W&F 2021/2

Radikalisierung und kollektive Gewalt zusammendenken

Tagung des Arbeitskreises »Junge AFK«, online, 16.-17. März 2021

von Daniel Beck und Julia Renner

Die ins Internet verlagerte Tagung »Radicalization and Collective Violence« wurde durch die Sprecher*innen der Jungen Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) eröffnet, die sich sehr über das große Interesse von Beitragenden und Zuhörenden freuten. Denn die Tagung hatte pandemiebedingt um ein Jahr verschoben werden müssen. Prof. Dr. Alexander Spencer, der die Teilnehmenden im Namen des AFK-Vorstands begrüßte, ermutigte alle Vortragenden, sich die Hürden einer Publikation zuzutrauen und die auf der Konferenz vorgestellten Beiträge auch zu veröffentlichen.

In den vergangenen Jahren erreichte das allgemeine Thema »Radikalisierung« immer mehr Aufmerksamkeit in der Mitte der Gesellschaft durch spektakuläre Fälle radikalisierter Täter*innen. Der spezifische Fokus dieser Tagung lag vor allem auf den Grundlagen und konzeptionellen Überlegungen zu den Grundbegriffen »Radikalisierung« und »Gewalt«, sowie auf »Prävention und Deradikalisierung«, ergänzt und illustriert durch internationale Fallstudien.

Zur Diskussion des Tagungsthemas fanden sich rund 100 junge und junggebliebene Personen aus verschiedenen Wissensdomänen zusammen: universitär verortete Forscher*innen, Personen aus dem Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung, sowie freie Forschende und vereinzelte Aktivist*innen. Gleich vier Workshops reflektierten daher ein grundlegendes Anliegen dieser Tagung: Die Genese und den Austausch von Wissen praktisch und didaktisch wertvoll miteinander und über die Grenzen der jeweiligen Institutionen hinweg zu gestalten.

Gleich der Abendvortrag zu »Dynamics of collective violence. Bridging micro, meso and macro perspectives« von Prof. Dr. Timothy Williams von der Universität der Bundeswehr München zog die Zuhörer*innen in seinen Bann. Williams machte deutlich, dass der methodisch enge Blick jeweils über die Makro- und Mikro-Ebene von Radikalisierung hinaus erweitert werden sollte, da nicht alle Gewaltprozesse dadurch adäquat erklärt werden könnten. Er zeigte, dass sich Modelle zur Beschreibung von Radikalisierungsprozessen und deren Zusammenhang mit kollektiver Gewalt sowie Maßnahmen zu deren Prävention weitestgehend auf die Maßstabsebene des Individuums beziehen. Laut Williams beklagen Kritiker*innen dieser Ansätze – zu denen er selbst gehört – daher ein Empirie- und Handlungsdefizit bei der Aufarbeitung von Ursachen kollektiver Gewaltanwen­dungen. Dieses Defizit bestünde, so ­Williams, sowohl auf der Mikro- (intrapersonalen), Meso- (interpersonalen) als auch der Makro-Ebene (Gesellschaft und Gruppen). Er schlug daher eine Erweiterung und Fokussierung der Betrachtungsweise auf die Meso-Ebene vor. Seine theoretischen Überlegungen veranschaulichte er anhand von Beispielen aus der Forschung zum Genozid in Ruanda und der Massengewalt in Kambodscha.

Radikalisierung: Was ist das?

Radikalisierung wird auch in der Forschung tendenziell als ein negativer Prozess verstanden, was teilweise kritisiert wird. Viele Panelist*innen und Workshopleiter*innen machten es sich dementsprechend zur Aufgabe, nach Lösungen und adäquaten Umgangsformen damit zu suchen.

Ramzi Merhej und Anna Mühlhausen diskutierten beispielsweise in einem Panel zu »Deradikalisierung und Prävention« die Rolle von Ideologien und Normen. Ideologie stellten sie dabei als spezifischen Erklärungsfaktor für Radikalisierung infrage: Da Ideologie bei allen Radikalisierungsprozessen im Spiel sei, sei dies kein signifikanter Erklärungsfaktor bei der Suche nach Gründen für Radikalisierung.

Gleich mehrere Workshops widmeten sich praktischen Herausforderungen im Umgang mit Radikalisierungsprozessen. Im Workshop von Mareike Tichatschke konnten die Teilnehmenden am eigenen Leib die Macht von Narrativen erfahren. Insbesondere im Fall von Terrorismus spielen Deutungen und Zuschreibungen von Zusammenhängen eine zentrale Rolle bei der Reaktion auf das Gewaltereignis und für die Legitimation weiterer Gewalt. Die Teilnehmenden sollten sich in die Rolle von verschiedenen Konfliktparteien wie Regierungen und terroristischen Akteuren versetzen und so die Schwierigkeit erfahren, wie auf reale jihadistische Anschläge in Europa beispielhaft mit verschiedenen Narrativen reagiert werden kann. Dadurch wurden die Dynamiken, die aus Reaktionsnarrativen resultieren können, problematisiert und die üblichen Narrative in Reaktion auf terroristische Anschläge kritisch hinterfragt.

Annalena Groppe untersuchte in ihrem Workshop, wie die Polarisierung von Gesellschaften durch politische Themen Radikalisierungsprozesse verstärkt und inwiefern Friedenspädagogik als Gegenmittel eingesetzt werden kann. Mithilfe von Einzel- und Gruppenübungen wurden Elemente des »Elicitive Conflict Mappings« (hervorkitzelnde Konfliktkartierung) genutzt und so konnten die Teilnehmenden, ausgehend von ihrer subjektiven Perspektive auf polarisierende Konflikten um Demokratie, Orientierung gewinnen und kontextspezifische nächste Schritte ableiten.

Im Workshop »Extremismus und die Wissenschaft im post-digitalen Zeitalter« von Stephen Albrecht wurde deutlich, warum Extremismus und die digitale Welt zusammen erforscht werden müssen. Verschiedene Plattformen, Apps und Kommunikationskanäle dienen als wesentliche Vernetzungs- und Rekrutierungswerkzeuge für Extremist*innen. Zudem gab der Workshop Einblicke in Methoden und Tools zu Umgang, Dokumentation und Sicherung von Daten. Albrecht war es sehr wichtig, auf die unterschätzten Risiken und Gefahren für Forschende hinzuweisen, die zum Thema Radikalisierung in rechten Strömungen forschen und sich öffentlich äußern.

Rechte Radikalisierung und rassistische Gewalt

Im abschließenden Roundtable zum Thema »In Times of Right-wing and Racist Terror« diskutierten Alex Engelsdorfer, Ramzi Merhej, Kristine Andra Avram und Sebastian Salzmann.

Die Diskutant*innen erörterten die Überschnitte von Rassismus und rechter Gewalt und thematisierten deren relative Unsichtbarkeit in der Friedens- und Konfliktforschung. Die Diskutant*innen fragten, weshalb so wenig Forschung zu rassistischer Gewalt existiere, sei doch Gewalt eines der Kernthemen der Friedens- und Konfliktforschung. Nicht zuletzt wurde überlegt, welche Konsequenzen sich daraus für Forschung und Praxis ergeben (müssten).

Das Online-Format: Chancen und Perspektiven

Das Organisationsteam betonte zum Abschluss, welch große Resonanz die Tagung gefunden habe. So sei auch der Zugang zur Tagung – die von der Deutschen Stiftung Friedensforschung unterstützt wurde – diesmal sehr niedrigschwellig gewesen, da keine Teilnahmegebühren erhoben wurden. Durch das Online-Angebot sei auch eine stärkere Internationalisierung der Tagung erreicht worden. Zudem wurde beispielsweise Gather.town, eine Online-Plattform, für persönliche Gespräche und für Ausstellungen genutzt, um auch einen Raum für persönliche Kontakte außerhalb des offiziellen Programms zu bieten. Für die Zukunft sei es nach Ansicht der Organisator*innen sicherlich zu überlegen, ob und wie die Nachwuchstagung nachhaltig als Hybrid-Konferenz sinnvoll umgesetzt werden könne.

Während der Konferenz fand auch die Wahl eines neuen Nachwuchssprecher*innen-Teams statt. Daniel Beck, Julia Renner und Alex Engelsdorfer übergaben ihr Amt an David Haase (Universität Magdeburg), Astrid Juckenack (ZfK Marburg), Lilli Kannegießer (Universität Augsburg) und Stefanie Wesch (Potsdam Institute for Climate Impact Research). Das alte Sprecher*innen Team wünscht dem neuen Team viel Spaß und Erfolg bei dieser Aufgabe.

Daniel Beck und Julia Renner

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/2 Völkerrecht in Bewegung – Von Kritik, Krisen und Erneuerung, Seite 48–49