Wissenschaft trägt Verantwortung
Positionen zur Rolle der Wissenschaften in Zeiten der Hochrüstung
Die im Schwerpunkt dieser Ausgabe analysierten Tendenzen und Bestrebungen zur Hochrüstung und massiv ausgeweiteten Militarisierung stellen auch die Frage nach der Aufgabe, Zielsetzung und Verantwortung von Wissenschaft in Zeiten von angestrebter »Kriegstüchtigkeit« und »Zeitenwende«. W&F hat daher Vertreter*innen dreier Hochschulinitiativen – Science4Peace, FONAS und der Zivilklauselbewegung – gebeten, ihre jeweilige Analyse des Prozesses der Militarisierung an Hochschulen und deren Konsequenzen aufzuschreiben und ihren jeweiligen Einsatz gegen diese Tendenzen herauszustellen. Gezielt haben wir nach dem Schicksal der »Wissenschaftsdiplomatie« (Jung), der Intensivierung der »Dual-Use«-Forschung (Kreutle) und dem Angriff auf die »Zivilklauseln« (Beullens und Brackertz) gefragt. Dies sind ihre Positionen.
Die Wissenschaft als Brückenbauerin?
Rolle und Stand der Wissenschaftsdiplomatie in Zeiten der Hochrüstung
von Hannes Jung
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das internationale europäische Forschungsinstitut CERN von Wissenschaftler*innen aus zuvor verfeindeten Ländern gegründet. Sie wollten friedliche Forschung betreiben und schrieben in die Satzung: „Unsere Forschung darf sich nicht mit der Arbeit für militärische Anforderungen befassen und die Ergebnisse […] werden […] allgemein zugänglich gemacht.“ (CERN 1953)
Ganz ähnlich steht es in der Gründungssatzung des Partnerinstituts Joint Institute for Nuclear Research (JINR) in Dubna bei Moskau von 1956: „Die […] Forschungsergebnisse können nur für friedliche Zwecke zum Wohle der gesamten Menschheit verwendet werden.“ (JINR 1956) In einem Bericht von 1975 wird die gute und erfolgreiche Zusammenarbeit hervorgehoben (vgl. Lock 1975), lange Zeit galten CERN und JINR als die Paradebeispiele für erfolgreiche wissenschaftliche Zusammenarbeit in Zeiten des Kalten Krieges.
Das Forschungszentrum DESY, obwohl 1959 als nationales Institut für Elementarteilchenphysik gegründet, verschrieb sich den gleichen Prinzipien: Schon in den 1960er Jahren gab es wissenschaftlichen Austausch mit einem Institut in der damaligen DDR, später auch mit Instituten aus der Sowjetunion (vgl. DESY 2012). Die Zusammenarbeit beschränkte sich dabei nicht auf die Teilchenphysik (z.B. in Experimenten wie ARGUS) – die erste deutsche Homepage wurde bei DESY erzeugt und ganz selbstverständlich nahmen an diesen Entwicklungen auch die russischen Partner teil.
Die Idee des CERN, durch die Sprache der Wissenschaft Brücken zu bauen, wird auch in jüngeren transnationalen Kooperations-Projekten verfolgt. Ein Beispiel ist das Projekt »Synchrotron-Light for Experimental Science and Applications in the Middle East« (SESAME) in Jordanien, in dem Wissenschaftler*innen aus Zypern, Ägypten, Iran, Israel, Jordanien, Pakistan, Palästina und der Türkei zusammenarbeiten. Ein weiteres Beispiel ist das geplante Projekt »South East European International Institute for Sustainable Technologies« (SEEIIST), in dem Wissenschaftler*innen aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kosovo, Nord-Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien mit Teilchenbeschleunigern zu Krebstherapie und biomedizinischen Fragen forschen werden.
»Wertebasierte« Wissenschaftspolitik heute
Mit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine hat sich an dieser Ausgangslage vieles verändert: Am DESY wurden sämtliche Kooperationen mit Russland beendet, russische Wissenschaftler*innen mussten die Institute verlassen; sogar Wissenschaftler*innen, die seit über 20 Jahren in Deutschland lebten und arbeiteten, wurde der Email- und Computerzugang entzogen. Alle Kontakte von DESY mit russischen Instituten wurden abgebrochen, gemeinsame Konferenzen und Publikationen wurden untersagt (vgl. DESY 2022).
Am CERN wurden die Kooperationen zunächst auf Eis gelegt (vgl. Science4Peace 2024), bis Ende 2023 beschlossen wurde, die Kooperationen mit Russland und Belarus nicht weiterzuführen, die Verträge endeten im Jahr 2024 (vgl. CERN 2023). Lediglich die Kooperation mit JINR wird unter sehr strengen Sanktionen weitergeführt. Mehr als 800 russische Wissenschaftler*innen mussten das CERN verlassen und verloren ihren Zugang zu den Messdaten (Gibney 2024). Trotz des finanziellen Beitrags Russlands zum Bau des CERN-Teilchenbeschleunigers und der Experimente (ca. 10 %) wird ihnen nun der Zugriff auf die Messdaten, die gemeinsam gewonnen wurden, verwehrt und damit auch das intellektuelle Eigentum am Verständnis der Daten ignoriert.
Damit wird eine »wertebasierte« Wissenschaftspolitik aufgebaut, die im wesentlichen westliche Werte gegenüber assoziierten Partnern durchsetzen will. So beklagen z.B. die DFG und Leopoldina in einem Bericht von 2024, dass zunehmend der Anspruch politisch erhoben werde, „die akademische Forschung könne nicht mehr nur um ihrer selbst willen betrieben werden, sondern trage auch Verantwortung für die Sicherung unserer demokratischen Grundordnung und weiterer nationaler Werte.“ (ebd., Vorwort). Damit wird der Wissenschaft und Wissenschaftsdiplomatie ihre neutrale, länder- und nationenübergreifende Bedeutung genommen und zumindest auf institutioneller Ebene werden große Chancen für zukünftige Kooperationen, gerade mit Ländern aus dem Globalen Süden oder Osten, verspielt. Wenn zeitgleich zu den Sanktionen im russischen Fall die Kooperationen mit Israel aufrecht erhalten werden, dessen Regierung einen fürchterlichen Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung führt, wird die Doppelmoral bei den viel beschworenen Werten deutlich.
Die Diskussionen gehen aber noch weiter: Im Sommer letzten Jahres wurde auf einer Belegschaftsversammlung bei DESY angekündigt, dass die Leitung bereit sei zu überlegen, ob man die Forschung auch für militärische Zwecke öffnen könne (vgl. Gessner 2024, Hasse und Schlak 2025) – ein klarer Bruch mit der rein zivilen Ausrichtung seit der Gründung 1959 und des 2013 formulierten Leitbilds zu rein zivilen und friedlichen Zwecken. Mit einer solchen Öffnung und national orientierten Zurichtung verspielt man das Potential der Wissenschaftsdiplomatie und anerkennt Feindbilder und Bedrohungsszenarien, die von namhaften Wissenschaftler*innen aus der Friedens- und Sicherheitsforschung stark bezweifelt werden (vgl. Brzoska et al. 2025).
Widerstand
Gegen die oben dargestellten Entwicklungen regt sich großer Widerstand bei vielen Wissenschaftler*innen (vgl. für die Naturwissenschaften: Altmann et al. 2025). Es gibt unter anderem Versuche, die wissenschaftliche Kommunikation außerhalb der institutionellen Ebene aufrechtzuerhalten, z.B. durch unabhängig organisierte Online-Workshops, sowie Initiativen für eine Wissenschaftspolitik, die sich um den Austausch zwischen unterschiedlichen Ländern und die Akzeptanz unterschiedlicher (Werte-)Vorstellungen bemüht (bspw. Science4Peace).
Noch ist es nicht entschieden, ob sich eine rückwärtsgewandte »wertebasierte« Wissenschaftspolitik, die einige Länder von der Zusammenarbeit ausschließt und versucht, unter dem Vorwand von »Werten« die Vormachtstellung des Westen zu festigen und auszubauen, gegen den Willen vieler Wissenschaftler*innen und Beschäftigten in Forschungseinrichtungen durchsetzt. Die Wissenschaftsdiplomatie der Zukunft darf sich nur auf universelle Werte beziehen, muss auf Augenhöhe und in Respekt mit allen betrieben werden. Der zuweilen missionarische Eifer einiger westlicher Wissenschaftspolitik*innen ist kontraproduktiv, wenn es um die drängenden und großen Aufgaben der Menschheit geht, nämlich den Klimawandel zu begrenzen, Armut zu bekämpfen und vor allem Kriege zu verhindern.
Literatur
Altmann, J. et al. (2025): Science for Peace and the need for Civil Clauses at universities and civilian research institutions. Online unter: arxiv.org/abs/2505.22476.
Brzoska, M. et al. (2025): Rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus. Stellungnahme. Online unter: bicc.de/Cosmos/Peacebits.
CERN (1953): Convention for the establishment of a European organization for nuclear research. Online unter: cds.cern.ch/record/330625.
CERN (2023): Termination of the International Cooperation Agreement between CERN and the Republic of Belarus. Council decision. CERN/3758, 15.12.2023.
DESY (2012): Zeitreise. Vom Institut X zum DESY – eine deutsche Geschichte. Zeuthen: Eigenverlag.
DESY (2022): Measures taken by DESY in response to the Russian invasion of Ukraine. Stellungnahme des Direktoriums, 15.3.2022.
Gessner, N. (2024): Militärforschung am DESY? Mitarbeiter in Sorge. MOPO Hamburg, 28.6.2024.
Gibney, E. (2024): CERN prepares to expel Russian scientists – but won‘t completely cut ties. Nature. News, 18.9.2024.
Hasse, M.; Schlak, M. (2025): Zeitenwende in der Wissenschaft. Wem soll Forschung dienen – dem Krieg oder dem Frieden? Spiegel Wissenschaft, 17.1.2025.
JINR (1956): Charter of the Joint Institute for Nuclear Research. English version, online unter: jinr.ru.
Lock, W.O. (1975): A history of the collaboration between the European Organisation for Nuclear Research (CERN) and the Joint Institute for Nuclear Research (JINR), and with soviet research institutes in the USSR 1955-1970. CERN 75-7. Genf: CERN.
Leopoldina und DFG (2024): Wissenschaftsfreiheit und Sicherheitsinteressen in Zeiten geopolitischer Polarisierung. Tätigkeits- und Sachstandsbericht, 13.11.2024.
Science4Peace (2024): A Science4Peace initiative: Alleviating the consequences of sanctions in international scientific cooperation. 13.3.2024, online unter: arxiv.org/abs/2403.07833.
Hannes Jung ist emeritierter Wissenschaftler bei DESY und Privatdozent an der Universität Hamburg. Er hat am CERN als Wissenschaftler gearbeitet und verbrachte lange Zeit im europäischen Ausland, in Schweden, Frankreich und der Schweiz. Er ist aktiv im Science4Peace Forum, das von angestellten und assoziierten Forscher*innen an DESY, CERN und anderen Einrichtungen nach Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine ins Leben gerufen wurde. Sie fordern die zivile Ausrichtung der Forschungsinstitutionen ein und streiten für Wissenschaftsfreiheit und -diplomatie in Zeiten des Krieges.
Forschungspolitische Grauzonen
Die Ausweitung militärischer und Dual-Use-Forschung an deutschen Hochschulen
von Manuel Kreutle
Die Debatte um die Ausweitung militärischer und Dual-Use-Forschung an deutschen Hochschulen hat seit dem Krieg in der Ukraine deutlich an Intensität gewonnen. Diese Entwicklung bringt fundamentale Fragen zur Rolle der Wissenschaft, zwischen zivilen und militärischen Anwendungen, zurück aufs Tapet.
Aktuelle Dual-Use-Forschungsförderung
Das deutsche Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) operiert mit einem umfassenden Netzwerk an Institutionen, um militärisch relevante Forschung zu fördern. Neben den dem Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr unterstellten wehrwissenschaftlichen Instituten und wehrtechnischen Dienststellen, sowie den Hochschulen der Bundeswehr in Hamburg und München, unterstützt es die Fraunhofer-Gesellschaft, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), sowie einige Hochschulen und Universitäten. Welche Universitäten dabei wie viel Förderung erhalten, will das BMVg nicht veröffentlichen (vgl. Himmelrath 2019).
Diese institutionelle Verflechtung wird durch die Fördervorhaben der Rüstungsindustrie ergänzt. Exemplarisch sei hier ein Projekt zur Entwicklung eines unbemannten Unterseeboots genannt, in dem Thyssenkrupp Marine Systems mit der Technischen Universität Berlin und der Universität Rostock kooperiert (vgl. MUM Project 2025). In diesem Fall wird auch diskutiert, ob die TU Berlin möglicherweise gegen ihre Zivilklausel verstößt (vgl. Not in Our Name TU 2025)
Ebenso gefördert wird Forschung, bei der die Grenzen ziviler und militärischer Anwendungsbereiche verschwimmen. Technologien aus den Bereichen KI, Robotik oder Biotechnologie, aber auch Geoinformationsdienste, lassen sich sowohl für friedliche als auch militärische Zwecke nutzen – eine Ambivalenz, die als »Dual-Use« (Doppelnutzung) bezeichnet wird.
Krieg in der Ukraine als Katalysator
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wird oft als Wendepunkt und Auslöser einer »Zeitenwende« in der europäischen und deutschen Forschungspolitik bezeichnet (vgl. BMBF 2024), wenngleich auch schon seit Jahrzehnten eine Tradition der Dual-Use-Forschung besteht. So wurden z.B. in West-Deutschland bereits in den 1980ern von diversen Ministerien Add-on-Programme entwickelt, um unter frühzeitiger Berücksichtigung von militärischem Anwendungspotential zivile Forschung zu fördern und somit Ausgaben in Rüstungsforschung zu minimieren (vgl. Liebert 1994).
In jüngerer Zeit haben aber vor allem Veröffentlichungen auf deutscher und europäischer Ebene die Debatte neu angefacht: So strebt das neue Weißbuch der Europäischen Kommission vom Januar 2024 eine „bessere Integration ziviler und verteidigungsbezogener Technologie“ an (vgl. Europäische Kommission 2024), während das ehemalige Bundesministerium für Bildung und Forschung (jetzt Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt) in seinem Positionspapier zum Ausdruck brachte, eine Wiederbelebung von Dual-Use-Förderprogrammen vorantreiben zu wollen. Formulierte Ziele sind hier unter anderem das Überprüfen von Forschung, die bisher – oft selbstverpflichtet durch Zivilklauseln – nicht zu oben genannten Rüstungs- bzw. rüstungsnahen Forschungsbereichen beiträgt, auf Übereinstimmung mit „gesamtstaatlichen Sicherheitsinteressen“ (S. 1) und „ggf. Revision der Selbstregulierungsinstrumente der Wissenschaft im Lichte der Zeitenwende“ (vgl. BMBF 2024, S. 3).
Diese Bestrebungen zielen darauf ab, Trennlinien zwischen militärischer und ziviler Forschungsförderung aufzulösen. Der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) befürchtet in seiner jüngsten Stellungnahme, dass damit bewusst zivil-militärische Grauzonen erschaffen werden sollen, die ethische Dilemmata verschärfen könnten (vgl. FONAS 2025). An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Autor dieses Texts Mitglied bei FONAS ist und an der entsprechenden Stellungnahme mitgewirkt hat.
Narrative der Legitimation von Dual-Use-Forschung
In der öffentlichen Debatte haben sich mehrere Argumentationsmuster etabliert. Ein prominentes Narrativ macht Dual-Use zum wissenschaftlichen „Tagesgeschäft“ (vgl. acatech 2024), indem argumentiert wird, dass praktisch jede Technologie militärisch nutzbar sei. Diese Sichtweise relativiert bewusste Entscheidungen gegen militärische Forschung.
Ein zweites Narrativ stellt die individuelle Forschungsfreiheit in den Vordergrund und der ethischen Folgenabschätzung gegenüber. So wird mitunter argumentiert, dass kollektive Verantwortungsübernahme, z.B. im Rahmen von Zivilklauseln, die individuelle Freiheit von Forschenden beschränkt (vgl. Schatz 2025). Umgekehrt warnt FONAS im Rahmen der Debatte vor einer Verlagerung ethischer Entscheidungen auf die individuelle Ebene. Einzelnen Forschenden unter Publikations- und Drittmitteldruck würde es umso schwerer gemacht, militärische oder Dual-Use-Forschung abzulehnen.
Mögliche Folgen
Neben den neuen Angriffen auf Zivilklauseln, die sich zahlreiche deutsche Hochschulen selbst gegeben haben (siehe Beullens und Brackertz in dieser Ausgabe, S. 32), sieht FONAS auch einen zentralen Widerspruch im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Transparenz und militärischen Geheimhaltungsinteressen. Wissenschaft lebt von der öffentlichen Zugänglichkeit ihrer Erkenntnisse, was die unabhängige Überprüfung ermöglicht.
Zuletzt stammt fast jede vierte universitäre Mitarbeiter*in in Mathematik und Naturwissenschaften aus dem Ausland (vgl. DAAD und DZHW 2024). Die Verstärkung von Dual-Use-Forschung mit ihren Sicherheitsbeschränkungen könnte, laut FONAS, einen wesentlichen Teil des internationalen Personals ausschließen und dem Forschungsstandort Deutschland schaden. Demgegenüber stellt das Science4Peace Forum die Wichtigkeit internationaler wissenschaftlicher Kooperationen für die Vertrauensbildung zwischen Staaten heraus (vgl. Altmann et al. 2025).
Fazit
Die Debatte um die Versicherheitlichung der Forschung hat seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine neuen Aufwind bekommen. Auf nationaler und europäischer Ebene wird für eine (Neu-)Bewertung von Forschung nach staatlichen, sicherheitspolitischen Interessen geworben und vor ausländischer Einflussnahme und dem Ausspähen von Forschungsergebnissen gewarnt. Gleichzeitig gibt es weiterhin Stimmen für eine Förderung von Technikfolgenabschätzung und ethischen Diskursen.
Infolge der Debatte stehen Zivilklausen unter »Beschuß« und die Position, dass Hochschulen sich für die Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung einsetzen sollen, muss erneut erhoben werden, um sowohl institutionelle Verantwortung als auch die Freiheit einzelner Forschender, sich gegen eine Beteiligung an Rüstungsforschung positionieren wollen, auch gewährleisten zu können.
Literatur
acatech (2024): Verteidigungsforschung und Dual Use – welche Konsequenzen bringt die Zeitenwende für die Technikwissenschaften? München, 23.5.2024.
Altmann, J., et al. (2025): Science for Peace and the need for Civil Clauses at universities and civilian research institutions. Zenodo.
BMBF (2024): Positionspapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Forschungssicherheit im Lichte der Zeitenwende. Berlin, 15.3.2024.
DAAD; DZHW (2024): Wissenschaft weltoffen 2024: Facts and Figures on the International Nature of Studies and Research in Germany. Bielefeld: wbv Publikation.
Europäische Kommission (2024): White paper: On options for enhancing support for research and development involving technologies with dual-use potential. Brüssel, 24.1.2024.
FONAS (2025): FONAS-Stellungnahme gegen eine Aufweichung der Trennung von ziviler und militärischer Forschung. Februar 2025.
Himmelrath, A. (2019): Umstrittene Rüstungsforschung. Kollegengespräch mit Benedikt Schulz. Deutschlandfunk, 13.09.2019.
Liebert, W.; Rilling, R.; Scheffran, J. (Hrsg.) (1994): Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik. Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz. Schriftenreihe Wissenschaft und Frieden, Bd. 19. Marburg: BdWi-Verlag.
MUM Project (2025): Projektüberischt. Online unter: mum-project.com/project.
Not in Our Name TU (2025): Report by Not In Our Name TU. Berlin, 3.4.2025. Online unter: notinourname-tu.org/civil-clause-breach.
Schatz, G. (2025): Problematische Empfehlungen. Leserbrief, Physik Journal 24(6), S. 22.
Manuel Kreutle ist Physiker und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Forschungszentrum Jülich. Er forscht zur Kernmaterialüberwachung in der nuklearen Entsorgung und zu nuklearer Abrüstung. Er war als FONAS-Mitglied an der Erarbeitung des hier zitierten FONAS-Statements im Februar 2025 beteiligt.
Antimilitaristische Wissenschaft – jetzt erst recht!
Zum aktuellen Kampf um Zivilklauseln
von Jonathan Beullens und Stefan Brackertz
Anders als international üblich, sind in Deutschland die Hochschulen weitgehend zivil orientiert. Dies wurde historisch erkämpft und spiegelt sich in aktuell über 70 Zivilklauseln wider. Im Zuge der Zeitenwende wird dies nun infrage gestellt; wo vorher von rechts die »Wissenschaftsfreiheit« beschworen wurde, um Zivilklauseln als „verfassungswidrig“ zu brandmarken1, sollen die Hochschulen durch Unterordnung unter die Kriegsvorbereitung und Großmachtbestrebungen (»strategische Autonomie«, vgl. Lippert, von Ondarza und Perthes 2019) der Regierung nun „Verantwortung übernehmen“ (Stark-Watzinger 2023). Mit Verweis auf Putin („im Lichte der Zeitenwende“) zielt die aktuelle Wissenschafts- und Technologiepolitik aber tatsächlich mit Militarisierung und Abschottung auf Blockbildung gegen den sich wirtschaftlich und politisch emanzipierenden Globalen Süden, insbesondere China.2
Für kurzfristige »Kriegstüchtigkeit« ohne personelle und finanzielle Austrocknung des Zivilen setzte das BMBF in seinem letzten Positionspapier auf »Dual-Use«, um „wie Israel und die USA […] erfolgreich und synergetisch in einem zivil und militärisch geprägten Ökosystem Forschung in technologische Innovation um[zusetzen]“ (BMBF 2024). Auch die neue Bundesregierung verfolgt daher die Abschaffung der »Innovationsbremse« Zivilklausel. Geplant war dies bisher als freiwillige »Überprüfung«, »Anpassung« oder Abschaffung der angeblich „nicht mehr zeitgemäßen“ Zivilklauseln durch die Hochschulen selbst.
Allerdings ziehen die Hochschulen bisher nicht mit und kritisieren beispielsweise, dass eine forcierte Fokussierung auf »Dual-Use« internationale Kooperationen einschränke (HRK 2024). Bislang wurde auch keine Zivilklausel aufgehoben, nur eine bestehende verändert und die Kunsthochschule für Medien in Köln (KHM) hat eine besonders weitreichende neu beschlossen.
Dementsprechend lamentiert auch Matthias Büger, Abgeordneter der FDP im Hessischen Landtag: „Aber was, wenn die Hochschulleitung aufgrund der politischen Mehrheit in den Hochschulgremien eine solche Überprüfung [der Zivilklausel] gar nicht will? Und was, wenn sie zwar prüft, aber am Ende nichts ändert?“ (Hessischer Landtag 2025).
Angesichts dessen plant die EU, »zivile« Drittmittel nur noch für Projekte mit militärischem Zweitnutzen zu vergeben (vgl. EU Kommission 2024). Parallel macht das Bayerische »Gesetz zur Förderung der Bundeswehr«, das die Union derzeit trotz erheblichen Widerstands3 auf andere Bundesländer zu übertragen versucht, Militarisierung zur Pflicht.
Opposition statt Affirmation!
Ein nicht unwesentlicher Teil der etablierten Friedensforschung reduziert sich zeitgleich auf affirmative Politikberatung, die Regierungen bei der Umsetzung ihrer Politik berät, deren Ziele aber nicht infrage stellt, sondern legitimiert – wie die Leiterin des Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), Nicole Deitelhoff, deutlich macht:
„Wir müssen darüber reden, wo wir Abstriche machen können. Das wird dazu führen, dass anderes, das genauso wichtig ist – Bildung, Klimaschutz – zumindest verschoben werden muss. Man kann nicht alles über Schulden finanzieren, sondern muss auch Prioritäten setzen.” (Gueler und Schulze 2025)
Demgegenüber setzen wir als Teil der Zivilklausel-Bewegung genau auf das: Bildung, Soziales, Klimaschutz – insgesamt die Realisierung der Nachhaltigkeitsziele der UN (»SDGs«) – und zwar explizit gegen das Erstarken des industriell-militärischen Komplexes sowie gegen den zunehmend autoritären Kurs der Regierungen in den imperialistischen Zentren. Die aktuellen Krisen und Kriege lassen sich nur international kooperativ und zivil lösen. Dafür gilt es die Völkerverständigung, auch über wissenschaftliche Kooperationen z.B. mit Russland, zu fördern und den Frieden im Geiste der Menschen zu verankern (Präambel UNESCO-Satzung). Diese Aufgaben anzugehen bedeutet, die Lehren aus der Barbarei von zwei Weltkriegen zu erfüllen. Grundgesetz und UN-Charta betrachten wir als historische Meilensteine, deren Errungenschaften (Gewaltverbot, Friedensgebot, Sozialstaatsprinzip) wir nutzen und weiterentwickeln.
Denn es sind nicht Putins vermeintliche Großmachtphantasien, die die größte Gefahr für das Überleben der Menschheit darstellen, sondern der westliche Imperialismus, der sich nun mit allen erdenklichen Mitteln gegen seinen Abstieg zu wehren versucht. Dem mittlerweile als Pauschaleinwurf erhobenen Einwand „Ja, aber Putin…“ gilt es mit wissenschaftlicher Rigorosität zu begegnen und die tatsächlichen internationalen Interessens- und Kräfteverhältnisse aufzuzeigen (s. dazu Tricontinental Institute 2024).
Kampf um die Hochschulen
Das affirmative Verhältnis zur herrschenden Politik, das im Zitat von Deitelhoff deutlich wird, steht exemplarisch für eine Entwicklung der Disziplin, die Werner Ruf systematisch herausgearbeitet hat (Ruf 2023). Sie ist auch Ergebnis eines Klassenkampfes von oben, der in den letzten 30 Jahren an den Hochschulen durch neoliberale Deformation geführt wurde (Demirovic 2008).
Teil von Klassenkampf sind die Hochschulen jedoch von Anfang an gewesen: Sie haben sich maßgeblich im 19. Jahrhundert als Institutionen des Bürgertums konstituiert und durch Wissenschaftsfreiheit gegen die Einmischung des im deutschsprachigen Bereich damals noch feudalen Staats geschützt. Trotz emanzipatorischer Grundzüge hatten sie im Kern ein affirmatives Verhältnis zu Kapitalinteressen (vgl. Fuchs et al. 2024) und sind großteils in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch das Bündnis von Kapital, Konservativen und Faschisten gegen linke und revolutionäre Kräfte mit eingegangen.
Die Re-Education-Politik der Alliierten, in deren Kontext auch die erste Zivilklausel entstanden ist (TU Berlin, vgl. Nares 1946), zielte darauf, die herrschenden Verhältnisse an den Universitäten vor allem durch soziale Öffnung und Demokratisierung der Hochschulen zu ändern (Euros 2016, Studienausschuss für Hochschulreform 1948). Die West-Alliierten bauten dabei darauf, dass die notwendige inhaltliche Neuausrichtung durch die neu zusammengesetzte Mitgliedschaft hervorgebracht und getragen werden sollte.
Wegen der Adenauerschen Restaurationspolitik wurde dies aber erst durch die Kämpfe der Studierendenbewegung von 1968 gegen konservative Kräfte, wie den »Bund Freiheit der Wissenschaft«, erkämpft. Die daraus resultierende Welle von Fachschaftsgründungen – oft im Sinne der GO-Politik des MSB – hatte zum Ziel, die Fachbereiche zu politisieren, niemanden im Elfenbeinturm oder auf der Karriereleiter in Ruhe zu lassen sowie die Fragestellungen selbst zu bestimmen. Sprich: nicht nur die Rahmenbedingungen zu verbessern, sondern selbst die Hegemonie an den Hochschulen zu übernehmen (vgl. Keller 2000).
Genau dagegen richtet sich die neoliberale Entpolitisierung des Hochschulalltags und genau daran knüpfen wir auch heute in Zeiten von eingeforderter »Kriegstüchtigkeit« an (siehe Kasten nebenan), um die Wissenschaftsfreiheit und Zivilklauseln nicht nur zu erhalten, sondern um im bewussten Widerspruch zu Krieg, Ausbeutung sowie Brutalisierung, Banalisierung und Technisierung des Alltags die antifaschistischen Schlussfolgerungen 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs endlich zu realisieren. Alle sind aufgerufen, sich daran zu beteiligen.
Anmerkungen
1) Vgl. z.B. eine Kleine Anfrage u.a. der AfD-Fraktion im Bundestag, »Weiterentwicklung Strategischer Studien sowie sicherheitspolitischer und geopolitischer Forschung«, BT-Drs. 19/21052.
2) Vgl. den Kommentar zum Positionspapier des BMBF durch die Initiative »Hochschulen für den Frieden ‒ Ja zur Zivilklausel«, online unter: zivilklausel.de/?view=article&id=154.
3) Der bayerische Landesverband der GEW hat im November letzten Jahres eine Popularklage gegen das Gesetz eingereicht: gew-bayern.de/themen/nein-zum-bundeswehrgesetz.
Literatur
BMBF (2024): Positionspapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Forschungssicherheit im Lichte der Zeitenwende. Berlin, 15.3.2024.
Demirovic, A. (2008): Nebenprodukt Erkenntnis – Die neoliberale Reorganisation der Hochschulen und Perspektiven kritischer Wissenschaft. junge Welt, 28.10.2008.
EU Kommission (2024): Weißbuch über Optionen für eine verstärkte Unterstützung von Forschung und Entwicklung zu Technologien mit potenziell doppeltem Verwendungszweck. COM(2024) 27 final. Brüssel, 24.1.2024.
Euros, G. (2016): The post-war British ‘re-education’ policy for German universities and its application at the universities of Göttingen and Cologne (1945–1947). Research in Comparative and International Education 11(3), S. 247-266.
Fuchs, C.; et al. (2024): Vorwort der Redaktion. In: BdWi; fzs; GEW; NGAWisss; ÖH (Hrsg.): Umkämpfte Wissenschaftsfreiheit. BdWi-Studienheft 14. Marburg: BdWi-Verlag, S. 4-6.
Gueler, C.-O., Schulze, T. (2025): „Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden.“ Interview mit Nicole Deitelhoff. taz, 21.2.2025.
Hessischer Landtag (2025): Plenarprotokoll 21/37, 27.3.2025, S. 2653.
Hochschulrektorenkonferenz (HRK) (2024): Stellungnahme der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zum Weißbuch »Technologien mit doppeltem Verwendungszweck – Optionen für die Unterstützung« der Europäischen Kommission, Europäische Kommission, Feedback F3464775, 30.4.2024.
Keller, A. (2000): Hochschulreform und Hochschulrevolte. Selbstverwaltung und Mitbestimmung in der Ordinarienuniversität, der Gruppenhochschule und der Hochschule des 21. Jahrhunderts. Marburg: BdWi-Verlag.
Lippert, B.; von Ondarza, N.; Perthes, V. (Hrsg.): Strategische Autonomie Europas. SWP-Studie 2019/S 02. Berlin, 1.2.2019.
Nares, E.P. (1946): Eröffnungsansprache für die Technische Universität Berlin-Charlottenburg.
Reimann, J. (2025): Bayerns Weg zur Förderung der Bundeswehr. Verfassungsblog, 29.1.2025.
Ruf, W. (2023): Die Friedensforschung und der Markt. In: Albrecht, M. et al (Hrsg.): Quo vadis, Friedensforschung? (Dossier 96), W&F 1/2023, S. 3-5.
Stark-Watzinger, B. (2023): Unsere Forschung vor China schützen. FAZ, 21.8.2023.
Studienausschuss für Hochschulreform (1948): Gutachten zur Hochschulreform.
Tricontinental Institute for Social Research (2024): Hyper-Imperialism – A Dangerous Decadent New Stage. 23.1.2024.
Jonathan Beullens studiert Physik an der Goethe-Universität Frankfurt und ist aktiv in der dortigen Zivilklausel-Initiative sowie in der Hochschulgruppe DieLinke.SDS und der Fachschaft Physik.
Stefan Brackertz promoviert in Physik an der Uni Köln, ist dort in der Fachschaft, dem AK Zivilklausel und der Hochschulgruppe Wendepunkt aktiv. Über Zivilklauseln streitet er sich auch anderswo, z.B. in der GEW.
Beispiele aktueller Zivilklausel-Kämpfe an den Hochschulen
- Wirken zur konsequenten Zivilisierung der Hochschulen: Kein militärisches Personal am Campus, weder bei Werbeveranstaltungen noch in Seminaren. Kritische Teilnahme an Lehrveranstaltungen (z.B. Hinterfragen der »regelbasierten Weltordnung« in der Politikwissenschaft) und Maßnahmen zu ihrer Neuorientierung in Gremien.
- Ringen um die Aufrechterhaltung und zivile Neubestimmung wissenschaftlicher Kooperationen als Wissenschaftsdiplomatie von unten – gerade auch bei geopolitischen Spannungen.
- Weiterentwicklung kritischer Veranstaltungsreihen: größerer Fokus auf die Interessen hinter den diskutierten Wissenschaftsparadigmen. Weniger kritisch betrachtend, mehr gerichtet auf Verallgemeinerung im eigenen Studiengang und auf tatsächliches gesellschaftliches Eingreifen. Weniger mit externen Expert*innen, mehr gemeinsam mit Studierenden und verbündeten Dozierenden vor Ort selbst gestaltet. Vgl. dazu z.B. die Ringvorlesung »Krieg und Frieden – transdisziplinäre Perspektiven« der Zivilklausel-Initiative in Frankfurt, die Veranstaltungsreihe »Physik & Ethik« der Fachschaft Physik in Köln oder das Filmseminar »Kino gegen Austerität« des Bündnisses Aufklärung und Emanzipation in Hamburg.
- Organisation von Lesungen und Diskussionen der von den Nazis verbrannten Bücher, um sich das antimilitaristische und antifaschistische Erbe neu zu eigen zu machen. 2025 rund um den 10. Mai u.a. in Frankfurt, Köln, Hamburg, oft in Zusammenarbeit z.B. mit dem VVN-BdA.
- Kampf für eine Renaissance der Re-Education-Politik: insbesondere Stärkung des historischen Bewusstseins, zivile Ausrichtung der Hochschulen, BAföG für alle und NC-Abschaffung. Vor allem der kulturelle Bruch, (Hochschul-)Demokratie als »way of life« (Dewey) statt Regierungsmethode zu praktizieren, stößt dabei auf erheblichen Widerstand, vgl. dazu z.B. die »BAföG für Alle«Bewegung (bafög-für-alle.de).
- Durchsetzung von Studienreformen mit dem Ziel, Entfremdung zu reduzieren, z.B. weniger Methoden »auf Vorrat« lernen, mehr von eigenen Fragen ausgehen und Inhalte in gesellschaftlich-historischen Zusammenhängen einordnen. Dies geschieht z.B. durch aktives Eingreifen in den Hochschulgremien, aber auch in Organen der Verfassten Studierendenschaft. In Frankfurt gibt es aktuell eine Auseinandersetzung um die sog. Hochschulrahmenordnung, in der grundlegende Bestimmungen zu Prüfungsversuchsbeschränkungen etc. enthalten sind.
- Eingreifen mit den eigenen fachlichen Kenntnissen: Refugee Law Clinic, studentische Rechtsgutachten gegen Repressionen und Abschiebungen, Beiträge in studentischen Zeitungen usw.
Mehr Hinweise und Ideen unter www.zivilklausel.de