Vielfalt mit Ziel: Wissenschaft für den Frieden
Die Debatten der letzten beiden Jahre zum Krieg Russlands gegen die Ukraine und der jüngsten Gewalteskalation im Nahen Osten nach dem Angriff der Hamas auf Israel und dem folgenden Krieg gegen Gaza haben deutlich gemacht: Die Friedens- und Konfliktforschung hat zuletzt wieder eine bemerkenswerte Relevanz bekommen, die in einer wachsenden Wahrnehmung durch Politik und Medien sichtbar wird. Zugleich zeigt sich eine Spannung zwischen akademischer Forschung sowie der Erkenntnis auf der einen und politischer Beratung auf der anderen Seite. In der Öffentlichkeit sind gesellschafts- oder politikkritische Beiträge eher randständig. Gemäßigt politiknahe oder klar unterstützende Impulse, die oft akademisch erstaunlich blass bleiben, sind hingegen gefragt wie selten zuvor. In der akademischen Sphäre gibt es durch die starke Ausdifferenzierung und Institutionalisierung des Forschungsfeldes eine nahezu unüberblickbare Vielfalt an Fachdiskursen, Journals, Forschungsbereichen sowie epistemologische, methodologische, theoretische und praktische Ansätze zu allen Phasen eines Konfliktverlaufs. Hier sticht eine Vielzahl der Ergebnisse in der Tendenz eher durch ihre Skepsis, Vorsicht, Kritik oder offener Gegner*innenschaft zu etablierten Mechanismen der Friedenserzwingung hervor.
In dieser Vielstimmigkeit ein Angebot mit klarem Kompass zu schaffen, das ist der Anspruch von W&F. Mehr noch als bei der Gründung der Zeitschrift in Marburg vor 40 Jahren, als mit Fragen der Raketenstationierung, Weltraumrüstung und der Friedensbewegung die Themen des Blattes klarer schienen, geht es heute viel stärker um die Herausforderung der Auswahl von friedenspolitisch relevanten Beiträgen, um diese anschließend möglichst auch allgemeinverständlich zu präsentieren. Entsprechend haben sich die Schwerpunkte und der Zuschnitt von W&F verändert. Doch die Aufgabe, Orientierung zu bieten und Kompass für die Leser*innen zu sein, ist geblieben.
Damit dieser Vielfalt der Perspektiven genüge getan wird und der interdisziplinäre und intergenerationelle Charakter von W&F auch zum Anlass von 40 Jahren deutlich hervortreten kann, hatten wir zum Jubiläumssymposium in Bonn absichtlich »breit« aufgerufen – die Ergebnisbreite und -tiefe war beeindruckend, das Symposium aus unserer Warte ein voller Erfolg.
Dieses Heft ist ein Potpourri, das eben diese Vielfalt an Perspektiven und Zugängen zeigen wird. Der Schwerpunkt gliedert sich in zwei Abschnitte: die ersten Beiträge üben Kritik am Status quo, die darauf folgenden Beiträge versuchen sich an neuen Impulsen.
Herbert Wulf kritisiert wie schon in Heft 1/1983 (!) die Logik von Sozialabbau und gleichzeitiger Aufrüstung, Lutz Unterseher wirft einen kritischen Blick auf die jüngere Geschichte der Bundeswehr und entwirft Optimierungsoptionen, Christiane Lammers blickt aus aktuellem Anlass auf die vergangenen 25 Jahre des israelisch-palästinensischen Konfliktes aus der Warte des W&F-Archivs; Benno Fladvad weist die Schwierigkeiten mit der Rede von den Erneuerbaren Energien als »Friedensenergien« am Beispiel Kolumbiens nach, Christian Heck blickt auf unseren kriegerischen Umgang mit der technologischen Vorsortierung unserer Welt durch Sprachmodelle von KI und Susanne Schmelter analysiert die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft im UN-System.
Ulrich Wagner entwirft dann im zweiten Teil des Heftes in fünf grundlegenden Impulsen notwendige Veränderungen für eine Friedenspsychologie der Zukunft; Irem Akı zeigt das Potential eines Queering von Peacebuilding anhand des kolumbianischen Friedensprozesses auf und Korassi Téwéché skizziert den Entwurf einer Friedensphilosophie im Anschluss an Fanon und in Abkehr von einem von ihm als historizistisch kritisierten postkolonialen Diskurs; Rebecca Froese, Melanie Hussak, Dani*el*a Pastoors und Jürgen Scheffran umreißen eine transformative Konfliktarbeit für die Aufgabe der Großen Transformation, während Bahar Oghalai und Maria Hartmann die demokratiepolitischen Chancen in einer postmigrantischen Gesellschaft erkunden.
Seit 40 Jahren ringt auch W&F um die Frage, was Wissenschaft für den Frieden bedeutet – und die unterschiedlichsten Antworten wurden darauf im Heft gegeben. Ein stolzes Archiv von über 2.500 Beiträgen hat sich angesammelt; ein Erbe, das sich sehen lassen kann, das aber auch einer (selbst-)kritischen Betrachtung unterzogen werden muss. Was gilt (noch) von dem, was in W&F versucht, angedacht, vorausgedacht wurde? Seien Sie unsere schärfsten Kritiker*innen, unsere stärksten Fürsprecher*innen zugleich – und empfehlen Sie uns weiter, damit der mühsame Weg eines wissenschaftlich fundierten Diskurses auf einer breiten Basis gemeinsam leichter zu gehen ist.
Bald schon werden Sie auf der Homepage von W&F eine Dokumentation des Symposiums finden können – mit dem Programm, einigen Bildern sowie einer Vielzahl von Beiträgen, die auf dem Symposium vorgetragen wurden, in verschriftlichter Form.
Wir wünschen Ihnen nun eine anregende Lektüre unseres »Jubiläumshefts«,
Ihre Regine, Klaus, David, Hans-Jörg, Jürgen und Paul • Organisationsteam des Jubiläumssymposiums • »40 Jahre W&F: Wissenschaft für den Frieden«