W&F 2017/2

Solidarische Städte – Städte der Zuflucht

von Dirk Vogelskamp

Um die aktuellen Flucht- und Wanderungsbewegungen über das Mittelmeer zu unterbinden und zu kontrollieren, werden seitens der Europäischen Union vermehrt und hektisch diplomatische Anstrengungen unternommen, afrikanische Regierungen, darunter despotische Regime, in die Migrationsabwehr einzuspannen. Dagegen ist Widerstand möglich, u.a. im weltweiten Netzwerk der »Sanctuary Cities«.

Von der Europäischen Union wird eine vertiefte Zusammenarbeit (Migrationspakte) im Bereich der Migrationskontrolle und -steuerung mit einer Reihe von Herkunfts- und Transitstaaten in Afrika (u.a. Niger, Nigeria, Senegal, Mali, Äthiopien, Sudan, Tunesien, Ägypten, Libyen …) angestrebt. Acht Milliarden Euro werden dafür bis ins Jahr 2020 in Aussicht gestellt. Die jeweiligen Pakte zielen darauf, die unerwünschten Migrationsbewegungen einerseits bereits in den ausgewählten Regionen wirksam zu verhindern, also noch bevor sich Menschen auf der Flucht von den nordafrikanischen Küsten nach Europa aufmachen. Andererseits verfolgen sie den Zweck, Abschiebungen »irregulärer Migranten« in die Herkunfts- oder Transitstaaten weit umfänglicher als bisher zu ermöglichen (Rückübernahmeabkommen). Unverhohlen wird in neokolonialer Manier gedroht, notfalls auch handels- und entwicklungspolitische »Instrumente« einzusetzen, um migrationspolitisches Wohlverhalten zu erzwingen.

Mit diesen Abkommen sollen Schutzsuchende schon außerhalb Europas festgesetzt und an der Weiterwanderung gehindert werden. Der Nebeneffekt: Menschen auf der Flucht, Migrantinnen und Migranten, die unerträglichen Lebensbedingungen zu entkommen suchen, werden aus europäischer Perspektive unsichtbar gemacht. Ebenso werden dadurch die tatsächlichen Ursachen von Flucht, Vertreibung und Migration, die, grob formuliert, in weltweit kapitalistisch betriebener und zwangsweise aufrecht erhaltener Ungleichheit liegen, ausgeblendet. Es ist ein »cash for migrants«-Programm, eingewickelt in humanitäre Phrasen und einen »Marshall-Plan mit Afrika«, das die europäische Öffentlichkeit vorsätzlich täuscht.

Politisch enger verzahnt werden Wirtschaftshilfe und Entwicklungsgelder mit dem europäischen Migrationsmanagement. Dazu gehört unter anderem die technische Grenzaufrüstung und die Ausbildung afrikanischer Grenztruppen. Durch diese Abschottungskooperationen wird der »Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz« auf afrikanisches Territorium ausgelagert. Zugleich steigen die Todeszahlen an Europas Außengrenzen weiter an: Im Jahr 2017 gelten bis Anfang März bereits 487 Menschen als tot oder vermisst.

In den Kontext dieser Abschottungskooperationen mit afrikanischen Regierungen gehört auch die von Innenminister de Maizière und dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Oppermann, lancierte Debatte um Auffanglager in Nordafrika, die bislang noch kontrovers geführt wird.

Eine Krise der Menschenrechte

»Die Menschenrechte«, denen sich die europäische Staatengemeinschaft nicht nur verpflichtet fühlen müsste, sondern die sich alle Staaten der EU rechtsverbindlich zur Grundlage ihrer eigenen Ordnung gemacht haben, werden angesichts der immensen Fluchtmigration obsolet. Denn was bleibt von »den Menschenrechten« im weltweiten Lager­universum, in dem jene zwangsweise ihr Leben zu fristen verdammt sind, die keine Aufnahme in Europa gefunden haben, keinen sozialen Ort finden, an dem die Grundlagen ihrer sozialen und politischen Existenz garantiert werden? Was bleibt von »den Menschenrechten«, von der Würde und der Freiheit all derjenigen, die zwangsweise aus Europa in ihre (vermeintlichen) Herkunftsstaaten deportiert werden, denen sie doch entfliehen wollten? Was ist mit den Menschen, die, Not und Elend, Krieg und Gewalt soeben entkommen, täglich, Jahr für Jahr, im Mittelmeer auch aufgrund europäischer Grenzsicherung ertrinken? Wer schützt ihre Menschenrechte? Die Brüchigkeit der liberalen Menschenrechtskonstruktion wird offensichtlich.

In den Menschen auf der Flucht, ganz gleich, aus welchen Gründen sie aufgebrochen sind, und in ihren Bedürfnissen nach einem sicheren und sozialen Ort kommt damit der Dissens zu den gegebenen nationalstaatlich geordneten Herrschaftsverhältnissen in einer durch abgrundtiefe Ungleichheit gespaltenen Welt zum Ausdruck. Sie sind die Subjekte der Menschenrechte. Es ist ihr Kampf um die stets umstrittenen Menschenrechte. Es ist ihr Kampf um ein Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit und einen sozialen Ort, an dem sie Gemeinschaft selbst- und mitbestimmend leben können. Und – hätten wir sie nicht zu unterstützen?

Was können wir tun?

Auch in Deutschland werden zurzeit viele Aktivistinnen und Aktivisten von dem weltweiten Netzwerk der »Sanctuary Cities« (Zufluchtsstädte/solidarische Städte) inspiriert. Das sind Städte und Gemeinden, die allen ihren Stadtbewohnern und Stadtbewohnerinnen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährleisten wollen und sich weigern, Repressionen gegen Migranten/Migrantinnen ohne Aufenthaltsrecht auszuüben oder an Abschiebungen mitzuwirken. Dabei werden Bündnisse von flüchtlingssolidarischen Aktionsgruppen teilweise mit kommunalen Verwaltungen, Gesundheitsbehörden, Schulen, Gewerkschaften und sogar Polizeiorganisationen geschlossen, die die Spaltung der Bürgerschaft in legale, »illegale« oder lediglich geduldete Bürgerinnen und Bürger nicht mitbetreiben wollen. Ein städtisches Existenzrecht für alle. Allein in den USA gehören bereits über 200 Städte und Bezirke dieser Bewegung an. Auch unsererseits wäre über das Menschenrecht auf einen sozialen Ort als unabdingbare Voraussetzung der Menschen- und Bürgerrechte verstärkt und neu nachzudenken.

Dirk Vogelskamp arbeitet als Referent im Komitee für Grundrechte und Demokratie zu den Schwerpunkten Flucht, Asyl, Migration und Menschenrechte.

Dieser Text erschien in einer leicht ge­­kürzten Fassung bereits in den »Informationen« 01/2017 (März) des Komitees für Grundrechte und Demokratie ­(grundrechtekomitee.de).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/2 Flucht und Konflikt, Seite 38–39