Von 1983 bis heute
Impulse aus einem wissenschaftshistorischen Dialog
mit Eva Senghaas-Knobloch und Jürgen Altmann
Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jubiläum von W&F wurde kein Festvortrag gehalten. Stattdessen unterhielten sich mit Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch (Bremen) und PD Dr. Jürgen Altmann (Dortmund) zwei profilierte Kenner*innen der Entwicklung der akademischen Friedens- und Konfliktforschung wie auch der Friedensbewegung auf dem Podium über ihre ganz persönlichen Geschichten von 1983 bis heute. Um die Szene zu setzen, wurde vor dem Gespräch ein kurzer Zusammenschnitt eines Tagesschau-Berichts vom 22. Oktober 1983 gezeigt: Menschenkette über die Schwäbische Alb gegen die Pershing-II-Stationierung, Demonstration im Bonner Hofgarten zum Nachrüstungsbeschluss u.a. Dies ist ein nachbearbeitetes Transkript des Gespräches, das von W&F Vorstandsmitglied Dr. Michaela Zöhrer moderiert wurde.
Michaela Zöhrer (Moderation): Ich würde gerne im Jahr 1983 starten, in dem Jahr also, aus dem wir gerade beeindruckende Bilder von Massenprotesten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden gesehen haben. Wie habt ihr diese Zeit erlebt? Was hat euch damals bewegt, was ihr auch den Jüngeren unter uns mit auf den Weg geben wollt?
Jürgen Altmann: Ja, 1983. Bei mir hat Gesellschaftskritik deutlich früher angefangen. Als ich 1970 zum 3. Semester des Physikstudiums nach Hamburg kam, war die Ur-Achtundsechziger-Geschichte schon in vollem Gang, zunächst in den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen, dann auch in der Physik. Mich hat es in die linke Ecke verschlagen. Mit vielen anderen habe ich bei Studienreformen mitgemacht, z.B. Orientierungseinheiten für Erstsemester mitgegründet, in Fachschaft und Fachbereichsrat mitgearbeitet. Dabei hat die Friedensfrage eher am Rande eine Rolle gespielt. Das hat sich dann später geändert, als nämlich die neue Friedensbewegung bundesweit anfing. Da waren wir in der Naturwissenschaft zunächst Nachzügler*innen. Wir haben das Problem erst eine Weile nicht so richtig verstanden, aber dann ging es los, speziell bei uns in der Physik in Marburg (wo ich seit 1980 war): uns zu fragen, wenn jetzt hier über die sogenannte Nachrüstung diskutiert wird, in Westeuropa nukleare Marschflugkörper und Pershing-II-Raketen zu stationieren, um ein Gegengewicht zu haben gegen die SS-20 in der Sowjetunion, hat das etwas mit Physik zu tun? Natürlich sind die Atombomben von Leuten aus der Physik erforscht und zum Funktionieren gebracht worden. Aber hatte das auch heute noch eine Bewandtnis? Dazu haben wir 1981 ein Seminar veranstaltet, »Physik und Rüstung«, und daraus auch ein Buch gestaltet im Selbstverlag, das gut 12.000 mal in Deutschland verbreitet wurde. Dabei haben wir gemerkt, dass auch die aktuelle Aufrüstung noch viel mit Physik zu tun hatte. Wir haben uns einerseits mit den Techniken der verschiedenen Waffensysteme beschäftigt und uns andererseits an die allgemeine Friedensbewegung angeschlossen, an Demonstrationen in Bonn teilgenommen usw. Es gab eine große Bewegung in der Naturwissenschaft in Deutschland, mit Dutzenden von Naturwissenschaftler*innen-Friedensgruppen, Ringvorlesungen, überörtlichen Vereinigungen und großen Kongressen. Daran hatten wir – auch durch dieses Buch – einen erheblichen Anteil.
Eva Senghaas-Knobloch: 1983 war auch das Jahr, das das Ende der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) bedeutete, aufgrund einer zunehmenden Gegnerschaft in den Kreisen der CDU/CSU – innenpolitisch gegen die Orientierung auf Konfliktanalyse, außenpolitisch gegen die Entspannungspolitik – ausgehend von Baden-Württemberg und Bayern. Die DGFK war ein innovatives Bund-Länder-Vorhaben der damaligen sozialliberalen Koalition, das meines Erachtens nur noch mit dem »Humanisierung des Arbeitslebens«-Programm vergleichbar war. Es verfolgte die Idee, auch gesellschaftliche Kräfte bei neuen gesellschaftspolitisch relevanten Forschungsfragen einzubeziehen, also Gewerkschaften, Arbeitgeber, Konfessionen, neben den Wissenschaften und Parteien. Während so in einem Kuratorium übergreifende Fragen behandelt wurden, entschied eine kleine Kommission über konkrete Forschungsförderung. Daneben gab es ein Konzil der Friedensforscher und Friedensforscherinnen; wir hatten noch eine Initiative zur Beachtung besonders drängender Fragen initiiert. Das hat aber am Ende nichts genutzt, weil der Austritt wichtiger Länder aus der Bund-Länder-Konstruktion das Aus bedeutete.
Was mich selbst anbetrifft, habe ich mich erinnert an eine APUZ-Beilage der Bundeszentrale für politische Bildung von 1970. Da waren Carl Friedrich von Weizsäcker und ich mit Beiträgen vertreten; er schrieb über die nukleare Abschreckung, vor allem mit Blick auf physikalische Zusammenhänge. Es ging ihm um »Damage Assessment«, also die Abschätzung der Zerstörungen bei einem Einsatz von Nuklearwaffen. Und ich hatte über internationale Organisationen geschrieben. Das waren ziemlich gegensätzliche Blickweisen auf Konflikte in den internationalen Beziehungen. Obwohl er vieles über Schäden und Nichtverteidigungsfähigkeit im Detail ausgeführt hatte; Weizsäcker hat nukleare Abschreckung weiterhin befürwortet: Es ginge nicht anders, wir müssten jetzt noch diese Abschreckung im Sinne der Abhaltung von Angriffen leider weiterhin haben. Ich habe demgegenüber versucht zu betonen: Welche Möglichkeiten bestehen zur Verbindung zwischen den Staaten? Wie kann man Brücken bilden? Und welche Probleme und Konflikte tauchen dabei auf? Das war 1970.
In den 1980er Jahren, beginnend in den 1970er Jahren, war aber das Kapitel Ost-West-Konflikt schon komplementiert durch die Nord-Süd-Konfliktlage. Es gab den Anspruch des Globalen Südens, wie wir heute sagen würden, auf eine »Neue Weltwirtschaftsordnung«. Zugleich gab es real eine neue internationale Arbeitsteilung, die im Grunde genommen eine neokoloniale Arbeitsteilung war: Austausch von Rohstoffen gegen Fertigprodukte und Nutzung billiger Arbeitskräfte für Vorprodukte. Man weiß inzwischen, dass das kein Entwicklungsprojekt ist.
Michaela Zöhrer: Ich hake mal kurz bei dir, Jürgen, nach: Ich habe dich so verstanden, dass bei dir diese Phase Anfang der 1980er Jahre – also das Entstehen oder das Aufkommen der neuen Friedensbewegung – auch entscheidend war für deine Auseinandersetzung mit friedenswissenschaftlichen Fragestellungen als Physiker. Habe ich dich richtig verstanden?
Jürgen Altmann: Ja, friedenswissenschaftlich in dem Sinne, dass man selbst forscht und sich nicht nur zu eigen macht, was im Wesentlichen einige wenige aktive Kollegen – Kolleginnen gab es nicht viele – in den USA herausgefunden und dann auch aufklärend an die Öffentlichkeit gebracht haben. Da ist zu nennen die Bewegung gegen die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen in den USA. Dabei haben Leute wie Richard Garwin und Hans Bethe, die beide am Manhattan-Projekt beteiligt gewesen waren, in den späten 1960 Jahren versucht, die US-Öffentlichkeit aufzuklären, dass Abwehrsysteme zwar defensiv klingen, aber eine Menge Probleme mit sich bringen: Zündung nuklearer Explosionen im eigenen Land, leichte Umgehung durch Aufbau von mehr Raketen. Auch in den 1980er Jahren gab es von einigen US-Kollegen Veröffentlichungen, zum Beispiel dazu, wie ein Marschflugkörper gelenkt wird. Solche Analysen haben wir uns erarbeitet oder nachgearbeitet und in dem Buch veröffentlicht.
1984 ging meine Höchstbefristungsdauer in Marburg zu Ende. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll sein kann, sich in der Physik mit neuer Rüstungstechnik und ihren Problemen zu beschäftigen und auch mit den Möglichkeiten, sie zu begrenzen. Ich habe mich gefragt: Es kann doch kein Naturgesetz sein, dass solche Rüstungstechnik-kritischen Artikel nur in den USA geschrieben werden. Können wir das nicht auch? Dann kam ein Ein-Jahres-Stipendienprogramm der Volkswagenstiftung zu Fragen der Rüstungskontrolle. Ermuntert wurden auch Personen aus Disziplinen, die traditionell nichts mit Rüstungskontrolle zu tun haben. Dort haben sich zwei Physiker aus Marburg beworben, Jürgen Scheffran und ich, und wurden sofort genommen. Wir haben ein Jahr lang unsere Projekte bearbeitet (meins ging um Laserwaffen im Weltraum) und wurden mehr oder weniger ermuntert, das in anderer Form und systematischer weiterzuführen. Das war der Beginn meiner professionellen Forschung zu Militärtechnikfolgenabschätzung und präventiver Rüstungskontrolle.
Michaela Zöhrer: Eva, du hast erwähnt, dass 1983 nicht nur ein Jahr mit einem Hoch für die Friedensbewegung war, sondern in vielerlei Hinsicht gleichzeitig einen Rückschlag für die damals ja ohnehin nur prekär institutionalisierte Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland darstellte. Wie hast du alle diese Jahre auch für dich persönlich erlebt? Vielleicht magst du dich nochmal ein bisschen zurückerinnern, als eine in dem Moment ja schon zum Frieden forschende Sozialwissenschaftlerin. Waren diese Jahre für dich besonders einschneidend, bewegend auf eine Art und Weise?
Eva Senghaas-Knobloch: Die große Demonstration 1983 war natürlich bewegend. Die Einschätzung, die hinter der Bewegung stand, war aber umstritten in der Friedensforschung – anders als in der Friedensbewegung, die ja zum Teil unmittelbar einen Erstschlag befürchtete. Ich erinnere mich noch an die Stirnbinden: „Angst!“ Das erschien mir persönlich schwierig nachzuvollziehen. Wir hatten selbstverständlich in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung alle Einschätzungen und Fragen aufgegriffen und streitbar diskutiert. Ich war sehr beeindruckt davon, dass so viele Menschen sich organisieren. Und gleichzeitig war ich nicht überzeugt davon, was die erklärte Angst angetrieben hat. Ich meine, dass sich dahinter eine ganze Reihe verschieden motivierter Ängste gebündelt hat. Es war ja eine hoch krisenreiche Zeit, die sicherlich dieses starke Gefühl unmittelbarer Bedrohung durch die sogenannte Nachrüstung mit angefeuert hat: außenpolitisch amerikanische Geiselkrise im Iran, militärische Intervention der UdSSR in Afghanistan. Beruflich hatte ich mit anderen Themen zu tun, war aber viel unterwegs, um Klärungen zu versuchen und nukleare Abrüstung zu thematisieren, denn nukleare Waffensysteme sind nicht Waffen, mit denen man im herkömmlichen Sinn umgehen kann. Und doch gab es schon seit Ende der 1950er/1960er Jahre bei den Nuklearmächten nukleare Kriegsführungsoptionen. Die darauf resultierende Bedrohungslage war immer aktuell.
Jürgen Altmann: Die grundsätzliche Bedrohung war uns klar, zumindest nachdem wir aufmerksamer geworden waren auf das Atomwaffenproblem. Aber es gab auch spezielle Fragen: Kann die Pershing-II Moskau erreichen oder nicht? So dass also mögliche Erstschlagsbefürchtungen auf östlicher Seite vielleicht doch berechtigt wären? Und wie ist das mit der SS-20? Wir haben schon gesehen, dass die Vorwarnzeiten, wenn man über 2.000 Kilometer schießt, vielleicht fünf Minuten sind. Das ist anders als bei den langreichweitigen Raketen, die von den USA über die Arktis in die Sowjetunion fliegen oder umgekehrt. Die brauchen um die 35 Minuten, von U-Booten in vorderen Stationen vielleicht zehn Minuten. Da besteht ein Grundsatzproblem: Wie entscheidet man, wenn ein Angriff gemeldet wird? Ist der echt? Und muss ich meine Raketen schon starten, bevor sie am Boden zerstört werden durch die gerade ankommenden gegnerischen? Das bringt die Gefahr des »Atomkriegs aus Versehen«, wenn ein Fehlalarm nicht als solcher erkannt wird und man den Atomkrieg auslöst, den man eigentlich vermeiden möchte.
Diese generellen Fragen waren uns im Kopf. Ja, aber es gab schon die allgemeine Befürchtung, dass der neue Aufrüstungszyklus das Ganze schlimmer macht. In der professionellen Friedensforschung wird man ein bisschen nüchterner, obwohl es um den Untergang der Zivilisation geht und um das potenzielle Umbringen großer Teile der Weltbevölkerung.
Michaela Zöhrer: Ich mag das Wort zwar nicht, aber es wurde 1983 durchaus postuliert, dass die Friedensbewegung seinerzeit gescheitert ist, an dem Punkt, dass die Stationierung auf westdeutschem Boden nicht verhindert werden konnte.
Wenn wir ein wenig in der Zeit voranschreiten und auf das Ende der 1980er Jahre bis hin zum großen Umbruch 89/90 blicken: Beim heutigen Symposium hat schon jemand drauf hingewiesen, dass 1990 im Raum stand, ob die Frage von Krieg und Frieden überhaupt noch relevant sei. Wie habt ihr diese Jahre des Umbruchs und der Wende erlebt? Was hat das mit der Friedenswissenschaft und mit euch als Wissenschaftler*innen gemacht?
Eva Senghaas-Knobloch: Wenn ich noch einmal kurz zurück darf, ich möchte gern unterstreichen: Am Anfang der nuklearen Militärdoktrinen war es schon sehr wichtig, dass sich die Naturwissenschaftler sehr stark geäußert haben. Wenn man bis in die 1950er Jahre zurückdenkt, als Adenauer sogenannte taktische Nuklearwaffen für eine bessere Artillerie hielt, spielte Carl Friedrich von Weizsäcker eine große Rolle bei den 18 Nuklearphysikern, die sich in der »Göttinger Erklärung« scharf dagegen verwahrt hatten. Später, mit Wurzeln in den 1970er Jahren, bzw. noch weiter zurück, haben sich im Westen vielfältige emanzipative, oft antikapitalistische Bewegungen gebildet, so auch die vielstimmige Frauen- und Frauenfriedensbewegung. Und in den osteuropäischen und zentraleuropäischen Ländern entstanden – unter sehr repressiven Bedingungen – dissidentische Bewegungen, Bürgerrechtsbewegungen, um sich zu befreien von der Umarmung durch eine Sowjetunion, die die Luft zu mehr Eigenständigkeit, Freiheit, Demokratie geraubt hatte. Dazu gehörten z.B. in Polen die breite Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, in der UdSSR unter anderem der Nuklearphysiker (1955 befasst mit der Wasserstoffbombe) Andrej Sacharow und Jelena Bonner. Nicht nur in der DDR waren unter den kritischen Schriftsteller*innen und Dissident*innen die Themen Frieden und Umwelt von großer Bedeutung. Und in der Tschechoslowakei nannte sich die Prager Dissidentenbewegung »Charta 77«; der Name bezog sich auf die Schlussakte des blockübergreifenden Konferenzprozesses in Helsinki zum Thema »Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« im Jahr 1975. In der Schlussakte war die Verstetigung zu den folgenden Themen vorgesehen: 1. Vertrauensbildende Maßnahmen, Aspekte der Sicherheit und Abrüstung, 2. Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Umwelt, 3. Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen. In Kapitel VII der Schlussakte ging es um „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“, genau das war für die Dissidenten und Dissidentinnen im politischen Osten zentral. In den westlichen Friedensbewegungen bemühten sich aber nur wenige, besonders der überkonfessionelle Rat der Kirchen in den Niederlanden, darum, gleichermaßen für nukleare Abrüstung und die Beachtung der Bürgerrechtsbewegungen in zentral- und osteuropäischen Ländern öffentlich einzustehen.
Ich habe Anfang der 1980er Jahre in Berlin miterlebt, wie wichtig für Prager Dissidenten das Thema Vertreibung der Deutschen war, für dessen Aufarbeitung sie plädierten. Das war für mich zu diesem Zeitpunkt politisch irritierend und berührend; 1965 war in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Denkschrift erschienen, die damals die Entspannungspolitik mitinitiiert oder befördert hatte. Diese »Ost-Denkschrift« hatte den Titel: »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Es wurde dafür plädiert, politisch nicht weiter auf einer Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 zu beharren. Das war ein politisch sehr umstrittener Schritt, der jedoch zur Entspannung beigetragen hatte. (Der scharfe innenpolitische Streit darüber war übrigens der Hintergrund, wie ich zur Friedens- und Konfliktforschung kam; die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD suchte jemanden, die ihr die Fragestellungen und Argumente dieses neuen Forschungszweigs zugänglich machte).
Jürgen Altmann: Die Entspannungspolitik und die Verträge von Warschau und Moskau (1970) sowie der 2+4-Vertrag von 1990 waren wichtige Voraussetzungen, hier in Mitteleuropa die drängenden Bedrohungen zu reduzieren. Die Freiheitsbewegungen in Mitteleuropa haben in der deutschen Friedensbewegung keine Rolle gespielt und wurden fast eher als Störfaktoren empfunden, weil man meinte, dass zur Entspannung gehört, dass man die Zustände ‚da drüben‘ akzeptiert.
Ich möchte den Blick auf die Mitte der 1980er lenken. 1985 wurde ein neuer Generalsekretär der KPdSU gewählt, Michail Gorbatschow. Nach zwei Jahren gab es plötzlich einen echten Durchbruch. Vorhin hattest du gesagt, Michaela: Die Friedensbewegung ist gescheitert oder hatte verloren. In der Tat, hier wurde stationiert. Aber dann plötzlich wurde abgerüstet mit Reagan und Gorbatschow, und zwar alle diese Mittelstreckenwaffen. Das war der Mittelstrecken- oder INF-Vertrag, durch den zum ersten Mal eine gesamte Nuklearwaffenkategorie auf Null heruntergefahren wurde. Es war ein gewisses »Wunder«, dass Gorbatschow kam und die Abrüstung so auf den Weg brachte. Wir bräuchten mehr Wunder von der Sorte. In unserer Friedensforschung untersuchen wir Verifikationsmethoden für einen zukünftigen, vielleicht einmal kommenden Nuklearwaffen-Abschaffungsvertrag. Das ist Vorratsforschung und liegt jetzt in Aktenschränken, auf Festplatten und wartet auf das nächste Wunder. Es könnte ja auch einmal eines im Westen sein. Das ist natürlich in den jetzigen Zuständen sehr schwierig.
Eva Senghaas-Knobloch: Das Interessante war 1987, dass tatsächlich ein Vertrag zustande kam zwischen zwei gegensätzlicher kaum vorstellbaren Partnern, nämlich zwischen Gorbatschow auf einen Seite und auf der anderen Seite Reagan, der die UdSSR als »Reich des Bösen« bezeichnet hatte. Und trotzdem kamen Gespräche und ein Abrüstungsvertrag über Mittelstreckenraketen zustande. Und das hängt – glaube ich – auch mit der westdeutschen Friedensbewegung zusammen, die sich als Friedensbewegung titulierte und sicher auch so verstand, aber in erster Linie eine Anti-Pershing-Bewegung war.
Es war in der UdSSR jemand an die politische Spitze gekommen, der überzeugt war, dass es eigentlich um ganz andere Fragen geht, mit denen wir uns global beschäftigen müssen. Und diese waren für Gorbatschow das, was er allgemeine »Menschheitsfragen« genannt hat, vor allem auch ökologische Fragen. Diese gemeinsam zu lösenden Aufgaben stellte er in den Mittelpunkt. Zudem hatte er wohl durch die großen Demonstrationen gegen die Pershing-II den Eindruck, dass offenbar von den Gesellschaften des Westens keine Gefahr für die Sowjetunion ausgeht. Insofern konnte er Abrüstung befördern, abgesehen davon, dass er auch sah, wie es sozio-ökonomisch und sozial um die Sowjetunion stand. Ich war 1988 in Moskau und bei Gesprächen stellte sich heraus, dass es im Land einen Rückgang der Lebenserwartung gab. Und in vielen Bereichen, von denen nicht wenige Menschen hier gedacht hatten, auch ich, da müsste die Sowjetunion eigentlich ganz gut dastehen, gab es offenbar große Probleme, über die aber noch nicht offen gesprochen wurde. Gorbatschow wollte das verändern.
Jürgen Altmann: Ja, die Friedensbewegung hatte bei Gorbatschow ein Echo. Es gab zwar eine gewisse Tradition mit den vorherigen Begrenzungsabkommen; aber dieses Echo hat die weitergehende Lösung mit auf den Weg gebracht. Von daher kann man vielleicht doch sagen, dass in gewisser Weise die Friedensbewegung hinten herum, mithilfe von Reagan und Gorbatschow, doch gesiegt hat!
Michaela Zöhrer: Ich würde gerne jetzt den Fokus hin zur Friedenswissenschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lenken. Wie habt ihr das erlebt in den 90er Jahren? Erinnert ihr euch an Ereignisse, bei denen ihr sagt, das war eine Zäsur, da kann man viel für heute mitnehmen, oder genau im Gegenteil?
Jürgen Altmann: Mit 1990 oder schon ab 1987 nach dem INF-Vertrag gab es bei den naturwissenschaftlichen Friedensforscher*innen einen großen Optimismus: „Jetzt wird wirklich abgerüstet, und wir forschen an den Details, wie man das am besten umsetzt, wie man überprüfen kann, dass die Verträge auch eingehalten werden usw.“ Die Geophysik zum Beispiel hat jahrzehntelang daran gearbeitet festzustellen, ob Erdbebenwellen, die irgendwo ankommen, von einer unterirdischen Explosion, sprich einem Kernwaffentest, herkommen oder von einem Erdbeben. Das Problem war eigentlich Mitte der 1980er Jahre gelöst. Aber dann hat es noch bis 1996 gedauert, als der vollständige Teststoppvertrag (CTBT) abgeschlossen werden konnte. Der baut ein sehr ausführliches Verifikationssystem auf mit einem weltweiten Sensornetz. Wir dachten, dass viele unserer Vorschläge umgesetzt werden. Wichtig ist hier auch die internationale Pugwash-Bewegung, wo Kernphysiker – auch wiederum meistens Männer – aus den USA und der Sowjetunion zusammenarbeiteten und die ersten Begrenzungsverträge konzipierten.
Wir haben damals und bis heute weiter geforscht und weitergemacht. Wenn ich »wir« sage, dann ist das ein kleines Grüppchen. Von den etwa 55.000 Mitgliedern der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sind 20 oder 30 in der Arbeitsgruppe »Physik und Abrüstung«, von denen nur ganz wenige professionell in der Forschung arbeiten.
Eva Senghaas-Knobloch: Ja, ich möchte die Bedeutung der Pugwash-Bewegung unterstreichen. Eine unglaublich wichtige Bewegung, weil sie über die politisch-ideologischen Grenzen hinweg versucht hat, sich über rein naturwissenschaftliche Zusammenhänge auszutauschen. Sie hat bis heute mit ihrem »Bulletin of the Atomic Scientists«, finde ich, eine bedeutende Rolle. Und das Bulletin ist ja auch ein Beispiel für eine damals blockübergreifende Kommunikation, dank einer in Wissenschaft verankerten Basis. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive von Friedensforschung ist das sehr wichtig, die Kommunikation aufrecht zu erhalten.
Aber was ich noch gern sagen wollte, Jürgen, ist: Das Sprechen von einem Sieg der Friedensbewegung, das kann man so sehen, aber ich denke, wir sollten diesen Gegensatz Sieg/Niederlage besser weglassen. Diese Sprache hat uns geschadet in den 1990er Jahren, sie wurde auch hierzulande verwendet, kam besonders aus den USA: „Jetzt haben wir, der Westen, gesiegt“, „das Ende der Geschichte“. Das waren alles Beiträge zu dem Antagonismus, den wir heute erleben. Es gab und gibt – wie wir sozialpsychologisch wissen können – tief gehende emotionale Erfahrungen, die sich innerhalb und zwischen Ländern aufbauen, über Generationen hinweg wirksam werden und eine hoch brenzlige Konfliktsituation schaffen können.
Jürgen Altmann: Ja, akzeptiert.
Eva Senghaas-Knobloch: Ich empfand 1990 als unglaubliche Befreiung der Kommunikation hin zur neuen Möglichkeit aufrichtigen Sprechens. Zuvor war die Situation so, dass – wie in allen zugespitzten Konflikten, jedoch in der Ost-West-Konfliktkonstellation meist asymmetrisch – wenn man sich kritisch auf die Hintergrundsituation im eigenen Land oder Zusammenhang bezog, dies als »Unterstützung der Gegenseite« angesehen wurde. Das schien mir 1990 vorbei zu sein. Dass sich das Fenster für freien Streit und aufrichtige Kommunikation dann wieder schloss, ist ein Unglück. Dieses Reden von Sieg und Niederlage trug dazu bei. Ich glaube, das sind Kategorien, die man besser nicht verwendet, weil es stattdessen um gemeinsame Aufgaben gehen muss. Damit kommen wir zu den Fragen einer gemeinsamen Sicherheitspolitik – alles im Helsinki- und im UN-Kontext vorgedacht in den 1970er und 1980er Jahren: Wir hatten Olaf Palme, wir hatten zuvor Willy Brandt in der Nord-Süd-Kommission, wir hatten Mitte der 1980er Jahre Gro Brundtland zum Konzept nachhaltiger Entwicklung, in der die soziale, ökonomische und ökologische Dimension als zusammenhängend begriffen werden sollten; 2015 kamen die UN-Nachhaltigkeitsziele dazu, mit Ziel 16 für eine friedensförderliche Entwicklung.
Michaela Zöhrer: Ich versuche jetzt eine Überleitung in die Gegenwart. Als ich dir gerade zugehört habe, Eva, da fand ich es bemerkenswert als du sagtest: Das war auch eine Befreiung des Denkens oder Sprechens. Wir haben in der Friedens- und Konfliktforschung in den letzten zwei Jahren immer wieder eine weitere Verengung der Diskursräume erlebt, also dass genau diese Freiheit zu sprechen, zu denken, ohne dass man gleich in irgendwelche ideologischen Schubladen gesteckt wird, eingeschränkt war. Es gibt daneben verschiedene weitere Anknüpfungspunkte zu den Themen von eben, die uns auch in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft immer noch bewegen. Was treibt euch gerade um? Wenn wir das sowohl friedenspolitisch als auch friedenswissenschaftlich betrachten: Was möchtet ihr uns an Impulsen noch mitgeben?
Jürgen Altmann: Das sind zwei verschiedene Dinge. Zu unserer Wissenschaft: Der Wissenschaftsrat hat in seiner Beurteilung der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland von 2019 gesagt, dass sie gut aufgestellt ist. Aber bei der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung ist die Lage prekär. Daraufhin hat das BMBF, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, ein spezielles Förderprogramm aufgelegt, wo sich auch naturwissenschaftliche Personen beteiligen konnten und auch zum Teil Projekte bekommen haben. Das läuft ganz gut. Das »Peace Research Institute Frankfurt« hat ein neues Programm zur natur- und technikwissenschaftlichen Rüstungskontrollforschung gegründet; eine Physikprofessur wurde gerade an der TU Darmstadt ausgeschrieben. Also da tut sich etwas. Das sind dann vielleicht nicht mehr 20 Leute, sondern vielleicht 30 oder 40, wenn man die Doktorand*innen mitzählt. Das ist ein großer Fortschritt.
Was die fachlichen Fragen angeht, die viel größer sind: Die Rüstungsforschung und die Technikentwicklung im Militärbereich haben auch 1990 nicht aufgehört. Es gab in den US-Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung ein kleines Plateau – aber dann ging es schnell wieder hoch. Da wird sehr viel Geld ausgegeben: Zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung werden von den USA geleistet. Die wollen militärtechnisch so überlegen sein, dass – jetzt ein wörtliches Zitat des US-Verteidigungsministeriums – sie „jeden möglichen Gegner auf jedem möglichen Schlachtfeld besiegen“ können. Das ist zwar eine Illusion, insbesondere wenn man an nukleare Schlachtfelder denkt. Aber es wird sehr viel Geld ausgegeben und kontinuierlich an neuen Waffen- und anderen Militärtechniken gearbeitet. Ich habe mich fachlich unter anderem um besatzungslose Waffensysteme gekümmert, auch etwas geschrieben über die Gefahren von autonomem Schießen. Ich habe große Angst davor, dass damit nicht nur das Kriegsvölkerrecht nicht eingehalten wird, weil da kein Mensch mehr entscheiden würde, ob mögliche Ziele jetzt Kombattant*innen sind oder nicht, sondern dass es dahin gehen kann, dass sich zwischen zwei mit autonomen Waffensystemen ausgerüsteten Armeen instabile Situationen ergeben können, wenn sich bei kurzem Abstand die Reaktionszeiten von zehn bis 30 Minuten zwischen Nuklearmächten auf Sekunden verkürzen. Da besteht dann eine viel höhere Gefahr für Fehlwahrnehmungen und Eskalation – vielleicht nicht gleich nuklear, aber in der Folge dann vielleicht doch.
Es gibt noch viele andere Bereiche. Neue biologisch-chemische Agenzien könnten spezifischer wirken. Das ist gut, wenn es gegen Krebs ist oder gegen seltene Krankheiten. Aber wenn man das dann bewusst für neue Kampfstoffe einsetzen würde, wäre das hoch gefährlich. Es gibt einen Verbotsvertrag für Chemiewaffen, der auch überprüft wird; für biologische Waffen haben wir die Verifikation aber leider nicht, es gibt keine Überprüfungsregeln und keine internationale Organisation. Weiterhin gibt es die »traditionellen« Gefahren, mit denen ich wissenschaftlich groß geworden bin, nämlich mit Weltraumwaffen, Raketenabwehr und jetzt Hyperschallraketen. Da tut sich Einiges. Wenn man weiter in die Zukunft denkt, sprechen wir über Modifikationen am menschlichen Körper, um Soldaten und Soldatinnen effektiver kämpfen zu lassen. Da sind eine Menge Dinge in der Pipeline, die die Situation in der Welt erheblich schlimmer machen können, als sie heute schon ist. In der Situation des jetzigen russischen Kriegs gegen die Ukraine ist es natürlich ganz schwierig, zu irgendwelchen Begrenzungen zu kommen. Aber die gemeinsame Beurteilung, dass da Gefahren drohen und dass man sie gemeinsam auch international in den Griff kriegen muss, muss gefördert werden.
Eva Senghaas-Knobloch: Das kann ich nur bestätigen und auf weitere Gefährdungen ausdehnen: Damals hat Gro Brundtland deutlich gemacht, wie bedeutsam die Beachtung des mehrdimensionalen Zusammenhangs nachhaltiger Entwicklung ist. Aber ich möchte auch an Präsident Eisenhower erinnern, der sich sehr früh schon kritisch auf den militärisch-industriellen Komplex bezogen hat. Heute würden wir vielleicht vom militärisch-industriell-wissenschaftlichen usw. Komplex sprechen. Die Interessen spalten sich immer weiter auf und wirken dann zusammen umso mächtiger. Das macht notwendige Veränderungen so schwierig. Die Aufrüstungsdynamik war nur zu Teilen im Ost-West-Konflikt begründet, sie hatte jeweils auch innenpolitische Ursachen. Im Westen und Osten wurde jeweils überlegt: Wenn wir dieses neue Waffensystem jetzt haben, dann müssen wir uns auch mit dem vermutlich dagegen gerichteten System der Gegenseite befassen usw. So kommt man in eine stark »selbstbezügliche« Dynamik, die Dieter Senghaas für die Abschreckungslogik beschrieben hat und in der wir weiterhin gefangen sind.
Das Thema »Gemeinsame Sicherheit« ist schon angesprochen worden. Ich sehe eigentlich keinen anderen Weg, als dass wir uns über Wege zu gemeinsamer Sicherheit aus diesem Teufelskreis von Gewaltkonflikten und Waffenverbreitung heraus bewegen. Wenn das Thema gemeinsame Sicherheit vor desaströsen Klimakatastrophen, die so gut wie alle Menschen betreffen, zentrale Priorität gewinnen würde, könnte es gelingen, von festgezurrten Feindseligkeiten und den das Klima aufheizenden Aufrüstungsschüben wegzukommen. Dazu brauchen wir das Spektrum aller Disziplinen der Friedensforschung.
Michaela Zöhrer: Wir haben ganz viele Themen nicht ansprechen können, aber konnten gleichzeitig viele anschneiden und einige auch vertiefen. Ich finde, die Themenvielfalt, mit der sich die Forschung heute auseinandersetzen muss und kann, illustrieren auch unsere W&F-Themenschwerpunkte im Heft ganz gut. Ich möchte mich ganz herzlich bei euch beiden bedanken für eure Eindrücke und sehr bedenkenswerten Impulse.
Eva Senghaas-Knobloch ist Sozialwissenschaftlerin, Prof. i.R. am FZ Nachhaltigkeit der Uni Bremen, vielfältiges Engagement in der Friedens- und Konfliktforschung; erstes Buch 1969: Frieden durch Integration und Assoziation. Stuttgart: Klett.
Jürgen Altmann ist Physiker und Friedensforscher (im Ruhestand); er lehrt weiter an der TU Dortmund. Er ist Vorsitzender des Forschungsverbunds Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).