W&F 2022/1

Täter*innen

Ein Begriff und seine Komplexität

Wer als Täter*innen zu verstehen ist, was diese ausmacht und weshalb »wir« von Täter­*innen sprechen ist nicht leicht zu beantworten – oder zumindest umstritten. Welche Rolle spielen individuelle Persönlichkeitszüge, Motivationen oder Ideologien, welche Rolle haben gesellschaftlich legitimierte und strukturelle Gewalt als Kontext? W&F hat Autor*innen aus der Forschung zu kollektiver (Massen-)Gewalt gebeten, ihre je eigenen Positionen darzulegen – mit zwei ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Christian Gerlach bezieht als Historiker Position, während sich Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred Louis, Emma Thomas und Catherine Amiot als Psychologinnen zu diesen Fragen äußern.

Gegen den Täterbegriff

von Christian Gerlach

Meine Perspektive ist die eines Historikers, der sich lange mit der Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert beschäftigt hat. Mit deutscher Geschichte, aber auch mit aussereuropäischer.

Was die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus angeht, hat die Forschung zu »Tätern« in den 1990er Jahren Fortschritte gemacht.1 Zwei US-amerikanische Forscher, Christopher Browning und Daniel Goldhagen, untersuchten damals dieselbe Einheit der deutschen Ordnungspolizei, die 1942 viele Massen­erschiessungen an Jüdinnen und Juden in Polen durchführte, das Reserve-Polizeibataillon 101. Beide kamen zu dem Schluss, es habe sich bei den Tätern um gesellschaftlichen Durchschnitt gehandelt: Männer verschiedenen beruflichen Hintergrunds, Alters und Bildungsstands (meist keine Berufspolizisten); in der Regel ohne psychische Krankheit oder entsprechende Neigung; keine ideologische Elite, nicht besonders ausgewählt oder geschult und mehrheitlich keine NSDAP-Mitglieder. Ihre weiteren Folgerungen unterschieden sich freilich sehr: Für Browning waren dies „ganz normale Männer“, die, ohne besonderen Hass gegen Juden, unter bestimmten politischen Umständen aus verschiedenen Gründen – vor allem Gruppendruck – zu effizienten Mördern wurden. Goldhagen dagegen bezeichnete sie als „ganz normale Deutsche“, die sehr wohl einen Konsens zur Eliminierung der Juden teilten, der angeblich seit Jahrhunderten unter Deutschen bestand. Und es gab viele solche Polizeibataillone.2

Auch die heiss diskutierte sogenannte Wehrmachtausstellung Mitte der 1990er Jahre vermittelte einem breiten Publikum, dass sich deutsche Offiziere und Soldaten an Verbrechen in der Sowjetunion und in Südosteuropa massenhaft und mit Nachdruck beteiligt hatten. Die meisten von ihnen waren gleichfalls keine Nazis, und sie bildeten einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft.3 Ein von Gerhard Paul 2002 herausgegebener Sammelband mit Fachaufsätzen brachte es dann auf den Punkt: Die »Täter« liessen sich nach Gesellschaftsschicht, Werdegang, Bildungsstand, Alter, Region, religiöser und politischer Überzeugung nicht eindeutig einem Milieu zuordnen.4 Nichts immunisierte Menschen dagegen, an Massengewalt teilzunehmen, teilweise sogar aus eigener Initiative. Um es kurz zu machen: Das Bild für andere Fälle von Massengewalt ist nicht grundsätzlich anders, von Ruanda bis Argentinien, von der Sowjetunion über Indonesien bis zum Spätosmanischen Reich oder kolonialer Gewalt.

Das mag überzeugend klingen, aber am Beispiel der Forschungen zu NS-Deutschland lassen sich auch Schwächen und innere Widersprüche zeigen. Browning, Goldhagen und die Autorinnen und Autoren des Paul-Sammelbands behandelten vor allem sogenannte tatnahe Täter: Personen in ausführenden Organen, einer mörderischen Exekutive, vor allem Schützen und Lagerpersonal. Deren Handlungsautonomie überbetonend, entpolitisierten die Forschenden das Handeln jener Personen; sie verwiesen zwar auf direkte Befehlsgeber in SS, Polizei und Militär sowie Hitler, sagten aber nichts oder fast nichts über Politiker, Fachleute und Verwaltungsfunktionäre, die die »Taten« vielfach erdacht, gefordert oder darüber entschieden hatten, und lösten die »Taten« damit aus ihren historisch-gesellschaftlichen Kontexten heraus.

Die Funktion des Täterbegriffs

Viele Forschende stützten sich bei ihrem Vorgehen auf Akten von Justizverfahren gegen NS-Täter, von denen die meisten übrigens straffrei ausgingen. Dies ist der Kern des Problems: Der Täterbegriff stammt aus einem juristischen Kontext, und das, obwohl sich die Justiz als völlig ungeeignet erwiesen hat, Massenmord zu ahnden. Die BRD ist hier ein besonders abschreckendes Beispiel, aber in keinem einzigen Land, von dem Massengewalt ausging, ist die juristische Aufarbeitung je erfolgreich gewesen. Massenmord ist das Verbrechen, das ungestraft bleibt, jedenfalls für die meisten Beteiligten. Das ist kein Zufall, denn grosse Teile der Gesellschaft waren ja an der Gewalt beteiligt oder haben sie unterstützt (wie z. B. die meisten westdeutschen Richter, Staatsanwälte und Polizisten der unmittelbaren Nachkriegszeit frühere NS-Mitglieder waren).

So bleiben auch bestimmte Formen von Gewalt und Gewalt gegen bestimmte Opfergruppen juristisch praktisch gänzlich unverfolgt (im westdeutschen Fall die Vernichtung von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten bei der Partisanenbekämpfung, die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen oder die Hungerpolitik), von Wissenschaftler*innen wenig beachtet und in der gesellschaftlichen Diskussion auch. Prozesse gegen Täter von Massengewalt dienen weniger der individuellen Aburteilung als politischen und gesellschaftlichen Zwecken. Sie sollen die Gesellschaft stabilisieren und bieten Deutungen des Geschehenen an, die für die Mehrheit und die führenden Schichten akzeptabel sind, wobei Schuld auf einige Radikalinskis, Exzesstäter und vermeintliche Sadisten ausgelagert wird. So entstehen tröstliche Geschichten von Gut und Böse. Und »wir« sind natürlich »gut«.

Grosse Teile der vergleichenden Genozidforschung erzählen ähnliche Geschichten von Gut und Böse, wobei sie radikale Schurkenregime für Massenmorde verantwortlich machen, die bestimmte Ideen (statt Interessen) verfolgen und von oben nach unten umsetzen, wozu ihnen radikale Organisationen und propagandistische Manipulation dienen. Ihre Gegenrezepte lauten Regimewechsel und etwas Umerziehung.Während Prozesse und Justizakten einiges interessantes biographisches Material zu »Tätern« bieten mögen, geben sie zu einem Punkt ganz besonders wenig her: zur Motivation für die Tat. Aus Schutz vor juristischen Folgen bekennen ganz wenige Beschuldigte Rassenhass, Raubgier, Machtdünkel oder sexuelle Lust, was strafverschärfend wäre. Stattdessen tendieren sie dazu, andere (am besten Tote) zu beschuldigen, sich auf Befehle von höherer Stelle zu berufen und eine räumliche Distanz zur Tat zu behaupten, jedenfalls aber eine innere Distanz. Es gibt keine sinnvollen Methoden zur Benutzung solcher Aussagen. Weder Browning überzeugt, der ihnen meist Glauben schenkte, noch Goldhagen, der sie alle abtat und pauschal Rassenhass als Motiv annahm.

Extrem gewalttätige Gesellschaften

Nach meinen Forschungsergebnissen ist die Entstehung von massenhafter Gewalt aus Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Konflikten zwischen ihnen zu erklären. Gewalt ist also multikausal, die Motive, sich zu beteiligen, sind verschieden, und die Gewalt richtet sich oft gleichzeitig gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen. In Gesellschaften des 20. Jahrhunderts beruht die Gewalt auf Arbeitsteilung, wodurch es Aktivitäten gibt, die vor den Augen der Justiz kaum als kriminell gelten können und doch den Tod von Verfolgten massgeblich mitverursachen (z. B. die Organisation von Eisenbahnverkehr im Fall von Deportationen oder das Verlangen von Wucherpreisen gegenüber hungernden oder durstigen Verfolgten). Die zahlreichen an der Verfolgung Beteiligten sind nicht nur den herrschenden Verhältnissen unterworfen, sondern schaffen sie selbst mit. Dass bestimmte gesellschaftliche Strukturen vorhanden sind, schliesst absichtsvolles, überlegtes und autonomes Handeln nicht aus, auch von »ungebildeten« Personen aus Unterschichten nicht. Massengewalt ist ein interaktiver Prozess, an dem übrigens auch Gruppen aktiv beteiligt sind, die zu Opfern werden.5

Der Begriff »Täter« hemmt aus meiner Sicht ein komplexes Verständnis von Massengewalt. Hinter dem Begriff steht ein Denken, das »Täter« als ausserhalb der Gesellschaft stehend sieht und in unzutreffender Weise individualisiert. Als analytische Kategorie ist der Täterbegriff daher ungeeignet.

Was ist mit Alltagsgewalt?

Aber sind diese Überlegungen auch für den Alltag relevant, für »normale« Zeiten? In der kapitalistischen, bürgerlich geprägten Gesellschaft funktioniert das Rechtswesen ähnlich wie oben beschrieben. Es greift Einzelpersonen heraus und entkleidet ihr Handeln tendenziell seinen Zusammenhängen. Es verfolgt Devianz, also die Abweichung von insgesamt für normal und gut erklärten Zuständen. Angesichts der bürgerlichen Externalisierung von »Tätern« und »Täterinnen« ist es nur konsequent, dass sie weggesperrt werden und dass ihre »Resozialisierung« später oft nicht gelingen mag. Andererseits ist beispielsweise die deutsche Justiz so gut wie unfähig, systemische Gewalt zu ahnden, also zum Beispiel im Autoverkehr oder durch Polizeibrutalität oder durch Verhältnisse, die Unternehmen ihren Beschäftigten auferlegen, oder bei der angeblichen Bekämpfung der extremen politischen Rechten. Für Gewalt zwischen den Geschlechtern oder unter Beteiligung der meisten ethnischen Minderheiten gilt Ähnliches mit Einschränkungen. Darin drücken sich bestimmte Machtverhältnisse aus. Aber auch bestimmte, den herrschenden Verhältnissen angepasste Denkweisen. Wenn also hinter »linker« Gewalt regelmässig sogenannte terroristische Vereinigungen gesehen werden, »rechte« Gewalt dagegen fast immer das Werk sogenannter »Einzeltäter« sein soll, und wenn das Leben von Radfahrerinnen und Radfahrern, Fussgängerinnen und Fussgängern recht billig ist, stehen dahinter nicht nur Probleme des Rechtswesens, sondern in der Gesellschaft vorherrschende Zustände und Anschauungen, auch wenn viele sie nicht billigen.

Damit ist auch gesagt, dass die Zeiten vielleicht nicht so normal und die Verhältnisse nicht so unproblematisch sind. Vieles daran, dass Menschen durch den Täterbegriff als im Grunde ausserhalb der Gesellschaft stehend erklärt werden, mag kein spezifisch deutsches Problem sein. Allerdings hat nicht jedes Land der Welt Truppen in elf fremden Staaten auf drei Kontinenten stehen; nicht in jedem Land der Welt sind Atomwaffen stationiert (mit dem Anspruch auf »nukleare Teilhabe«); nicht jedes Land hat eine ähnlich machtvolle, protektionistisch-aggressive Aussenwirtschaftspolitik in einer Welt des Massenhungers; und kein anderes Land ist ohne Tempolimit. All dies hat mit deutscher Gewalt zu tun, freilich einer ohne »Täter«.

Statt sich zu fragen, wen »wir« als »Täter« oder »Täterinnen« bezeichnen, und damit an jener ausgrenzenden Fiktion mitzuarbeiten, sollten Angehörige der Intelligenzschichten lieber versuchen, die »Tat« als Teil gesamtgesellschaftlicher Prozesse zu begreifen. Die Behauptung, es gebe überhaupt ein umfassendes »Wir«, das man sich als »gut« vorstellt, ist an sich schon ein grosses Problem.

Anmerkungen

1) In diesem Aufsatz wird meist die männliche Sprachform verwendet, nicht als generisches Maskulinum, sondern weil ich meist nur Männer behandele und die komplexe Diskussion um Täterinnen (die zahlenmässig ein Randphänomen waren) aus Platzgründen beiseitelasse.

2) Browning, Ch. (1993): Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Goldhagen, D. (1997): Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler

3) Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1996): Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg: Hamburger Edition

4) Paul, G. (Hrsg.) (2002): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein.

5) Gerlach, Ch. (2011): Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München: DVA.

Christian Gerlach arbeitet an der Universität Bern.

Kontext und Intention

Die Psychologie des »Schädigens«

von Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred R. Louis, Emma F. Thomas und Catherine E. Amiot

Viele Verletzungen und Schädigungen werden kollektiv begangen, wie im Konflikt zwischen Israel und Palästina oder während des Genozids in Kambodscha. Obwohl diese Beispiele für Gewalt und Verletzungen aus feindlichen und/oder ungleichen Beziehungen zwischen Gruppen erwachsen, hat sich ein Großteil der Forschung darauf verlegt, das Handeln der Täter*innen aus individuellen Pathologien oder moralischen Schwächen zu erklären. Der Fokus auf das Individuum ignoriert jedoch die erleichternde Rolle, die Gruppenprozesse in Fällen kollektiver Gewalt spielen (Louis et al. 2015).

Wer ist eine Täter*in und weshalb?

Unter Zuhilfenahme von Erkenntnissen der Sozialpsychologie erkunden wir die Wahrnehmungen von und Motivationen für Praktiken des »kollektiven Schädigens« der Täter*innen. Speziell fokussieren wir darauf, wie Gruppenprozesse: a) beeinflussen, wen wir als Täter*innen wahrnehmen; b) die Motivationen der Täter*innen unterstützen, Schaden zufügen zu wollen; und c) die Intentionalität hinter den Taten der Täter*innen beeinflussen.

Was als »Schädigung« oder »Gewalt« zählt (und, in Erweiterung, wer diese Gewalt verbrochen hat) ist eine subjektive Einschätzung und umkämpft. In manchen Fällen können sich die meisten Menschen einigen, dass eine Verletzung vorliegt (z. B. bei sexuellem Missbrauch von Kindern), aber es gibt auch Fälle die umstritten sind. Praktiken, die in manchen Kontexten zu bestimmten Zeiten in der Geschichte als grausam bewertet werden (z. B. Sklaverei) sind in anderen Kontexten und Zeiten gebilligtes und weiterverbreitetes Verhalten. Diese Definitionen der Gewaltanwendung sind beeinflusst von den historischen und kulturellen Gruppen, zu denen wir gehören.

Der »Social Identity Theory« (SIT, Tajfel und Turner 1986) zufolge ist das Selbstkonzept eines Individuums in Teilen von der/den sozialen Gruppe(n) abgeleitet, zu denen es gehört. Diese Gruppen können auf sozialen Kategorien (z. B. Gender) oder auf geteilten Ansichten und Meinungen darüber, wie die Dinge sein sollten beruhen (beispielsweise die Unterstützer*innen von Frauenrechten). Indem wir uns mit diesen sozialen Gruppen identifizieren, entwickeln wir »soziale Identitäten«: Wir betrachten Gruppenwerte, -normen und -ziele als bedeutsam für unser Selbst und verhalten uns in Übereinstimmung mit diesen Erwartungen. Zudem werden wir motiviert, die Interessen unserer Gruppe zu repräsentieren und ihr Ansehen und ihre Möglichkeite zu schützen oder zu verbessern.

Indem wir dies mit kollektiver Gewalt in Bezug setzen, können wir festhalten, dass uns unsere sozialen Identitäten dazu führen können, das gewalttätige Handeln unserer Gruppe und unsere Rolle als »Täter*innen« umzudefinieren basierend auf den Werten und Normen der Gruppe. So mögen sich Mitglieder von Siedlergesellschaften nicht als Dieb*innen verstehen, obwohl sie auf gestohlenem Land leben. Progressive, die für das weibliche Recht auf körperliche Selbstbestimmung eintreten, verstehen sich nicht als Unterstützer*innen von mörderischer Gewalt und »lebensschützende Konservative« verstehen sich selbst nicht als sexistisch und oppressiv. Zudem kann die Motivation, die eigene Gruppe in einem guten Licht erscheinen zu lassen, dazu führen, die Existenz oder die Auswirkungen von intergruppaler Gewalt herunterzuspielen, um das Ansehen oder Bild der eigenen Gruppe nicht zu beflecken. Daher kann schon der reine Glaube an die Existenz oder die Schwere der Verletzung – ob durch Rassismus oder den Klimawandel – stark variieren, abhängig von den Gruppenzugehörigkeiten.

Was motiviert Täter*innen zu ihren Taten?

Die »Social Identity Theory« kann uns auch bei der Erklärung helfen, wann und warum Menschen diese Verletzungen verüben. Ganz speziell die Motivation, unsere Gruppeninteressen zu schützen und zu bedienen sowie die Werte dieser Gruppe umzusetzen, können die Bereitschaft erhöhen, kollektive Gewalt zu unterstützen und an ihr teilzunehmen. Tatsächlich sind viele Fälle radikaler und gewalttätiger Handlungen durch diese »pro-Ingroup« Motive verstärkt (Thomas et al. 2014), was die Schlussfolgerung nahelegt, dass die Verletzung gegen die relevante Outgroup dem Schutz oder der Verbesserung des Status oder dem Wohlbefinden der Ingroup dient. Dazu kommt, dass Gruppenmitglieder umso mehr bereit sind, Schaden zuzufügen, je stärker sie sich mit ihrer Gruppe identifizieren (d.h. sie fühlen eine stärkere Art der Verbindung und Verpflichtung gegenüber dieser Ingroup, Tajfel und Turner 1986). Das rührt daher, dass diese stark identifikatorisch Gebundenen eher geneigt sind, bedeutsame Normen der Ingroup auszuführen – die verletzenden und schädigenden mit eingeschlossen – und diese auf ihr eigenes Selbstgefühl (»sense of self«) und ihr Verhalten anzuwenden (Amiot et al. 2020).

Allerdings liefert uns die SIT keine Erklärung für die diversen Motivationen hinter den Handlungen von Täter*innen. Das heißt, dass manche Gruppenmitglieder autonom Gewalt verüben, weil diese Handlungen ihre persönlichen Werte und Ziele spiegeln (d.h. diese Handlungen sind »internalisiert«), während andere wiederum Gewalt verüben, da sie eine Form von externem Druck oder Zwang verspüren. Das Modell zur »Internalisierung sozial normierten Verletzens« (MINSOH, Amiot et al 2020) wendet daher ein motivationales Kontinuum auf kollektives Schädigen an (Deci und Ryan 2000), bei dem die Motivation der Menschen für ein bestimmtes Verhalten von »selbstbestimmt« (self-determined; d.h. ausgewählt mit einem höheren Grad an Handlungsmacht und da sie Bestandteil der eigenen Identität sind) bis zu »nicht-selbstbestimmt« reicht (non-self-determined, d.h. gewählt aus einer geringeren Handlungsmacht und nicht aufgrund von Kernwerten des Selbstkonzeptes einer Person). MINSOH schlägt vor, dass die Motivation einer Täter*in sich entlang dieses Spek­trums organisiert und dass Gruppenprozesse es ermöglichen, dass die verletzenden Normen und Handlungen internalisiert werden und frei über Zeit hinweg verübt werden können.

Aus dem Modell folgt, dass Täter*innen sich an Gewalt aus einer Reihe von Gründen beteiligen:

  • Mit Blick auf Motive der Selbstbestimmtheit agieren Täter*innen gewaltvoll, um die Ziele der Gruppe zu erreichen oder um diese vor externen Bedrohungen zu schützen (»identifizierte Regulation«), oder weil Gewalt eine Funktion als Identitätsausdruck hat, bei der die Ingroup glaubt, dass diese normativen Handlungen mit den Kernüberzeugungen der Gruppe übereinstimmen (»integrierte Regulation«).
  • In manchen Fällen wird Gewalt und Verletzung zugefügt, weil es als an sich vergnüglich betrachtet wird, gänzlich getrennt von irgendeinem zweckdienlichen Mehrwert (»intrinsische Motivation«, z. B. Jagd von Tieren).
  • Manchmal jedoch wird Schaden auch aus nicht-selbstbestimmten Gründen verübt, beispielsweise um die Wahrnehmung der Wertigkeit der Gruppe sicherzustellen oder um ein Gefühl von Hochachtung zu erlangen (»introjezierte Regulation«) oder auch, weil es von anderen Gruppenmitgliedern erwartet wird (»externe Regulation«).
  • In manchen Fällen beteiligen sich die Gruppenmitglieder an Gewalt ohne Intention, selbst wenn sie nicht davon überzeugt sind, dass derartige Handlungen das erwünschte Ergebnis zur Folge haben werden; in diesem Fall könnten Gruppenmitglieder direkt ihre Beteiligung an diesem Verhalten infrage stellen (»Amotivation«).

»Opfer der Umstände« oder intentional handelnde Akteure?

Dass wir die Motivationen erhellen, die Gewalttaten stützen, kann auch dabei helfen zu erkunden, inwieweit Täter*innen die Verletzung beabsichtigen oder ob ihre Handlungen von Umständen befeuert werden, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. MINSOH legt nahe, dass Intentionalität und Kontext miteinander verwoben und nicht zwei getrennte Dimensionen sind. Beispielsweise handeln Gruppenmitglieder, die Schaden aus selbstbestimmten Motiven zufügen und dieses Verhalten aus freier Entscheidung unterstützen, beabsichtigt und willentlich. Jedoch können solche Handlungen aus einem intergruppalen Kontext erwachsen in dem verneint wird, dass es sich um Verletzungen handelt, diese herabgespielt oder als notwendig dargestellt werden, um die Interessen der Gruppe zu schützen (z. B. in einem Wettstreit um wertvolle Ressourcen) oder um ihre Werte zu verteidigen. Daher handeln diese Gruppenmitglieder zwar mit voller Absicht, aber fügen nicht unbedingt absichtsvoll Schaden zu, als Antwort auf einen dynamischen intergruppalen Kontext, der ihre Aufmerksamkeit auf die Vorteile für die Ingroup lenkt oder die gewaltvollen Handlungen sogar als positiv für die Betroffenen darstellt (wie z. B. im Kolonialismus).

Im starken Kontrast dazu reagieren Gruppenmitglieder, die aus nicht-selbstbestimmten Gründen Schaden zufügen, auf externen Druck, wie Zwang von anderen Gruppenmitglieder, oder dem Verlangen nach Belohnung. Daher kann argumentiert werden, da sich ihr Verhalten in einer geringeren Autonomie ausdrückt, dass diese Menschen nicht absichtsvoll Verletzungen zufügen, sondern die Absicht haben, diesen externen Druck von sich abzuleiten.

MINSOH legt ebenso nahe, dass man­che Gruppenmitglieder Gewalt ohne Absicht ausüben, gedankenlos. Insofern verhalten sie sich »unabsichtlich«, da ihre Motivation eher »unpersönlich« und uninvolviert als erzwungen ist. Stellen wir uns vor, Mitglieder einer Militäreinheit töten Zivilist*innen aus der verfeindeten Gruppe. Dann handeln einige Soldat*innen auf Basis der angenommenen patriotischen Vorteile, andere weil sie die Angst vor Bestrafung bei Verweigerung befürchten und wiederum andere sind erschöpft und denken überhaupt nicht nach über ihre Handlungen. Die moralische Bewertung, dass dieser Akt böse ist, setzt keineswegs voraus, dass alle Täter*innen einer kollektiven Gewalttat das selbe Motiv dafür haben.

Nicht zuletzt legt das Modell von MINSOH nahe, dass die Mitgliedschaft in unterschiedlichen Gruppen, die voneinander abweichende Positionen dazu vertreten, was es heißt, ein »guter, moralischer Mensch« zu sein, normative Hilfestellung sein kann, um kollektiver Gewalt in jedwedem Kontext vorzubeugen.

Umgekehrt erhöhen Erfahrungen von Vernachlässigung und Marginalisierug die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen dysfunktionale Bezugsgruppen suchen, die eben ein solches kollektives Schädigen propagieren (Amiot et al 2020). Rückkopplungsschlaufen in diesen Gruppen können dann das Durchführen von Gewalttaten bestärken, da jegliche Gewalttat Akteur*innen von pro-sozialen Gruppen entfremdet, nicht-selbstbestimmte Motive bekräftigt und moralische Verletzung und Trauma hervorruft (Louis et al 2015).

Um es erneut deutlich zu machen: Eine solche kontextuelle Analyse entlastet oder entschuldigt die Handlungen der Täter*innen nicht, aber sie hilft uns dabei, diejenigen sozialen und gruppenbezogenenen Faktoren zu identifizieren, die gefährliche Laufbahnen begünstigen und die daher geeignet sind für rechtzeitige Interventionen.

Literatur

Amiot, C. E.; Lizzio‐Wilson, M.; Thomas, E.F.; Louis, W.R. (2020): Bringing together humanistic and intergroup perspectives to build a model of internalisation of normative social harmdoing. European Journal of Social Psychology 50(3), S. 485-504.

Deci, E.L.; Ryan, R.M. (2000): The „what“ and „why“ of goal pursuits. Human needs and the self-determination of behavior. Psychological Inquiry 11(4), S. 227-268.

Louis, W.R.; Amiot, C.E.; Thomas, E.F. (2015): Collective harmdoing. Developing the perspective of the perpetrator. Peace and Conflict: Journal of Peace Psychology 21(3), S. 306-312.

Tajfel, H.; Turner, J. C. (1986): The social identity theory of intergroup behavior. In: Worchel, S.; Austin, W.G. (Hrsg.): Psychology of Intergroup Relations. Chicago: Nelson-Hall, S. 7-24.

Thomas, E.F.; McGarty, C.; Louis, W. (2014): Social interaction and psychological pathways to political engagement and extremism. European Journal of Social Psychology 44(1), S. 15-22.

Morgana Lizzio-Wilson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Flinders University. Sie forscht zur Rolle von Identität, Emotionen und Bedrohungen in kollektiver Handlung von progressiven und regressiven sozialen Bewegungen.
Winnifred R. Louis ist Professorin an der Universität von Queensland. Sie forscht zum Einfluss von Identität und Normen auf soziale Entscheidungsfindungen.
Emma F. Thomas ist Professorin an der Flinders University. Ihre Forschung erkundet, wie Menschen zusammenfinden, um gemeinsam soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.
Catherine E. Amiot ist Professorin an der Université du Québec in Montreal. In ihrer Forschung adressiert sie die Selbstbestimmtheit der Annahme und Internalisierung von Normen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/1 Täter*innen, Seite 6–10