W&F 2016/4

SIPRI

Statistiken für die Friedensforschung

von Kai Kleinwächter

Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI macht regelmäßig Schlagzeilen, z.B. dann, wenn es neue Statistiken zu Rüstungsausgaben, zu Rüstungsexporten oder zum weltweiten Stand der Atombewaffnung zur Verfügung stellt. Auf die Datenbanken und Statistiken des Instituts greifen aber nicht nur die Medien, sondern vor allem auch andere Friedensforschungsinstitute und -projekte zu. Dafür geben u.a. die Unabhängigkeit des Instituts und die Nachvollziehbarkeit und Verlässlichkeit seiner Daten den Ausschlag. Just diese Unabhängigkeit gerät aufgrund von Veränderungen im SIPRI-Budget jetzt in Gefahr.

Auf Initiative der späteren Friedensnobelpreisträgerin und Ministerin für Abrüstungsfragen Alva Myrdal gründete die schwedische Regierung 1966 das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Unter seinem ersten Präsidenten, dem Soziologen Gunnar Myrdal, entwickelte sich das Institut zu einer weltweit renommierten Einrichtung im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung. Sein Schwerpunkt war und ist die „Erforschung der Voraussetzungen für dauerhaften Frieden sowie die friedliche Lösung von Konflikten“.1 Dabei folgt SIPRI dem Anspruch, nicht nur die theoretischen Ursachen von Konflikten zu beleuchten, sondern auch anwendungsorientierte Politikberatung auf der Basis nachprüfbarer Statistiken durchzuführen.2

Datenbanken zur internationalen Rüstung

Weltweite Bekanntheit erlangte SIPRI für seine quantitative Erfassung des globalen Militärsektors. Vor allem die Statistiken zu Militärausgaben, Nuklearwaffen sowie Waffenhandel und -produktion gelten als einmalig. Eine direkte politische Bedeutung erlangten diese in den 1970er/1980er Jahren: Die Abrüstungsverhandlungen im Rahmen des KSZE-Prozesses bezogen sich wesentlich auf Daten des neutralen Institutes.3

Die Statistiken beruhen auf offiziellen Angaben von Regierungen und internationalen zwischenstaatlichen Organisationen, wie der Vereinten Nationen. Sie haben dadurch eindeutige und bewertbare Datenquellen. Bei nicht genau geklärten Informationen publiziert SIPRI keine Angaben; ein prägnantes Beispiel sind statistische Daten zu Nordkorea. Hier unterscheidet sich SIPRI wohltuend von anderen »Forschungsinstituten«, wie beispielsweise dem International Institute for Strategic Studies (IISS), die nicht überprüfbare Daten aus »informierten Kreisen« verwenden. Die jedes Frühjahr erfolgende Aktualisierung der SIPRI-Datenbanken wird durch profunde Analysen und Einschätzungen ergänzt.

Militärausgaben

Die SIPRI-Angaben umfassen den gesamten Militärsektor. Auch Forschungsausgaben, Sozialprogramme für Mitarbeiter des Militärs oder militärische Hilfsprogramme für das Ausland werden mitgezählt. Viele Staaten verbuchen solche Ausgaben nicht im offiziellen Militärbudget. Entsprechend liegen die Angaben von SIPRI oft über den offiziellen Angaben der Staaten. So betrug der deutsche Militäretat 2015 nach offiziellen Angaben der Bundesregierung knapp unter 33 Mrd. Euro,4 SIPRI hingegen wies ein Budget von ca. 35,5 Mrd. Euro aus.

Mitarbeiter von SIPRI rechnen die in nationalen Währungen angegebenen Militärausgaben in US-Dollar und in konstante Realpreise um. Durch diese »Bereinigung« von Wechselkursen und Inflationsraten erhöht sich die Vergleichbarkeit auf Länderebene deutlich.5 Zusätzlich setzen die Forscher die Militärbudgets ins Verhältnis zu den sozio-ökonomischen Größen Bruttoinlandsprodukt, Bevölkerung und Regierungsausgaben. Die innere Militarisierung der Gesellschaft bzw. die Bedeutung des Militärs für diese wird so deutlicher erkennbar.

Waffenhandel und -produktion

Die Statistiken zu Waffenhandel und -produktion umfassen sowohl beteiligte Länder und monetäre Angaben als auch die Spezifikation der Waffen nach NATO-Standards. Dabei konzentriert sich SIPRI auf Großkampfwaffensysteme. Wo möglich erfolgt auch die Nennung der Rüstungsfirmen. Daraus leitet SIPRI eine Liste der »Top 100« der internationalen Rüstungskonzerne ab.

Verfügbarkeit der Daten

Durch die öffentlichen Geldgeber ist SIPRI (bisher) weniger unter Druck als andere Einrichtungen, um jeden Preis Aufträge zu erhalten oder Studien zu verkaufen. Daher sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse von SIPRI der Öffentlichkeit fast vollständig zugänglich. Auch eine Wiedergabe, einschließlich der Erstellung eigener Grafiken, unterliegt kaum Einschränkungen.6 Diese Politik der offenen Information trug wesentlich dazu bei, dass SIPRI eine der Hauptquellen im Bereich der Friedens- und Militärforschung wurde. So übernimmt beispielsweise das Bonn International Center for Conversion (BICC) für seinen »Globalen Militarisierungsindex« wesentliche Daten aus der SIPRI-Statistik.

Grenzen der Datenlage

Auch die von SIPRI erhobenen und zur Verfügung gestellten Daten unterliegen allerdings Einschränkungen:

1. Historische Militärausgaben

Alle Statistiken reichen bis ins Jahr 1950 zurück. Eine wichtige Ausnahme sind die Militärausgaben. Für die NATO-Mitglieder reichen die Daten jeweils bis zum Eintritt in das Bündnis zurück. Bei Nicht-NATO-Staaten sind diese aber erst ab 1988 frei verfügbar. Davor liegende Angaben stellt SIPRI seit der Datenrevision von 1998 nicht mehr zur Verfügung – aus Sicht der Verantwortlichen entspricht die Datenqualität nicht den eigenen Standards.7 Für ältere Datenreihen müssen interessierte Wissenschaftler*innen, Journalist*innen oder Aktivist*nnen auf die älteren, nur noch in wenigen Bibliotheken vorhandenen Print-Ausgaben der SIPRI-Jahrbücher zurückgreifen. Das Institut arbeitet derzeit die entsprechenden Daten nach. Eine »Beta«-Version ist seit Mai dieses Jahres auf Nachfrage verfügbar. Es gibt bislang keine Aussagen darüber, wann entsprechende Daten in der öffentlichen Datenbank verfügbar sein werden noch wie vollständig die Datenreihen dann sind.

2. Staat und Transparenz

Da die Statistiken auf amtlichen Quellen beruhen, versagt dieser Ansatz bei einer Staatspolitik der Geheimhaltung. ­Katar oder Eritrea sind nur zwei Beispiele dafür. Auch bei militärischen Strukturen jenseits klassischer Staatlichkeit sind der Datenerhebung deutliche Grenzen gesetzt. Weder zu »failed states«, wie Somalia, oder Bürgerkriegsgebieten, wie Syrien, liegen Angaben vor. Auch bewaffnete Formationen unterhalb der staatlichen Struktur, wie beispielsweise der IS oder mannigfaltige Truppen von Warlords, werden nicht erfasst.

3. Folgekosten und Kosten für innere Sicherheit

Wesentliche Bereiche des militärisch-industriellen Komplexes werden von SIPRI nicht erfasst. Ausgaben zur Demilitarisierung, Abrüstung und Konversion gehen nicht in die Statistiken ein. Auch Folgekosten militärischer Aktivitäten, wie ökologische Schäden, Korruption oder einseitige Wirtschaftsstrukturen, werden nicht berücksichtigt. Ebenfalls gibt es keine Angaben zur zivilen Verteidigung, zu den (Inlands-) Geheimdiensten sowie zu Sicherheitskräften. Die Statistik gibt somit gegenwärtige Tendenzen der Vermischung von innerer und äußerer Sicherheit nicht adequat wieder.

Bewahrung der Unabhängigkeit

SIPRI wurde in der Vergangenheit als öffentliche Stiftung weitgehend vom schwedischen Staat finanziert; die Zuwendung beträgt derzeit 24 Mio. SEK (ca. 2,6 Mio. Euro).8 Aufgrund von Sparplänen der schwedischen Regierung seit Anfang des Jahrzehnts decken diese Gelder inzwischen nur noch die Hälfte der Kosten. Die fehlenden Mittel muss das Institut folglich extern einwerben. Bisher sprangen vor allem schwedische Institutionen ein, wie die Swedish International Development Cooperation Agency (SIDA) oder die Swedish Foundation for Strategic Environmental Research (MISTA). Des Weiteren unterstützen (zwischen-) staatliche Organisationen, wie die Europäische Kommission, die Weltbank, das US-Außenministerium oder das französische Verteidigungsministerium, einzelne Projekte.

Damit droht eine Balance zu kippen, die SIPRI immer ausgezeichnet hatte. Die Mitarbeiter des Institutes fühlen sich der wissenschaftlichen Arbeit für den internationalen Frieden verpflichtet. Dies spiegelt sich im aktuellen Governing Board wider, in dem zum Beispiel Dr. Dewi Fortuna Anwar (Indonesien) und Dr. Radha Kumar (Indien) einen Sitz haben. Andererseits bestehen aber auch engste personelle Verbindungen zum militärisch-industriellen Komplex, ohne die ein Teil der Forschung sicherlich nicht möglich wäre. Beispielhaft dafür steht Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz und ebenfalls Mitglied im Governing Board. Der derzeitige SIPRI-Direktor, Dan Smith, sieht dieses Spannungsfeld als Vorteil an, da „Leute sich [so] in einem weniger formalen Rahmen austauschen können“.9

Diese Diskussion ist nicht neu, wie 1986 die damalige Berufung von Walther Stützle an die Spitze des Institutes zeigte. Der Sozialdemokrat und ehemalige Planungschef im deutschen Verteidigungsministerium stieß bei vielen MitarbeiterInnen auf erheblichen Widerstand.10 Und die Wahrung der institutsinternen Balance wird mit den finanziellen Nöten immer schwieriger. Ein Anzeichen für den wachsenden Druck war die vorzeitige Abberufung des Direktors Tilmann Brück. Der mit großen Ambitionen11 gestartete deutsche Forscher scheiterte an der Mitarbeiterführung. Er trat auf Drängen der Gewerkschaften 2014, also bereits ein Jahr nach seiner Berufung, zurück.12 Ähnlich wie schon Walther Stützle konnte er zwischen den unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Institutes keinen Ausgleich mehr erzielen.

Diese SIPRI-internen Auseinandersetzungen müssen vor dem Hintergrund der politischen Situation in Schweden gesehen werden. Die Ausrichtung der Außenpolitik des Landes ist derzeit äußerst umkämpft.13 Konservative Strömungen versuchen, das Land zur Aufgabe seiner Neutralität und zum Beitritt in die NATO zu bewegen. Es ist zu hoffen, dass die unbequeme Forschungsinstitution SIPRI, die ihre wesentliche objektivierende Kraft aus der Unabhängigkeit Schwedens bezieht, in diesem Prozess nicht geopfert wird. Um das zu verhindern, braucht es mehr kritische Aufmerksamkeit für die politischen Hintergrundprozesse bei der Erstellung von Datenbanken, die für die Friedensforschung so wichtig sind.

Anmerkungen

1) About SIPRI – History; sipri.org.

2) Siehe dazu Wulf, H.: Politikberatung der Friedens- und Konfliktforschung – nicht immer friktionsfrei und erfolgreich. W&F Nr. 4-2008.

3) W&F-Redaktion im Gespräch mit Michael Brzoska: SIPRI – Ein Porträt. W&F 4-1984.

4) Vgl. Bundesministerium der Verteidigung: Verteidigungshaushalt 2016.

5) Leider ändert sich das Basisjahr ständig. Im Bericht von 2015 wählten die Autoren das Basisjahr 2014. Davor galt über mehrere Jahre 2011 als Standard. Damit harmonieren SIPRI-Daten nur begrenzt mit anderen internationalen Berechnungen, beispielsweise der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds. Diese orientieren sich an den UN-Standards für die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Hier gilt derzeit 2005 als entscheidendes Basisjahr.

6) About SIPRI – Terms and Conditions; sipri.org.

7) SIPRI Military Expenditure Database – Frequently asked questions: 4. Does SIPRI have military expenditure data before 1988?; sipri.org.

8) About SIPRI – SIPRI funding; sipri.org.

9) Hein, von M.: „Je mehr Austausch, desto besser“. Interview mit Dan Smith. Deutsche Welle/dw.com, 1.2.2015.

10) Berufliches – Walther Stützle. DER SPIEGEL, Nr. 14/1986.

11) Frey, C.: „Den Moment vergesse ich nicht so schnell“ – Porträt Tilman Brück. Der Tagesspiegel, 22.9.2012.

12) Dewitz, C.: Krise in der Stockholmer Fiedensinstitution? bundeswehr-journal.de, 16.5.2014.

13) Kleinwächter, K.: Außenpolitik Skandinaviens. e-politik.de, 14.6.2016.

Kai Kleinwächter ist Mitarbeiter der Redaktion von »WeltTrends – Zeitschrift für internationale Politik«. Er arbeitet als Dozent für Ökonomie an der bbw-Hochschule sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin. Außerdem bloggt der Autor auf e-Politik.de.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/4 Weltordnungskonzepte, Seite 49–50