Recht auf Entwicklung
Seine Bedeutung für die Zukunft
von Brigitte Hamm
Die westlichen Industriestaaten unterstützten 1993 im Abschlußdokument der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz erstmals geschlossen das Recht auf Entwicklung als individuelles und unveräußerliches Menschenrecht. Ihre Zustimmung galt vielen als Kuhhandel, da einige Staaten des Südens sie zur Voraussetzung gemacht hatten, sich in Wien zur Universalität der Menschenrechte zu bekennen. Wie schon auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro wurde das Recht auf Entwicklung mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit verknüpft: „Das Recht auf Entwicklung sollte so verwirklicht werden, daß den Bedürfnissen gegenwärtiger und künftiger Generationen in den Bereichen Entwicklung und Umwelt gleichermaßen Rechnung getragen wird.“ (Absatz 11 des Wiener Schlußdokuments)
Das Recht auf Entwicklung ist das bedeutendste, aber auch umstrittenste Recht der sogenannten dritten Generation der Menschenrechte. Zur ersten Generation der Menschenrechte zählen die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten. Als Menschenrechte der zweiten Generation gelten die kulturellen, ökonomischen und sozialen Rechte. Völkerrechtlich verankert sind die Menschenrechte der ersten und zweiten Generation im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (»Zivilpakt«) und im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (»Sozialpakt«), die beide 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurden und 1976 in Kraft traten.
Als die Entwicklungsländer in den siebziger Jahren das Konzept eines Rechts auf Entwicklung in die Debatte um die Menschenrechte einführten, ging es ihnen vor allem um eine wirtschaftliche Entwicklung, die sich an den westlichen Industrieländern orientierte.
Die Forderung nach einem Recht auf Entwicklung ist nur vor dem Hintergrund des Ringens der Entwicklungsländer nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung in den siebziger Jahren zu verstehen. Angesichts einer sich dramatisch verschlechternden wirtschaftlichen und sozialen Lage in den meisten Entwicklungsländern und bis dahin zwei erfolglosen Entwicklungsdekaden der Vereinten Nationen sollten vor allem gerechtere Handelsbeziehungen und Ressourcentransfer in die Länder des Südens zu auf- und nachholender Entwicklung führen.
Nach einer sich über mehrere Jahre hinziehenden Beratung verabschiedete die UN-Generalversammlung schließlich 1986 eine »Deklaration zum Recht auf Entwicklung« mit 146 Ja- und einer Nein-Stimme (USA) bei acht Enthaltungen (darunter die Bundesrepublik Deutschland). Völkerrechtlich ist diese Deklaration nicht verbindlich, sondern wird als normative Absichtserklärung dem weichen Völkerrecht (soft law) zugeordnet. Als Kern dieses Menschenrechts wurde das Solidaritätsprinzip in den Vordergrund gerückt, was damals vor allem auf die Verpflichtung der Industriestaaten zur Solidarität gegenüber den Entwicklungsländern zielte. Inhaltlich geht es beim Recht auf Entwicklung weniger um die Ausformulierung eines neuen Menschenrechts, hier wird es als Synthese von kulturellen, ökonomischen, politischen und sozialen Menschenrechten, als »Recht auf Rechte« verstanden.
Artikel 1 dieser Deklaration kennzeichnet das Recht auf Entwicklung als unveräußerliches Menschenrecht, „kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können, teilzuhaben.“ Entwicklung wird als umfassender Prozeß beschrieben, „der die ständige Steigerung des Wohls der gesamten Bevölkerung und aller Einzelpersonen auf der Grundlage ihrer aktiven, freien und sinnvollen Teilhabe am Entwicklungsprozeß und an der gerechten Verteilung der daraus erwachsenden Vorteile zum Ziele hat.“ (Präambel) Dieser Entwicklungsbegriff bleibt eher diffus und am ökonomischen Wachstum orientiert. Die Idee der Nachhaltigkeit findet inhaltlich noch keinen Eingang in diese Erklärung.
Obwohl eine eigene Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen die Implementation des Rechts auf Entwicklung betreiben sollte, blieb die Deklaration über viele Jahre weitgehend wirkungslos. Deshalb lud der UN-Generalsekretär auf Initiative der Menschenrechtskommission vom 8. bis 12. Januar 1990 in Genf zu einem Expertentreffen unter dem Namen »Global Consultation on the Right to Development as a Human Rigth« ein. Neben verschiedenen UN-Organisationen, die in den Bereichen Menschenrechte und Entwicklung arbeiten, nahmen Vertreter von Staaten, internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler teil.
Die Expertenrunde vertritt die Auffassung, daß Entwicklungsstrategien, die sich am ökonomischen Wachstum orientieren, gescheitert sind. Sie betrachtet Entwicklung als wesentlich subjektiv, was unterschiedliche Entwicklungswege impliziert. Danach sollte Entwicklung von den Menschen selbst bestimmt und an ihre spezifischen Wünsche und Bedürfnisse angepaßt sein. Im Zentrum von Entwicklung steht deshalb die Partizipation von Menschen, Gruppen, und Völkern (s. Kasten 1). In der Menschenrechtsdebatte blieben die Ergebnisse dieser Expertenrunde bisher weitgehend ohne Berücksichtigung. Sie können jedoch die Diskussion um das Recht auf Entwicklung und über den Zusammenhang von Menschenrechten und Entwicklung bereichern.
Die 52. Sitzung der Menschenrechtskommission 1996 in Genf behandelte das Recht auf Entwicklung erneut und verabschiedete Vorschläge zu seiner Konkretisierung. Auf Initiative der Staatengruppe der Blockfreien und mit Unterstützung einiger Industrieländer, darunter die Bundesrepublik, konnte eine Resolution zum »Recht auf Entwicklung« im Konsens verabschiedet werden. Die Resolution orientert sich am Abschlußdokument der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz, enthält aber wichtige Präzisierungen und Überlegungen zur Durchsetzung dieses Rechts (s. Kasten 2). Gemeinsame Anstrengungen von Industrie- und Entwicklungsländern, die den Menschen in den Mittelpunkt der Entwicklung rücken, können dazu beitragen, daß nicht Wirtschaftwachstum im Vordergrund steht, sondern eine menschliche Entwicklung, die das Prinzip der Nachhaltigkeit berücksichtigt. Allerdings dürfte dies nur durch Druck von »unten« durchsetzbar sein.
Trotz der Bekenntnisse von Rio und Wien ist der Begriff der Nachhaltigkeit in der staatlichen und internationalen Entwicklungspolitik eher eine Worthülse geblieben und wird angesichts einer in vielen Industrieländern schwierigen Wirtschaftslage zugunsten von wirtschaftlichem Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in den Hintergrund gedrängt. Auch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) scheint diesen Kurs zu fahren. Noch 1994 schlug UNDP in seinem »Bericht über menschliche Entwicklung« eine Weltsozialcharta vor, mit dem Ziel „eine Gesellschaft aufzubauen, in der das Recht auf Ernährung ebenso geheiligt ist wie das Wahlrecht, in der das Recht auf elementare Bildung ebenso stark verankert ist wie das Recht auf freie Presse und wo das Recht auf Entwicklung zu den grundlegenden Menschenrechten gehört.“ Im »Human Development Report 1996« jedoch wird die Notwendigkeit von Wachstum für menschliche Entwicklung betont. Die Hauptthese des Berichts ist, „that more economic growth, not less, will generally be needed as the world enters the 21st century.“ (HDR 1996: 1) Nachhaltigkeit wird zwar erwähnt, aber überwiegend mit Umweltschutz in Verbindung gebracht. China gilt als Beweis dafür, daß ökonomisches Wachstum und menschliche Entwicklung erfolgreich zusammengehen können (z.B. HDR 1996: 6). Keine Erwähnung findet dabei, daß der brutale Manchesterkapitalismus des chinesischen Regimes nicht nur einhergeht mit schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen, mit Arbeitslagern und Landflucht, sondern auch mit Umweltzerstörungen und der Verarmung großer Teile der Bevölkerung bei gleichzeitiger Bereicherung weniger. China ist derzeit sicherlich keine Gesellschaft, die den Grundsätzen der von UNDP 1994 vorgeschlagenen Weltsozialcharta nahekommen würde.
Die Diskussion um nachhaltige Entwicklung scheint sich derzeit darauf zu beschränken, Umweltschutz in die Wirtschaftspolitik einzubeziehen. Nachhaltigkeit als umfassendes Konzept müßte jedoch auch eine Umorientierung beim Wirtschaftswachstum, eine Demokratisierung der internationalen Beziehungen, die verstärkte Partizipation der Menschen und ein verändertes Konsumverhalten der Menschen im Norden umfassen. Offen bleibt dabei, inwiefern Maßnahmen zur Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung, das Bemühen um eine solche nachhaltige Entwicklung unterstützen können. Wenn allerdings die Partizipation von Menschen und Gruppen tatsächlich ins Zentrum der Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung rückt, wie dies von der Expertenrunde der »Global Consultation« und in der Resolution der 52. Menschenrechtskommission vorgeschlagen wurde, dann könnte dies ein wichtiger Aspekt von nachhaltigher Entwicklng sein.
Auszüge aus dem Bericht der Global Consultation on the Right to Development »The Realization of the Right to Development« (HR/PUB/91/2)
145. The human person is the central subject rather than a mere object of the right to development.
149. The concept of participation in the realization of the right to development. Measures formulated to promote the right to development must focus on the democratic transformation of existing political, economic and social structures which are conducive to the full and effective participation of all persons, groups and peoples in decision-making processes. Special measures are required to ensure the full participation of particularly vulnerable sectors of society, such as children, rural people, and the extremely poor, as well as those which have traditionally experienced exclusion or discrimination, such as women, minorities and indigenous peoples.
155. What constitutes »development« is largely subjective, and in this respect development strategies must be determined by the people themselves and adapted to their particular conditions and needs. No one model of development is universally applicable to all cultures and people. All development models, however, must conform to international human rights standards.
Kernaussagen der Resolution der Blockfreien zum Recht auf Entwicklung auf der 52. Sitzung der Menschenrechtskommission:
- Der Mensch ist zentrales Subjekt von Entwicklung.
- Die Partizipation der Menschen ist bei Entwicklungsvorhaben auf allen Ebenen wesentlich.
- Regionalkommissionen und Sonderorganisation sollen prüfen, wie sie das Recht auf Entwicklung in ihre Arbeit einbeziehen können.
- Der Hochkommissar für Menschenrechte wird als Koordinator für Menschenrechtsaktivitäten der Vereinten Nationen bestätigt.
- Eine Expertengruppe erarbeitet eine Strategie für die Durchsetzung dieses Rechts.
Literatur
Barsh, Russel L. (1991) The Right to Development as a Human Right: Results of the Global Consultation, in: Human Rights Quarterly 13, 322-338.
Hamm, Brigitte (1994) Das Menschenrecht auf Entwicklung: Leere Versprechung oder Pflicht? in: Birckenbach, Hanne/Jäger/Uli/Wellmann, Christian (Hrsg.), Jahrbuch Frieden 1995: 98-108, München.
Riedel, Eibe (1989) Menschenrechte der dritten Dimension, in EuGRZ, 9-21.
United Nations Development Programme (UNDP) (1994) Bericht über die menschliche Entwicklung 1994, Bonn.
United Nations Development Programme (UNDP) (1996) Human Development Report 1996, New York/Oxford.
Brigitte Hamm arbeitet an der Gerhard-Mercator-Universität GH Duisburg