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W&F 1989/2

Politiker, Militärs und Friedensforscher aus den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik: Das alternative Gesamtkonzept für die Nato

Von der »flexible response« zur gegenseitigen defensiven Dominanz

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Am 28.4.89 wurde in Pressekonferenzen in Washington, London und Bonn ein Gesamtkonzept für die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik der NATO vorgestellt. Die Urheber: der British American Security Information Council in Verbindung mit der Alternative Security Working Group (Großbritannien) und dem Comittee on National Security (USA). Zu den Verfassern bzw. Unterstützern des Papieres zählen solch prominente Leute wie die ehemaligen SIPRI-Direktoren Frank Barnaby und Frank Blackaby, der ehemalige CIA-Direktor William E. Colby, die Direktorin der Oxford Research Group Scilla Elworthy, Raymond Garthoff (Brookings Institution), der Präsident von Pugwash Prof. Joseph Rotblat, Flottillenadmiral Elmar Schmähling und der frühere Direktor der US-Abrüstungsbehörde Paul Warnke. Bemerkenswert ist v.a. die Tatsache, daß US-amerikanische, britische und deutsche Sicherheitsexperten in engerer Zusammenarbeit begonnen haben, über alternative Konzepte zur bestehenden NATO-Strategie nachzudenken. Es nimmt nicht wunder, daß bei der unterschiedlichen Ausgangslage die Annäherung an eine gemeinsame, neue Sicherheitspolitik ein mühsamer Prozeß ist. Viele Vorschläge sind daher eher zurückhaltend formuliert. Immerhin. Eine Grundrichtung ist hier skizziert, die weitergehenden Überlegungen Türen öffnet.Wir veröffentlichen im folgenden Auszüge aus dem „Comprehensive Concept“.

Die Ziele und die neuen Wege des Denkens

Die Vorstellungen eines sicheren Europas sind natürlich nicht vereinbar mit dem Ausmaß der gegenwärtigen militärischen Konfrontation. Die beiden Bündnisse gegeben gegenwärtig 500 bis 600 Milliarden Dollar jährlich für militärische Vorbereitungen innerhalb und um Europa herum aus – eine Summe, die in etwa dem gesamten Nationalprodukt Großbritanniens entspricht. Im Zentrum der Konfrontation, in den beiden deutschen Staaten zusammen, kommt ein Soldat – oder Angehöriger der Streitkräfte – auf 54 Einwohner.

Angesichts der im wesentlichen stabilen Natur der politischen Situation in Europa ist dieses Ausmaß der Militarisierung absurd. Es ist die Konsequenz der Bemühungen beider Bündnisse, Sicherheit durch einseitige Entscheidungen über Rüstung und Militärausgaben zu erreichen – eine Konsequenz, die mit der irrigen Ansicht verbunden ist, daß höhere Militärausgaben größere Sicherheit bewirken. Dieser Wettbewerb führt zu größerer Unsicherheit, einem höheren Ausgabenniveau und treibt ein endloses technologisches Wettrüsten an.

Gemeinsame Sicherheit

Es gibt inzwischen eine Reihe von Vorschlägen über Sicherheit, die den Weg weisen für ein sicheres Europa. Möglicherweise erweist sich als gewichtigste Vorstellung die der »Gemeinsamen Sicherheit«: Sicherheit kann nur noch gemeinsam mit dem potentiellen Gegner erreicht werden.

Sicherheit muß auf Vereinbarungen abzielen – im einzelnen oder insgesamt – mit Staaten, die zu Recht oder fälschlicherweise als potentiell feindselig angesehen werden. Dies hat eine Reihe von Schlußfolgerungen. Es schließt die einseitige Einführung von Waffensystemen aus. Es erfordert Transparenz und ein Ende der Geheimniskrämerei bezüglich militärischer Entwicklungen – es gibt gemeinsame Sicherheit, wenn jede Seite über die militärischen Entwicklungen der anderen Seite informiert ist. Wenn sie nicht gut informiert ist, dann wird sie den schlechtesten Fall annehmen und entsprechend reagieren.

Hinreichende Verteidigungsfähigkeit

Eine zweite neue Vorstellung ist die der »hinreichenden Verteidigungsfähigkeit«. Staaten brauchen eine Stabilität bezüglich ihrer Militärstrukturen; sie benötigen lediglich eine militärische Struktur, die ausreicht, um einen Angriff abzuschrecken. Dies betrifft in besonderer Weise die atomaren Waffensysteme. Für Abschreckungszwecke benötigt man nur eine kleine Zahl unverwundbarer Atomsprengköpfe – und es gibt keinen Bedarf, über diese Zahl hinauszugehen, was immer die andere Seite unternehmen mag. Parität bei den Nuklearsprengköpfen ist aus Sicherheitsgründen nicht erforderlich.

Gegenseitige Defensive Dominanz

Die dritte Vorstellung ist die einer »gegenseitigen defensiven Dominanz«. Parität produziert nicht notwendigerweise Stabilität. Wenn Staaten oder Bündnisse über gleiche Streitkräfte verfügen, die starke offensive, aber schwache defensive Fähigkeiten besitzen, liegt eine unstabile Situation vor, auf der jede Seite versucht sein könnte, als erste loszuschlagen. Ein Wandel hin zu defensiveren Strukturen erfordert Veränderungen nicht nur bei Waffensystemen sondern auch hinsichtlich der Doktrinen, der Taktik, der Übungen usw. Wären in ganz Europa defensive Fähigkeiten stark und offensive Fähigkeiten schwach, dann könnte kein Staat einen erfolgreichen Angriff starten. Deshalb wird bei den Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa so viel Wert gelegt auf die Verringerung vor allem der offensiven Fähigkeiten und auf Schritte hin zu einer denfensiven Ausrichtung.

Demilitarisierung der internationalen Beziehungen

Schließlich zeigen die Erfahrungen der europäischen Länder der Nachkriegszeit, daß Sicherheit nicht nur eine militärische Angelegenheit ist – in der langfristigen Sicht nicht vorrangig eine militärische Angelegenheit. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft fühlen sich in ihren wechselseitigen Beziehungen untereinander sicher vor dem Einsatz militärischer Streitkräfte. Das hat nicht zu tun mit irgendeiner Parität bei ihren militärischen Fähigkeiten. Die gesamte Vorstellung des Einsatzes militärischer Streitkräfte zur Regelung irgendwelcher Streitigkeiten ist einfach ausgeschlossen. Die politischen Beziehungen untereinander sind demilitarisiert. Ihre Sicherheit hängt von einer Vielzahl von Verbindungen untereinander ab – nicht nur wirtschaftliche Verbindungen sondern auch soziale, kulturelle und persönliche Verbindungen gleichermaßen. Es gibt keinen Grund dafür, warum dieses Muster internationaler Beziehungen – d.h. die Demilitarisierung dieser Beziehungen – langfristig nicht auch über den Rest von Europa ausgebreitet werden kann.

Drei Etappen für ein sicheres Europa

Drei Etappen können wir uns vorstellen, um Fortschritte auf dem Weg zu einem tatsächlich sicheren Europa zu machen.

Die erste Etappe erfordert die Übernahme der Vorstellung der »Gemeinsamen Sicherheit« – zwischen den potentiellen Gegnern müssen militärische Entwicklungen und Strukturen und die Formen der Verringerung vereinbart werden.

Die zweite Etappe ist die gegenseitige defensive Dominanz, in der die Fähigkeit für offensive militärische Aktionen eliminiert wird.

In der dritten Etappe muß eine Beziehung erreicht werden, in der militärische Dispositionen nicht länger für relevant gehalten werden, um auf irgendeine Weise Streitigkeiten zwischen den Staaten zu regeln. Diese dritte Etappe erfordert eine intensive Entwicklung aller Verbindungen, die Nationen so zusammenzuführen, daß der Krieg zwischen ihnen ausgeschlossen werden kann.

Vierzig Jahre lang wurden die Diskussionen über die Sicherheit in Europa immer identifiziert mit der Diskussion über das militärische Gleichgewicht zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag. Es überrascht deswegen nicht, daß einige Leute diesen militärischen Antagonismus als unveränderbare Größe ansehen: die Sowjetunion ist der Feind und wird es immer sein und deshalb wird es immer substantielle militärische Streitkräfte auf beiden Seiten der Trennungslinie in Zentraleuropa geben.

Es ist eine der Lektionen in diesem Jahrhundert, daß »Feindstrukturen« dieser Art alles andere sind als unverrückbar… Politiker im Westen sollten sich auf den Gedanken einstellen, daß die Sowjetunion ebenfalls möglicherweise aufhört, der Feind zu sein.

Wenn wir langfristig ein Europa erreichen, in der die Vorstellung über den Gebrauch oder die Androhung von Gewalt ausgeschlossen wird, dann können die beiden Allianzen sich auflösen. Die NATO wurde als Organisation ins Leben gerufen, um auf eine spezifische Bedrohung zu antworten – jener aus der Sowjetunion. Falls diese Bedrohung nicht länger existiert, dann gibt es keine Notwendigkeit für diese Organisation, sich damit zu befassen. Die NATO ist nicht der richtige Ort für Aktionen, die bei Konflikten oder Spannungen irgendwo in der Welt in Gang gesetzt werden müssen. Die Vereinten Nationen sind der richtige Ort, um sich mit solchen Problemen zu befassen; sie beweisen heute wesentlich mehr Effektivität als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Maßnahmen, die Spannungen außerhalb Europas betreffen, sollen mit dem politischen Ziel verbunden sein, die Fähigkeiten der UN auszubauen.

Die Verhandlungen

Die Geschichte der Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen ist insgesamt nicht ermutigend. Insbesondere die vorangegangenen Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa dauerten 14 Jahre und erreichten keine Übereinkunft.

Es gab eine Tendenz bei den Rüstungskontrollverhandlungen in der Vergangenheit, sie in feindseliger Weise als Null-Summen-Spiel zu führen. Das Ziel glich manchmal dem eines militärischen Wettstreits – nämlich einen militärischen Vorteil über den Gegner zu erzielen. Die Ausgangsvorschläge schienen meist so angelegt, daß sie auf die Verringerung jener Systeme zielten, bei der der Gegner einen militärischen Vorteil hatte, und jene Systeme zu erhalten, bei der die eigene Seite im Vorteil war. Wenig Begeisterung gab es dafür, Sicherheit und eine Entlastung der Ressourcen für friedlichere Zwecke durch gemeinsames erfolgreiches Arbeiten zu erzielen.

Es wäre ein großer Vorteil, wenn die neuen Verhandlungen eine weniger feindselige Form bekämen. Sie sollten Teil eines Versöhnungs- und Rückversicherungsprozesses sein; sie sollten begleitet werden durch eine Entlastung bei den Verteidigungsausgaben und durch Verbesserungen der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Ideal wäre es für die Teilnehmer, wenn sie die Verhandlungen im Geiste gemeinsamer Sicherheit führten, als gemeinsame, kooperative Suche nach einer weniger gefährlichen und weniger verschwenderischen Struktur der militärischen Präsenz in Europa. Die Teilnehmer sollten auf die Einführung neuer Waffensysteme verzichten – und tatsächlich im Idealfall auch ihre Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet der Entwicklung verringern – während die Verhandlungen laufen.

Eines der wesentlichen Zeile der Verhandlungen sollte die Einführung erheblich größerer Transparenz bei militärischen Fragen sein. Im neuen System der Überprüfbarkeit, das beim Abschluß eines Vertrages notwendig wäre, hat militärische Geheimniskrämerei keinen Platz. Tatsächlich richtet sie sich gegen das Grundprinzip der gemeinsamen Sicherheit: man kann sich nur dann mit dem potentiellen Gegner über militärische Strukturen verständigen, wenn jede Seite weiß, welche militärischen Strukturen bestehen. Wesentlich größere Transparenz hätte den vorteilhaften Nebeneffekt, größere Teile der Geheimdiensteinrichtungen abbauen zu können.

Verifikations-Forschung

Die neuen Verhandlungen sollen durch größere substantielle Forschungsmittel gestützt werden, vor allem im Bereich der Überprüftechnik. Es gibt ein großes Ungleichgewicht zwischen den Forschungs- und Entwicklungsmitteln, die für neue Waffen vergeben werden (die in fast allen Fällen destabilisieren und die Sicherheit verringern) und Forschung und Entwicklung, die zur Unterstützung der Abrüstung und Rüstungskontrolle aufgebracht werden.

Die neuen Verhandlungen könnten sinnvollerweise durch regelmäßige internationale Dialoge zwischen Militärs begleitet sein, die sich mit der Bedrohungswahrnehmung und den Doktrinen befassen. Da eins der Hauptziele darin besteht, militärische Strukturen hin zu Verteidigungsoptionen zu ändern, sollten beide Seiten versuchen, eine gemeinsame Beurteilung der Arten eines solchen Wandels zu erreichen; dies wäre eine nützliche Ergänzung zum Verhandlungsprozeß selbst.

Unglücklicherweise gibt es kein Zeitlimit für die neuen Verhandlungen – vor allem nachdem die vorangegangenen Verhandlungen solange andauerten und nichts erreichten. Die Verhandlungsführer sollten bestärkt werden, substantielle Übereinkünfte vor der 4. KSZE-Folgekonferenz im März 1992 in Helsinki zu erreichen. Eine gemeinsame Vorgabe durch die Regierungschefs mit diesem Ziel wäre hilfreich.

Öffentlicher Druck

Ein Grund für das Scheitern der bisherigen Verhandlungen war fehlendes öffentliches Interesse daran. Nur wenige Leute wußten, daß diese Verhandlungen stattfanden und noch weniger kannten die Gegenstände, um die beide Seiten stritten. Regierungen sollten öffentliche Debatten zu diesen Fragen der Sicherheit in Europa entfachen und sie nicht als zu komplexe Fragen behandeln, die einfache Leute ohnehin nicht verstehen. Es bedarf eines gewissen, allgemeinen öffentlichen Drucks auf Regierungen, diese Verhandlungen auf jede mögliche Weise zu beschleunigen. Dies würde verstärkt, wenn eine starke europäische Abrüstungsbewegung existierte, die auch staats-unabhängige Organisationen in den Ländern des Warschauer Vertrages umfaßte. Die entspannteren Verhältnisse in diesen Ländern machen dies jetzt möglich. Es sollte auf diese Weise möglich sein, das alte Bild zu vermeiden, die öffentliche Meinung bedränge nur eine Seite.

Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte

Die neuen Verhandlungen sind potentiell ein großer Fortschritt gegenüber den vorangegangenen, indem sie erheblich mehr und vorrangig Sensibilität zeigen, die Möglichkeiten für einen Überraschungsangriff oder großangelegte offensive Operationen zu beseitigen. Die Ausgangslinie der NATO-Vorschläge für die Bezifferung bestimmter offensiver Waffensysteme, die beide Seiten behalten, bezeichnet rund 95% der gegenwärtigen NATO-Kräfte. Das Argument der NATO scheint darin zu liegen, daß die Vorneverteidigung an den westdeutschen Grenzen ein bestimmtes Mindestmaß militärischer Verbände beider Seiten 100 Kilometer diesseits und jenseits der Grenze erfordert und daß die NATO-Verbände nicht wesentlich über diesem Mindestmaß liegen. Die NATO scheint tatsächlich zu behaupten, daß ihre vorhandenen Streitkräfte erforderlich sind, mehr oder weniger unabhängig von der Größe der offensiven Streitkräfte der anderen Seite. Dies ist unglaubwürdig, vor allem, wenn die Verringerungen sich auf offensive Waffensysteme konzentrieren sollen.

Eine anspruchsvollere Ausgangslinie

Wir brauchen eine anspruchsvollere Ausgangslinie: d.h. eine Reduzierung um mindestens 10% unterhalb des gegenwärtigen Streitkräfteniveaus der NATO. Auf jeden Fall muß die NATO in der nächsten Etappe bereit sein, über die Verringerung um 5% bei ihren Streitkräften hinauszugehen; deshalb sollte die NATO jetzt mit intensiven Untersuchungen darüber beginnen, wie diese Strukturveränderungen aussehen, die weitere Verringerungen mit sich brächten.

Die NATO schlägt jetzt eine Obergrenze für den Gesamtbestand von Kampfpanzern mit 40.000 in Europa vor – was nur sehr geringe Reduzierungen aus der NATO-Seite zur Folge hat. Da Kampfpanzer offensive Waffen par Excellence sind, gibt es gute Gründe dafür, eine radikalere Reduzierung vorzuschlagen.

Die NATO scheint auch den Vorschlag einer defensiven Zone auf beiden Seiten des Mittelabschnitts der Grenze, aus der alle Atomwaffen und alle offensiven Waffen zurückgezogen werden, aber in der defensive Waffen zugelassen sind, nicht zu mögen. Vermutlich hat die NATO etwas gegen diesen Vorschlag, weil er sich auf die vorne stationierten Streitkräfte bezieht. Dieser Vorschlag wäre allerdings viel leichter zu verifizieren als eine umfassende Begrenzung der Panzer in Europa und es wäre eine sehr wirksame Maßnahme, um dem Ziel näher zu kommen, groß angelegte offensive Operationen unmöglich zu machen.

Die NATO ist gegenwärtig ebenso wenig bereit, Begrenzungen bei Kampfflugzeugen vorzuschlagen, da sie in kurzer Zeit wieder nach Europa verbracht werden könnten. (Natürlich können sich die Verhandlungspositionen verändern). Es wäre möglich, sich mit dieser Frage zu befassen, indem eine globale Obergrenze bestimmter Flugzeuge vereinbart wird, zum Beispiel bei den US-F und FB 111 sowie den sowjetischen Backfire-Bombern. Die INF-Verhandlungen stellen dafür einen Präzedenzfall dar. Diese Verhandlungen waren ursprünglich nur auf Europa begrenzt. Sie endeten in einem Abkommen über ein vollständiges, weltweites Verbot einer bestimmten Waffenkategorie.

Wir brauchen als Ergänzung zu diesen Verhandlungen einige Maßnahmen einseitiger Zurückhaltung. Die Sowjetunion hat natürlich hierbei schon ein Beispiel gegeben. Die NATO hat einige Jahre lang ein Spektrum von Waffensystemen entwickelt, die unter die Rubrik »Follow-On-Forces-Attack« (FOFA) fallen. Sie sollen präzise Schläge auf die zweite Welle der (östlichen) Verbände ausführen und auf Einrichtungen hinter der gegnerischen Linie. Diese Fähigkeiten, obwohl sie zweifellos für Verteidigungszwecke konzipiert sind, könnten auch bei einem Angriff sehr wirkungsvoll sein, Krisen destabilisieren und für die andere Seite provozierend wirken. Auf diesem Gebiet bedarf es also einseitiger Selbstbeschränkung.

Atomare Verbände

Lange bevor eine signifikante Verringerung der konventionellen Streitkräfte in Europa zur Debatte stand, geriet die NATO-Doktrin der Flexible Response unter ernsthaften und wirksamen Beschuß. Diese Doktrin erfordert einen möglichen Ersteinsatz von Atomwaffen gegen einen konventionellen Angriff.

Die NATO beschreibt diese Doktrin auch als »kontrollierte Eskalation«. Das Wort »kontrolliert« ist eindeutig falsch. Wenn einmal die atomare Schwelle überschritten wird, dann kann niemand vernünftig annehmen, daß die Eskalation kontrolliert werden könnte, bevor Europa verwüstet ist. Mit den Worten von Bundy, Kennan, McNamara und Gerard Smith in einem Artikel aus dem Jahr 1982: „Es ist Zeit zu erkennen, daß niemand bisher erfolgreich und überzeugend darlegen konnte, daß von jeglichem Einsatz von Atomwaffen, selbst auf der untersten Skala, ernsthaft erwartet werden könnte, daß er begrenzt bliebe. Jede seriöse Analyse und jede militärische Übung seit 25 Jahren hat gezeigt, daß selbst der begrenzteste Gefechtsfeldeinsatz enorm zerstörerisch für ziviles Leben und Gut sein wird. Niemand kann darauf vertrauen, daß ein derartiger atomarer Schlagabtausch nicht zu weiteren Verwüstungen führt. Jeder Einsatz von Atomwaffen in Europa … birgt ein hohes Risiko der Eskalation.“

Falls Fortschritte erzielt werden, um die Bedrohung durch groß angelegte konventionelle offensive Operationen zu beseitigen, wird diese Kritik umso stärker werden. Falls ein Abkommen ausgehandelt wird, um die konventionellen Streitkräfte zu verringern, dann macht es Sinn, auch einen Vertrag zur Begrenzung der Rolle der Atomwaffen auf die einfache Funktion der Abschreckung gegen ihren Einsatz durch jeden anderen Staat anzustreben und folgerichtig über taktische Atomwaffen zu verhandeln. Diese Waffen sind nicht für die Abschreckung im eigentlichen Wortsinn geeignet – es sind präemptive Kriegsführungswaffen. Für Abschreckungszwecke sollten Atomwaffen nicht vorne stationiert sein, wo sie verwundbar sind und wo sie überrannt werden können, was zu dem bekannten Dilemma »use-them-or-lose-them« (setze sie ein bevor du sie verlierst) führt.

Atomwaffenverbände kurzer Reichweite

Verhandlungen über taktische Atomwaffen in Europa sollten deshalb zugleich zu den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte laufen. Die NATO hat allen Grund, auf diesem Gebiet einseitig Bewegung zu zeigen und mit dem Abzug der atomaren Artilleriewaffen zu beginnen, verbunden mit der Aufforderung an die Sowjetunion das gleiche zu tun. Die Verhandlungen sollten sich anschließend mit bodengestützen Atomraketen mit Reichweiten unter 500 km befassen. Im Idealfall sollten sie vollständig beseitigt werden – ein Vorschlag, der als »dritte Null-Lösung« bekannt ist. Falls dies nicht gelingt, sollten nur sehr geringe Systeme auf beiden Seiten verbleiben. Die Sowjetunion verfügt über wesentlich mehr Raketen dieser Kategorie als die NATO, so daß ein substantieller numerischer Vorteil bei der NATO läge.

Einige westliche Politiker scheinen ängstlich bemüht zu sein, Kurzstreckenraketen auf europäischen Boden zu halten, offensichtlich deshalb, weil die Vereinigten Staaten eher bereit wären, einen atomaren Schlagabtausch zu beginnen, wenn diese Raketen vorhanden sind. Das könnte tatsächlich sein; doch genau dies eröffnet ein mögliches Szenario, in dem beide Großmächte entscheiden, einen Atomkrieg in Europa auszufechten und ihren Schlagabtausch so zu begrenzen, daß ihre eigenen Territorien verschont bleiben. Dies ist kaum im europäischen Interesse.

Diese Vorschläge zur Beseitigung taktischer Atomwaffen und zur Veränderung der NATO-Strategie hin zur »No-First-Use«-Doktrin sind nicht weit entfernt von den Hoffnungen vieler Menschen, die eine atomwaffenfreie Welt erstreben und die sehen, daß die Doktrin einer minimalen Abschreckung berechtigterweise von einer Vielzahl anderer Nationen übernommen werden könnte. Der Abzug taktischer Atomwaffen würde allerdings zumindest anerkennen, daß sie für Kriegsführungszwecke nicht gebraucht werden können. Dies wäre ein logischer Weg, um das in die Tat umzusetzen, was in gemeinsamen Erklärungen bei den Gipfeln von Präsident Reagan und Gorbatschow stand, daß nämlich „ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und deshalb nie ausgetragen werden darf.“

Seestreitkräfte

Seestreitkräfte sind vom Mandat für die Konferenz über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa ausgenommen. Ohne Zweifel hält die NATO dies für einen Verhandlungsvorteil, zumal die Seestreitkräfte der NATO denen des Warschauer Vertrages überlegen sind. Allerdings werden Verhandlungen an einigen Punkten und in einigen Foren über Rüstungskontrolle und Abrüstung auf See beginnen müssen. Soweit ersichtlich sind nur Unterseeboote, die ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen tragen, einbezogen worden.

Höchst wünschenswert wäre es, wenn ein Abkommen ausgehandelt würde, vergleichbar jenem, das für Europa beabsichtigt ist, um alle taktischen Atomwaffen von Kriegsschiffen abzuziehen. Sie haben keine klare militärische Funktion und sie sind besonders gefährlich, da sie keinen »besonderen Einsatzgenehmigungen« unterworfen sind – an Bord der Schiffe könnte entschieden werden, ob sie abgefeuert werden und die Kommandozentralen könnten nichts unternehmen, um dies zu stoppen.

In den neuen Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen, die zwischen den 35 Mitgliedstaaten des KSZE-Prozesses – der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – begonnen haben, hat die Sowjetunion vorgeschlagen, daß die Manöver zur See in die Tagesordnung mit aufgenommen werden. Die NATO scheint diesem Vorschlag nicht zuzustimmen; das ist eine unvernünftige Haltung. Es gibt guten Grund für bestimmte Begrenzungen – um Provokationen zu vermeiden, zum Beispiel bei Seemanövern in der Nähe der Küsten eines Landes ohne die Zustimmung der betreffenden Regierung.

Chemische Waffen

Chemische Waffen sind ebenso von der Tagesordnung der Konferenz über die Reduzierung konventioneller Waffen in Europa ausgeklammert, weil sie Gegenstand globaler Verhandlungen sind. Diese Verhandlungen sind allerdings über viele Jahre sehr langsam vorangekommen. Falls es innerhalb von zwei Jahren keinen weltweiten Vertrag gibt, dann wäre ein regionales Abkommen zwischen NATO und Warschauer Vertrag zu rechtfertigen.

Ziel eines solchen Abkommens wäre der Abzug aller chemischen Waffen aus dem Gebiet, das durch das Mandat der KSZE-Gespräche abgedeckt wird – oder, als zweitbeste Lösung, aus dem zentralen Raum Mitteleuropas. Dies sollte verbunden sein mit umfassenden Vorkehrungen für Inspektionen, die im Rahmen der globalen Verhandlungen erörtert werden. Auf diese Weise würde ein regionales Abkommen sich als nützliche vertrauensbildende Maßnahme erweisen und wertvolle Erfahrungen bereitstellen, die von den globalen Verhandlungen anschließend übernommen werden können. Darüberhinaus sollte es ein Verbot über jegliche militärische Übungen geben, die den Einsatz solcher Waffen simulieren…

Quelle: Frieden und Abrüstung. Hrsg: ifias, 53 Bonn

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/2 Sind Gesellschaft und Militär noch vereinbar, Seite