W&F 2021/4

Symbol und Modell Chongqing

Entwicklung und soziale Konflikte im chinesischen Hinterland

von Florian Thünken

Die innergesellschaftlichen Konsequenzen der rasanten urbanen Entwicklungen Chinas stehen im Fokus dieses Beitrags. So klaffen große Lücken zwischen den Metropolen und dem eher vernachlässigten Hinterland: es herrscht ein klares Einkommens-, Wohlstands- und Bildungs­gefälle, ebenso unterscheiden sich im direkten Vergleich Lebensweise und Familienstrukturen zum Teil stark. Kaum eine Stadt bündelt diese Herausforderungen so deutlich wie Chongqing, die »größte Stadt der Welt«.

Die Volksrepublik China wird medial allzu oft durch eine wirtschaftliche Linse betrachtet, bei der stetiges und vermeintlich ungebremstes Wachstum im Fokus steht, meist begleitet von beeindruckenden Bildern chinesischer Megastädte, wie z.B. Beijing, Shanghai oder Shenzhen. Diese Bilder der gigantischen, dicht bevölkerten und im ständigen Wandel befindlichen Metropolen, mit ihren riesigen Hochhauslandschaften und einer hochmodernen Infrastruktur, unterstreichen das Bild einer im Aufbruch befindlichen Nation. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich allerdings ein vielschichtiges Bild, gerade mit Blick auf die kleinen und mittelgroßen Städte jenseits der entwickelten Megastädte. Dabei offenbaren sich große Lücken zwischen den Metropolen und den weniger entwickelten kleinen Städten: ein klares Einkommens-, Wohlstands- und Bildungsgefälle, ebenso unterscheiden sich im direkten Vergleich Lebensweise und Familienstrukturen zum Teil stark. Der Zugang zu den großen Städten, und damit zu wichtigen Ressourcen wie Bildung, Arbeit, sozialen Sicherungssystemen und sozialem Wohnungsbau, wird durch systemische Hürden, wie z.B. dem System der Haushaltsregistrierung, dem »Hukou«, erschwert.

Das daraus entstehende soziale Konfliktpotential, welches sich aus der sich öffnenden Schere zwischen arm und reich sowie zwischen städtischem und ländlichem Raum ergibt und das langfristig die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei bedrohen könnte, wird von der Zentralregierung seit Ende der 2000er Jahre mit gezielten Maßnahmen angegangen. Das Programm zur „neuartigen Urbanisierung“, welches mit einer „menschliche[n] Urbanisierung“ von 2014 bis 2020 unter anderem für eine schnellere Entwicklung kleiner und mittelgroßer Städte sorgen sollte, ist eine solche Maßnahme (Meyer-Clement 2015, S. 5-8). Dabei wird der eingeschlagene Weg einer weiteren und stetigen Urbanisierung des Großteils der Landbevölkerung nicht in Frage gestellt. Denn die drohende Überalterung der chinesischen Gesellschaft, noch bevor ein zufriedenstellendes Wohlstandsniveau für große Teile der Bevölkerung realisiert wurde, erhöht den Druck auf die chinesische Regierung, das Land möglichst schnell von der »Werkbank der Welt« hin zu einer Innovationswirtschaft mit höherer Wertschöpfung zu entwickeln.

Im Folgenden sollen die oben beschriebenen Konflikte um Wohlstandsverteilung, Zugang zu Stadt, (Bildungs-)Gerechtigkeit und Differenzen zwischen Stadt und Land am Beispiel der Metropole Chongqing erörtert werden.

Chongqing: geographische und administrative Verortung

Chongqing liegt im Südwesten Chinas am Yangzi und ist die jüngste von fünf sogenannten regierungsunmittelbaren Städten – und die einzige, die nicht an der weiter entwickelten Ostküste liegt. Die Entwicklung des Hinterlands, die Umsiedlung von mehr als einer Million Menschen aufgrund des Baus des Drei-Schluchten-Staudamms in der Nachbarprovinz Hubei, und die Vorgabe, als wirtschaftlicher Motor für große Teile des Südwestens zu wirken, führten dazu, dass Chongqing im Jahr 1997 von der Provinz Sichuan abgespalten wurde. Regierungsunmittelbare Städte unterstehen direkt der Zentralregierung in Beijing und stehen somit auf dem gleichen administrativen Rang wie Provinzen. Zwar handelt es sich administrativ um Städte, doch umfasst das Verwaltungsgebiet oft ein riesiges, wenig urbanisiertes Hinterland. Somit ist es rein formalrechtlich zwar korrekt von Chongqing als größter Stadt der Welt zu sprechen, in Wirklichkeit finden sich neben dem eigentlichen Stadtkern aber viele größere und kleinere Städte sowie kleine und teils sehr arme Gemeinden und Dörfer, die über eine Fläche verstreut sind, die ungefähr der Größe Österreichs entspricht (siehe Karte). Über 65 Prozent der 32 Mio. Einwohner*innen leben bereits heute in Städten und Gemeinden.

In den Fokus des wissenschaftlichen und medialen Interesses rückte die Stadt von 2007 bis 2013, als unter Bo Xilai nicht nur eine radikale Kampagne gegen mafiöse Strukturen geführt wurde, sondern die Verwaltung auch massiv in den sozialen Wohnungsbau investierte, das Hukou-System durchlässiger gemacht und alte sozialistische und maoistische Ideale erneut beschworen wurden. Ähnlich wie in der Nachbarstadt Chengdu in der Provinz Sichuan konzentrierte sich die politische Führung in Chongqing in der Folge auf eine bessere Integration von Stadt und Land, z.B. durch Angleichung der sozialen Sicherungssysteme und Ausbau der Infrastruktur. Damit diente Chongqing auch als Modell: viele der lokalen Experimente spiegeln sich mittlerweile, wenn auch in abgeschwächter Form, in politischen Plänen auf der Zentralebene wider – wie dem »Plan zur neuartigen Urbanisierung«.

Städtischer Wandel und gesellschaftlicher Umbruch im Zentrum

Besucht man die am Berg gebaute Kernstadt Chongqings, so zeigt sich der dramatische Wandel: das historische Stadtzentrum im Bezirk Yuzhong wurde radikal umgestaltet, traditionelle Bauwerke finden sich kaum noch. Viel mehr prägen neue architektonische Landmarken aus Glas und Stahl mittlerweile die städtische Landschaft. Auch die angrenzenden Stadtbezirke vermitteln das Bild einer pulsierenden Metropole, die anscheinend niemals zur Ruhe kommt. Gesellschaftlich ist die Stadt ebenfalls im Wandel begriffen. War das Stadtbild, insbesondere im Zentrum, vor rund zehn Jahren noch von einfachen Lastenträger*innen geprägt, den sogenannten »Bangbang«, so trifft man diese heute nur noch selten an (Qin 2015). Längst haben Expresslieferdienste das traditionelle Gewerbe verdrängt. Wanderarbeiter*innen, die früher oft als »Bangbang« tätig waren, verdingen sich in anderen Branchen und ziehen, auch aufgrund stetig steigender Immobilienpreise, zunehmend in die Peripherie der Großstadt oder kehren gar ganz in ihre Heimatorte zurück, die sich in den letzten Jahren oft teils zu mittelgroßen Städten entwickelt haben. Damit folgen sie vermeintlich der Logik des Urbanisierungsplans der Zentralregierung, der die großen Städte Chinas als wirtschaftliche Motoren versteht, die indirekt umliegende Städte und Gemeinden mit entwickeln sollen.

Die Folgen für die Peripherie

In Chongqing wurden dementsprechend Teile der alten industriellen Basis in Vororte und Satellitenstädte verlegt, in denen sich auch neue Industrien bevorzugt ansiedeln sollen. Zusammen mit der Verschiebung von Arbeitsplätzen wird auch die industrielle Verschmutzung aus den großen urbanen Zentren in die Peripherie verlagert.

Verschlechtert wird die ökologische Situation, gerade in der Peripherie, zusätzlich durch längere Dürreperioden und geringe Niederschlagsmengen. Es wird kontrovers diskutiert, ob dies negative Auswirkungen der Konstruktion des Drei-Schluchten-Staudamms auf das lokale Mikroklima sind, oder, wie die meisten Expert*innen vermuten, es sich eher um Effekte der globalen Erwärmung handelt (Jiao 2013, S. 52f.). Während in der Kernstadt in den letzten Jahren die Luftqualität verbessert wurde, nahm diese in einigen Satellitenstädten rapide ab. Laut Urbanisierungsplan sollen sich Wanderarbeiter*innen und Landbewohner*innen vermehrt in diesen kleinen und mittelgroßen Städten ansiedeln und zur Entwicklung beitragen. Dabei gelten kaum Voraussetzungen für die Ansiedlung, die Haushaltsregistrierung kann in den meisten Fällen problemlos verlegt werden. Die großen Metropolen hingegen sollen den Zuzug stärker reglementieren und dürfen eigene Kriterien für die Niederlassung erlassen. Gängige Kriterien, die oft in Punktesystemen ausgedrückt werden, reichen von einer gesicherten Beschäftigung, einem Dach über dem Kopf oder einer Mindestauf­enthaltsdauer in der Stadt, bis hin zur Verpunktung der eigenen Bildungsbiographie oder der Einzahlung in diverse soziale Sicherungssysteme (Wang 2021, S. 283f.).

Urbanisierung von unten gesehen

Bei Gesprächen mit Menschen, die in kleinen und mittelgroßen Städten in der Peripherie und deren angeschlossenen Gemeinden und Dörfern leben, zeigt sich schnell, dass allerdings nicht nur die politische Lenkung der Migration eine wichtige Rolle bei der Wohnortswahl spielt. Die weitaus größten Faktoren – und oftmals Hindernisse – sind wirtschaftlicher Natur (Zhan 2011, S. 278f.). Dabei üben die großen Metropolen immer noch eine ungebrochene Anziehungskraft aus, insbesondere aufgrund der weitaus besseren Schulen, besser ausgebauter sozialer Sicherungssysteme und eines höheren Lebensstandards.

Die oft unzureichend ausgebildeten Landbewohner*innen können allerdings meist nur um schlecht bezahlte Arbeitsplätze in den Metropolen konkurrieren. Parallel wird das Leben in den großen Städten immer kostspieliger. Somit bleibt vielen Wanderarbeiter*innen letztlich nur die Ansiedlung in weniger beliebten und weniger prosperierenden Städten.

Ein entscheidender Grund dafür, überhaupt in eine kleine Stadt zu ziehen, ist die große Differenz in den Bildungsangeboten zwischen Stadt und Land. Auch wenn die Schulen in kleinen Städten oft immer noch weitaus schlechter ausgestattet sind als jene in den Metropolen, so können durch den Umzug doch die Bildungschancen der eigenen Kinder verbessert werden. Eine bessere Arbeit, berufliche oder gar persönliche Selbstverwirklichung hingegen werden nur selten als Gründe für die Niederlassung in kleineren Städten genannt. Das Verständnis der meisten ist: Nur durch Bildung können die nachfolgenden Generationen einen sozialen Aufstieg erreichen.

Interessanterweise wird das städtische Leben von vielen Landbewohner*innen nicht per se als etwas Erstrebenswertes angesehen, anders als von Partei und Regierung, die Urbanisierung als einzigen Weg zur Modernisierung verstehen. Das Landleben wird generell als ruhiger, selbstbestimmter und gesünder angesehen. Viele neue Stadtbewohner*innen sehen den Aufenthalt in den Städten daher auch als eine Phase, nach deren Ende sie ihren Ruhestand auf dem Land verbringen wollen. Einzig die nachkommenden Generationen sollen langfristig in den Städten Fuß fassen, so das Narrativ.

Konflikte um Boden
und Wohnraum

Bei einem permanenten Umzug in eine Stadt sollte langfristig auch der Hukou in diese Stadt verlegt werden, nur so erhält eine Bewohner*in vollen Zugang zum städtischen System. Um allerdings nicht das Bodennutzungsrecht zu verlieren, das an den Besitz eines ländlichen Hukou geknüpft ist, verlegen Landbewohner*innen oftmals nur den Hukou einer Ehepartner*in in die Stadt. Dieses strategische Kalkül kann zu weiteren Konflikten zwischen ländlicher Bevölkerung und der Regierung führen. Land ist eine knappe Ressource in China, die für die weitere Expansion der Städte, aber auch für die Herstellung der Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln, dringend benötigt wird. Haushalte, die ihre Bodennutzungsrechte nicht aufgeben wollen, stellen aus Sicht der Regierung eine doppelte Belastung dar. Sie nehmen sowohl städtische Leistungen in Anspruch, führen ihren Boden aber nicht einer weiteren wirtschaftlichen Verwertung durch die Lokalregierung zu, sei es als Agrar- oder Bauland.

Aufgrund ihrer oft prekären Lage sind neue Stadtbewohner*innen aber häufig nicht gewillt, den eigenen Boden aufzugeben, gilt er doch als letzte Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Die neuen Wohnverhältnisse spielen hierbei ebenfalls eine Rolle. Selbst wenn Landbewohner*innen über verschiedene Programme, bei denen z.B. Agrarland gegen Wohnraum getauscht wird, vergünstigten Zugang zu städtischen Wohnungen erhalten, sind diese oft nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten – trotz »menschlicher Urbanisierung«. Bemängelt werden unter anderem Größe, Qualität und Lage der Wohnungen. Familien vom Land leben oft mit mehreren Generationen unter einem Dach und haben häufig mehrere Kinder. Ersatzwohnungen sind aber meist nur auf die Kernfamilie zugeschnitten, liegen meist in der Peripherie der Städte und es wird nicht selten am Baumaterial gespart.

Selbst in Chongqing, wo überdurchschnittlich viele Ressourcen in den sozialen Wohnungsbau investiert wurden, genießt dieser keinen guten Ruf und wird allenfalls als Sprungbrett in die Stadt gesehen. In kleineren Gemeinden trifft man auf Familien, die lieber illegal eigene Häuser errichten, die es ihnen erlauben einer eher traditionellen Lebensweise nachzugehen, als städtischen Wohnraum in Anspruch zu nehmen. Hier zeigt sich, dass gerade auf der untersten administrativen Ebene die Umsetzbarkeit politischer Vorgaben aus Beijing problematisch ist und die Entwicklung vor Ort gänzlich vom Plan abweichen kann, auch wenn sich dies nicht unbedingt in den Statistiken niederschlägt. Zwar steigt die Urbanisierungsrate Jahr um Jahr – wie sich der Prozess der Urbanisierung konkret gestaltet, wird aber nicht reflektiert.

Fazit

Am Beispiel der regierungsunmittelbaren Stadt Chongqing können eine Vielzahl aktueller sozialer Konflikte im urbanen Raum veranschaulicht werden, die auch in anderen Teilen der Volksrepublik zutage treten. Konflikte um den Zugang zu Städten und sozialen Sicherungssystemen, Verteilung von Ressourcen, in Form von Boden oder Bildung, sind weiterhin ungelöst und werfen die Frage auf, wer zukünftig wo und wie in China leben kann.

Während Migration in kleine und mittelgroße Städte erleichtert wird, können sich die Megastädte weiter abschotten und ihre Bürger*innen nach einem zunehmend engeren Kriterienkatalog zulassen. Zusammen mit der Verlegung von umweltschädlichen Industrien in administrativ niederrangige Orte und der Schaffung eines Systems von Satellitenstädten, die in Abhängigkeit der Megastädte stehen, ergibt sich ein eher düsteres Bild der urbanen Entwicklung. Zwar wird die große Lücke zwischen Stadt und Land perspektivisch in nicht allzu ferner Zukunft überbrückt werden, da ein Großteil der Landbewohner*innen zu Städter*innen wird, allerdings werden sich die Gräben zwischen Städten unterschiedlicher Größe nur langsam verkleinern. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein sozialer Aufstieg stark erschwert wird und sich die soziale Schichtenbildung erhärtet, da die großen Städten vornehmlich den gebildeten Eliten offen stehen, während schlechter ausgebildeten Arbeiter*innen der Zutritt verweigert wird. Dies könnte langfristig, anders als von der Regierung und Partei angestrebt, sogar das soziale Konfliktpotential weiter erhöhen und destabilisierend auf die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei wirken.

Literatur

Jiao, M. et al. (2013): Addressing the Potential Climate Effects of China’s Three Gorges Project. Bulletin – World Meteorological Organization, 2013 Vol. 62 No. Special Issue, S. 49-53.

Meyer-Clement, E. (2015): Was ist neu an ­Chinas Programm für „neuartige Urbanisierung“? Kompetenznetz Regieren in China, Background Paper No. 1/2015, S. 1-10.

Qin, J. (2015): Chongqing „Bangbang“: Dushi ganzhi yu xiangtu xing. Beijing: SDX Joint Publishing.

Wang, X. (2021): Permits, Points, and Permanent Household Registration: Recalibrating Hukou Policy under „Top-Level Design“. Journal of Current Chinese Affairs, Vol. 49 (3), S. 269-290.

Zhan, S. (2011): What Determines Migrant Workers’ Life Chances in Contemporary China? Hukou, Social Exclusion, and the Market. Modern China, Vol. 37 (3), S. 243-285.

Florian Thünken ist promovierter ­Sinologe am Institut für Kulturwissenschaften Ost- und Südasiens – Sinologie der Julius-­Maximilians-Universität Würzburg. Er hat zur Peripherie Chongqings geforscht.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/4 Chinas Welt? – Zwischen Konflikt und Kooperation, Seite 31–33