W&F 2014/2

Ukraine-Konflikt und geopolitische Eigentore

von Uli Cremer

In der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland erweiterte Russland seine direkte Einflusssphäre und verleibte sich im März 2014 nach einem Blitzreferendum die Krim ein – zweifellos ein völkerrechtswidriger Akt. Nach westlicher Lesart ist der Kreml zudem für alle Eskalationen in der Ostukraine verantwortlich. Der Ministerpräsident der ukrainischen De-facto-Regierung, Jazenjuk, wirft Russland gar vor, den Dritten Weltkrieg anzetteln zu wollen. Nun fragen sich viele, wie der Westen mit der Situation umgehen soll. Schließlich will man die Angliederung der Krim nicht akzeptieren und anerkennen. Das hat die Weltgemeinschaft auch bei Nordzypern nicht getan, das 1974 mithilfe türkischer Truppen von Zypern abgetrennt wurde. Jene, die Russland die alleinige Verantwortung für die Eskalation zuweisen, finden jetzt müssten, anders als damals im Falle Nordzypern, gegen Russland militärische, wirtschaftliche und kommunikative Strafen verhängt werden.

Bereits beschlossen sind so genannte intelligente Sanktionen mit primär symbolischer Wirkung. Hauptvorteil solcher Sanktionen war und ist seit ihrer Erfindung vor gut 15 Jahren, dass sie fast nichts kosten – auch wenn gerne darauf verwiesen wird, dass sie die »Richtigen« träfen und die unschuldige Bevölkerung schonten. Allerdings wird die russische Regierung in ihrer Krimentscheidung von einer großen Mehrheit der Bevölkerung Russlands unterstützt. Insofern stellt sich die theoretische Frage, ob nicht auch umfassende Sanktionen die »Richtigen« träfen – von den Minderheiten abgesehen, die in Russland gegen die Annexion der Krim auf die Straße gehen.

Umfassende Wirtschaftssanktionen sind nicht zum Nulltarif zu haben. Länder, die solche Sanktionen gegen andere verhängen, fügen sich immer auch selbst Schaden zu. Wer sich mit Wirtschaftssanktionen näher befasst, weiß: Gegen kleine, schwache Staaten wirkt das Mittel, bei den großen Playern hingegen funktioniert es nicht. Daher wurden 2003, als die Bush-Regierung den Irak-Krieg begann, von niemandem ernsthaft Sanktionen gegen die USA in Erwägung gezogen. Zweifellos ist auch Russland als neuntgrößte Industrienation der Welt ein großer Player. Die FAZ weiß: „Wer eine Staatsverschuldung von nur 13 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) und Devisenreserven von mehr als 470 Milliarden Dollar verwaltet sowie mit einer von staatlich kontrollierten Konzernen dominierten Branche die zweitgrößten Erdgasreserven und die achtgrößten Erdölvorkommen der Erde abbauen lässt, der hat einen langen Atem.“ (Benjamin Triebe: Putin kann sich noch viele Scharmützel leisten. 23.4.2014) Zwar wird öffentlich gern hervorgehoben, die westlichen Sanktionen würden bereits jetzt die russische Wirtschaft schädigen (Rubelverfall, Abzug von Geldern). Das deklamierte Ziel ist aber ein politisches Nachgeben der russischen Regierung – und das ist in keiner Weise in Sicht.

Während es für die Europäische Union kurzfristig möglich war, auf syrische oder iranische Ölimporte zu verzichten, hat das Ausmaß der energiepolitischen Verflechtung und damit die Abhängigkeit von Russland eine andere Dimension. Unterbände die EU kurzfristig die Einfuhr von Öl und Gas aus Russland, ließe die nächste Weltwirtschaftskrise vermutlich nicht lange auf sich warten.

Eigentlich geht es bei der Debatte um das russische Gas um eine langfristige strategische Weichenstellung: Sollen Zusammenarbeit und Handel mit Russland in den nächsten Jahren auf homöopathisches Niveau heruntergefahren werden oder sollen die Beziehungen auf allen Ebenen intensiviert werden? Logische Begleiterscheinung der westlichen Abwendung von Russland wäre dessen stärkere Hinwendung zu China, inklusive der Realisierung entsprechender Pipelineprojekte – ein klassisches geopolitisches Eigentor also.

Grundsätzlich sind Kooperation und Handel ein guter Weg zum Verhindern von Kriegen und zum Einhegen von Konflikten. Man stelle sich einmal vor, es gäbe aktuell die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen EU und Russland nicht! Das unmittelbare Abdriften in konfrontative militärische Reaktionsmuster wäre vorgezeichnet. Deswegen ist es politisch wichtig, die Zusammenarbeit zu verteidigen. Die Debatte um alternative Lieferanten oder Energieautarkie führt in die falsche Richtung. Erneuerbare Energien müssen aus Umweltgründen ausgebaut werden und nicht, um »unabhängig von Russland« zu werden. Auch in der Energiepolitik gilt: Sicherheit gibt es nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland. Deswegen sollten die EU-Staaten weiterhin Erdgas aus Russland beziehen.

Seitens derjenigen, die (auch) dem Westen Schuld an der Zuspitzung der Lage geben, wird gern und häufig auf die Ausdehnung der NATO nach Osten als Ursache für das russische Handeln verwiesen. Während sich der Warschauer Pakt 1991 aufgelöst habe, habe die NATO nicht nur weiter bestanden, sondern neue Mitglieder aus der Region der ehemals sowjetischen Einflusszone aufgenommen.

Putin sagte 2007 in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz, die NATO-Erweiterung sei „ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt“. Er sah die Erweiterung also nicht als akute militärische Bedrohung an. Das wäre auch ziemlicher Unsinn, und zwar aus drei Gründen:

1. Die militärischen Potentiale der NATO des Kalten Krieges waren gegen den Warschauer Pakt gerichtet. Das war die alte NATO, nennen wir sie mit NATO-Generalsekretär Rasmussen NATO 1.0. Seit 1991 wurde jedoch eine neue NATO, die NATO 2.0, geschaffen. Sinn ihrer Existenz sind nunmehr Militärinterventionen, also Einsätze der NATO jenseits ihrer Außengrenzen (Kosovo-Krieg), im Wesentlichen außerhalb Europas (Afghanistan-Krieg). Statt neue Waffen für einen eventuellen Krieg gegen Russland zu beschaffen, stellte die NATO auf schnell verlegbare Expeditionstruppen um. Die Manöverszenarien der NATO Response Force spielten nicht am Ural, sondern sehen Einsätze gegen kleine Staaten in Afrika oder Asien vor. Die neuen NATO-Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa traten der NATO 2.0 bei, und das fiel ihnen spätestens auf, als sie die ersten Truppen nach Afghanistan schickten.

2. Die NATO errichtete in den Beitrittsländern keine relevanten Stützpunkte. Selbst die 5.000 in Rumänien und Bulgarien stationierten US-Soldaten wären „für einen Überraschungsangriff auf Russland […] gar nicht geeignet“, sind vielmehr „für Einsätze außerhalb des KSE-Bereichs“ vorgesehen (Hannes Adomeit und Frank Kupferschmidt: Russland und die Nato. Berlin: SWP, März 2008, S.21).

3. Die NATO 2.0 verbündete sich im Rahmen der »Partnerschaft für den Frieden« bereits in den 1990er Jahren mit Russland. Ein NATO-Russland-Rat wurde gebildet, auch wenn dieser immer gerade dann, wenn man sich wieder einmal stritt, vorübergehend suspendiert wurde. Die NATO und Russland hielten gemeinsame Manöver ab. Und nicht zuletzt unterstützte Russland von Beginn an den Afghanistan-Krieg, insbesondere logistisch.

Die Charakterisierung der NATO-Osterweiterungen als »Eindämmungspolitik«, wie in NATO-kritischen Kreisen üblich, ist also unscharf bzw. alarmistisch. Eine militärische Eindämmung ist nur möglich, wenn auch die entsprechende militärische Infrastruktur bereitgestellt wird. Genau die hat die NATO in Hinblick auf Russland aktuell eben nicht. Entsprechend kann es zur Zeit nur um politische Reaktionen gehen.

Allerdings werden die Rufe nach militärischer Eindämmung schon seit einigen Wochen lauter, und so profitiert die NATO doch von der Ukraine-Krise. In Deutschland verlangte Ministerin von der Leyen: „Jetzt ist für die Bündnispartner an den Außengrenzen wichtig, dass die Nato Präsenz zeigt.“ (Spiegel Online, 22.3.2014) Andreas Schockenhoff, bis Anfang 2014 Russland-Koordinator der Bundesregierung, assistierte: „Es ist daher unerlässlich, dass die Nato für eine glaubwürdig kollektive Verteidigung unserer östlichen Bündnispartner auch eine permanente Verlegung von militärischen Fähigkeiten prüft.“ (Andreas Schockenhoff: Abschreckung ist kein Tabu. FAZ 28.4.2014) Und so sieht es auch Dominic Johnson, Leiter des Auslandsressorts bei der taz: „Die Nato sollte jetzt ihre weitgehend nutzlosen Rüstungsarsenale endlich dort in Stellung bringen, wo sie tatsächlich Schutz bieten könnten, nämlich in Osteuropa.“ (taz 30.4.2014)

Letztlich ginge es dabei um ein gigantisches Aufrüstungsprogramm. Die finanzielle Dimension wäre enorm: Eine dem Kalten Krieg vergleichbare „Infrastruktur an den heutigen östlichen Außengrenzen der Nato aufzubauen dürfte Hunderte von Milliarden Euro kosten“ (Niklas Busse: Krieg gegen Russland. FAZ 3.11.2008). Die Militärhaushalte müssten geradezu explodieren. Genau dies fordert taz-Korrespondent Klaus-Helge Donath: „Alle EU-Staaten sollten gemeinsam beschließen, den Verteidigungshaushalt um mindestens ein Drittel anzuheben, parallel zum Aufstocken konventioneller Streitkräfte und technologischer Innovationen […] Der Westen würde nur wiederholen, was US-Präsident Ronald Reagan in den 1980ern vorexerzierte. Totrüsten ohne Tote.“ (taz 29.4.2014)

Das NATO-Dilemma: Es wären Investitionen in militärische Projekte, die für Interventionen in Ländern des Südens größtenteils unbrauchbar wären. Einen Militärstützpunkt in Estland kann man nicht für eine Intervention im Sudan oder in Sierra Leone gebrauchen. Statt in die NATO 2.0 würde in die NATO 1.0 investiert. Im Ergebnis würde der Westen dem chinesischen Rivalen Terrain überlassen – ein weiteres geopolitisches Eigentor.

Zwar ist das Vertrauen zwischen den westlichen Regierungen und Moskau momentan am Nullpunkt angekommen. Eine militärische Zuspitzung à la Kalter Krieg ist bisher aber nicht erkennbar. Die Verlegung von Flugzeugen oder kleinen Truppenteilen nach Polen oder ins Baltikum sind keine substantielle Mobilmachung sondern reine Symbolpolitik. Das gilt auch für geplante Manöver in der Ukraine. Sofern der Westen keine geopolitischen Eigentore schießen will, hat die vom Zaum gebrochene militärpolitische Debatte diesen Sinn: Der politische Konflikt soll genutzt werden, um die Militäretats zu erhöhen, Waffen zu beschaffen und Truppenverbände aufzustellen, die gar nicht gegen Russland, sondern im Süden (z.B. in Afrika) eingesetzt werden können und sollen. Das ist die eigentliche Agenda. Als Kollateralschaden der Ukraine-Krise muss also mit steigenden Militäretats gerechnet werden.

Uli Cremer ist einer der Initiatoren der »Grünen Friedensinitiative« und Autor des Buches »Neue NATO: die ersten Kriege«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/2 Gewalt(tät)ige Entwicklung, Seite 5