W&F 2017/2

Wissenschaft muss sich öffentlich äußern

von Hartmut Graßl

Am 11. April 1957 machten 18 Atomphysiker die »Göttinger Erklärung« öffentlich, und einen Tag später wurde das Memo­ran­dum in den überregionalen Zeitungen »Süddeutsche«, »Frankfurter Allgemeine»« und »Welt« ungekürzt abgedruckt. Die deutsche Bundesregierung zitierte daraufhin Vertreter der »Göttinger 18« nach Bonn und verbat sich die Einmischung der Wissenschaft in die Politik. Anlass für die Erklärung waren extrem verharmlosende Äußerungen des Bundeskanzlers Adenauer zur gewünschten Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen, die er als eine „weiterentwickelte Artillerie“ bezeichnet hatte. Da die Erklärung in Akademikerkreisen und in der Öffentlichkeit große und überwiegend positive Resonanz bekam, hatten die »Göttinger 18« wesentlichen Anteil an der Entscheidung der Bundesregierung, auf jegliche Atomwaffen freiwillig zu verzichten. Die Göttinger Erklärung führte im Jahre 1959 auch zur Gründung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.).

Was haben die Wissenschaftler in ihrem Text nach einer Belehrung über die extrem zerstörerische Wirkung von Atomwaffen zentral gefordert? „Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Mit dem letzten Satz verknüpften sie ihre Forderung mit dem eigenen Handeln, und da sie besonders renommierte Atomphysiker waren, wäre die Entwicklung von Atomwaffen in Deutschland nicht nur sehr schwierig, sondern auch nur mit Verzögerung möglich gewesen. Im Rückblick hat es der Bundesrepublik Deutschland seit jetzt 60 Jahren sehr wohl genützt, freiwillig auf die zerstörerischsten aller bisherigen Waffen verzichtet zu haben.

Wie sehr sich die Ansichten auch der Wissenschaftler*innen in den Jahrzehnten seither geändert haben, zeigt der letzte Satz der Göttinger Erklärung: „Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.“ Wenn wir Wissenschaftler*innen uns öffentlich äußern, müssen wir also auch immer bedenken, dass sich auf der Basis fortschreitenden Wissens unsere Einschätzungen – vor allem die der Jüngeren – ändern können, so dass jeweils im Dialog mit Öffentlichkeit und Politik frühere Entscheidungen angepasst werden müssen.

Dass eine veränderte Einschätzung oft viel Zeit erfordert, zeigt ein Satz des damaligen Sprechers der »Göttinger 18«, Carl-Friedrich von Weizsäcker, zum Energiebedarf und dessen Gefahren. Zwei Jahrzehnte nach der »Göttinger Erklärung« druckte die »ZEIT« am 8.7.1979 seinen Artikel »Die offene Zukunft der Kernergie«, den er nach einer Expertenanhörung zum Atommülllager Gorleben schrieb. An der Anhörung hatte er als Gesprächsleiter teilgenommen und sich deshalb eigener Meinungsäußerung weitgehend enthalten. Wenn ich mit diesem Aufsatz wieder als Partner in den Dialog eintrete, so versuche ich zur Objektivität dadurch beizutragen, daß ich meine Ansichten als subjektiv, als korrigierbar durch neue Argumente kennzeichne. Der Leser wird wahrnehmen, daß meine heutige Äußerung um eine Nuance distanzierter zur Kernenergie ausfällt als in dem Vortrag vor einem Jahr […].“

Neben dieser selbstkritischen und nachdenklichen Äußerung und diese keineswegs relativierend enthält von Weizsäckers Aufsatz eine weitere bemerkenswerte Aussage: „Aber nach den meines Erachtens besten heutigen geoklimatologischen Schätzungen ist zu vermuten, daß die Kohlendioxyd-Erzeugung in siebzig bis hundert Jahren Klimaänderungen bewirken wird, deren politische Rückwirkungen vielleicht nicht geringer sein werden als diejenigen großer Kriege. Dies ist sehr schwer zu prognostizieren; definitiv wissen wird man es vielleicht erst, wenn es zu spät sein wird. Ich gestehe, daß ich, ohne sichere Grundlage zu diesem Votum, eher zu der Formel neige: ‚Sowenig Kohle und Öl wie möglich, soviel andere Energiequellen wie dann nötig.’“ (Im weiteren Text wies er unter anderem auf das hohe Potential von Energieeinsparung und alternativen Energiequellen hin.) Damit erahnte er aus meiner Sicht früher als die meisten Forscher*innen globale anthropogene Klimaänderungen als eine wesentliche Bedrohung, damals gestützt auf die ersten Klimamodellrechnungen in den USA.

Warum passiert es so selten, dass sich Wissenschaftler*innen in der Öffentlichkeit gegen den Missbrauch ihrer Entdeckungen äußern oder vor Fehlentwicklungen warnen und sie auch bereit sind, sich der öffentliche Debatte und der (oft ungerechtfertigten) Kritik der Kolleg*innen auszusetzen? Weil die meisten Wissenschaftler*innen – wie generell die meisten Menschen – nicht anecken wollen, die Einflussmöglichkeiten als zu gering erachten oder Politik als häufig schmutziges Geschäft betrachten.

Ich selbst war lange ein solcher wissenschaftspolitisch und politisch nicht engagierter Wissenschaftler, der im Bereich der Physik der Atmosphäre forschte und sich zwar ab etwa 1978 in der Öffentlichkeit in eingeladenen Vorträgen zu Wort meldete, aber ansonsten darauf verließ, dass seine Forschungsergebnisse schon von den Umweltgruppen in die öffentliche Debatte getragen würden. Wegen meines Spezialwissens im Bereich der Strahlungsübertragung in der Atmosphäre wurde ich dann allerdings durch zwei wissenschaftliche Gesellschaften – also von außen angestoßen – in die öffentliche Arena geworfen. Seit dem von mir wesentlich mitformulierten Memorandum »Warnung vor weltweiten Klimaänderungen durch den Menschen«, das vor ziemlich genau dreißig Jahren in Berlin bei der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zusammen mit der Meteorologischen Gesellschaft veröffentlicht wurde, vergeht für mich fast keine Woche mehr ohne Öffentlichkeitsarbeit, die ich allerdings fast nie als Last empfand und die – wie mir Ministerialbeamte sagten – bei ihnen früh die großen Energieversorger vorstellig werden ließ, die meine Entfernung aus Beratungsgremien der Bundesregierung anregten. Denn ich war 1988 zum Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Klimabeirates der Bundesregierung geworden, der auf Anregung durch den Freistaat Bayern im Bundesrat eingerichtet worden war.

Heute werden Atomwaffen und globale anthropogene Klimaänderung oft in einem Atemzug als die beiden größten Herausforderungen für die Menschheit genannt, und in beiden Fällen sind die Bestimmungen in den völkerrechtlich verbindlichen Abkommen zur Reduzierung der Atomwaffen bzw. zur Begrenzung der globalen Erwärmung noch weit vom Ziel entfernt und werden auch von einigen Ländern missachtet. Als engagierter Wissenschaftler sehe ich allerdings zu beiden Themen in jüngster Zeit wesentliche Fortschritte: Erstens ist die völkerrechtlich verbindliche Paris-Vereinbarung als Teil der Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaänderungen gleichbedeutend mit dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe für die Energieversorgung in den nächsten wenigen Jahrzehnten; und zweitens verhandeln im Rahmen der Vereinten Nationen 130, also die Mehrheit aller etwa 200 Länder, in New York über die Ächtung von Atomwaffen. In beiden Fällen haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse und deren öffentliche Debatte zu politischem Handeln geführt.

Ich möchte diesen beiden großen Herausforderungen für das Wohlergehen der gesamten Menschheit noch eine dritte hinzufügen: den Stopp des Verlustes an biologischer Vielfalt. Mit anderen Worten: Eine Revolution in der Landwirtschaft ist notwendig, deren indus­trialisierte Form inzwischen die Hauptbedrohung für Arten und Ökosysteme ist. Denn unsere Ernährung hängt ganz wesentlich von den Leistungen funktionierender Ökosysteme ab, die z.B. Wasser filtern und für Bestäuber sorgen.

In diesem Zusammenhang möchte ich als Bürger an die Bundesregierung appellieren, doch beide Herausforderungen stärker anzunehmen: Erstens, verhandelt mit bei der Debatte um die Ächtung der Atomwaffen bei den Vereinten Nationen, steht also nicht mehr abseits; und zweitens, zeigt mehr Mut bei den vernachlässigten Teilthemen der Energiewende, nämlich der Wärme- und Mobilitätswende. An die Medien gerichtet: Macht beides zum Wahlkampfthema!

Wir Wissenschaftler*innen sollten uns jedoch nicht nur pauschal zur Abschaffung der Atomwaffen äußern, eine maximal tolerierbare mittlere globale Erwärmung fordern oder den galoppierenden Verlust der biologischen Vielfalt beklagen, sondern wir müssen auch Lösungswege aufzeigen – oft in frustrierend kleinen Schritten. Wissenschaftler*innen haben den Grundstock für ein Leben vieler in Frieden und Wohlstand gelegt. Dass inzwischen von den mehr als 7,5 Milliarden Menschen ein höherer Prozentsatz als jemals zuvor nicht mehr in Armut leben muss und nicht mehr vom Hungertode bedroht ist, sollte trotz aller weiter bestehenden Konflikte als wesentlicher zivilisatorischer Fortschritt anerkannt werden.

Es ist für mich eine Genugtuung, dass zwei internationale Organisationen, nämlich die Pugwash-Bewegung und ihr Gründer Jozef Rotblat sowie der Zwischenstaatliche Ausschuss über Klimaänderungen (IPCC) 1995 bzw. 2007 den Friedensnobelpreis verliehen bekamen, weil sie die Verantwortung der Wissenschaft für zentrale Probleme der Menschheit überzeugend wahrgenommen haben.

Wir sollten uns deshalb heute als Wissenschaftler*innen auf Forschung zum Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen und die weitere Abrüstung und Deligitimierung der Atomwaffen konzentrieren und Wege zur Umsetzung der Paris-Vereinbarung sowie zur Nahrungssicherheit für alle aufzeigen. Die VDW und andere zivilgesellschaftliche Gruppen versuchen dies weiterhin und brauchen dabei die Unterstützung von mehr engagierten Wissenschaftler*innen.


Hartmut Graßl ist Klimaforscher und war lange Jahre Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Er ist Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/2 Flucht und Konflikt, Seite 5–6