viele Befürchtungen, die mit dem Eintritt der MOE-Länder in die NATO verbunden sind, genommen oder abgeschwächt würden, wenn es Garantien einer vorhergehenden Entwicklung des Prozesses der Veränderung der Funktionen der Allianz oder der parallelen Erweiterung der politischen Funktionen der NATO und ihres geographischen Umfanges gäbe. Doch diese Garantien fehlen.
Vor allem gibt es keine ausreichende Klarheit in der Frage zu den Perspektiven der Transformation der NATO. In der Allianz hat sich bisher noch kein genaues Verständnis zu ihrer Rolle und ihrem Platz im System der internationalen Beziehungen in der Periode der Postkonfrontation herausgebildet. Die Diskussionen zu den Fragen der politischen Strategie der NATO haben eher einschätzenden, vorläufigen Charakter. Gleichzeitig sind unter den atlantischen Partnern wesentliche Abweichungen darin sichtbar, was das Verhältnis von Aufgaben und Vollmachten auf dem Gebiet der Sicherheit der NATO und anderer internationaler Institutionen betrifft.
Eine Realität ist auch das Fortbestehen von Stereotypen des Blockdenkens, die besonders einer Reihe von Vertretern der militärischen Führung der westlichen Länder und der Allianz im ganzen eigen sind. Eine dieser Stereotypen ist damit verbunden, daß die UdSSR, deren Kern Rußland darstellte, lange Jahre als die Hauptursache der militärischen Bedrohung für die Existenz der westlichen Zivilisation betrachtet wurde.
Ausgehend von ihrem ursprünglichen Charakter ist die NATO auf die strategische Planung des »worst case« gerichtet, was sich auf den Charakter und die Details der operativen Dokumente, des militärischen Aufbaus und der Einsatzbereitschaft der nationalen Streitkräfte sowie der der Koalition auswirken muß. Für die Überwindung dieser »Resterscheinungen« ist offensichtlich eine längere Zeitspanne nötig. Unterdessen vollzieht sich der psychologische Bruch nicht schmerzlos und trifft auf den Widerstand einflußreicher Vertreter von führenden Kreisen des militärischen Establishments, der akademischen Welt und des Militärisch-Industriellen Komplexes der NATO-Staaten.
Man darf auch die Trägheit des Wettrüstens nicht außer acht lassen, der die ständige Aufrechterhaltung eines »Feindbildes« – und sei es auch nur das eines potentiellen – im Bewußtsein der Öffentlichkeit verlangt. Das wird untersetzt durch die reale Besorgnis der Führer der wichtigsten NATO-Länder, daß es zu einer möglichen Einschränkung der Beschäftigungsrate auf den militärischen Gebieten der Wirtschaft, der Wissenschaft und der zukünftigen wissenschaftlichen Forschungsarbeit kommt. Nicht selten werden im Westen Befürchtungen zum Ausdruck gebracht, daß es unter den Bedingungen der »Euphorie der Postkonfrontation« zu einem Auseinanderbrechen des Militärindustriellen Komplexes und zum Verlust des erreichten technischen Niveaus und der Profitquellen kommt.
Das Streben der MOE-Länder, durch den Eintritt in die NATO den Westen zur aktiven Unterstützung bei der Lösung ihrer innen- und außenpolitischen Probleme heranzuziehen, kann einen unerwarteten Effekt geben. Die Nordatlantische Allianz, die sich in komplizierte, durch scharfe Kämpfe bestimmte Prozesse in den osteuropäischen Staaten hineinziehen läßt, kann vor der objektiven Notwendigkeit stehen, seine Politik zu verhärten. Die Transformation der NATO in eine universelle friedenschaffende und stabilisierende Kraft kann sich hinziehen. Auf jeden Fall existiert die Gefahr, daß dieser Prozeß und die Erweiterung der Allianz nicht synchron verlaufen. Darin liegt die Gefahr für die Interessen Rußlands, da solche Asynchronität die Chancen für eine endgültige Überwindung der Spaltung des Kontinents verringern und zu einem Rückfall in die Politik der Blöcke führen kann – und das unter den Bedingungen der Annäherung des Geltungsbereiches der NATO an die unmittelbaren Grenzen der Russischen Föderation.
2.2. Geopolitische Aspekte
In dem Verständnis, daß die Verlagerung des Geltungsbereiches der NATO an die Grenzen Rußlands eine bestimmte Besorgnis der Russischen Föderation hervorruft und im Streben, solch einer Reaktion die Schärfe zu nehmen, benutzen die Anhänger des Anschlusses der MOE-Länder an die NATO folgende Argumentation:
die durch die NATO abgesicherte Zone der internationalen Stabilität wird auf die Staaten ausgeweitet, die unmittelbar an das Territorium der früheren UdSSR grenzen. Damit nimmt die Nordatlantische Allianz die Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Friedens und die Verhinderung von Konflikten in dieser Region auf sich;
die Befürwortung des Kurses auf die Erweiterung ihres quantitativen Bestandes durch die Nordatlantische Allianz selbst zwingt sie, eine deutlichere Position zu den Grundfragen der europäischen Umgestaltung in der Periode nach dem »kalten Krieg« einzunehmen, eindeutig die Ziele und den Charakter der zukünftigen Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation und den anderen GUS-Mitgliedern zu erläutern, den Prozeß des Neudurchdenkens der politischen Rolle der NATO zu beschleunigen und wirksame Maßnahmen zur Transformation des Blockes in ein Instrument zur Gewährleistung allgemeiner Sicherheit zu ergreifen;
die Erweiterung der NATO um die MOE-Länder eröffnet auch Rußland den Weg in die Allianz.
Letzteres Argument wird besonders am Vorabend des im Januar stattfindenden NATO-Gipfeltreffens hervorgehoben. Unterdessen kamen Experten zu dem Ergebnis, daß in den Vorschlägen an die Adresse Rußlands in Bezug auf eine Partnerschaft mit der NATO bisher keine Linie zur Schaffung eines Mechanismus zur Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit sichtbar wird, der nach seinem Bestand und seinen Funktionen den Bedingungen der Periode der Postkonfrontation entspricht. Die Idee eines solchen Mechanismus wird im Westen diskutiert. Von Spezialisten in den Vereinigten Staaten wird beispielsweise die Möglichkeit untersucht, in der gegenwärtigen Etappe eine Organisation der kollektiven Sicherheit zu schaffen, die etwas zwischen der NATO einerseits und KSZE und UNO andererseits darstellt.
In der Tat hat für Rußland jener Fakt prinzipielle Bedeutung, in welche Allianz und mit welchen Funktionen es eintreten und welche partnerschaftlichen Beziehungen es mit ihr herstellen kann.
NATO-Generalsekretär Wörner unterstrich bei seinem Auftritt am 29. Oktober d.J. auf der Konferenz »Aufrechterhaltung des Friedens in Europa« in Madrid, an der Experten von NATO, WEU, EG und KSZE teilnahmen, eine Reihe von Momenten, die, wenn nicht Besorgnis, so doch zusätzliche Fragen provozieren. Er erklärte, daß zusammen mit der Gewährleistung der gemeinsamen Verteidigung der Mitglieder der Allianz ihr Hauptziel in der gegenwärtigen Situation in der Aufrechterhaltung des strategischen Gleichgewichts in Europa besteht. Die zweite Aussage kann man als Fortsetzung zur Erfüllung einer der globalen Funktionen der NATO aus der Periode der Konfrontaion des »kalten Krieges« unter neuen Bedingungen interpretieren. Falls das zutrifft, erfordert die Verlagerung der Grenzen der Nordatlantischen Allianz an die Grenzen Rußlands entweder seine militärische Stärkung, was nicht den zu lösenden Aufgaben der wirtschaftlichen Entwicklung entspricht oder das Einverständnis zur Asymmetrie auf dem Gebiet der Sicherheit, was ebenfalls den Interessen der Russischen Föderation widerspricht.
Nach einer anderen Aussage Wörners wird es eine der wichtigsten Funktionen der NATO werden, Stabilität in die MOE-Länder und nach Mittelasien zu »projizieren«. Wenn die »Partnerschaft« oder eine andere Form der NATO-Erweiterung die Einbeziehung der Staaten Mittelasiens in ihren Geltungsbereich beinhaltet, so kann das nicht ohne Grund in Rußland als Alternative zum entstehenden System der kollektiven Sicherheit im Rahmen der GUS interpretiert werden. Die Ausweitung des Geltungsbereiches der NATO auf zwei Regionen, die von Westen und vom Süden unmittelbar an die Russische Föderation grenzen, ist in der Lage, begründeten Verdacht dahingehend hervorzurufen, daß sich eine für Rußland höchst nachteilige geopolitische Lage herausbildet.
2.3. Militärische Aspekte
Natürlich darf es für solche plumpen Behauptungen, wie sie während der Periode des »kalten Krieges« gängig waren (zum Beispiel über die scharfe Konfrontation zwischen Ost und West, NATO und Warschauer Vertrag) keinen Platz mehr geben. Schwierig ist es, anzunehmen, und falsch wäre es, davon auszugehen, daß die geographische Erweiterung der NATO der Bildung eines Brückenkopfes dient, der darauf abzielt, Rußland oder seinen Verbündeten einen Schlag zu versetzen. Dieser Schluß ist jedoch nicht mit jenem identisch, daß das Vorrücken der NATO nach Osten nicht die Interessen der militärischen Sicherheit Rußlands berührt.
In letzter Zeit kamen im Westen verschiedene Auslegungen der Position der russischen Armee zu dieser Frage in Umlauf. Insbesondere tauchten Vermutungen über das Streben der Generalität auf, ihren »wachsenden Einfluß« auf die Regierung Rußlands auszunutzen und ihr einen harten Kurs auf dem Gebiet der Gewährleistung der nationalen Sicherheit »aufzuzwingen«. Gleichzeitig muß man berücksichtigen, daß die eigene Bestimmung und die fachlichen Aufgaben der Streitkräfte die Spezifik ihres Standpunktes zum Problem der Ausweitung des Geltungsbereiches der NATO nach Osten prädestiniert. Es ist offensichtlich, daß die militärische Führung Rußlands Aufmerksamkeit auf folgendes richten muß:
1. Die Tatsache, daß im Ergebnis der NATO-Erweiterung die größte Militärgruppierung der Welt, die über ein umfangreiches Angriffspotential verfügt, sich in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen befindet, erfordert ein grundlegendes Neudurchdenken aller Verteidigungskonzeptionen, der Neuformierung der Streitkräfte, eine Überprüfung der operativen Pläne für die Kriegsschauplätze, die Entfaltung einer zusätzlichen Infrastruktur, die Neudislozierung der großen Militärkontingente und die Veränderung der Einsatzpläne und des Charakters der militärischen Ausbildung. Diese Maßnahmen sind vom russischen Standpunkt eine objektive Notwendigkeit und müssen unabhängig davon realisiert werden, daß die NATO politisch nicht mehr als Gegner betrachtet wird. Ohne jeden Zweifel würde in einer ähnlichen Situation auch von der gegenüberliegenden Seite ein analoges Herangehen festgelegt werden.
2. Die Realisierung der aufgeführten Maßnahmen, zumal in gedrängten Fristen, zieht zweifellos eine Überbeanspruchung des Staatshaushaltes und eine Schwächung der Verteidigungsfähigkeit Rußlands in der Periode der strukturellen Umgestaltung und der Verlegung der führenden Gruppierungen der Streitkräfte nach sich.
3. Man kann nicht übersehen, daß unter solchen Bedingungen folgende Bedrohung entsteht: Gefahr des Verzögerns der Fristen und des Bruchs der vorhandenen Programme zur Senkung, Reorganisation und Professionalisierung der Streitkräfte, ihrer Ausstattung mit modernen intelligenzintensiven, teuren Waffensystemen. Ein Zurückbleiben auf diesem Gebiet würde eine wesentliche Einschränkung des Kampfpotentiales der Streitkräfte Rußlands im Vergleich mit dem Niveau der führenden Militärmächte bedeuten.
4. Im Falle der Unfähigkeit der Regierung Rußlands, eine normale Finanzierung, Vervollständigung, die materiell-technische Absicherung und den sozialen Schutz der Streitkräfte zu sichern, kann eine Unzufriedenheit von Armeekreisen entstehen, was weder im Interesse der politischen noch der militärischen Führung Rußlands, noch des Landes insgesamt liegt.
Man darf auch jenen Fakt nicht ignorieren, daß die Erweiterung der NATO dazu führt, daß ihr Geltungsbereich auch jenen Teil des europäischen Kontinents umfaßt, in dem die zwischenstaatlichen Grenzen im Ergebnis des zweiten Weltkrieges verändert wurden. Dabei vollzieht sich solch ein Prozeß unter Bedingungen, daß im Ergebnis der Herausbildung neuer Staaten in Europa die Vereinbarungen von Helsinki, die den Status quo fixieren, nicht mehr gültig sind bzw. wesentlich geschwächt werden. Folglich kann man meinen, daß unter den neuen Bedingungen die NATO der alternative Garant der Nachkriegsgrenzen sein wird. Zusammen mit den positiven Momenten hat das auch eine negative Seite. Viele Experten verbinden die »Evolution der Erweiterung« der Nordatlantischen Allianz mit der wachsenden Bedeutung der BRD in der NATO. Die »Vorbereitungsperiode« des Eintritts der MOE-Länder als vollberechtigte Mitglieder in die NATO ist auch eng mit der Aktivierung ihrer auf bilateraler Grundlage basierenden militärischen Zusammenarbeit verbunden. Eine Reihe ausländischer Politologen kommt zu dem Schluß, daß die Erhöhung der Mitgliedszahl der Allianz dazu führt, daß sich die BRD auf dem europäischen Kontinent aus einem »Importeur« von Sicherheit in ihren »Exporteur« verwandelt. Im Zusammenhang damit gibt es Grund zu der Annahme, daß bei der Bearbeitung der Frage über die Erweiterung der NATO bestimmte Kreise in Deutschland diesen Prozeß vom Standpunkt der weiteren Entwicklung der Lage zu den Nachkriegsgrenzen betrachten.
Eine ganze Reihe von Fragen auf diesem Gebiet ist nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit anderen Staaten verknüpft. Versuchen zum Beispiel nicht diese oder jene Kräfte in Rumänien, die Idee der Vereinigung mit Moldova groß aufzuziehen, diesen Prozeß zu forcieren und sich dabei auf seine Mitgliedschaft in der NATO zu stützen und dabei die Interessen der Dnjestr-Region zu ignorieren? So oder so ist der Schluß berechtigt, daß unter den Bedingungen der NATO-Mitgliedschaft der MOE-Länder das Niveau der Internationalisierung von Streitfragen und Konflikten, darunter territorialen, wächst.
Die Erweiterung der NATO um die »Visegrad-Gruppe« stimuliert die baltischen Staaten zum Eintritt in die Nordatlantische Allianz. Daraus kann eine Situation entstehen, daß der Schwerpunkt ihrer Zusammenarbeit mit dem Westen sich in den militärischen Bereich verlagert. Das könnte als eine Herausforderung Rußlands betrachtet werden, dessen geopolitische Interessen einer Militärpräsenz von Drittstaaten in dieser Region widerspricht.
Die Führung der Nordatlantischen Allianz unterstreicht, daß die Schaffung eines »Cordon Sanitaire« in den MOE-Ländern, der Rußland von Westeuropa trennen würde, nicht zu ihren Absichten gehört. Dennoch kann sich das unabhängig von den subjektiven Absichten der NATO-Führer vollziehen. Auf jeden Fall entsteht mit dem Beitritt der MOE-Länder in diese Organisation objektiv eine Barriere zwischen Rußland und dem übrigen Teil des Kontinents.
Man muß auch berücksichtigen, daß die Veränderung des Mitgliedsbestandes der NATO unvermeidlich zur Untergrabung einer Reihe von Verpflichtungen der Allianz führt, die sich aus multilateralen Verträgen und Abkommen, darunter aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ergeben, dessen Einhaltung zur Stabilität und Sicherheit auf dem Kontinent beiträgt.
Bekanntlich wurde der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa auf der Konzeption der gleichen Sicherheit aufgebaut und verfolgte das Ziel, bis Ende 1995 ein Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte zwischen beiden Staatengruppierungen (NATO und früherer Warschauer Vertrag) durch die Errichtung von gleichen Obergrenzen nach Anzahl der Kampftechnik der Bodentruppen und der Luftstreitkräfte zu erreichen. Im Falle der Erweiterung der NATO um Länder des früheren Warschauer Vertrages wird das Prinzip des Kräftegleichgewichtes verletzt. So würden die Quoten der konventionellen Streitkräfte nicht nur der potentiellen neuen NATO-Mitglieder, sondern auch von GUS-Ländern, vor allem aber Rußlands in Frage gestellt – darunter auch an den Flanken.
Außerdem entstünde das Problem der wesentlichen Korrektur von Gruppenverpflichtungen in Bezug auf die Weitergabe von Bewaffnungen und der Überprüfung ihrer Obergrenzen zwischen den Staaten der »Visegrad-Gruppe« (Artikel VII), zu Fragen der Kontrolle und Durchführung von Inspektionen (Artikel XIV) und andere.
Man muß bemerken, daß beliebige Korrekturen des Vertrages, die Rußland in den letzten 1 1/2 – 2 Jahren in bi- und multilateralen Verhandlungen angestrebt hat, auf den harten Widerstand und die negative Reaktion der NATO trafen. So wurde die Botschaft von Rußlands Präsident Jelzin (September 1993) an die Führer der NATO-Staaten, die den Vorschlag zur Überprüfung der Einschränkungen für die Streitkräfte Rußlands an den Flanken beinhaltet (Artikel V), von der Führung der Allianz praktisch zurückgewiesen. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, daß diese Position des Blockes bis Ende 1995, dem Zeitpunkt des Auslaufens der Reduzierung der konventionellen Streitkräfte, die auf dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa basiert, beibehalten wird.
2.4. Innenpolitische Aspekte
Man kann die Möglichkeit einer ungünstigen Auswirkung der Erweiterung der NATO auf die innenpolitische Lage in Rußland sowie auf die Psyche der Russen nicht ignorieren. Die gesellschaftliche Meinung in der Russischen Föderation formierte sich lange Zeit in einem Anti-NATO-Geist. Sie kann nicht mit einem Mal geändert werden. Im Zusammenhang damit wird die Ausweitung des Geltungsbereiches der Nordatlantischen Allianz auf die früheren verbündeten Staaten der UdSSR in der gegenwärtigen Etappe von einem bedeutenden Teil der Gesellschaft als »Annäherung der Gefahr an die Grenzen der Heimat« betrachtet. Das kann den antiwestlichen Kräften in der Russischen Föderation einen Impuls geben, sie mit Argumenten für zielgerichtete Versuche zur Diskreditierung des Regierungskurses zu versorgen. Unter solchen Bedingungen kann es im Land zur Wiedergeburt der Idee der »belagerten Festung« und von isolationistischen Tendenzen mit sich daraus ergebenden negativen Folgen für die Durchführung des Reformkurses kommen.
In Rußland muß also die gesellschaftliche Meinung zur Akzeptanz der NATO als Struktur der europäischen Sicherheit und Stabilität und nicht als eine feindliche Kraft wachsen, die zur politischen und militärischen Festigung ihrer Überlegenheit über den Hauptgegner im »kalten Krieg« drängt.
Auf der Grundlage der erfolgten Analyse, die in Abhängigkeit vom Eingehen neuer Angaben selbstverständlich korrigiert wird, sind die Experten der Auslandsaufklärung zu folgenden Schlußfolgerungen gelangt:
unter den Bedingungen der Periode der Postkonfrontation und des Fehlens einer sogenannten Blockdisziplin, die bis zur Auflösung des Warschauer Vertrages bestand, ist Rußland im Recht, den souveränen Staaten Mittel- und Osteuropas vorzuschreiben, ob sie in die NATO oder eine beliebige andere internationale Vereinigung eintreten dürfen;
den Interessen Rußlands würde eine Synchronisierung des Prozesses der Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO mit der Veränderung des Charakters dieser Allianz und mit der Anpassung ihrer Funktionen an die Besonderheiten der gegenwärtigen Etappe der historischen Entwicklung entsprechen;
der Prozeß des Eintritts der MOE-Staaten in die NATO, sein Charakter, die Fristen, die Rechte und Pflichten der neuen Mitglieder, müssen unter Berücksichtigung der Meinung aller interessierten Seiten, darunter Rußlands, gestaltet werden. Dazu gehören auch die Perspektiven der Festigung der Grundlagen der kollektiven Sicherheit auf dem Kontinent, die Entwicklung einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit, aber auch die Notwendigkeit der Gewährleistung von Garantien einer bedingungslosen Einhaltung der abgeschlossenen internationalen Abkommen durch alle Länder, die die Mitgliedschaft in der NATO anstreben.
nur die Berücksichtigung der aufgeführten Faktoren würde die Schaffung von Voraussetzungen und günstigen Bedingungen für ein Zusammenwirken der Russischen Föderation mit der NATO, und der Überführung ihrer Beziehungen auf das Niveau einer echten Partnerschaft ermöglichen;
in der gegenwärtigen Etappe müßte eine vielfältige Politik einer allseitigen Entwicklung der Zusammenarbeit mit allen internationalen Institutionen durchgeführt werden, die fähig sind, der Schaffung eines einheitlichen Systems kollektiver Sicherheit in Europa zu dienen.
Anmerkung
*) Es handelt sich hier um eine auszugsweise Dokumentation einer Stellungnahme der Auslandsaufklärung der Russischen Förderation, Moskau 1993. Übersetzung aus dem Russischen im Auftrag des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V. von Werner Heiden, Berlin. Die vollständige Fassung ist erhältlich bei: Forschungsinstitut für Friedenspolitik e.V., Lohgasse 3, Postfach 1251 D-82352 Weilheim Tel.: (0881) 4586, Fax: (0881) 2080, Einzelpreis DM 8,– FF-Mitglieder DM 5,–; FF-Dokumentation 4-94