W&F 2019/1

Wissenschaft und Praxis

Transdisziplinarität in der Friedens- und Konfliktforschung

von Cordula Dittmer, Christiane Fröhlich, Ulrike Krause

Friedens- und Konfliktforschung changiert seit ihrer Gründung zwischen dem Anspruch, qualitativ gehaltvolle Wissenschaft zu betreiben und zugleich normativ-politisch mit ihrer Forschung auch einen Beitrag zu nachhaltigem Frieden leisten zu wollen. In aktuellen Krisen- und Konfliktkontexten werden die damit verbundenen Fragen und Herausforderungen jedoch zunehmend komplexer. Antworten können nur noch unter Einbezug einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Wissensbestände als transdisziplinäres Projekt gefunden werden – so die Meinung auch etablierter Förderinstitutionen. Wie sich dieser Spagat in der Friedens- und Konfliktforschung gegenwärtig gestaltet und welche Rolle der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis dabei spielt, beleuchtet der folgende Beitrag.

Die (kritische) Friedensforschung verstand sich ursprünglich als normative Wissenschaft, die »auf den Frieden hin arbeitet« (Jahn 1984; Senghaas 1969). Dieses Ziel war immer auf eine Vielzahl außerwissenschaftlicher Akteure angewiesen, sei es die Friedensbewegung, Nichtregierungsorganisationen oder Vertreter*innen von Regierungen. Der Forschungsprozess müsse daher auch so begründet und betrieben werden“, dass die „Übersetzung in das Bewußtsein der politisch verantwortlichen Personen und Institutionen und in das Engagement politisch handelnder Gruppen gelingen kann“ (Schwerdtfeger 2001, S. 171).

Dieses ursprüngliche Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktforschung ist mit fortschreitender Professionalisierung des Feldes zunehmend in den Hintergrund gerückt (Bonacker 2011). Einschlägige Förderinstitutionen bekunden allerdings vermehrt Interesse an praxisorientierter Forschung, die über bloße Lippenbekenntnisse zur Praxisrelevanz hinausgeht. So schreibt etwa die Deutsche Stiftung Friedensforschung (2016) zu den Zielen ihrer Projektförderung, dass eine „Generierung von Handlungs- und Orientierungswissen für Praxisakteure“ und „Transferpotenzial wissenschaftlicher Erkenntnisse für die friedenspolitische Praxis, Zusammenarbeit (auch in Form von Aktionsforschung)“ gewünscht seien.

Doch was bedeutet es, Austausch zwischen und Kooperation von Wissenschaft und Praxis zu fördern? Dieser Frage gehen wir im Folgenden auf Grundlage einer Blitzlicht-Umfrage mit Praktiker*innen, die in der Konfliktbearbeitung und Friedensförderung tätig sind, nach. Wir diskutieren Herausforderungen und Potenziale des Wissenschaft-Praxis-Nexus für die Friedens- und Konfliktforschung und betten diese in den größeren Kontext transdisziplinärer Forschung ein.

Erfahrungen und Bedarfe des Wissenschaft-Praxis-Austausches

Um aus der Sicht von Praktiker*innen Bedarfe, positive und negative Erfahrungen sowie Wünsche an einen gelingenden Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis abzufragen, führten wir eine Blitzlicht-Umfrage1 mit 20 Praktiker*innen durch. Generell wird die Notwendigkeit von allen Teilnehmenden gesehen, sich stärker mit der Wissenschaft zu vernetzen und die dort erlangten Wissensbestände und methodischen Ansätze für die Arbeit in der Praxis zu nutzen. Obwohl Wissenschaft „oft weit weg von den Herausforderungen der Praxis“ sei, gelte doch auch: „Austausch mit der Wissenschaft hilft, fachlich auf dem neuesten Stand zu bleiben und verschafft Argumente in der Diskussion mit den (politischen) Auftraggebern.“

Teilnehmende nannten zum Teil sehr detaillierte Lücken, für deren Schließung Austausch mit Forschenden relevant sei, z.B. positive und negative Nebenwirkungen externer ziviler oder militärischer Einflussnahme oder Möglichkeiten zur Umsetzung von internationalen Abkommen in die Praxis, zu denen sich Praktiker*innen Erkenntnisse von Seiten der Wissenschaft erhoffen. Dies sei nicht nur für die Entwicklung neuer Projekte sinnvoll, sondern auch für die notwendige Lobbyarbeit und für Verhandlungen mit Auftraggeber*innen sowie für das eigene selbstreflexive »Über-den-Tellerrand-schauen«.

Praktiker*innen täten aus eigener Sicht auch gut daran, gemeinsam mit Forschenden, die ein Interesse daran haben, Zugänge zu Themen zu etablieren oder gemeinsame Fragestellungen zu entwickeln. Damit würden diese nicht als »Störfaktor«, sondern als Gewinn angesehen, vor allem wenn die Ergebnisse auch den jeweiligen Praxisakteur*innen zur Verfügung stehen. »Ungefragte« Forschung könne aufgrund der knappen zeitlichen Ressourcen oft kaum beachtet werden.

Als negative Erfahrungen im Kontakt mit Forschenden wurden eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber Praktiker*innen sowie die Praxisferne der Forschung erwähnt. So betonte ein*e Teilnehmer*in: „Bei Wissenschaftler*innen, die nie im Feld gearbeitet haben, fehlt oft das Verständnis für die realen Umstände »on the ground« und wie diese Projektumsetzungen oder politische Kontexte beeinflussen und gestalten.“

Zudem wurde angemerkt, eine praxisorientierte Abschlussarbeit werde in der Wissenschaft oft deutlich weniger wertgeschätzt als eine theoretische. Stimmen von Praktiker*innen würden – obwohl diese durchaus auch oft akademische Abschlüsse hätten – in wissenschaftlichen Diskursen nicht anerkannt. Als strukturell problematisch wurde die im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland kaum vorhandene personelle Durchlässigkeit zwischen Wissenschaft und Praxis moniert. Ein »Seitenwechsel« sei kaum möglich. Auch sei das Arbeiten in der Praxis selten Inhalt der akademischen Ausbildung; es werde z.B. fast nie gelehrt, wie aus wissenschaftlichen Erkenntnissen konkrete Handlungsempfehlungen zu generieren seien. Ein grundsätzliches Problem sei ferner, dass Forschungsergebnisse so aufbereitet werden müssten, dass sie in relativ kurzer Zeit les- und verstehbar seien.

Teilnehmende nannten überdies in den jeweiligen Feldern bestehende »blinde Flecken«, die als Teil des Austauschs von Wissenschaft und Praxis behandelt werden sollten. „Wissenschaftler*innen weisen auf blinde Flecken im Tun von Praktiker*innen hin und vice versa. Mein Vorurteil würde unterstellen, dass sich Praktiker*innen eher aus der Wissenschaft beraten lassen, als dass Wissenschaftler*innen kritisches Feedback und Resonanz aus der Praxis verarbeiten? Die Aufgabe besteht meines Erachtens darin, dass man sich gegebenenfalls auf Schwachstellen, blinde Flecken, etc. hinweist und sich insgesamt eine externe Resonanz/Rückmeldung gibt, um einen Perspektivwechsel zum eigenen Tun zu ermöglichen.“

Praktiker*innen, so zeigt diese kleine Umfrage, erwarten das Einlassen der Wissenschaft auf ihre Lebenswelten, Fragestellungen und Kontexte. Sie schätzen vor allem die methodischen Kenntnisse von Forschenden sowie bei entsprechender Aufbereitung auch die Möglichkeit, wichtiges Hintergrundwissen zu erlangen. Den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis als gegenseitigen Lern- und Forschungsprozess zu verstehen, erscheint unter den gegebenen Umständen aber nur einigen wenigen Teilnehmenden denkbar.

Potenziale des und Vorschläge für den Wissenschaft-Praxis-Nexus

Transdisziplinarität kann als gegenseitiger Lernprozess von Wissenschaft und Praxis verstanden werden, in dessen Rahmen verschiedene Wissensbestände zu gemeinsamen Problem-, Konzept-, und Lösungsansätzen integriert und zur Weiterentwicklung gesellschaftlicher wie auch akademischer Fragestellungen beigetragen wird. Obwohl das Potenzial von Transdisziplinarität in anderen Feldern, wie etwa in der sozialökologischen oder der Katastrophenforschung (Becker und Jahn 2006, S. 319 ff; Voss et. al 2018), mittlerweile selbstverständlich ist, gibt es in der Friedens- und Konfliktforschung dazu bislang nur wenige Ansätze. Dass dies ein schwieriges, zeit- und ressourcenintensives Unterfangen ist, steht außer Frage, relevanter erscheint uns hier jedoch, welche Potenziale Transdisziplinarität bietet:

Im Einklang mit unserer Blitzumfrage verspricht eine stärkere Einbindung von Praxisakteur*innen in Forschungsprozesse, wichtige Impulse zu setzen sowie zu innovativen Forschungsergebnissen und gesellschaftlichen Effekten beizutragen. Konkret wird aus unserer Umfrage deutlich, dass Austausch und Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen zu weitreichenden Einblicken in die jeweiligen Bereiche, zu besseren Zugängen zu jeweils betroffenen Personen und Praxisakteur*innen sowie zu tiefgehenden Auseinandersetzungen mit den Gegebenheiten vor Ort führen kann. Dies kann zu »capacity building« unter Forschenden und Praktiker*innen auf allen Hierarchieebenen beitragen. Auch benötigt und befördert transdisziplinäres Arbeiten hohe Selbstreflexion, Sensibilität für regionale Machtverhältnisse sowie Flexibilität und Anpassungsvermögen aller Beteiligten.

Von Seiten der Praktiker*innen, die an unserer Umfrage teilgenommen haben, kamen folgende Vorschläge, wie ein nachhaltiger Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis gelingen könnte: Es sollten gezielt Begegnungsräume, etwa auf Konferenzen, geschaffen werden, um Austausch und Zusammenarbeit zu fördern. Zeitschriften mit Beiträgen für Wissenschaft und Praxis, thematisch zentrierte Plattformen für Diskussionen, Newsletter und Mailinglisten sowie »Brown-Bag-Lunches« wurden als mögliche Ansätze zur Intensivierung des Austausches benannt. Auch verwiesen Teilnehmende auf Webinare, gemeinsame Reisen zu Praxisprojekten, gegenseitige Information über die jeweiligen Strukturen der alltäglichen Arbeit und Partnerschaften zwischen Wissenschaft und Praxis bei der Durchführung von Abschluss- und Doktorarbeiten. Schließlich betonten sie die Notwendigkeit, die Möglichkeit zum Arbeitswechsel zwischen Wissenschaft und Praxis ähnlich der Bedingungen in den USA oder Großbritannien zu verbessern. Von Seiten der Praxis wird allerdings kaum gesehen bzw. aus ressourcentechnischen Gründen für nicht (immer) realistisch erachtet, dass wirkliche Transdisziplinarität einen Schritt weitergehen muss, um nachhaltige Veränderungen für alle Akteure herbeizuführen.

Grundsätzlicher ist aber auch zu fragen, ob die Dichotomie zwischen Wissenschaft und Praxis – zwischen Elfenbeinturm und Zeitknappheit – nicht eigentlich längst überholt ist. Das Praxisfeld wird zunehmend durch Akademisierung professionalisiert, sodass es gegebenenfalls deutlich mehr Überschneidungen als Unterschiede gibt. Diese zu erkennen und daran anzuknüpfen, wäre wichtig für die nachhaltige Ausgestaltung von Austausch und Zusammenarbeit wissenschaftlicher und operativer Arbeiten.

Anmerkung

1) Die Umfrage fand Anfang 2018 statt. Sie wurde initiiert, um die in der Friedens- und Konfliktforschung bislang primär wissenschaftlich geführten Diskussionen zu diesem Themenkomplex mit der Perspektive der Praxis anzureichern. Die Teilnehmenden arbeiten für verschiedene Institutionen in der Friedensförderung und Konfliktbearbeitung und rekurrierten sich vornehmlich aus persönlichen Kontakten der Autorinnen. Die Einschätzungen sind daher nicht repräsentativ, sondern dienen einem ersten Problemaufriss, um weitere Schritte zum stärkeren Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis im Arbeitskreis sowie im Forschungsfeld zu initiieren.

Literatur

Becker, E.; Jahn, T. (Hrsg.) (2006) Soziale Ökologie – Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Frankfurt a. M.: Campus.

Bonacker, T. (2011): Forschung für oder Forschung über den Frieden? Zum Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktforschung. In: Wisotzki, S.; Schlotter, P. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos, S. 46-78

Deutsche Stiftung Friedensforschung/DSF (2016): Hinweise zur Begutachtung von Anträgen auf Förderung von Forschungsprojekten. Osnabrück: DSF; bundesstiftung-friedensforschung.de.

Jahn, E. (1984): Stichwort »Friedens- und Konfliktforschung«. In: Nohlen, D. (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik. München, Zürich: Piper, Band 5, S. 157-62.

Schwerdtfeger, J. (2001): Begriffsbildung und Theoriestatus in der Friedensforschung. Opladen: Leske und Budrich.

Senghaas, D. (1969): Abschreckung und Frieden – Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsgesellschaft.

Voss, M.; Dittmer, C.; Reiter, J. (2018): Transdisziplinäre integrative Vulnerabilitäts- und Resilienzbewertung (TIV) – Theoretische und methodologische Grundlagen. KFS Working Paper Nr. 5. Berlin: Katastrophenforschungsstelle.

Cordula Dittmer, Christiane Fröhlich und Ulrike Krause sind Koordinatorinnen des Arbeitskreises Wissenschaft und Praxis der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK).
Dr. Cordula Dittmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katastrophenforschungsstelle (KFS) der Freien Universität Berlin im Forschungsprojekt »Migrationsbezogenes Wissensmanagement für den Bevölkerungsschutz der Zukunft (WAKE)«.
Dr. Christiane Fröhlich ist Research Fellow am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) und leitet das Forschungsprojekt »Comparing Crises« im Rahmen des EU-Horizon2020-Konsortiums »Migration Governance and Asylum Crises«.
Dr. Ulrike Krause ist Juniorprofessorin für Flucht- und Flüchtlingsforschung am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück, affiliierte Research Associate am Refugee Studies Centre der University of Oxford und leitet das Forschungsprojekt »Global Refugee Protection and Local Refugee Engagement« (Förderung: Gerda Henkel Stiftung).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/1 70 Jahre NATO, Seite 49–51