W&F 2021/4

»Slow Violence«

Zeitlichkeit(en) von Frieden und  Konflikten

von Natascha Mueller-Hirth

Obwohl es mit Debatten rund um strukturelle Gewalt in Einklang gebracht werden kann, hat das Konzept der »slow violence« (langsamer, schleichender Gewalt) bislang noch wenig Verwendung in der Friedens- und Konfliktforschung gefunden. »Slow violence« nimmt Bezug auf allmähliche und verzögerte Gewalt, die unsichtbar wird durch das Fortschreiten der Zeit und einem gesellschaftlich dominanten Verständnis von Krisen als spektakulären und plötzlichen Ereignissen. Der Beitrag diskutiert die Kernelemente der »slow violence« und setzt diese in Bezug zu feministischen und postkolonialen Ansätzen der Gewaltforschung sowie zu jüngeren Arbeiten über die Zeitlichkeiten von Frieden und Konflikten.

Vor zehn Jahren wurde das Konzept der »slow violence« von Rob Nixon in seinem Buch »Slow Violence and the Environmentalism of the Poor« eingeführt. Nixon beschreibt diese Form der Gewalt als eine Gewalt, die sich allmählich und außer Sichtweite realisiert, eine Gewalt der verzögerten Zerstörung die über Zeit und Raum verteilt ist, eine Gewalt der Zermürbung, die üblicherweise gar nicht als Gewalt verstanden wird“ (Nixon 2011, S. 2).

Sein disziplinärer Hintergrund in der sozialwissenschaftlichen Umweltforschung erklärt Nixons speziellen Fokus auf die Zerstörung der Umwelt im Kapitalismus, indem er betont, dass sich die verzögerten Folgen des Klimawandels, der Verschmutzung, des Ressourcenabbaus und der Kriegsführung oft erst nach Jahrzehnten zeigen. Für Nixon wird »slow violence« dadurch ermöglicht, dass es eine spezifische Erkenntnis- und Konstruktionsweise von Krisen und Desastern gebe: Gewalt müsse spektakulär, explosiv und überraschend sein, um in den Medien abgebildet zu werden oder von der Politik und strategischen Planungsvorhaben mit berücksichtigt zu werden. Dem hält er entgegen, dass Gewalt auch allmählich, stufenweise, schleichend und akkumulierend wirken kann und das über weitaus längere Zeitfenster. Beispiele dessen, was Nixon eindrücklich »lange Tode« (long dyings) nennt, lassen sich im ökologischen Kollaps des Nigerdeltas infolge der Ölförderungen, in der Strahlung, die von zerfallender Uranmunition aus den Golfkriegen stammt oder auch »Umweltflüchtlingen« finden, die von Mega-Staudamm Projekten vertrieben werden.

Die Auswahl dieser Beispiele verdeutlicht auch, dass das Verständnis von Gewalt nicht nur einer Auseinandersetzung über Zeitlichkeit, sondern auch über Geographie bedarf: Der globale Kapitalismus führt zu ungleichen Entwicklungen und sozialer wie ökologischer Ungerechtigkeit, in der Gemeinschaften oder Staaten mit niedrigen Einkommen üblicherweise diejenigen sind, die solche (lebens)gefährlichen Orte aufweisen, eine höhere Verletzlichkeit gegenüber den Folgen des Klimawandels aufweisen und möglicherweise weniger Ressourcen für die Anpassung aufbringen können.

Andere Forscher*innen haben das Konzept jenseits seines umweltwissenschaftlichen Kontextes zu erweitern versucht, indem sie sich der »slow violence« im Verhältnis zu Polizeiarbeit und staatlich unterstützten rassistischen Verbrechen, im Verhältnis zur Bildung, sozialer Stigmatisierung, Grenzregimen oder dem Niedergang des Wohnungsmarktes annäherten, um nur einige Anwendungsgebiete zu erwähnen.

Die Unsichtbarkeit der Gewalt

Friedens- und Konfliktforscher*innen mag der Klang von »slow violence« vertraut vorkommen. Nixon erkennt auch explizit die Bedeutung von Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt (1969) – das normalisierte und oft nicht bemerkte Leiden, das den Menschen durch ungleiche Lebenschancen und die Verweigerung von Grundbedürfnissen zugefügt wird – für sein eigenes Werk. Er argumentiert aber, dass strukturelle Gewalt statisch sei und Fragen von Bewegung, Wandel und Handlungsmacht vernachlässige. Obwohl »slow violence« Formen struktureller Gewalt beinhalten kann, stellt es als Konzept eher auf die Ausübung vieler möglicher Formen der Gewalt über Zeit ab und antwortet damit auf gegenwärtige »Politiken der Beschleunigung« und auf ein sich wandelndes Verständnis vom massiven menschlichen Einfluss auf den Planeten.

»Slow violence« wird jedoch vorgeworfen, gerade die Gegensatzpaare zu verdinglichen (wie sichtbar/unsichtbar, abrupt (hot)/schleichend (slow) oder spektakulär/alltäglich), die feministische und postkoloniale Forschende seit langem schon infrage stellen. Ihre Kritik lautet, dass es ein Kontinuum der Gewalt von »spektakulärer« hin zu alltäglicher struktureller Gewalt gibt, die viele marginalisierte Gruppen erleben, dass es aber auch Kontinuen geschlechtsbezogner oder ethnischer Gewalt gibt, die sich zwischen dem »Krieg« und sogenannten »Friedenszeiten« aufspannen. Die Unsichtbarkeit bestimmter Formen der Gewalt sei also nicht nur von Zeitlichkeit abhängig, sondern vielmehr auch beeinflusst von „größeren vergeschlechtlichten und rassifizierten Epistemologien [Erkenntnisweisen] die das Öffentliche, das Schnelle, das Aufgeheizte und das Spektakuläre privilegieren“ (Christian und Dowler 2019, S. 1066; ebenso George 2014 für den Versuch, »slow violence« auf geschlechtsbezogene Gewalt zu beziehen). Davies (2019) Arbeit mit Communities in den giftigen Landschaften der petrochemischen Industrie Louisianas zeigt dabei deutlich, wie strukturelle Ungleichheit zu »slow violence« gerinnen kann. Seine Kritik an Nixons Behauptung, dass »slow violence« „Spektakel-defizitär“ sei, wirft ein grelles Licht auf epistemische Gewalt: Davies argumentiert, dass es eher die Politiken der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid marginalisierter Gruppen sind als die reine Unsichtbarkeit an sich, die »slow violence« verstetige und am Leben hielte. Seinen Ausführungen nach ist es daher zentral, sich mit den gelebten Erfahrungen und informellen Wissensformen derjenigen auseinanderzusetzen, die mit diesem schleichenden Umweltstress leben müssen, für die die »slow violence« oft „klar und geradeheraus zu sehen ist“ (ibid. 2019, S. 13).

Die Betroffenen der »slow violence«

»Slow violence« ruft Herausforderungen der Repräsentation und politische Herausforderungen hervor. Das Verstreichen der Zeit, und seine Beschleunigung (siehe unten), trennt die Ursachen der Gewalt von ihren Konsequenzen, was wiederum die Möglichkeiten behindert, auf sich langsam entfaltende Umweltkrisen entsprechend aufmerksam zu machen – geschweige denn, dagegen zu mobilisieren.

Zudem verschärft »slow violence« das Problem der politischen Verantwortung – politischer Wandel passiert deutlich schneller als die Erholung der Umwelt –, und Gesetzgebung, die Umweltzerstörung wirklich nachhaltig angehen könnte, lässt sich nicht mit Wahlperioden oder Amtszeiten in Einklang bringen.

In der Konsequenz führt also die Engführung von Gewalt auf einzelne Ereignisse oder kurze, klar definierte Perioden zu einer Vernachlässigung derer, die unter den verzögert wirkenden oder sich akkumulierenden Auswirkungen von Umweltkatastrophen leben, leiden oder daran sterben. Strahlung oder chemische Verschmutzung verursachen Krebsgeschwüre und Verseuchungen; Ressourcenabbau und Klimawandel verringern die Chancen, menschliches Leben auf der Erde sicherzustellen; die 100 Millionen nicht explodierten Minen verschiedener Kriege weltweit liegen in den Böden vorwiegend ärmerer Länder konzentriert und führen dort zu Verstümmelungen und Toden. Fortlaufende und intergenerationelle Gewalt könnte ein chronisches Trauma verursachen (Pain 2020). In diesem Sinne verstärkt »slow violence« Bedrohungen exponentiell und kann dazu beitragen, langfristige Spannungen und Konflikte weiter anzuheizen.

Mit all diesen Argumenten setzt sich Nixon in seinem Werk nicht explizit auseinander, sie sind aber in der Forschung zu den Folgen von Massengewalt erkundet worden – von Volkans „Zeitenkollaps“ (1997), in dem Gruppen Ideen und Gefühle im Zusammenhang mit einem „erwählten Trauma“ aus der Vergangenheit mit denen aktueller Krisen ineinanderfalten, bis zu den „zeitlichen Konflikten“ (Mueller-Hirth 2017) zwischen den Bedürfnissen und Rhythmen der Heilung der Überlebenden auf der einen Seite und gesellschaftlichem und politischem Streben nach Übergang und Versöhnung auf der anderen Seite.

Zeitlichkeit(en) von Frieden und Konflikten

Allgemeiner gesprochen hat es in jüngerer Zeit Bewegungen in der Friedens- und Konfliktforschung gegeben, die impliziten Konzepte linearer Zeit zu kritisieren und dagegen die Weisen auf die Zeit und Macht miteinander verschränkt sind ernstzunehmen. Diese Arbeiten beziehen sich oft auf postkoloniale Forschungsarbeiten, die explizit die „imperiale Idee der linearen Zeit“ ablehnen, um die Kontinuitäten zwischen kolonialer Vergangenheit und Gegenwart nachzuzeichnen (McClintock 1995, S. 9; siehe auch Christian und Dowler 2019 zu feministischen und antirassistischen Kritiken).

Diese Kritik eröffnet einen Blick auf die vielfältigen Zeitlichkeiten im Erleben der Gewalterfahrungen und darauf, wie dominante Zeitlichkeiten ungleiche Machtverhältnisse reproduzieren (z.B. Igreja 2012, Mueller-Hirth und Rios Oyola 2018). Zum Beispiel werden Überlebende von Gewaltakten oft nach einer gewissen Zeit als anachronistisch porträtiert, als lehnten sie es ab »voranzugehen«; dominante Zeitlichkeiten von Konflikt und Frieden versuchen, die (gewaltvollen) Vergangenheiten und die (friedliche) Gegenwart als binäre Oppositionen zu konstruieren, was aber mit der gelebten Erfahrung derer nicht übereinstimmt, die sich von Traumata, Gewalt oder Leid zu erholen versuchen.

Zeitliche Dominanz kann durch die Macht bestimmter Akteure ausgedrückt werden, Zeitfenster für Friedensprozesse zu setzen, und kann dann z.B. in Verzögerungen und Wartezeiten auf Kompensationsleistungen für die Überlebenden beobachtet werden.

Wir müssen uns an dieser Stelle also fragen, ob Nixons Konzept selbst überhaupt Gewalt und die Erfahrung von Gewalt angemessen „verzeitlicht“. Die Soziologie der Zeit hat schon vor Langem auf die soziale Konstruiertheit und die diversen Formen menschlicher Zeitlichkeiten hingewiesen, im spezifischen auf dynamische Beziehungen der Zeitverhältnisse, Zeitfenster, Tempo, Timing, Sequenzierung und Muster (Adam 2004). Vergleichbar enthalten Ökosysteme so viele »Zeiten«, wie sie Objekte enthalten“ (Huebener 2020, S. 344).

Während das Konzept der »slow violence« also den Fokus bedeutsamerweise auf das Verstreichen der Zeit lenkt, das die Ursachen von Umweltverletzungen unsichtbar macht und nicht mehr nachvollziehbar werden lässt, ist es in Nixons Konzept dennoch unklar, was genau an »Zeit«, oder einer bestimmten »Zeitlichkeit«, diese Verschleierung erlaubt. Beispielsweise bezieht er sich auf den technologischen Wandel und die gegenwärtigen »Politiken der Geschwindigkeit« (Nixon 2011, S. 13), dafür maßgebliche theoretische Zugänge zu technologischer und sozialer Beschleunigung zieht er allerdings nicht heran (vgl. z.B. Rosa 2003).

In der Tat liegt dem Ansatz der »slow violence« ein linear-chronologisches Zeitlichkeitskonzept zugrunde, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als distinkte Einheiten betrachtet. Es scheint aber doch gerade solche zeitlich und räumlich verteilte schleichende Gewalt zu sein, die diese distinkten Grenzen und eine chronologische Konzeption der Zeit aufzulösen beginnt. Vom Standpunkt einer kritischen Zeitlichkeitsforschung leidet das Konzept der »slow violence« also an einer ungenügenden Berücksichtigung multipler oder alternativer Konzeptionen der Zeit.

Der »slow violence« entgegentreten?

Wie von seinem Untertitel angedeutet, dreht sich Nixon auch um den Widerstand gegen »slow violence« durch das, was er »(Um-)Weltverhältnisse der Armen« nennt, sowie diejenigen, die Zeug*innen solcher Umweltbewegungen werden. Er bezieht sich auf postkolonial inspirierte aktivistische Intellektuelle wie Ken Saro-Wiwa, Wangari Maathai, Arundhati Roy und viele andere, um zu erkunden wie »slow violence« „für die Sinne verständlich gemacht werden kann durch wissenschaftliche und imaginative Bezeugungen“ (Nixon 2011, S. 14). In Ergänzung argumentiert Davies (siehe oben), dass »slow violence« für die davon Betroffenen keinesfalls versteckt ist, dass deren Aussagen oder Erzählungen aber regelmäßig ignoriert würden. Lokale, informelle Wissensbestände und die „visuelle, verkörperte und gelebte Erfahrung dieser toxischen Orte“ (Davies 2019, S. 11) sollten in Feststellungen von Umweltrisiken und -gefahren mit einbezogen werden, um wissenschaftliche Ergebnisse und Expert*innenaussagen zu ergänzen. Für Forschende bringt dies zusätzlich die Aufgabe mit sich, die eigenen Fähigkeiten zu pflegen, Zeit(lichkeiten) kritisch analysieren zu können (Huebener 2020) – in einem Bewusstsein für die vielzähligen Beziehungen der Individuen zu Gewalt und Zeit, für mehrfache Zeitlichkeiten und für die Art und Weisen in denen Zeit als Mittel zu sozialer Kontrolle und Machtausübung verwendet werden kann.

Es lässt sich festhalten, dass das Konzept der »slow violence« in der sozialwissenschaftliche Umweltforschung einflussreich geworden ist und viel dazu beitragen kann, Themen der Sichtbarkeit und Zeitlichkeit von Gewalt in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken – und doch ist es wohl am ehesten dazu geeignet, umwelt(ökologische) Katastrophen verstehbar zu machen, wie Nixon in seinem Werk schon selbst anmerkte.

Es muss aber auch betont werden, dass »slow violence« in wissenschaftlicher, medialer und allgemein gesellschaftlicher Debatte deutlich breiter diskutiert werden muss, nicht zuletzt um das Leid derer sichtbar zu machen, die allzuoft ignoriert werden – so bereichert das Konzept auch gegenwärtige Debatten um Umweltgerechtigkeit und -rassismus.

Literatur

Adam, B. (2004): Time. Cambridge: Polity

Christian, J. M.; Dowler, L. (2019): Slow and fast violence. ACME: An International Journal for Critical Geographies 18(5), S. 1066-1075.

Davies, T. (2019): Slow violence and toxic geographies: ‘Out of sight’ to whom?. Environment and Planning C: Politics and Space, doi.org/10.1177/2399654419841063.

Galtung, J. (1969): Violence, peace, and peace research. Journal of peace research 6(3), S. 167-191.

George, N. (2014): Promoting women, peace and security in the Pacific Islands: Hot conflict/slow violence. Australian Journal of International Affairs 68(3), S. 314-332.

Huebener, P. (2018): Timely ecocriticism: reading time critically in the environmental humanities. ISLE: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 25(2), S. 327-344.

Igreja, V. (2012): Multiple temporalities in indigenous justice and healing practices in Mozambique. International Journal of Transitional Justice 6(3), S. 404-422.

McClintock, A. (1995): Imperial leather: Race, gender, and sexuality in the colonial contest. London: Routledge.

Mueller-Hirth, N. (2017): Temporalities of victimhood: Time in the study of postconflict societies. Sociological Forum 32(1), S. 186-206.

Mueller-Hirth, N., & Rios Oyola, S. (Eds.) (2018): Time and Temporality in Transitional and Post-Conflict Societies. London: Routledge.

Nixon, R. (2011): Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Harvard: Harvard University Press.

Pain, R. (2020): Geotrauma: Violence, place and repossession. Progress in Human Geography, doi.org/10.1177/0309132520943676.

Rosa, H. (2003): Social acceleration: ethical and political consequences of a desynchronized high–speed society. Constellations 10(1), S. 3-33.

Volkan, V. (1997): Bloodlines. From ethnic pride to ethnic terrorism. New York: Farrar, Straus & Giroux.

Natascha Mueller-Hirth ist Lehrbeauftragte für Soziologie an der Robert Gordon Universität Aberdeen, Schottland. Eines ihrer Forschungsgebiete ist Zeitlichkeit und die Politiken der Zeit im Verhältnis zu Transitional Justice und Peacebuilding.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/4 Chinas Welt? – Zwischen Konflikt und Kooperation, Seite 41–43