Dossier 8

Deutsche Beiträge zur Entwicklung und Ausbreitung der Raketentechnik

Die heimliche Raketenmacht

von Jürgen Scheffran

Die irakischen Raketenangriffe auf Israel und Saudi-Arabien haben den Blick auf die globale Verbreitung (Proliferation) der Raketentechnologie gelenkt. Eine wachsende Zahl von Staaten gelangt nicht nur in den Besitz von Massenvernichtungswaffen, sondern bekommt auch die Fähigkeit, ballistische Raketen größerer Reichweite selbst herzustellen.1
Die damit verbundenen wissenschaftlich-technischen Probleme können ohne die Unterstützung durch die raketenbesitzenden Länder gegenwärtig kaum bewältigt werden. Eine wichtige Rolle spielt der Erwerb von Gütern, die sowohl für zivile wie für militärische Zwecke verwendet werden können (Dual-use) und die bislang von den Exportkontrollen nicht ausreichend erfaßt wurden. Die vertikale Proliferation der Raketenproduzenten hin zu immer ausgefeilteren rüstungstechnischen Lösungen ist auf komplexe Weise mit der horizontalen Proliferation vorhandener Raketensysteme in Schwellenländer verknüpft. Die Verbindung beider Dimensionen soll am Beispiel der deutschen Raketenentwicklung und ihrer Ausbreitung untersucht werden. Dies ist auch insofern von Bedeutung, als mit der Wiedervereinigung und der Herstellung der nationalen Souveränität für die Bundesrepublik Deutschland Nachkriegs-Beschränkungen aufgehoben wurden. Ausgehend von Aktivitäten vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, wird die Problematik der Raketenproliferation an ausgewählten Länderbeispielen (Indien, Brasilien, Argentinien, Ägypten, Irak) diskutiert.2 Der Schwerpunkt liegt mehr auf den technologischen Voraussetzungen und dem Entstehungsprozeß der Proliferation, weniger auf den damit verbundenen Folgen.3

Strukturelle Voraussetzungen der Raketenentwicklung

Um eine autonome Raketenkapazität aufzubauen, müssen eine Reihe wissenschaftlich-technischer Probleme bewältigt werden, insbesondere in den Bereichen Triebwerke, Treibstoffe, Werkstoffe, Wiedereintritt, Aerodynamik, Lenkung, Flugkontrolle, Transport, Startanlagen, Computer, Kommunikation sowie bei der Erprobung und Produktion der Raketensysteme. Höchste technische Anforderungen entstehen beim Antrieb, der Lenkung und beim Wiedereintritt moderner Raketen. Die Beobachtung der Forschung und Entwicklung in den genannten Bereichen gibt Hinweise darauf, wieweit ein Land im Besitz der notwendigen Voraussetzungen ist. Eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung spielt die Ambivalenz und Multifunktionalität der Flugkörper. In Frage kommen hier Übergänge zwischen Artillerie, Flugzeugen, Cruise Missiles, Höhenforschungsraketen, Weltraumraketen, ballistischen Boden-Boden-Raketen, Luft-Boden-Flugkörpern, Flugkörpern zur Flug-, Raketen- oder Satellitenabwehr. Im folgenden werden vorwiegend ballistische Raketen längerer Reichweite betrachtet, andere Flugkörper (etwa Cruise Missiles) werden nur am Rand behandelt.

Grundsätzlich stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um in den Besitz von ballistischen Raketen zu gelangen4:

Kauf fertiger Boden-Boden-Raketen im Ausland, Modifizierung taktischer Raketen (z.B. Boden-Luft), Modifizierung von im Ausland gekauften Weltraum- oder Höhenforschungsraketen, Bau von Raketen mit ausländischer Hilfe, Entwicklung und Herstellung aus eigener Kraft. Durch den Erwerb von Dual-use-Gütern, besonders durch eine internationale Kooperation in der zivilen Luft- und Weltraumfahrt, ist es Schritt für Schritt möglich, ein militärisches Raketenpotential aufzubauen. Anstelle der spektakulären Lieferung fertiger Raketensysteme tritt eine breitgefächerte wissenschaftliche Zusammenarbeit über Jahrzehnte, die erhebliche, waffentechnologisch bedeutsame Grauzonen aufweist. Dabei ist folgendes Grundmuster zu beobachten5:

  1. Erwerb von Grundlagenwissen durch Ausbildung und Schulung von Wissenschaftlern im Ausland
  2. Absorption ausländischer Raketentechnologie durch Sammeln praktischer Erfahrungen und Austausch von Fachpersonal
  3. Direkte technische Hilfe durch gemeinsame Experimente und Betriebserfahrungen (über offizielle oder illegale Firmen, Techno-Söldner)
  4. Aufbau nationaler Entwicklungs- und Produktionskapazitäten für zivile und militärische Raketen durch legalen oder illegalen Erwerb von Subkomponenten.

Einige Faktoren erschweren die Weiterverbreitung:

  • Bei einer Interkontinentalrakete muß die letzte Stufe der Startphase früher beendet werden als bei einer Weltraumrakete, damit die Nutzlast nicht auf eine Umlaufbahn gelangt. Weitaus wichtiger ist die Tatsache, daß im Unterschied zu einem Weltraumsystem eine ballistische Rakete einen Wiedereintrittsflugkörper benötigt, dessen Bestandteile (Hitzeschild, Zielmechanismus, Gefechtskopfzünder) integriert getestet werden müssen. Für den Transport von Atomwaffen mit einer Satellitenträgerrakete wären diverse Modifikationen notwendig, insbesondere müßten entsprechend gehärtete Raketenabschußanlagen und Kontrollzentren geschaffen werden.6
  • Es besteht ein Zusammenhang zwischen der verwendeten Nutzlast, der Reichweite und der Zielgenauigkeit. Während in modernsten Raketentypen der USA und der UdSSR eine Zielgenauigkeit von unter hundert Metern bis zu wenigen Metern den Einsatz konventioneller Sprengköpfe möglich macht, wären die meisten Raketen in der Dritten Welt auf nukleare oder chemische Waffen zur Steigerung des Vernichtungsradius angewiesen. Ein Problem besteht darin, Kernwaffen soweit zu verkleinern, daß sie in den Kopf einer Rakete hineinpassen. Während eine Rakete ohne aufwendige Steuerung dazu verwendet werden kann, eine Atombombe auf eine Stadt abzuwerfen, erfordert ihr Einsatz gegen militärische Ziele einen erheblich größeren Steuerungsaufwand, um die erforderliche Zielgenauigkeit zu erreichen.
  • Besonders erschwert wird die Proliferation der Trägersysteme durch ihre technologische Komplexität. Komplexe Waffensysteme sind meist instabil, d.h. fehleranfällig und wenig widerstandsfähig gegenüber Veränderungen, verursachen hohe Kosten und logistische Probleme durch Wartung und Reparaturen, stehen nur einen geringen Teil der Zeit zur Verfügung. Für die Herstellung wichtig ist die Nachbildung und Integration aller Stufen von der Forschung bis zum Einsatz. Durch die unvollständige Beherrschung komplexer Rüstungstechnologien entstehen Effektivitätseinbußen und Risiken für Betreiber und Gegner.

Die technologische Komplexität ist einer der Gründe, warum nur wenige Staaten in der Lage sind, moderne Raketen selbst herzustellen, obwohl die grundlegenden physikalischen und technischen Voraussetzungen bekannt sind. Eine Konsequenz ist die Herausbildung von Allianzen zwischen Staaten im Sinne einer Arbeitsteilung.

Deutsche Raketenentwicklung bis 1945

Es gibt in Deutschland eine nunmehr 60-jährige Tradition der Raketenentwicklung, die mit dem Ersten Weltkrieg begann und im Zweiten Weltkrieg mit dem Einsatz der Raketen V1 und V2 ihren bisherigen »Höhepunkt« erreichte. Zwar wurden über Jahrhunderte hinweg im Krieg Artillerie-Raketen auf Städte und Truppenverbände abgefeuert, doch waren diese nur von kurzer Reichweite, geringer Sprengkraft, ohne eigene Lenkung und wegen ihres pulverförmigen Sprengstoffs nur schwer zu kontrollieren. Die grundlegenden theoretischen Ideen der Raketentechnik und Weltraumfahrt wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den sogenannten »Vätern der Raumfahrt« gelegt: dem Russen Konstantin Ziolkowski, dem Deutschen Hermann Oberth und dem US-Amerikaner Robert Goddard. Durch ihre Arbeiten waren die wesentlichen theoretischen und technischen Kenntnisse der Raketenentwicklung bereits in den zwanziger Jahren bekannt.

Im Gefolge des Ersten Weltkrieges ergab sich ein wachsendes öffentliches Interesse an der Raumschiffahrt, was sich in Filmen (Fritz Langs »Frau im Mond«) und (Science-Fiction-)Literatur niederschlug. In mehreren Ländern wurden Weltraumgesellschaften gegründet: »Verein für Raumschiffahrt« (VfR) in Deutschland (1927 von Johannes Winkler gegründet), die sowjetische »Arbeitsgruppe zur Erforschung von Raketenantrieben« (GIRD) (1929 u.a. von Sergej Koroljow gegründet), die American Rocket Society (1930) und die British Interplanetary Society (1933). Weitere Gruppen bildeten sich in den dreißiger Jahren in Argentinien, Holland, Frankreich und Japan.7

Die besondere Situation Deutschlands ermöglichte eine rasche Verbindung von Theorie und Praxis mit dem Militär, verkörpert in den drei Koryphäen der deutschen Raketenentwicklung, Hermann Oberth, Wernher von Braun und Walter Dornberger. Oberth hatte 1923 in seinem Buch »Die Rakete zu den Planetenräumen« das theoretische Konzept beschrieben, die Studenten Eugen Sänger und Helmut von Zborowski diskutierten die technischen Möglichkeiten von Raketenmotoren. Der durch Oberth's Buch inspirierte Wernher von Braun, der bei Beginn der Raketenversuche 1929 erst 17 Jahre alt war, verband technische Kenntnisse mit jugendlicher Initiative und Führungsfähigkeit und profilierte sich damit als Leiter des Raketenteams. Der damalige Hauptmann Dornberger brachte Organisationskraft und amtliche Unterstützung mit. Die war auch nötig, denn die bis 1932 noch privat betriebenen Versuche mußten aus finanziellen und Sicherheitsgründen eingestellt werden. Auf der Suche nach Bündnispartnern bot sich das Heereswaffenamt an, das seinerseits einen Ausweg aus den Waffenverboten des Versailler Vertrages suchte. Da kamen die idealistischen Raketenforscher gerade recht, die nach eigenen Aussagen ihr Gewissen mit dem Argument zu erleichtern suchten, ihr Pakt mit dem Militär diene letztlich der »friedlichen Eroberung des Weltraums«. Statt für eine Mondrakete arbeiteten sie jedoch für ein Ferngeschütz. Nur wenige wie der ehemalige Kriegsflieger Rudolf Nebel lehnten ab, um die »Freiheit der Forschung« nicht durch das Militär zu gefährden.8

Der Weg zur V2

Die technische Entwicklung ging, trotz anfänglicher Schwierigkeiten und Rücksschläge, ungewöhnlich rasch voran. Nach der „Minimum-Rakete “ (Mirak) erreichte das Nachfolgemodell »Repulsor« im August 1931 auf dem Raketenflugplatz Berlin-Reinickendorf eine Höhe von mehr als 1500 Metern. Ab Oktober 1932 wurden auf dem Heeresschießplatz Kummersdorf südlich von Berlin Versuche mit dem »Aggregat 1« (A1) durchgeführt, das jedoch beim Start versagte. Ende Dezember 1934 erreichte das Nachfolgemodell A2 auf Borkum eine Gipfelhöhe von 2,2 km, wobei die Fluglage durch einen Kreisel in der Mitte der Rakete stabilisiert wurde. Nach dem bis 1937 erfolgten Umzug zur Heeresversuchsanstalt Peenemünde (HVP) konnte das nunmehr 50 Mann starke Team Versuche mit der von Walter Riedel, Arthur Rudolph und von Braun projektierten A3 durchführen, die einen Schub von 1,5 Tonnen entwickelte.

Die 1936 entworfene A4 (die spätere V2) war das Grundmodell aller weiteren ballistischen Fernraketen: sie war 14 m lang, mehr als 13 Tonnen schwer, erbrachte 25 Tonnen Schubkraft, hatte eine Brenndauer von 65 Sekunden, eine Reichweite von etwa 300 km und trug 1000 kg Sprengstoff.9 Kursänderungen während des Fluges konnten durch Funkbefehle vorgenommen werden. Um Erfahrungen zu sammeln, v.a. mit der bis dahin noch unerreichten Überschall-Geschwindigkeit, wurden bis 1942 mit dem Testgerät A5 Versuche durchgeführt. Das Programm verzögerte sich, da Hitler nach Kriegsbeginn die Mittel für die Raketenentwicklung drastisch kürzte, im Glauben an einen raschen Sieg. Eine Rolle spielte auch die Konkurrenz zu der weit billigeren V1, einem unbemannten, ferngelenkten Düsenflugzeug und Vorläufer der heutigen Marschflugkörper (Cruise Missiles).10 Reibungen mit der SS, die den Wissenschaftlern ihre Weltraum-Ambitionen angeblich übel nahm, führten 1943 sogar vorübergehend zur Verhaftung von Klaus Riedel, Helmut Gröttrup und Wernher von Braun.11

Nachdem der »Blitzkrieg« Deutschlands ins Stocken geraten war und empfindliche Niederlagen eingesteckt werden mußten (Luftschlacht um England, Niederlage bei Stalingrad), glaubte Hitler mit »Wunderwaffen« das Blatt noch wenden zu können. Im Dezember 1942 wurde die Serienfertigung der »Vergeltungswaffe« V2 eingeleitet, im Juli 1943 das A4-Raketenprogramm an die Spitze der Dringlichkeitsstufe im deutschen Rüstungsprogramm gesetzt. Die technische Qualifikation hatte die A4 bereits am 3. Oktober 1942 bewiesen: die Rakete erreichte bei vierfacher Schallgeschwindigkeit eine Gipfelhöhe von 85 km und berührte damit erstmals den Weltraum.

Zahlreiche Fehlschläge und Unfälle konnten die Entwicklung ebensowenig aufhalten wie das massive Bombardement der Alliierten am 17./18. August 1943, das jedoch zu Verzögerungen führte. Die Produktion wurde in das unterirdische »Mittelwerk« bei Nordhausen im Harz verlagert und dort im Mai 1944 fortgesetzt. Um die komplizierte A4 mit ihren 20.000 Einzelteilen auf Fließband produzieren zu können, mußte eine Vereinfachung durchgeführt werden. Allein für die Produktionsreife des A4-Triebwerks wurden über 60.000 Änderungen vorgenommen.12 Pro Tag konnten 10 bis 20 Raketen hergestellt werden. Für jede der etwa 7.000 im Krieg produzierten A4 wurden zwischen 17.000 (Anfangskosten) und 3.500 (ab 5000 A4) Mensch-Arbeitsstunden aufgebracht, was einem Durchschnittspreis von 56,000 Reichsmark entsprach.13 Zwar kostete die A4 nur etwa ein Drittel eines Jagdflugzeugs, doch immer noch mehr als das Zehnfache der V1. Während für die Entwicklung der V1 etwa 200 Millionen Reichsmark benötigt wurden, mußten für die Entwicklung der V2 schon 2 Milliarden Reichsmark aufgebracht werden14, ein deutsches Manhattan-Projekt.

Zeitweise waren 18 000 Beschäftigte an der Herstellung der V1 und V2 beteiligt, darunter 5 000 Wissenschaftler. Mindestens 20.000 Sklavenarbeiter gingen unter den grauenhaften Bedingungen im Mittelwerk oder im nahegelegenen Konzentrationslager »Dora« zugrunde.15 Auch aus anderen Konzentrationslagern wurden Zwangsarbeiter eingesetzt. Eine Reihe deutscher Firmen war in die Produktion einbezogen16: ARGUS (Berlin), BMW (München) in Zusammenarbeit mit BBC (Basel), Junkers (Dessau), Heinkel (Berlin), Fieseler (Kassel), Daimler Benz (Stuttgart), Walter (Kiel), Siemens-Askania (Berlin), Rheinmetall-Borsig (Berlin), Henschel (Berlin, Kassel), VW-Werk (Wolfsburg), Blohm und Voss (Hamburg), Elektromechanische Werke (Karlshagen), Ruhrstahl AG (Essen).

Die V2 konnte von festen Abschußbunkern ebenso abgeschossen werden wie von mobilen Abschußrampen. Nach monatelangen Bombardements durch die V1 wurde im September 1944 mit dem Abschuß der V2 auf England, Frankreich und Belgien von deutschem und niederländischem Boden begonnen, besonders London und Antwerpen waren bevorzugte Ziele. Die Wirkung der Raketenbombardements war verheerend, wenn auch nicht so stark, wie bei den Bombardements der Alliierten. Bei statischen Versuchen hatte der Sprengsatz der A4 einen Krater von 7 m Tiefe und einem Durchmesser von 13 m gerissen.17 Sehr stark war der psychologische Effekt auf die Bevölkerung, die den Raketenangriffen schutzlos und unvorbereitet ausgeliefert war. Bald verging kein Tag ohne Beschuß, im Dezember wurden im Mittel 14 Raketen pro Tag abgefeuert, manchmal 29 bis 33. Insgesamt wurden rund 25.000 V1 und V2 eingesetzt, von denen etwa ein Zehntel fehlschlug. Dadurch wurden fast 13.000 Menschen getötet, mehr als 26.000 Menschen verletzt, 35.000 Häuser zerstört und mehr als 200.000 Häuser beschädigt.18

Wunderwaffen

Die V2 wie auch die V1 konnten jedoch das Blatt in den letzten Kriegsmonaten nicht mehr wenden. Das gleiche gilt für die zahlreichen weiteren »Wunderwaffen«, die der Phantasie deutscher Raketenbauer entsprangen.19 So wurde die A5-Rakete mit Flügeln versehen, um durch Streckung der Flugbahn die Reichweite bis auf 750 km zu steigern (Modelle A7 und A9, später A4b). Bereits im Sommer 1940 lag der erste Planungsentwurf einer zweistufigen Interkontinentalrakete (A9/A10) vor, bei der mehrere A4-Triebwerke gebündelt waren. Bei einer angestrebten Gipfelhöhe von 350 km und einer Reichweite von mehr als 5000 km sollte Amerika in 35 Minuten von der Atlantikküste erreicht werden. Eugen Sänger, der Erfinder des Staustrahl-Rohrs für die V1, und Irene Bredt (seine spätere Frau) konzipierten in der Flugzeugprüfstelle Trauen den Interkontinentalbomber, ein flugzeugähnliches Gefährt von 30 m Länge, das auf einer Teilflugbahn durch den Weltraum eine große Bombenlast von 3,8 Tonnen von Europa aus auf eine Großstadt der USA werfen sollte, um danach auf der Lufthülle der Erde entlangschlitternd ins Landegebiet zu fliegen. 1944 wurde die Idee umgearbeitet zum Projekt eines luftatmenden, hypersonischen Raumgleiters.20 Sogar an Nuklearantriebe für Raketen wurde bereits 1942 gedacht.21

Um den zunehmenden Luftangriffen der Alliierten zu begegnen, wurde eine radargelenkte und computergesteuerte Luftabwehrrakete mit der Bezeichnung WASSERFALL konzipiert, die mit einem 90-kg Gefechtskopf ein schnell fliegendes Flugzeug bis in 20 km Höhe treffen sollte. Trotz technischer Probleme bei hohen Beschleunigungen konnte die erste WASSERFALL-Rakete noch im Februar 1945 getestet werden. Eine weit einfachere und billigere, nur 9 kg schwere Flugabwehrrakete mit der Bezeichnung TAIFUN wurde in einer Stückzahl von Zehntausend beschafft, kam jedoch nicht mehr zum Einsatz. Weitere Raketenprojekte bekamen so wohl klingende Namen wie SCHMETTERLING, ENZIAN, RHEINTOCHTER und ROTKÄPPCHEN (Benecke (1987)).

Angesichts der immer knapper werdenden Ressourcen, der Zerstörung durch Bombenangriffe und der geringen zur Verfügung stehenden Zeit konnten diese und weitere Projekte während des Krieges nicht vollendet werden. Erst im Wettrüsten des Kalten Krieges war der ideale Nährboden für die Fortführung gegeben. Denn nach dem Krieg wurden die deutschen Raketenwissenschaftler kurzerhand von den Alliierten entführt bzw. gingen freiwillig. Profitieren konnten von diesem Wissensschub viele Länder, darunter die USA, die UdSSR, Frankreich, Großbritannien22, aber auch Staaten der Dritten Welt wie Indien, Argentinien und Ägypten. Die Zeit der internationalen Raketenproliferation hatte begonnen.

Deutsche Raketenentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Fast alle Erfindungen der Deutschen auf dem Gebiet der Raketen- und Antriebstechnik wurden von den Alliierten zunächst kopiert und danach weiterentwickelt. Besonders die neuen Supermächte konnten das Raketen-Know-how ausbeuten, das mit der »Operation Overcast« und dem »Project Paperclip« in die USA und mit der Operation »Ossavakim« in die UdSSR geschafft wurde. Inklusive war die Befreiung der Wissenschaftler von der Kriegsschuld, obwohl einige der SS angehört hatten.23

Während auf der Seite der USA ein Team unter Leitung Wernher von Brauns darum bemüht war, aus den Resten der V2 neue Raketentypen zu entwickeln, arbeitete in der Sowjetunion bis 1953 eine Gruppe um Herrmann Gröttrup ebenfalls an der Ausschlachtung der V2, die jedoch von sowjetischer Seite als „unvollkommen und technisch nicht ausgereift “ angesehen wurde (Stache (1987)). Mit der SS-6, die das von der A10 stammende und von Koroljow weiterentwickelte Prinzip der Triebwerksbündelung benutzte, gelang es der Sowjetunion am 4. Oktober 1957 mit knappem Vorsprung vor den USA, einen Satelliten in den Weltraum zu bringen. Durch den Sputnik-Schock beflügelt und von der militärischen Last befreit, konnten von Braun und seine Mannschaft mit der Mondlandung von 1969 ihren Traum von 1929 verwirklichen, der auf »Umwegen« ungezählte Opfer gefordert und das Wettrüsten der Supermächte angeheizt hatte. Damit war zugleich das Ende der deutschen Raketenbauer in den USA gekommen. Nicht beendet war jedoch die Perfektionierung der Raketentechnik, die mit den land- und seegestützten atomaren Interkontinentalraketen ihren Gipfelpunkt erreicht hat. Unterhalb der nuklearen Schwelle begannen die Großmächte, an erster Stelle die Sowjetunion, damit, ihre jeweiligen Verbündeten mit Raketen zu versorgen.

Die beiden deutschen Staaten selbst waren unmittelbar nach dem Krieg durch den Abzug von Personen und Anlagen raketentechnisch ein Entwicklungsland. Die Bestimmungen des Alliierten Kontrollrates untersagten bis 1955 die Herstellung von Luft- und Raumfahrtgeräten. Auch nach 1955 war die Bundesrepublik durch die Westeuropäische Union (WEU) verpflichtet, keine Raketen über 32 km Reichweite ohne Genehmigung des WEU-Rates herzustellen. Für das geschwächte deutsche Nationalgefühl kamen der Sputnik-Start und die Berichte über den deutschen Beitrag gerade recht. So meldete die Bild-Zeitung am 7. Oktober 1957 auf der Titelseite fast triumphierend: „Deutsche Raketen starteten künstlichen Mond. “ Und weiter: „Die Konstruktion dieser Rakete verdankt Moskau deutschen Raketenspezialisten, die nach dem Krieg in sowjetische Hände fielen.“ Gemeint war die Gröttrup-Mannschaft.

Vom Bomber zum Raumgleiter

Einige der Raketenforscher waren zu diesem Zeitpunkt bereits heimgekehrt und konnten ihr frisch erworbenes praktisches Wissen für ihre alte Heimat nutzen. Das Ehepaar Sänger übernahm 1954 die wissenschaftliche Führung des Forschungsinstituts für Physik der Strahlantriebe (FPS) in Stuttgart, das von der Bundesregierung, der Landesregierung und verschiedenen Firmen gegründet wurde. In Fortsetzung seines 1944 entworfenen Raumgleiters entwickelte Sänger als Berater bei der Flugzeugfirma Junkers bis zu seinem Tod 1964 einen luftatmenden Hyperschall-Raumtransporter. Nach dem Beschluß von 1960, keine eigenen Trägersysteme zu entwickeln, beteiligte sich die Bundesrepublik im Rahmen der 1964 gegründeten European Launcher Organization (ELDO) am Projekt der Trägerrakete EUROPA-I, die aus der britischen BLUE STREAK als Erststufe, der französischen CORALIE als Zweitstufe und der bundesdeutschen dritten Stufe ASTRIS bestand. Die in Zusammenarbeit der Firmen MBB und ERNO von 200 Wissenschaftlern und Ingenieuren entwickelte ASTRIS wurde auf Prüfständen in Trauen und Lampoldshausen getestet. Nach mehreren Fehlstarts von einem Startplatz in Australien in den Jahren 1967 – 1971 wurde das Projekt der EUROPA-Rakete abgebrochen. Im Rahmen der 1975 gegründeten European Space Agency (ESA) konnte die Bundesrepublik die ARIANE-Rakete mitentwickeln und das SÄNGER-Konzept wiederbeleben, das heute als Alternative zum britischen HOTOL steht.

Die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für eine hochentwickelte Raketennation sind in der Bundesrepublik mittlerweile gegeben, insbesondere durch die DLR (Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt, früher DFVLR), die DARA (Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten) und die DASA (Deutsche Aerospace). Praktisch in allen Bereichen der Raketentechnik liegen deutsche Firmen und Forschungseinrichtungen mit an der Weltspitze, vom Antrieb über Lenkung und Eintrittstechnologie bis zu Test und Produktion.24

Die militärische Raketenentwicklung mußte in der Bundesrepublik nach dem Krieg noch zurückhaltend geschehen.25 Zentrum der Entwicklung war das Stuttgarter FPS, das der Entwicklung und Erprobung von Raketen und Flugkörpern diente und u.a. über das BMVg (ab 1956), die US-Air Force und die französische Regierung gefördert wurde. Trotz der Rüstungsbeschränkungen bis 1955 produzierte Bölkow die Panzerabwehrrakete COBRA, die 1956 getestet wurde. 1957 begannen die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Raketentechnik (Bremen) und die Deutsche Gesellschaft für Raketentechnik und Raumfahrt (DGRR) mit Raketenversuchen im Wattenmeer bei Cuxhaven. Nach Protesten durch die Sowjetunion wurden die Versuche eingestellt.

Auf dem Umweg über Auslandsentwicklungen konnte die Bundesrepublik dennoch die notwendigen praktischen Erfahrungen sammeln. Sänger und weitere Mitarbeiter des FPS begannen, in Ägypten Raketen zu entwickeln (siehe den entsprechenden Abschnitt). Die Ergebnisse kamen dem Bundesverteidigungsministerium ebenso zugute wie bei der von Bölkow Mitte der sechziger Jahre gebauten Raketenbasis in Südafrika, auf der die von Frankreich mitentwickelten Flugabwehrraketen CROTALE getestet wurden.

Die OTRAG

Öffentliches Aufsehen erregte in den siebziger und Anfang der achtziger Jahren der Versuch der in der Bundesrepublik ansässigen Privatfirma Orbital Transport- und Raketen-AG (OTRAG), das Know-how der Peenemünder Raketenspezialisten für die Entwicklung von Raketen großer Reichweite zu nutzen. Die Authorisierung durch einen anderen souveränen Staat war notwendig, da die Bundesrepublik durch die WEU-Bestimmungen eingeschränkt war und nach dem Weltraumvertrag von 1967 die Nutzung durch Privatfirmen ausgeschlossen ist. Offizielles Ziel von OTRAG war die Entwicklung und Vermarktung von Raketen für den billigen Zugang in die kommerziell wichtige geostationäre Umlaufbahn.

Dies sollte mit einer modularen Trägerrakete erfolgen, die von dem deutschen Raketeningenieur Lutz Kayser entwickelt wurde. Kayser, gleichzeitig Gründer und Geschäftsführer der OTRAG seit 1974, hatte bereits als Jugendlicher Kontakt zu den Peenemünder Raketenbauern. Er trat 1954 der GfW in Stuttgart bei und studierte bei Wolfgang Pilz, Eugen Sänger und Armin Dadieu. Dadieu war im Dritten Reich für die Uran-Lagerstättenforschung in der Steiermark verantwortlich, arbeitete später für die OTRAG sowie als Gutachter der Bundesregierung in Sachen OTRAG und gehörte den Ausschüssen für Transportsysteme des Appollo-Nachfolgeprogramms und für die Trägerrakete EUROPA-III an. Kurt H. Debus, ehemals Leiter der Peenemünder V2-Raketenversuche und bis 1975 Leiter des US-Raumfahrtzentrums Cap Canaveral, war seit 1975 Aufsichtsratsvorsitzender der OTRAG. Der ehemalige V2-Triebwerksspezialist in Peenemünde und spätere Leiter der Chrysler Space Division der NASA, Richard Gombertz, wurde Technischer Leiter der OTRAG.26

Technische Vorarbeiten waren in sogenannten »Studentengruppen« bereits in den fünziger Jahren geleistet worden. Die Stuttgarter Studentengruppe, deren Mitglieder heute in führende Positionen gerückt sind, veranstaltete seit 1958 auf einem Gelände der Südzucker AG bei Böblingen Flugerprobungen von Feststoffraketen und mischte dort auch Treibstoffe, was vermutlich Ursache eines Großbrandes im September 1967 war. Auch mit dem Bau eines improvisierten Raketenprüfstandes wurde begonnen. Ab 1967 beteiligte sich die staatliche DFVLR an der Entwicklung, und ab 1970 förderte die Bundesregierung die Stuttgarter Firma »Technologieforschung GmbH«, aus der die OTRAG hervorging, für die Entwicklung eines kostenoptimalen Trägersystems mit mehreren Millionen DM.

Nach Aussagen von Wolfgang Pilz basiert die OTRAG-Rakete auf den Raketenentwicklungen in Peenemünde (insbesondere der WASSERFALL) sowie französischen und ägyptischen Typen.27 Etwa 40 Techniker und Ingenieure waren in die Produktion der Modulelemente einbezogen. Um an einen Startplatz in der Nähe des Äquators zu gelangen, schloß OTRAG 1975 mit der Regierung von Zaire ein Abkommen über die Nutzung von 100.000 Quadratkilometern Land in der Provinz Shaba bis zum Jahr 2000. Zum Ausgleich versprach OTRAG, Zaire einen Aufklärungssatelliten zu starten.

In den Jahren 1977 und 1978 erreichten zwei Raketen mit vierfach gebündelten Triebwerken und 6 m Länge Höhen von 20 und 30 km. Ein dritter Versuch mit einer 12 m hohen Rakete bis 100 km Höhe scheiterte. In Planung befand sich eine Rakete mit 5 Tonnen Nutzlast und 1000 km Reichweite. Aufgrund politischen Drucks aus der Bundesrepublik und der Sowjetunion sowie aus den Nachbarländern, die sich bedroht fühlten, wurde der für 1979 geplante Versuch einer zweistufigen Rakete eingestellt.28 Als neues Testgelände bot sich Libyen mit einem Startgebiet 600 km südlich von Tripolis an, wo erste Versuche 1980 erfolgten. Nach internem Streit konnte die OTRAG einen Raketenversuch auf dem ESA-Testgelände in Kiruna/Schweden durchführen, der jedoch abermals mißlang. Der mittlerweile abgedankte Kayser soll noch Mitte der achtziger Jahre auf dem Testgelände in Zaire Versuche mit unbemannten Lenkflugkörpern durchgeführt haben (Lorscheid (1986)).

Nach Bekanntwerden der Vorgänge wurde der Verdacht einer möglichen militärischen Verwendung ausgesprochen. Auf eine entsprechende Anfrage des MdB Norbert Gansel antwortete die damalige Bundesregierung im Jahr 197829: „Nach unseren Feststellungen ist die Rakete … aufgrund ihrer Konstruktionsmerkmale für militärische Zwecke nicht geeignet. “ Im Widerspruch dazu stehen OTRAG-Verlautbarungen, wonach die Rakete theoretisch auch atomare Sprengköpfe tragen könne.30

Europäische Gemeinschaftsprojekte

Während die nationale Entwicklung von Fernraketen in politischen Mißkredit geriet, konnten in deutsch/französischer Gemeinschaftsarbeit, besonders über die Kooperation von MBB mit Euromissile, eine Reihe von militärischen Raketenprojekten kurzer Reichweite realisiert werden. Am bekanntesten sind die Panzer- und Luftabwehrraketen HOT, ROLAND und MILAN, die heute auf dem Rüstungsmarkt weltweit geschätzt sind. Eine Reihe weiterer fortgeschrittener Lenkflugkörper befindet sich in der Bundesrepublik im Stadium von Forschung, Entwicklung oder Produktion, meist im Rahmen europäischer Kooperationsvorhaben. Dazu gehören das Mittlere Artillerieraketensystem (MARS/MLRS), das Panzer-Abwehr-Raketen-System (PARS), die Mittlere Abstandswaffe (MAW/MSOW), das Long Range Stand-Off Missile (LRSOM), das Short Range Anti Radiation Missile (SRARM), das Mittlere Flugabwehrsystem (MFS/MIFLA), das Advanced Short-Range Air-to-Air Missile (ASRAAM), der Lichtleiter-Lenkflugkörper POLYPHEM, sowie verschiedene Kampfdrohnen, Marschflugkörper und Mehrzweckwaffen.31 Bei Entwicklung, Test und Produktion dieser Waffen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, sind Kenntnisse in vielen Bereichen der Raketentechnik erforderlich (z.B. beim Sprengkopfdesign, Startgeräten, Antrieb und Lenkung), die auch bei Raketen größerer Reichweite wichtig sind. Angesichts der Multifunktionalität vieler Komponenten sind Übergänge zwischen den verschiedenen Typen zunehmend fließender geworden.

Indien

Struktur

Mit ihrer auf weitgehende Autonomie (»self-reliance«) gerichteten Zielsetzung ist Indiens Weltraumpolitik Teil der traditionellen indischen Politik der Blockfreiheit. Als Ergebnis dieser Politik verfügt Indien heute über alle wesentlichen Voraussetzungen, die ein Land benötigt, um als Weltraummacht anerkannt zu werden.32

In der Anfangsphase (ab 1962) unterstand das Indian National Committee for Space Research (INCOSPAR) dem Department of Atomic Energy. Heute sind praktisch alle Entscheidungen im indischen Weltraumprogramm im Secretary of Space zusammengefaßt, der die Aktivitäten der Space Commission, des Department of Space und der Indian Space Research Organization (ISRO) leitet. Der 1969 gegründeten ISRO sind eine Reihe großer Forschungs-, Entwicklungs-, Technologie- und Produktionszentren angeschlossen. Im größten, dem Vikram Sarabhai Space Centre (VSSC) in Trivandrum an der Südspitze Indiens, werden vor allem die indischen Höhenforschungsraketen und Trägersysteme entwickelt und hergestellt. Das VSSC ist zuständig für Aerodynamik, Flugführung, Satellitenelektronik, Nachrichtentechnik, Werkstoffe und Bauweisen, Treibstoffe und Antriebstechnik. In Trivandrum ist auch die Startbasis für in- und ausländische Höhenforschungsraketen.

Von der Raketenabschußbasis SHAR auf einer Wattenmeerinsel im Golf von Bengalen werden Indiens Weltraumraketen gestartet. Das Zentrum verfügt auch über große Testanlagen für Raketen sowie über Bahnverfolgungs- und Bodenkontrollstationen. Neben diesen drei wichtigsten Zentren gibt es noch vier kleinere Zentren für die Entwicklung und den Bau von Satelliten-Nutzlasten und -Bodeneinrichtungen, für die Entwicklung von Triebwerken, für Satelliten-Bahnverfolgung und -kontrolle sowie für die Produktion von Satelliten-Fernsehprogrammen. In den 7 ISRO-Zentren werden etwa 90 % des gesamten Weltraumprogramms abgewickelt, mit 14500 Beschäftigten, darunter etwa 4500 Wissenschaftlern und Ingenieuren.33

Schließlich verfügt Indien auch über eine Fabrik zur Produktion von Festtreibstoffen mit einer Jahreskapazität von 250 Tonnen, die 1985 zu den acht größten der Welt gehörte.34 Die verwendete Mischung aus Aluminiumpulver und Ammoniumperchlorat plus Bindemittel hat einen hohen spezifischen Impuls und steht dem Antrieb moderner ballistischer Atomraketen wie auch den Feststoffzusatzraketen des Space Shuttle nicht nach. In einem rein militärischen Programm begann Indien 1983 das Integrated Guided Missile Development Program (IGMDP) zur Entwicklung taktischer und strategischer ballistischer Raketen.35

Trägerraketen

Folgende Raketentypen Indiens werden genannt (Shuey (1989)):

  • Seit 1963 wurde mit der Entwicklung von Höhenforschungsraketen begonnen, zunächst mit einer Lizenzproduktion der französischen CENTAURE. 1976 hatte die erste selbstentwickelte Höhenforschungsrakete der ROHINI-Reihe ihren Erstflug. Ein Nachfolgemodell ist die zweistufige MENAKA, welche heute noch zu meteorologischen Zwecken benutzt wird.
  • Die ersten Arbeiten an der vierstufigen, Feststoff-Trägerrakete SLV-3 (Space Launch Vehicle) begannen 1973. Nach mehreren Fehlstarts konnte am 18.7.1980 der Forschungssatellit ROHINI (35 kg) mit der SLV-3 erfolgreich in eine niedrige Umlaufbahn gebracht werden. Trotz eines Vierstufentriebwerks, der Verwendung leichter Werkstoffe und des Einsatzes moderner elektronischer Leit- und Steuerungssysteme ist die Nutzlast der SLV-3 auf 50 kg in eine erdnahe Umlaufbahn begrenzt.
  • Daher wurde die SLV-3 zum Augmented Satellite Launch Vehicle (ASLV) weiterentwickelt, indem eine fünfte Stufe hinzugefügt und die Schubkraft durch Ergänzung der ersten Stufe mit zwei Zusatzraketen wesentlich gesteigert wurde. Dadurch sollen Nutzlasten bis zu 150 kg in Erdumlaufbahnen zwischen 400 – 500 km Höhe gebracht werden. Außerdem wird das elektronische Regel- und Steuersystem an Bord der Raketen wesentlich verbessert.
  • Das in Entwicklung befindliche Polar Satellite Launch Vehicle (PSLV) (250 Tonnen schwer, 40 m hoch) soll ab Anfang der neunziger Jahre 1000 kg Nutzlast in eine sonnensynchrone polare Umlaufbahn bringen. Die zweite Stufe der PSLV erhält einen mit Flüssigtreibstoff betriebenen Viking-Motor, der auf der Grundlage eines Lizenzvertrages mit der französischen Firma SEP hergestellt wird.
  • Die PSLV soll bis Mitte der neunziger Jahre weiterentwickelt werden, unter anderem für die Beförderung von INSAT-2 Mehrzweck-Satelliten der 1200-kg Klasse in die geostationäre Umlaufbahn (GSLV). Diese Rakete hätte interkontinentale Reichweite.
  • Indiens erste ballistische Rakete, mit der Bezeichnung PRITHVI (auch SS-150 genannt) wurde am 25. Februar 1988 zum ersten Mal versuchsweise gestartet. Die von der indischen Armee entwickelte und mit der sowjetischen SCUD-B vergleichbare einstufige Flüssigkeitsrakete ist mobil und soll in der Lage sein, einen 1000 kg schweren Gefechtskopf über eine Distanz von 250 km zu tragen.37 Das Lenksystem verwendet einen Bordcomputer zur Überprüfung und Korrektur der Flugbahn.
  • Die zweistufige AGNI-Rakete legte bei einem Test am 22. Mai 1989 eine Strecke von rund 2500 km zurück, bei einer möglichen Nutzlast von 500-1000 kg. Die erste Stufe ist mit der SLV-3 identisch, mehrere AGNI-Booster sollen die erste Stufe der PSLV-Rakete bilden.
  • Weiterhin konnten verschiedene kleinere Lenkflugkörper entwickelt werden38: die TRISHUL Boden-Boden-Rakete, the AKASH Boden-Luft-Rakete mittlerer Reichweite, die NAG Anti-Panzer-Waffe sowie ferngelenkte Zielflugzeuge.

Zusammenarbeit mit dem Ausland

Trotz Autonomiebestrebungen suchte Indien von Anbeginn Unterstützung aus dem Ausland, wobei eine Diversifizierung über verschiedene Staaten angestrebt wurde. Am intensivsten hat Indien bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums mit der Sowjetunion zusammengearbeitet, die, wie auch die USA und die ESA, Trägersysteme für Satellitenstarts zur Verfügung stellte. Das indische Raumfahrtprogramm begann im November 1963 mit dem Start einer US-Höhenforschungsrakete von indischem Boden. Zwischen 1963 und 1975 wurden mehr als 350 Höhenforschungsraketen der USA, Frankreichs, der Sowjetunion und Großbritanniens von der Thumba Startanlage abgeschossen38p>, die 1963 mit UNO-Hilfe aufgebaut wurde.

Die erste Gruppe indischer Ingenieure hatte Erfahrungen mit Raketenstarts in den USA gemacht, darunter AGNIS's Chefkonstrukteur A.P.J. Abdul Kalam. Er hatte NASA's Langley Research Center und das Wallops Island Flight Center in Virginia besucht, wo die Scout Rakete der USA entwickelt und gestartet wurde.

Nachdem ein indisches Gesuch zum Nachbau der Scout aufgrund des US-Kriegswaffengesetzes abgelehnt wurde, baute Kalam in Indien die SLV-3, die im wesentlichen mit der Scout identisch ist: beide sind 23 m lang, haben vier Festtreibstoff-Stufen, ein open-loop Lenksystem und können 40 kg in eine niedrige Erdumlaufbahn befördern.39

In den späten sechziger Jahren erlaubte Frankreich Indien den Nachbau der CENTAURE Höhenforschungsraketen aufgrund einer Lizenz von Sud Aviation.

Auf der Grundlage eines langfristigen Lizenzvertrages mit der französischen Firma SEP hat Indien bereits seit 1972 französisches Know-how zur Herstellung von Festtreibstoffen für Trägerraketen erhalten. Auf derselben Grundlage wurde Indien von SEP die Genehmigung zum Nachbau des Viking-Triebwerks der ARIANE unter Verwendung von Flüssigtreibstoff gegeben. Der »Vikas« genannte Antrieb findet sich nun wieder in der zweiten Stufe der PSLV-Rakete (Gatland (1981)). 1977 schloß Indien mit Frankreich ein Regierungsabkommen, das vor allem die Triebwerk- und Treibstofftechnologie betrifft, aber auch die Nutzung des französischen SPOT-Aufklärungssatelliten.

Auch die Bundesrepublik Deutschland half mit, die technischen Voraussetzungen für das indische Raumfahrtprogramm zu schaffen. Am 5.10.1971 wurde ein deutsch-indisches Regierungsabkommen über die Zusammenarbeit bei der friedlichen Verwendung der Kernenergie und der Weltraumforschung geschlossen, das 1974 um eine Einzelvereinbarung zwischen der DFVLR und ISRO ergänzt wurde (von Welck (1987)). Die Kooperation wurde vom BMFT und der DFVLR getragen und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit koordiniert. Die Zusammenarbeit ISRO-DFVLR seit 1973 erstreckte sich von der Ausbildung indischer Wissenschaftler an deutschen Instituten, der Beratung der ISRO durch deutsche Wissenschaftler in Indien, über Geräte- und Literaturbeschaffung für die ISRO bis hin zur kompletten Durchführung von Experimenten für das indische Raumfahrtprogramm sowie der Erstellung umfangreicher Software. Folgende Beiträge können im einzelnen aufgeführt werden40:

  • Test eines Modells der SLV-3 im Hyperschallwindkanal der DFVLR in Köln-Porz
  • Beratung bei der Planung und Konstruktion von indischen Höhenprüfständen für Raketentriebwerke sowie entsprechende Trainingsprogramme für indisches Personal
  • Untersuchung von Wiedereintrittsproblemen bei Flugkörpern bis 1000 kg
  • Durchführung von Seminaren in Indien, u.a. über Kreiseltechnik, Bahnkorrekturen, Fernerkundung sowie Werkstoffe und Bauweisen.
  • Softwareentwicklung für Aufstiegsbahnen, Lagebestimmung und geostationäre Positionierung von Satelliten.
  • Bilaterale Zusammenarbeit zu chemischen Antrieben (Trainingsprogramme in Indien, Ausbildung indischer Wissenschaftler bei der DFVLR)
  • Entwicklung von Trans- und Überschallberechnungsverfahren mit dem indischen Institute of Science
  • Strukturmechanische Berechnungsverfahren
  • Gemeinsame Höhenforschungsprogramme

Bei Lehrgängen in Stuttgart und Braunschweig Mitte der siebziger Jahre bekamen indische Wissenschaftler das Know-how über Verbundwerkstoffe vermittelt, insbesondere über Zusammensetzung, Herstellung, Qualitätskontrolle und Fehlersuche (z.B. von Glasfaser-verstärkten Kunststoffen mit imprägnierten Materialien oder Kohlefaser-verstärkten Verbundwerkstoffen). Damit wurde der Zugang zur Herstellung von Raketendüsen und Raketenköpfen erleichtert. Bis Mitte der achtziger Jahre konnte Indien eine Faserwickel-Maschine nach Plänen der DLR bauen. Aufgrund offizieller indischer Erklärungen nach dem AGNI-Test darf angenommen werden, daß Indien an Hitzeschildern für atmosphärische Eintritts-Flugkörper arbeitet (Milhollin (1987)).

Besondere Unterstützung erhielt das indische Raketenprogramm in den Bereichen Raketenlenkung, Raketentests und der Verwendung von Verbundmaterialien, die für die Verwendung in militärischen Raketen gleichermaßen bedeutsam sind. Ein erster Schritt war 1978 der Einsatz eines deutschen Interferometers auf einer indischen Höhenforschungsrakete, mit dem über die Messung von Phasendifferenzen die Stellung der Rakete ermittelt werden kann.41 Nachdem 1981 das Projekt um einen Bord-Mikroprozessor der DLR erweitert worden war, konnte Indien im April 1982 eine eigene Version des gleichen Interferometers testen. Daneben wurde bis Ende 1989 das indisch-deutsche APC-REX-Satellitenexperiment durchgeführt (autonomous payload control rocket experiment). Kernstück war ein Motorola-Mikroprozessor der M68000-Familie.

Anfang 1982 kündigte Indien an, das auf der SLV-3 verwendete »open loop« Navigationssystem durch ein »closed loop« System für die ASLV und PSLV zu ersetzen, mit dem die Position, Geschwindigkeit, Stellung und genaue Zeit in Echtzeit bestimmt werden sollte (autonome Navigation).42Da die AGNI 1988 fertiggestellt wurde, dürfte es unwahrscheinlich sein, daß indische Ingenieure die dabei erworbenen Fähigkeiten hier nicht einsetzten (Milhollin (1989)).

Bewertung

Die Ansicht ist verbreitet, daß Indiens Weltraumprogramm keine unmittelbare sicherheitspolitische Bedeutung hat, u.a. wegen unterschiedlicher Treibstoffe sowie der ungenügenden Steuerung und Lenkung von Raketen.43 Aus der obigen Darstellung geht jedoch hervor, daß Indien über alle Voraussetzungen zur Herstellung von Interkontinentalraketen verfügt, wobei der größte Teil aus dem zivilen Weltraumprogramm hervorgegangen ist.

Der bevorzugte Einsatz von Festtreibstoffen, der hohe Stand der Lenktechnologie und die Forschungen zur Kühlung von Eintritts-Flugkörpern, legen die Verwendung als militärische ballistische Rakete nahe.

Mit der AGNI könnte Indien nukleare Gefechtsköpfe über tausende von Kilometern transportieren (die Schätzungen reichen von 3500 – 6000 km), wenn der politische Wille dazu gegeben ist.44 Seine nuklearen Fähigkeiten demonstrierte Indien, das die internationale Überwachung seines Atomprogramms ablehnt, mit der »friedlichen« Zündung eines nuklearen Sprengkörpers im Jahre 1974. In einigen Militärkreisen wird die Ansicht vertreten, daß Indien eine angemessene strategische Langstreckenwaffenkapazität mit nuklearen Gefechtsköpfen benötige.45 Nach Aussage von Indiens Premierminister Rajiv Gandhi ist AGNI dagegen lediglich „ein Forschungs- und Entwicklungsflugkörper, nicht ein Waffensystem. “ Allerdings öffnet AGNI seiner Ansicht nach die Option, „nicht-nukleare Waffen mit hoher Präzision über große Entfernungen zu befördern.46 “ Die Nachbarn Indiens, insbesondere China und Pakistan, dürften allerdings davon ausgehen, daß AGNI auch zum Transport von Kernwaffen fähig ist. In jedem Fall zeigt die indische Raketenentwicklung, wie schwierig es sein kann, zwischen zivilen und militärischen Verwendungen einer Technologie zu unterscheiden und wie weit eine Rüstungstechnologie auf zivilem Wege entwickelt werden kann.

Brasilien

Struktur

Traditionell ist Brasilien im Nuklear-, Weltraum- und Rüstungsbereich auf nationale Eigenständigkeit bedacht. Aufgrund einer starken Rüstungsindustrie konnte Brasilien Mitte der 80er Jahre etwa 80 % des Eigenbedarfs an Waffen im Lande herstellen und Platz 6 im Waffenexportgeschäft belegen.47 Mit der staatlichen Holding-Gesellschaft IMBEL im Jahre 1975 schufen die Militärs ein wirksames Instrument zur Koordination der gesamten Waffenentwicklung, der Produktion und des Exports. Um den Anschluß an die rüstungstechnologische Entwicklung zu halten, waren die Militärs auf ausländisches Kapital und Know-how angewiesen. Über Lizenznachbau und Joint Ventures sowie zahlreiche bilaterale Forschungsabkommen mit europäischen Staaten wurde ein vergleichsweise hoher technologischer Standard erreicht.

Zivile und militärische Raketenentwicklung sind in Brasilien eng verknüpft. Im Sinne einer Aufgabenteilung wird die militärische Forschung und Entwicklung vom Technologischen Luft- und Raumfahrtzentrum (Centro Tecnico Aerospacial, CTA) der Luftwaffe in Sao Jose dos Campos durchgeführt, die zivilen Aktivitäten werden vom Institut für Weltraumforschung INPE getragen. Das CTA ist der größte und wichtigste militärische Rüstungsforschungskomplex und umfaßt sechs Forschungsinstitute, zu denen das Institut für Weltraumaktivitäten (IAE) gehört, das seit Ende der fünfziger Jahre Forschung in den Bereichen Raketenwaffen, Forschungsraketen, Militärflugzeuge, Militärelektronik, Windenergie und Höhenforschung betreibt. Das Institut für Luft- und Raumfahrttechnologie (ITA) fungiert vorwiegend als Ausbildungszentren. Das Heer errichtete das Technologische Zentrum CETEX und ein Raketentestgelände in Marimbaia bei Rio de Janeiro.48

Das zivile INPE ist dem Nationalen Forschungsrat unterstellt, unterhält Kontakt zu ausländischen Raumfahrtorganisationen, betreibt eigene Forschungsprogramme und stellt wissenschaftliche Instrumentenkapseln her. Allerdings wurden sämtliche Arbeiten für Entwicklung und Tests von Raketen von den militärischen Forschungseinrichtungen der Luftwaffe und des Heeres durchgeführt, die eng miteinander kooperieren. Der offizielle Einstieg in die Weltraum- und Raketentechnik erfolgte 1961 mit der Gründung der Kommission für Weltraumaktivitäten (CNAE) durch den nationalen Forschungsrat, die 1971 in COBAE umbenannt und direkt der Militärregierung unterstellt wurde.

Bis 1961 hatte vor allem die brasilianische Luftwaffe in kleinem Umfang Forschungsarbeiten auf dem Raketensektor durchgeführt.

Seit 1965 beteiligte sich Brasilien an internationalen Höhenforschungsprogrammen. Im Rahmen des EXAMETNET-Programms (Experimental Inter American Meteorological Rocket Network) wurde ab 1965 das dem CTA unterstellte Raketentestgelände Natal von der NASA technisch ausgestattet. Erste Erfahrungen konnten mit ausgemusterten und für Forschungszwecke umgerüsteten NIKE-Raketen der USA gesammelt werden. Unter der Präsidentschaft General Geisels wurde 1974 durch die COBAE ein umfassendes Programm initiiert, das die Entwicklung von Satelliten, Bodenstationen und Trägerraketen umfaßt. Um Satelliten für Meteorologie, Fernerkundung und Kommunikation starten zu können, wurde der Bau einer Weltraumrakete geplant sowie ein größeres Startgelände Alcantara in Äquatornähe durch Enteignung und Umsiedelung geschaffen.49

Trägerrakten

Mit Unterstützung aus Europa, Kanada und den USA entwickelte Brasilien vier Generationen von Höhenforschungsraketen (SONDA I bis IV). Die beiden Firmen Orbita und Avibras konvertierten die in diesen Raketen angelegte Technologie für militärische Anwendungen. Dies zeigt, wie ambivalent die Raketenentwicklung in Brasilien ausgelegt ist: von jedem Raketenprototyp werden sowohl Forschungs- als auch militärische Raketen abgeleitet. Die einzelnen Komponenten der verschiedenen Typen wurden dabei nach dem Baukastenprinzip kombiniert und den jeweiligen Anforderungen angepaßt50:

1. Bei den vier zivilen Versionen der Höhenforschungsrakete SONDA handelt es sich durchweg um Feststoffraketen, deren Leistungsfähigkeit schrittweise gesteigert wurde. Die 1965 erstmals gestartete einstufige SONDA I kann eine wissenschaftliche Nutzlast von rund 4 kg Masse in Höhen von etwa 70 km tragen, SONDA-II schafft mit 44 kg eine Höhe von 100 km. Die seit 1977 in der Höhenforschung eingesetzte SONDA-III setzt sich aus der modifizierten SONDA-II als oberster Stufe und einer zusätzlich konstruierten Startstufe zusammen, die 60 kg bis auf 600 km Höhe bringen kann (eine modifizierte Version schaffte 140 kg auf mehr als 200 km). Die ebenfalls zweistufige SONDA-IV, die als 2. Stufe die leicht modifizierten Startstufe der SONDA-III und als 1. Stufe einen neu entwickelten Startmotor verwendete, befördert gar 500 kg bis zu 650 km hoch und 1000 km weit. Sie hatte Ende 1984 ihren ersten Probeflug und dient zugleich als Testrakete, um verschiedene technische Neuerungen zu erproben (Zusammenspiel der Motoren, Steuerung durch Schubvektorkontrolle, Inertial-Lenkung). Auf der Grundlage der SONDA-Reihe entwickelt Brasilien eine vierstufige Feststoffrakete (VLS) für den Start von 150-200 kg schweren Satelliten in eine elliptische Erdumlaufbahn. Der Start eines VLS-Prototypen schlug 1986 fehl. Im März 1988 gab Brasilien bekannt, weitere Starts müßten als Folge der verschärften Exportkontrollen in den westlichen Ländern verschoben werden, da notwendige Komponenten nicht besorgt werden könnten.

2. Zu den zivilen SONDA-Versionen korrespondieren jeweils militärische ballistische Raketen, wobei die erforderliche Zielgenauigkeit durch den Einbau eines Trägheitslenksystems erreicht wird. So sind die brasilianischen Gefechtsfeldwaffen SS-07, SS-40 und SS-60 (die Heeresbezeichnungen der beiden letzten Typen sind FTG X-20 und FTG X-40) die unmittelbaren Gegenstücke zu SONDA-I, SONDA-II und SONDA-III und tragen sogar die gleichen Nutzlastmassen. Diese Artillerieraketen mit Reichweiten unter 100 km werden von den mobilen Raketenwerfern ASTROS I und II verschossen, wobei das Kaliber 127 mm dem Durchmesser des Motors der Sonda-I entspricht.51 Darüber hinaus entwickelt Avibras zwei längerreichweitige ballistische Raketen. Die mobile SS-300 (300 km Reichweite) basiert auf der Sonda-IV und soll mit ihrem 1000 kg schweren Gefechtskopf diverse Submunition zielgenau gegen Personen, Panzer oder Befestigungen zum Einsatz bringen können. Die 1200 km weit reichende SS-1000 dürfte eine Weiterentwicklung der SONDA-IV sein und gewisse Ähnlichkeiten mit der Pershing Ia haben. Die Firma Orbita entwickelt aus der SONDA-Reihe ebenfalls eine Familie von Kurz- und Mittelstreckenraketen: eine 150 km weit reichende mobile taktische Rakete mit der Bezeichnung MB/EE-150, sowie Raketen mit den Bezeichnungen MB/EE-350, MB/EE-600, MB/EE-1000 mit den Reichweiten 350, 600, 1000 km. Alle diese Raketen verwenden Trägheitslenksysteme und sogar der Einsatz von Endphasenlenksystemen soll geplant sein.52

3. Um seinen Luftraum zu sichern, hat das CTA die luftgestützte PIRANHA-Rakete entwickelt, die die Technologie der SONDA-Raketen verwendet (nach Aussagen der Zeitung »Journal do Brasil« vom 9.5.82).53 Die Luftabwehrrakete ROLAND-II wird in Brasilien unter Lizenz gefertigt, an eigenen Luftabwehrraketen größerer Reichweite wird im CETEX gearbeitet. Brasilien produziert auch den ferngelenkten ACAUA Lenkflugkörper (Remotely Piloted Vehicle) und ein Anti-Schiffs Cruise Missile mit der Bezeichnung SM-70 BARRACUDA, das mit 170 kg mehr als 70 km weit fliegen kann.

Einen derart hohen technischen Stand konnte Brasilien nur mit ausländischer Unterstützung erlangen. Besonders China versorgte Brasilien mit Raketentechnologien, z.B. mit Flüssigtriebwerken und Lenktechnologie. Beide Staaten vereinbarten die Zusammenarbeit bei Aufklärungssatelliten, die von chinesischen Raketen (LANGER MARSCH) gestartet werden. Bestimmte Komponententechnologien waren auf dem freien Markt erhältlich (z.B. Lenksysteme von der französischen Firma Sagem).54

Rolle der Bundesrepublik

Bei der Entwicklung und Nutzung der Sonda-Raketen spielte die Bundesrepublik eine wichtige Rolle. Vertragliche Grundlage ist ein bilaterales Abkommen über die »Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung« vom 9.6.1969, das sich auf die Bereiche Nuklear-, Weltraum-, Luft- und Meeresforschung sowie wissenschaftliche Dokumentation und EDV erstreckt. Im Nuklearbereich begann eine intensive Kooperation, mit Hilfe derer Brasilien, das den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, die wesentlichen Voraussetzungen zur Herstellung der Atombombe schaffen konnte. Darüber hinaus wurden Einzelabmachungen zwischen deutschen und brasilianischen Forschungsinstituten geschlossen, insbesondere am 19.11.1971 zwischen DFVLR und CTA über Luft- und Raumfahrttechnologie. 1978 wurde ein Beratervertrag zwischen der deutschen Raumfahrtindustrie und CTA vereinbart, insbesondere ein direkter Kooperationsvertrag mit MBB. Die Zusammenarbeit mit der zivilen INPE erfolgte erst seit 1977 in kleinem Rahmen.55

Ab 1969 wurden auf dem Abschußgelände bei Natal brasilianische Höhenforschungsraketen mit bundesdeutschen Nutzlasten gestartet. Seit 1973 führte die DFVLR in Workshops Schulungen von wissenschaftlichen Mitarbeitern des CTA durch, zu Themen wie: Aerodynamik von Flugkörpern, Windkanal-Meßtechnologie, Flugbahnberechnung, Abbrandbeeinflussung von Festtreibstoffen, Werkstoffe und Bauweisen, faserverstärkte Kunststoffe.56 Praktische Erfahrungen konnten aus Raketenstarts und dem regelmäßigen Austausch von Wissenschaftlern gewonnen werden. Direkte technische Hilfe wurde geleistet bei der Arbeit an Bergungs- und Lageregelungssystemen, bei der Nutzlastintegration, in der Dickfilmtechnologie, für die Schubvektorkontrolle sowie bei der Realisierung einzelner Komponenten der Raumfahrt.57 Eine bedeutende Aufgabe war die Entwicklung und der Bau einer Faserwickelanlage, mit der sich die Brasilianer seit 1977 faserverstärkte Triebwerksgehäuse und Schubdüsen für Raketen herstellen konnten. Die Kooperation wurde ausgeweitet, u.a. auf die Bereiche Kohlefasertechnologie, Software-Programme für optimale Faserverläufe, Qualitätssicherung, zerstörungsfreie Werkstoffprüfung, Herstellung von Rotorblättern. Aufgrund der Zusammenarbeit fand das für die Schubvektorkontrolle wichtige Verfahren der Sekundäreinspritzung Eingang in der SONDA-IV bzw. ihre militärischen Versionen. Systemtests und Vibrationstests des Heckteils der SONDA-IV wurden in MBB-Umwelttestlabors in Lampoldshausen und Ottobrunn durchgeführt.

Militärische Relevanz

Die detaillierte Auflistung belegt, daß die Bundesrepublik Deutschland einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung der SONDA-Raketen geleistet hat, aus denen Brasilien seine militärischen Raketen entwickelte. Dies geschah in einer Zeit, in der Brasilien von einer Militärjunta regiert wurde und Menschenrechte systematisch verletzt wurden. Trotz mehrerer Briefwechsel des Berliner Arbeitskreises »Physik und Rüstung« mit der DFVLR und dem BMFT in den Jahren 1982 und 1983, in denen auf die Problematik hingewiesen wurde,58 stritt die Bundesregierung noch 1984 in einer Bundestagsanfrage ab, „daß es irgendeinen Anhaltspunkt für militärische Zwecke bei der Nutzung der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit gibt “.59

Dabei hatte das brasilianische Militär mehrfach öffentlich sein Interesse an Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von mehreren Tausend Kilometern Reichweite bekundet, die auch einen oder mehrere Atomsprengköpfe transportieren können.60 Diese Haltung wurde nach Ablösung der Militärjunta durch eine zivile Regierung im Jahre 1985 zwar abgeschwächt, doch wurden die technischen Voraussetzungen für die Herstellung von Atomwaffen und Raketen weiter ausgebaut. Nach wie vor ist Brasilien eines der wichtigsten Rüstungsexportländer. Einer der Hauptkunden brasilianischer Raketenwaffen war der Irak, an den u.a. Raketen vom Typ FTG X-40 und ASTROS-Raketenwerfer verkauft wurden, und der zusammen mit Libyen sein Interesse an der SS-300 bekundet hatte. Im August und September 1990, also nach dem Einmarsch Iraks in Kuwait, wurde bekannt, daß brasilianische Ingenieure an Modifikationen der irakischen SCUD-B mitgearbeitet haben sollen sowie bei der Konstruktion einer Fabrik für die PIRANHA-Rakete nahe Bagdad. Dennoch stimmten die USA am 21.9.1990 der Härtung von Raketenmotorgehäusen für die brasilianische VLS-Rakete zu, die in Lizenz bei der Chicagoer Firma Lindbergh hergestellt wurden.61

Argentinien

Wesentlichen Einfluß auf Argentiniens Vorsprung in der Raketenforschung hatten hunderte deutscher Ingenieure und Techniker, die 1945 nach Argentinien emigrierten und mit ihrem Know-How zum Aufbau der argentinischen Nuklear- und Luftfahrttechnologie beigetragen hatten.62 Konsequent wurden die Erfahrungen aus dem Flugzeugbau für die Raketentechnik verwendet. Zuständig war das militärische Forschungsinstitut für Luftfahrt und Weltraum. Schon Ende der fünfziger Jahre wurden in Argentinien drei Typen von militärischen Feststoffraketen entwickelt und hergestellt, mit Reichweiten von 5,5 – 9 km und Nutzlasten von 1,5 – 10,5 kg. Mit Hilfe der USA wurden Höhenforschungsraketen hergestellt, die 1961 erstmals gestartet wurden. Es wurden drei Startplätze bei Chamical, La Rioja und bei Base Matienzo geschaffen.

Trägerraketen

Verschiedene Typen von Höhenforschungsraketen wurden eingesetzt: ORION (25 kg Nutzlast, 95 km Höhe), RIGEL (30 kg Nutzlast, 310 km Höhe) und CASTOR (50 – 68 kg, 500 km Höhe). Weiterhin wurde von einer mehrstufigen Feststoff-Höhenforschungsrakete der Luftwaffe mit der Bezeichnung TOI berichtet.63 Wenigstens drei Typen ballistischer Raketen sind bekannt geworden:

  1. Ab 1980 entwickelte Argentinien die einstufige Feststoff-Rakete CONDOR-I für zivile und militärische Zwecke. Als Höhenforschungsrakete soll sie eine 400 kg Nutzlast in eine Höhe von 70 km bringen, als ballistische Rakete 100-150 km weit tragen.64
  2. Die wenig bekannte zweistufige ALACRAN-Rakete soll als erste Stufe die CONDOR-I verwenden und eine Nutzlast von 1 Tonne auf 200 km Höhe heben können.65
  3. 1982 begann die Arbeit an der etwa 10 m langen, zweistufigen Feststoffrakete CONDOR-II, die, mit modernster Steuerungselektronik ausgestattet, einen etwa 500 kg schweren Gefechtskopf bis zu 1000 km weit tragen können soll.
  4. Argentinien produziert auch taktische Lenkflugkörper wie die KINGFISHER Luft-Boden-Rakete mit visuellem Fernlenksystem sowie Turbojet-getriebene Drohnen für Aufklärung und Angriffe gegen Boden-, Luft- und Seeziele, die die Grundlage für die Herstellung von Cruise Missiles herstellen könnten. Durch den Erwerb französischer EXOCET Anti-Schiffsraketen konnte Argentinien im Falklandkrieg das britische Schlachtschiff Sheffield versenken.

Das argentinische Raketenprogramm gründet sich auf verschiedene Quellen. Nach Abflauen der US-Unterstützung in den sechziger Jahren wurde die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, Ingenieuren und Firmen aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien verstärkt. Auch von einer Lizenzproduktion der chinesischen CSS-2-Rakete in Argentinien und einer Unterstützung durch Nordkorea wurde berichtet (Shuey (1989)).

Für die Grundlagenforschung und Ausbildung erwies sich die seit etwa 1974 betriebene Kooperation zwischen der DFVLR und dem »Departamento de Investigacion y Desarollo« (DID) auf dem Gebiet der Höhenforschungsraketen als wesentlich. Grundlage war ein Rahmenabkommen von 1969 zwischen Bundesregierung und der damaligen Militärregierung Argentiniens über die Zusammenarbeit in Forschung und Technologie. Konkret wurde die CASTOR-Rakete bei der DFVLR im Windkanal untersucht, wurde in Cordoba eine Vortragsreihe über Feststoffantriebe durchgeführt und Laboreinrichtungen in Argentinien besichtigt. 1977 fand im brasilianischen Sao Jose dos Campos ein gemeinsamer Workshop zwischen brasilianischen, argentinischen und bundesdeutschen Wissenschaftlern und Ingenieuren über die Ausrüstung von Höhenforschungsraketen statt. In den Jahresberichten der DFVLR bis 1982 wurde die Zusammenarbeit auf den Gebieten Aerodynamik, faserverstärkte Werkstoffe und Höhenforschungstechnologie betont, 1983 dagegen erstmals von politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten berichtet.66

Anfang der achtziger Jahre kamen bundesdeutsche Firmen (Klöckner, MBB, OTRAG) ins Gerede als mögliche Anbieter für ein Waffentestgelände bei Sierra Grande, zu dem auch ein Raketentestgelände und zwei Abschußplattformen gehören sollten.67

Das Condor-Projekt

Die wohl umfassendste Form internationaler Zusammenarbeit erfolgte im Rahmen des CONDOR-Projekts, in dem Personen und Firmen aus mehreren Ländern beteiligt waren. Genannt wurden, neben den Hauptbeteiligten Argentinien, Ägypten und Irak, auch die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Schweiz und Rumänien. Ein Motiv war der Wunsch des argentinischen Militärs, mit Brasilien bei der Raketenentwicklung gleichzuziehen. Der Falklandkrieg dürfte das Projekt beschleunigt haben. Ziel war die Entwicklung einer Mittelstreckenrakete unter dem Deckmantel eines Höhenforschungsprogramms, an dem deutsche Firmen nach Genehmigung durch die Bundesregierung 1979 teilnehmen konnten. Die Federführung lag bei Managern von MBB und der Schweizer Firma Bohlen Industrie und Wasag Chemie (Bowas AG), deren Aufgabe u.a. darin bestand, eine Mannschaft von Raketentechnikern und Elektronik-Spezialisten auf die Beine zu stellen.68

Unter dem Decknamen »Vector« wurde 1982 in Monaco die Tarnfirma Consulting Engineers (Consen) gegündet, die ein verschachteltes, internationales Firmen-Konglomerat aufbaute. Von verschiedenen Firmen sollten Raketenkomponenten beschafft werden, z.B. Trägheitslenksysteme von Sagem in Frankreich, Feststoffantriebe von Snia BpD in Italien, Elektronik von Bofors in Schweden, Raketenstartanlagen von Wegmann und MAN in der Bundesrepublik. Consen-Direktor Karl Adolf Hammer, der als einer der besten Raketenexperten der Bundesrepublik galt, war bis 1987 zugleich Chef der Rüstungstechnologie-Abteilung von MBB und konnte für den notwendigen Technologiefluß sorgen. Zeitweise sollen 150 Techniker und Ingenieure aus der Bundesrepublik, Frankreich und Italien mitgearbeitet haben, darunter viele ehemalige MBB-Mitarbeiter.69

Auch nach Beendigung der Militärregierung im Jahre 1983 hielt die neue Zivilregierung unter Präsident Raul Alfonsin am Raketenprogramm fest. Da es jedoch immer teurer wurde und die Milliardengrenze schon überschritten war, schlossen im Sommer 1984 der spätere Verteidigungsminister Raul Tomas und der damalige ägyptische Verteidigungsminister Abu Gazallah einen Vertrag über die Zusammenarbeit beim CONDOR-Projekt. Irak kam später hinzu (siehe die entsprechenden Länderdarstellungen). Die bundesdeutschen Partner wurden bei einem Besuch von Tomas im März 1985 in München über das Joint Venture informiert.70

Die CIA hatte das CONDOR-Projekt schon frühzeitig verfolgt und warnte die Bundesregierung mehrfach seit 1983. 1984 meldete die Sunday Times, in Azul würde mit bundesdeutscher Hilfe die CONDOR-Rakete entwickelt71. Jedoch erst im Mai 1985 drängte Bonn MBB, die Zusammenarbeit zu beenden. Um das offiziell eingestellte lukrative Projekt dennoch zu retten, wurde Anfang 1986 die Zuständigkeit von MBB auf die Projektbetreuungsgesellschaft (PBG) übertragen, die die meisten Lieferungen an die argentinische Luftwaffe über den Bremer Hafen abwickelte. Die technische Zusammenarbeit (Ausbildung in Raketentechnik, Lieferung von Komponenten, Tests von Triebwerken, Flugkörpern, Lenksystemen, Sprengköpfen) erfolgte über die MBB-Tochter Transtechnica. Von MBB entwickelte Streumunition und Benzinbomben waren als Sprengköpfe für die CONDOR-2 vorgesehen.72

Nachdem Washington den politischen Druck auf die Regierung Alfonsin verstärkt hatte und das Trägertechnologie-Kontrollregime, auch »Lex Condor« genannt, den Technologiefluß erheblich erschwerte, sank das Interesse Argentiniens am CONDOR-Projekt merklich. Als Folge des Abkommens wären die Herstellungskosten für 400 Raketen auf schätzungsweise 3,2 Milliarden US-Dollar gestiegen.73 In den letzten Jahren scheint Argentinien die Entwicklung von Satelliten zu bevorzugen, die auf ausländischen Trägersystemen (z.B. der USA) gestartet werden. Im März 1988 sagte der chilenische Luftwaffenstabschef, daß Chile und Argentinien in einem gemeinsamen Projekt daran arbeiteten, einen Kommunikationssatelliten in den Weltraum zu bringen.74

Ägypten

Ägypten hatte bereits in den sechziger Jahren unter Führung von Gamal Abdel Nasser internationales Aufsehen mit einem Raketenprogramm erregt, an dem maßgeblich deutsche Wissenschafter und Ingenieure beteiligt waren.75 Schon nach dem Rückschlag der Vereinigten Arabischen Armeen im Palästina-Krieg 1948-1949 war das Bedürfnis nach verbesserten Waffen aufgekommen (wie im Deutschland der frühen dreißiger Jahre). 1951 wurde ein kleines Team unter Leitung des deutschen Rüstungsexperten Wilhelm Voss beauftragt, eine kleinkalibrige Rakete zu entwickeln und eine moderne Rüstungsindustrie aufzubauen. 1953 wurde das Programm in die Erforschung von Flüssigkeitsantrieben unter Leitung des deutschen Raketen-Ingenieurs Rolf Engel umgewandelt, wegen finanzieller Probleme jedoch 1956 gestrichen.

Nassers Peenemünde

Da sich Ende der fünfziger Jahre einige deutsche Raketenexperten unterbeschäftigt fühlten, ergriff Nasser die Gelegenheit, sie für seine Zwecke zu erwerben. Nach dem Start einer israelischen Höhenforschungsrakete im Juli 1961 wurde die Entwicklung beschleunigt. Da die NASA eine entsprechende Unterstützung Ägyptens abgelehnt hatte, wurde Eugen Sänger beauftragt, Veteranen aus Peenemünde zu rekrutieren. Unter den etwa zehn Wissenschaftlern befanden sich der Triebwerksspezialist Wolfgang Pilz, der schon in den frühen fünfziger Jahren in Kairo und danach in Frankreich an Raketenprogrammen gearbeitet hatte, sowie die Steuerungsexperten Paul Jens-Görcke und Hans Kleinwächter, der ein Elektronikuntenehmen in Bayern besaß (Frank (1967)). Zu diesem Zweck gründeten Sänger, Pilz und Görcke 1960 die Internationale Raketen (INTRA) Handelsgesellschaft mbH, die u.a. von Messerschmidt, Bölkow und Heinkel hergestellte Raketenteile nach Ägypten exportierte. Beteiligt waren die Schweizer Firma Patvag, die Oerlikon-Tochter Contraves und die spanische Messerschmidt-Niederlassung MECO (Geissler (1978)).

Etwa 250 Techniker aus der Bundesrepublik, Spanien, Österreich und der Schweiz wurden für den Aufbau der Raketenproduktion in der Militärfabrik 333 bei Heliopolis südlich von Kairo benötigt, insgesamt waren dort zeitweise bis zu 4000 Menschen beschäftigt. Allein Sänger und drei seiner Kollegen sollen pro Jahr den für damalige Verhältnisse erklecklichen Risikozuschlag von 450.000 Dollar pro Jahr erhalten haben.76

Nasser mußte für sein Raketenprogramm enorme Summen aufbringen und erhielt als Gegenleistung schon 1962 die ersten Raketen, die er stolz auf einer Parade im Juli des Jahres präsentieren konnte: die etwa 350 km weit reichende AL ZAFIR und die rund 600 km weit reichende AL-KAHIR. Die AL ZAFIR war mehr als 5 m lang und trug einen 500 kg schweren konventionellen, hochexplosiven Gefechtskopf. Die AL-KAHIR war 12 m lang und konnte einen 750 kg Gefechtskopf transportieren. Beide hatten nur eine Stufe und wurden von Kerosin und Salpetersäure angetrieben. Ein Jahr später konnte Nasser einen weiteren Raketentyp vorführen, die zweistufige AL-ARED, die zwei Tonnen Sprengstoff mehr als 1000 km weit tragen sollte und angeblich sogar 1 Tonne in eine niedrige Umlaufbahn. Eine noch größere Rakete war geplant, die dreistufige AL-NEGMA, die die beiden Stufen der AL-ARED verwenden sollte und für die dritte Stufe Ergebnisse der ELDO-Forschungen.

Die technischen Probleme waren allerdings enorm, besonders mit Lenkung und Flugkontrolle, so daß in der Anfangsphase des Fluges die Rakete über Draht gesteuert werden mußte. Daneben geriet das Raketenprojekt auch unter politischen Beschuß, v.a. durch die israelische Regierung, die mit diplomatischen Mitteln und unter Anwendung von Gewalt (Entführung, Bombenanschläge) gegen die Mitglieder des Raketenteams versuchte, das Programm zu beenden. Der Vorwurf der israelischen Außenministerin Golda Meir, Ägypten entwickle Massenvernichtungswaffen für seine Raketen, ließ die deutsche Bundesregierung unter Ludwig Erhard im Dezember 1963 den Rückzug der Raketenexperten einleiten, unter Inkaufnahme des diplomatischen Bruchs mit Ägypten. Eugen Sänger und Armin Dadieu hatten sich auf Bonner Druck bereits vorher verabschiedet.

Nach dem deutschen Exodus mußte die ägyptische Regierung sich nach Ersatz in Osteuropa umschauen, u.a. in der DDR. Obwohl die Produktion weiter lief (die Schätzungen reichen von 80 bis 250 hergestellten Raketen), waren die technischen Probleme, besonders die Unzuverlässigkeit der Rakete, dennoch nicht zu lösen. Letztlich fehlte es zum damaligen Zeitpunkt an den geeigneten technischen Ressourcen, was sich auch durch Hilfe von außen nur zum Teil kompensieren ließen.

1968 erhielt Ägypten mit den von der Sowjetunion gelieferten FROG-4 einen Ausgleich für das gescheiterte Raketenprojekt. 1971 und 1973 kamen FROG-7 und SCUD-B hinzu, später chinesische SILKWORM-Raketen. Ägyptens ältere SCUD-B konnten Syrien und vom Sinai aus den größten Teil Israels und auch Jordaniens erreichen. Eigenständig hat Ägypten 1983 mit der Fertigung einer Rakete von 80 km Reichweite (Saqr 80) begonnen und entwickelt eine fortgeschrittene Version der SCUD-B mit einem 1000 kg Gefechtskopf, möglicherweise mit Hilfe Nordkoreas.77

Condor und die Affäre Helmy

Etwa 20 Jahre nach dem ersten Raketenprogramm unternahm Ägypten einen erneuten Versuch, mit den israelischen Raketenentwicklungen gleichzuziehen, diesmal im Rahmen des CONDOR-Programms. Ziel war die Entwicklung einer ägyptischen ballistischen Rakete namens BAADR-2000. Eine gewisse Kontinuität wurde gewahrt durch Consen-Chef Adolf Hammer, der bereits in den sechziger Jahren in Ägypten tätig gewesen war und auch nach seinem Ausscheiden bei MBB 1987 seine guten Verbindungen weiter nutzte.78 Ägypten konnte Argentinien die dringend benötigte finanzielle Unterstützung durch Saudi-Arabien (etwa 1 Mrd. DM) anbieten und bekam dafür die Zusage, daß Test- und Produktionsanlagen für Raketen nach Ägypten geliefert werden.

In Abu Zabaal wurden unter starken militärischen Sicherheitsvorkehrungen eine Treibstoffanlage und ein Testgelände errichtet, in Heluan südlich von Kairo eine Anlage zur Produktion des Raketenkörpers aufgebaut. Etwa hundert MBB-Leute sollen an einer Munitionsfabrik gebaut haben, die Anlagen für das Mischen und Abfüllen des Raketentreibstoffes enthielt. Nach Berichten hat Transtechnica, zusammen mit der US-Firma Control Data, eine unterirdische Raketensimulationsanlage in Abu Zabaal eingerichtet. Für die Anlage in Abu Zabaal wurde 1987 und 1988 mit Hammers Vermittlung u.a. ein Echtzeit-Flugbahn-Vermessungssystem von MBB geliefert, mit dem auch der Ausstoß von Submunition (Streubomben) beobachtet werden kann.79 Nach Abschluß der Arbeiten auf den Baustellen im Herbst 1988 sollte unter Anleitung bundesdeutscher Ingenieure eine Funktionsprüfung vorgenommen sowie die Produktion begonnen werden.

über die USA versuchte Ägypten, mit Rückendeckung durch seinen Verteidigungsminister Abu Gazallah, an noch fehlende technische Komponenten heranzukommen. So gelangten über einen ägyptischen Mitarbeiter der US-Firma Aerojet, Abdelkader Helmy, Arbeitsanweisungen und technische Zeichnungen des Pershing-2-Motors illegal nach Ägypten.80 In diesem Zusammenhang wurden auch Spezial-Chemikalien für die Mixtur des Festtreibstoffes exportiert bzw. bestellt. Auch eine winzigen Spezialantenne für die Datenübertragung von der Rakete zur Bodenstation soll 1988 in das CONDOR-Programm eingeflossen sein. Der illegale Transfer wurde im Juni 1988 aufgedeckt, als versucht wurde, Kohlefaser-Kunststoffe und Keramikplatten, wie sie in Raketendüsen sowie in den Köpfen vom Space-Shuttle und Interkontinentalraketen als Hitzeschutz Verwendung finden, außer Landes zu schaffen. Da die »Affäre Helmy« zu einer erheblichen Belastung des Verhältnisses mit den USA führten, stellte Ägypten im September 1989 seine Mitarbeit am CONDOR-Projekt offiziell ein.

Das irakische Raketenpuzzle: Bausteine der irakischen Raketenentwicklung und deren mögliche Herkunft.

Anmerkung: die Angaben basieren auf einer Vielzahl von Quellen, die in dieser Tabelle nicht alle aufgeführt werden konnten. Der größte Teil der Angaben stammt aus Koppe (1990) und Leyendecker (1990) sowie aus verschiedenen Artikeln in Spiegel, Stern, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Tageszeitung. Übersichten, z.T. mit Quellenangaben, finden sich bei KOMZI (1991), BUKO (1990), Timmerman (1990), Badelt (1991).

Weder kann der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, noch kann die Richtigkeit der Angaben garantiert werden. Eine Beteiligung wird von einigen der genannten Firmen bestritten bzw. ist Gegenstand gerichtlicher Klärung.

Technologie Beschreibung Mögliche Herkunft
Raketenkomponenten (einschließlich Bauanleitungen)
Raketenflugkörper SCUD-B UdSSR
Bauanleitung SCUD-B NVA (DDR), Havert
  CONDOR-II Consen
Lenkung Kreiselkompaß, Trägheitslenkung Plath, Sagem (Frankreich)
Treibstoff Condor-II: Fest-Treibstoffe Consen, Aerojet (USA), Ägypten (Fall Helmy), Snia BpD (Italien)
Triebwerk SCUD-B: Turbopumpen Thyssen
  ARIANE-V: Pläne für Triebwerk H+H, Thyssen
  PERSHING-II: Blaupausen Aerojet (USA), Ägypten (Helmy)
  Raketendüsen Leico
  Teile von Raketenmotoren H+H
Materialien Hitzeschutz: Kohlefaser-Kunststoff, Keramikplatten Aerojet (USA), Ägypten (Fall Helmy)
Gefechtskopf konv.: Sprengstoffe; FAE-Bomben: Pläne, Testunterlagen; Cluster Bombs; Zünder Dynamit Nobel; MBB, PBG; Cardoen (Chile); Cifco
  chem.: CW-Abwurftanks; Rohrverschraubungsanlage; Halar-Beschichtung H+H, Meed (GB); WET; Kolb
Trägerplatform Zugmaschinen, Abschußrampen, Aufrichthydraulik Wegmann, MAN, Daimler, Saab (Schweden), H+H
Infrastruktur
Elektronik, Kommunikation Flugüberwachung, Funktechnologie, Telemetrie Siemens, SEL, AEG-Telefunken, Bofors (Schweden),
Zielerfassung Radar- und Sendeanlagen Rhode & Schwarz
Artillerie SS-20, SS-30, SS-60 für ASTROS-II H+H, Avibras (Brasilien)
  Haubitzen Magirus-Deutz, Rheinmetall; Südafrika
  Proj. Babylon: Superkanone Space Research Corporation (Belgien)
Luftabwehr Artemis 30 mm Zwilling Kanone (inkl. Feuerleitanlage, Hydraulik-Pumpen, -Motoren, -Ventile) Mauser, Siemens, Vickers, Griechenland
  ROLAND MBB, Euromissile
Lenkwaffen COBRA, HOT, MILAN, EXOCET MBB, Euromissile
Ausbildung, Forschung, Entwicklung, Test
Ausbildung 1983: 25 Angehörige der irak. Luftwaffe Carl-Duisberg-Zentrum, Dornier, Bundeswehrhochschule
  1986: irakische Armeeangehörige Krupp Atlas Elektronik
  1987: 6 irakische Offiziersanwärter studieren Elektronik, Luft- und Raumfahrt Bundeswehrhochschule
  1987: Proj. 395: Schulung irakischer Techniker in Mosul MBB
Forschung/ Entwicklung Labor für Materialforschung, Hochfrequenztechnik und Eichung MBB
Erprobung Echtzeit-Flugbahnvermessungssystem MBB/Transtechnica
  Testanlage für Raketentriebwerke Anlagen Bau Contor
  Windtunnel für aerodynamische Forschungen Aviatest
  Anlagen-Funktionstests MBB
Anlagen/Bau
Bauarbeiten Saad-16 in Mosul Gildemeister (Projektleitung)
  Proj. 395 Walter Thosti Boswau (WTB)
  Tadschi-Anlage Ferrostaal (Generaluntern.); Scharmann, Hochtief, Züblin, Graeser, Kieserling & Albrecht, L. Schuler
  Munitionsfabrik Hutteen TS Engineering
C-Waffen Samarra: CW-Produktion Kolb, WET, u.a.
Flugkörper Proj. 395: Produktionsanlage Condor MBB u.a.
  Produktionsanlage für Infanteriewaffen Fritz Werner, Siemens, Hess, Krantz
Raketenmotoren Werkzeuge zur Herstellung von Raketenmotorgehäusen H & H Metallform, Avibras (Brasilien)
Treibstoff Projekt 395: Chemiefabrik zur Treibstoffherstellung MBB
  Rührwerke für Treibstoffzubereitung Schäftlmaier
Elektroinstallation Proj. 395: Stark- und Schwachstromanlagen, Transformatoren Siemens, BBC (Schweiz), Hewlett-Packard (USA)
Überwachung und Messung graphische Displaygeräte, Spektrum-Analysatoren, Netzwerk-Analysatoren, elektronische Zählgeräte, Oszilloskope, Prozeßrechner und Mikroschaltkreise versch. US-Firmen
  Proj. 395: Temperaturstabilisierung in Chemieanlagen Nickel Klimatechnik
Produktionstechnologien
Schmieden + Schmelzen Schmiede für Geschoßproduktion Thyssen, Lasco/Schiess, AEG
  Tadschi: Schmiede; Stahlkocherei; Gußausrüstungen; Spezialöfen, Härteanlagen; Schmelzpresse; Umschmelzanlagen Ferrostaal, Rheinmetall, Buderus; ABB, Klöckner; Mannesmann Demag; LOI Industrieanlagen; MAN/SMS Hasenclever; Leybold
Metallbearbeitung Universal-Bohrmaschine Fritz-Werner
  Schleifmaschine Körber AG
  Metallpressen L. Schuler
  Proj. 1728: Schneidwerkzeuge Hertl, Leico
  Saad-16: Fräsen, Drehbänke, Schmelzöfen Gildemeister Projekta
  Stahlrohre, Drehbank mit Ersatzteilen Inwako
  Tadschi: Kanonenrohrbohrungen, Spezialausrüstungen Maschinenfabr. Ravensburg, TBI; Dango & Dienenthal
  Hydraulische Anlagenteile für Superkanone Brüninghaus Hydraulik
Werkzeugmaschinen Steuerungs-Software Integral Sauer Informatic, CMES
  Tadschi: Werkzeugmaschinen; Computersteuerungen für Drehbänke Kieserling & Albrecht; Siemens
  Computergesteuerte Werkzeugmaschinen Matrix Churchill (GB)
Materialprüfung Röntgenanlagen zur Durchleuchtung von Feststoff-Stufen
  Autofretaggeanlage zur Materialprüfung und Härtung von Kanonenrohren und Geschoßhülsen H & H, Schmidt & Kranz

Aufbau der irakischen Raketenkapazität

Nach einer Ende 1990 veröffentlichten Studie des Simon-Wiesenthal Zentrums in Los Angeles sollen 207 Firmen dem Irak bei der Entwicklung und Herstellung von Massenvernichtungsmitteln und Trägersystemen geholfen haben, 86 davon aus der Bundesrepublik (Timmerman (1990)). Weitere Einzelheiten sind inzwischen bekanntgeworden, die zum Teil noch mit Unsicherheiten behaftet sind (eine Übersicht findet sich in der Tabelle). Aus einer Vielzahl von Informationen läßt sich dennoch wie bei einem Puzzle ein Bild darüber machen, wie der Irak sein Raketenpotential aufgebaut hat, das im Golfkrieg unter Einsatz einer gewaltigen Kriegsmaschinerie zum großen Teil zerstört wurde.

Raketenprogramme

1. Zentrale Bedeutung hatte das Projekt 395, in dem der Irak unter Anleitung des in der Bundesrepublik ausgebildeten Chemikers Amer Hammoudi al Saadi die Entwicklung einer langreichweitigen Rakete vorantrieb. Dazu wurde Know-how und technische Unterstützung aus dem CONDOR-Programm direkt einbezogen, die Pläne für die Anlagen waren weitgehend identisch. 1987 wurde ein Vertrag zwischen dem irakischen »Technical Corps for Special Projects« (Teco) und der Condor Projekt AG abgeschlossen worden.81 Forschung und Entwicklung wurden in dem größten Militärforschungszentrum im Nahen Osten (genannt Saad-16) in Mosul vorangetrieben, der unter der Projektleitung der Bielefelder Gildemeister Projekta GmbH (Gipro) für rund 400 Millionen DM aufgebaut wurde. Dutzende bundesdeutscher und österreichischer Betriebe wie die Rheinmetalltochter Aviatest oder die MBB-Tochter Transtechnica lieferten die Technik oder stellten die Ausbilder für das vom Militär streng bewachte Zentrum.82 Es wurden Raketenproduktionsanlagen in Kerbala, Falludscha und Bagdad errichtet, sowie eine Fabrik zur Herstellung von Festtreibstoff (Projekt 96) in Hillah, bei deren Explosion im August 1989 mehrere hundert Menschen den Tod fanden. Auf einem Testgelände in der Wüste (Projekt 1157) fanden die Probeläufe der Raketenstufen und die ersten Abschußversuche statt. Insgesamt sollen rund 7500 Arbeiter auf den Anlagenkomplexen beschäftigt gewesen sein.

2. Basierend auf der argentinischen CONDOR-II bzw. der ägyptischen BAADR-2000 entwickelte der Irak die zweistufige TAMMUZ-1, die eine Reichweite von 2000 km haben soll. Vom Al-Anbar Weltraumforschungszentrum westlich von Bagdad wurde am 5. Dezember 1989 eine dreistufige, 25 m hohe und 48 Tonnen schwere Weltraumrakete mit der Bezeichnung AL-ABED gestartet. Ob bei dem Test alle drei Stufen erfolgreich gezündet werden konnten, ist bezweifelt worden. Angeblich soll nur die erste Stufe funktioniert haben.83

3. Parallel dazu wurde in den Projekten 144 und 1728 die Umrüstung der SCUD-B-Raketen unternommen, die in den fünfziger Jahren in der Sowjetunion als SS-1C entwickelt und in den achtziger Jahren zu einigen hundert Exemplaren in den Irak geliefert wurde. Während der rund 6 Tonnen schweren Rakete eine Reichweite von etwa 300 km zugeschrieben wird, konnte der Irak die Reichweite durch Verringerung der Bombenlast von 800-1000 kg auf rund 200 kg sowie durch Vergrößerung der Treibstofftanks etwa verdoppeln. Die Flugzeit stieg von 6 – 6.5 Minuten auf 8 – 9 Minuten.84 Damit wurden sowohl die iranische Hauptstadt Teheran im ersten Golfkrieg wie auch Israel im zweiten Golfkrieg Ziel irakischer Raketenangriffe. Es wird angenommen, daß nach anfänglichem Ausschlachten der erworbenen SCUD-Raketen der Irak diese AL-HUSSEIN genannte Modifizierung in größerer Stückzahl in Falludscha, in der Nähe der Chemiewaffenanlagen, selbst produziert hat. Eine erneute Reichweitensteigerung auf 900 km konnte mit der AL-ABBAS-Rakete erreicht werden, wobei wohl Triebwerksänderungen durch westliches Know-how eine Rolle gespielt haben. Deutsche Firmen und Ingenieure, darunter auch aus der früheren DDR, sollen wichtige Teile und Werkzeuge für die SCUD-Verbesserung geliefert haben. Aufgrund gefundener Bruchstücke und der Einschätzung israelischer Fachleute wurde der Schluß gezogen, daß der Irak lediglich Raketen vom Typ AL-HSSEIN gegen Israel eingesetzt hat, bei denen westliche Technologie noch nicht wesentlich war (FAZ (17/2/91)).

4. In Tadschi nördlich von Bagdad wurde von einem Konsortium deutscher Firmen unter Leitung der Essener Ferrostaal AG eine Freiformschmiede errichtet, die zur Herstellung von Artilleriekanonen dienen sollte. Daneben arbeitete der Irak an einer »Superkanone« mit einem Durchmesser von einem Meter, einer Rohrlänge bis zu 150 Metern und einer Reichweite von angeblich 450 Kilometern (»Projekt Babylon«), die von dem mittlerweile erschossenen Artilleriefachmann der Brüsseler Space Research Corporation (SRC), Gerald Bull, entwickelt wurde.85 Bull konnte anknüpfen an die Erfahrungen, die deutsche Kanonenbauer mit schweren Geschützen im Ersten und Zweiten Weltkrieg gesammelt hatten (»Dicke Berta«, »Thor«). Das von ihm für den Irak entwickelte Artilleriegeschütz »Al Fao« soll zu den leistungsfähigsten der Welt zählen.

5. Bei der Militärausstellung von Bagdad im Mai 1989 konnte der Irak eine Reihe von Boden-Boden-Raketen kurzer Reichweite präsentieren, die zum überwiegenden Teil auf sowjetischen Raketen basieren, mit Nutzlasten zwischen 35 kg und 435 kg sowie Reichweiten von 8 km bis 90 km. Die Namen sind: FAHAD, NISSAN, BARQ, KASER, LAYTH, NASSER und FAW-1.86 LAYTH ist eine Modifizierung der sowjetischen FROG-7, FAW-1 wurde als Raketenabwehrwaffe bezeichnet.

Der Export technologischer Komponenten

Der Raketenmotor der einstufigen SCUD-B wird mit lagerfähigen Flüssigtreibstoffkomponenten betrieben (Kerosin und Salpetersäure), was der Rakete eine gewisse Mobilität gibt.87 Vermutlich konnte der Raketenmotor im Projekt 1728 aufgrund einer russischen Bauanleitung der NVA nachgebaut und dabei auch modifiziert werden. Im Büro der Neu-Isenburger Firma Havert Consult Handelsgesellschaft wurden entsprechende Detailskizzen von Kerosintanks, Prüfständen, Triebwerksteilen und Stabilisatoren gefunden. Der Düsseldorfer Firma Thyssen wurde vorgeworfen, sie habe 25 von 300 bestellten Zwei-Komponenten-Pumpen geliefert, die im Raketenantrieb der SCUD-B Verwendung finden könnten (Spiegel (5/91)).

Bei der dreistufigen AL-ABED wird angenommen, daß für die erste Stufe fünf modifizierte SCUD-Triebwerke zusammengeschaltet wurden, während für die Drittstufe ein Feststoffantrieb vorgesehen ist. Für das CONDOR-Projekt wurden Anlagen zum Zerkleinern, Mischen und Abfüllen des Festtreibstoffs (bestehend aus Ammoniumperchlorat, Aluminiumpulver, Bindemittel und Spezialzusätzen) von westlichen Firmen bereitgestellt. Im Oktober 1988 begannen von MBB in Mosul ausgebildete irakische Fachleute mit den Funktionstests der Misch- und Abfüllanlagen. Im Dezember 1988 wurde die Produktion der ersten Raketen aufgenommen.88

Presseberichten zufolge soll der Irak darüberhinaus in den Besitz westlicher Antriebstechnik gelangt sein. Genannt wurden etwa fortgeschrittene Raketendüsen, die für Raketenprogramme der Dritten Welt noch ein technisches Hindernis darstellen. Der Firma H+H-Metallform wird vorgeworfen, sie habe Komponenten und Pläne des Triebwerks der Europa-Rakete Ariane-5 geliefert, die erst 1995 ins All geschossen werden soll.89 Über die bereits geschilderte »Affäre Helmy« erhielt der Irak via Ägypten vermutlich auch Zugang zu Blaupausen des Pershing-2-Motors, Spezial-Chemikalien für die Mixtur des Festtreibstoffes, Kohlefaser-Kunststoffen und Keramikplatten. Über eine ausgereifte Wiedereintrittstechnologie dürfte der Irak allerdings noch nicht verfügen.

Selbst wenn der Irak eine erste Atomwaffe besitzen sollte, was umstritten ist90, dürfte die SCUD-Rakete als Träger mittlerer Reichweite nur wenig geeignet sein. Mit Hilfe der von bundesdeutschen Firmen erbauten Chemieanlage von Samarra war der Irak in der Lage, beträchtliche Chemiewaffenpotentiale anzuhäufen. Granatenhülsen und kleine Raketen (Kaliber 120 und 122,4 mm) für den Einsatz von Raketenwerfern kurzer Reichweite wurden in der Nähe von Samarra mit Giftgas gefüllt. Eine Rohrverschraubungsanlage wurde, nach Presseberichten, von der Firma WET in Hamburg geliefert, eine Beschichtungsanlage zur Abdichtung der Geschoßinnenwände mit dem Material Halar von Karl Kolb in Dreieich (Spiegel (5/91)). Möglicherweise konnte der Irak deshalb keine mit Giftgas bestückten Raketen einsetzen, weil er keine Abfüllanlagen für die SCUD-Rakete besaß. Allerdings hätte der Irak einen Kanister mit Giftgas transportieren können, und die Firma H+H-Metallform hatte sich 1987 bei der britischen Firma Meed um die Lieferung von Abwurftanks für C-Waffen auf Flugzeugen für den Irak bemüht.91 Ob ein spezieller chemischer oder biologischer Gefechtskopf bereits einsatzfähig ist oder war, kann nicht sicher gesagt werden.

Die zerstörerische Wirkung der konventionellen 200-kg-Bombenlast der SCUD-B war, verglichen mit der hunderttausend-fachen Bombenlast der Alliierten, relativ gering. Die Sprengenergie ist vergleichbar der Bewegungsenergie der anfliegenden Rakete, die trotz PATRIOT-Abwehr bei vierfacher Schallgeschwindigkeit erheblichen Schaden und eine entsprechende psychologische Wirkung erzielen kann. Vergleichbare Erfahrungen wurden bereits im Iran-Irak-Krieg gemacht, wo rund 500 irakische Raketen auf iranische Städte abgeschossen wurden (Carus (1990)). Eine Wirkungssteigerung mit Streumunition oder Benzinbomben (Fuel-Air Explosives, FAE) ist möglich. FAE-Bomben wurden auf dem MBB-Testgelände in Schrobenhausen erprobt, Blaupausen und Testunterlagen sollen über die bayerische PBG nach Ägypten und von dort weiter nach Bagdad gelangt sein. Anfang 1988 distanzierte sich MBB von dem Projekt.92 Der chilenische Waffenkonzern Cardoen errichtete im Irak eine Fabrik für Streubomben (Cluster Bombs), die mit 240 Mini-Sprengsätzen großflächige Zerstörungen anrichten können. Die von Cardoen gegründete Spedition Cifco in Bremen wird verdächtigt, seit Sommer 1989 eine komplette Fabrik für Bombenzünder im Irak gebaut zu haben (Spiegel (5/91).

Nur geringfügige Änderungen konnten bei der Raketenlenkung und der Verbesserung der Zielgenauigkeit, gemessen durch den Streukreisradius (Circular Error Probable, CEP), vorgenommen werden. Mit Trägheitslenksystemen, wie sie in der SCUD-B verwendet werden, ist die Zielabweichung etwa der dreihundertste Teil der Reichweite, bei der SCUD-B je nach Schußweite zwischen 1-3 km. Damit ist es schwierig, selbst größere Ziele wie Flugplätze oder ein Kernkraftwerk über eine Entfernung von 600 km hinweg zu bombardieren. Um die Zielgenauigkeit für die CONDOR-2 zu steigern, versuchte das für deren Entwicklung gegründete Firmenkonsortium Consen, verbesserte Trägheitslenksysteme von der französischen Firma Sagem zu bekommen.93

Neben festen Raketenbasen für die SCUD-B in verschiedenen Landesteilen wurden SCUD-Raketen auf mobilen Startplattformen stationiert, deren Zahl und Position nur schwer festzustellen ist (wie der Golfkrieg erwiesen hat). Als Transportfahrzeuge konnte der Irak Schwerlastfahrzeuge von verschiedenen Firmen (Saab, Wegmann, MAN) verwenden, die vermutlich für diesen Zweck modifiziert wurden.94 Auch Daimler-Benz soll für das Projekt 144 bis Juli 1990 20 schwere Zugmaschinen, Sattelschlepper mit Tiefladern geliefert haben, ausgerüstet für den Transport vom 75 Tonnen und mehr. Von einer Tochterfirma sollen sie mit hydraulischen Stelzen ohne Exportgenehmigung für den Transport und Abschuß von (SCUD-)Raketen präpariert worden sein (Spiegel (12/1991)).

Wenig ausgereift dürfte bei den irakischen Raketen noch der gesamte Bereich der Elektronik sein, insbesondere Computer, Radaranlagen und Kommunikationssysteme für Flugbahnberechnung, Flugüberwachung und Flugsteuerung (Telemetrie, Avionik). Derartige Geräte sind häufig auf dem zivilen Markt zu bekommen. Über Ägypten sind hier technologische Komponenten aus dem CONDOR-Programm eingeflossen.

Besonders angewiesen auf westliche Unterstützung war der Irak bei der Bereitstellung von Anlagen für Test und Produktion. Die dafür erforderliche elektrische Ausrüstung (Elektroinstallation, Stark- und Schwachstromanlagen, Transformatoren und sonstige Stromverteilungsanlagen) wurden ebenso von westlichen Firmen geliefert (z.B. Siemens, BBC, Hewlett-Packard) wie Überwachungscomputer und Meßgeräte, was zum großen Teil auf »legalem« Wege erfolgte. Für das Saad-16 Projekt des Irak wurden vom Wirtschaftsministerium der USA noch bis 1987 graphische Displaygeräte, Spektrum-Analysatoren, Netzwerk-Analysatoren, elektronische Zählgeräte, Oszilloskope, Prozßrechner und Mikroschaltkreise genehmigt, allesamt Geräte, die im kommerziellen und wissenschaftlichen Bereich Verwendung finden. Die Begründung, es handle sich um Geräte für die Universität Mosul, wurde als hinreichend für die Genehmigung angesehen.95

Ähnliches gilt für die Lieferung kompletter Testeinrichtungen für Saad-16, die wie folgt beschrieben wurden.96 Auf einem Teststand erprobten Raketentechniker Treibsätze für CONDOR-2 und die modifizierten SCUDs. In Schießkanälen testeten Militärtechniker Panzerabwehrraketen. In zwölf Meter langen Windkanälen wurde die dreifache Schallgeschwindigkeit simuliert. In sogenannten Widerstandsgebäuden mit blow-out Wänden und hohen Erdwällen wurden Raketenköpfe mit explosiver Submunition entwickelt. Mit einem Echtzeit-Flugbahnvermessungssystem konnte der Flug ballistischer Raketen überwacht und gelenkt werden. Auf einem Testgelände fanden die Probeläufe der Raketenstufen und die ersten Abschußversuche statt, auf einem anderen Gelände befindet sich auch eine Spezial-Röntgenanlage, mit der sich die fertigen Raketenstufen auf Haarrisse überprüfen lassen.

Um von der Lieferung ausländischer Raketen unabhängig zu sein, zeigte der Irak besonderes Interesse an der für die Raketenherstellung wesentlichen Produktionstechnik, die äußerlich betrachtet kaum von zivilen Anlagen zu unterscheiden ist. Das Interesse des Irak an Vakuumschmelzanlagen, Fließdrück- und Drückwalzmaschinen, Bandlegemaschinen, Glasfaserwickelmaschinen, ölhydraulischen Ziehpressen, Werkzeugmaschinen, computergesteuerte Drehbänken ist nicht weiter verwunderlich für ein Land, das seine Industrialisierung vorantreiben will. Das besondere Interesse des irakischen »Ministry of Industry and Military Industrialization« galt Anlagen neuester Entwicklung.

Eine Reihe von Produktionstechnologien gelangte über das CONDOR-Projekt in den Irak, z.B. Präzisionswalzmaschinen und Spezialkräne.97 Zentrale Bedeutung hatte die 130 Mio. DM teure Tadschi-Kanonenfabrik, zu der eine Freiformschmiede, eine Stahlkocherei und ein Walzwerk gehörten. Vorgesehen war in der erst 1990 fertiggestellten Anlage die Produktion von jährlich rund 1000 mittleren und schweren Artilleriegeschützen der Kaliber 105 bis 203 mm. Der Klöckner-Konzern hatte 1985 einen Vertrag mit NASSR über den Bau einer Stahlkocherei und -gießerei abgeschlossen, in die vor Ort ausrangierte Panzer und andere Waffenteile für die Kanonenproduktion eingeschmolzen werden sollten.98

Trotz der Dual-use-Problematik hätte bei genauer Betrachtung der Anlage durch die vor Ort arbeitenden ausländischen Facharbeiter die konkrete Spezifikation und der Kontext einen Verdacht hinsichtlich einer militärischen Verwendung auslösen müssen. So kann nicht übersehen werden, wenn bestimmte Edelstahllegierungen verwendet werden, die vor allem für Kanonen (Rohre, Zünder) und Raketenbauteile (Turbinenwelle, Turbopumpe) wichtig sind, oder wenn das Gelände militärisch überwacht wird. Bei der Kanonenfabrik in Tadschi wurde nach der Genehmigung der Verdacht geäußert, die Produktionsleiter hätten von Anfang an gewußt, daß es sich um eine Schmiedeanlage zur Produktion von Kanonen handelte.99

Bereits frühzeitig wurde die Bundesregierung aus den USA auf die verdeckten Rüstungsexporte hingewiesen. Diese verzichtete, unter Hinweis auf einen möglichen zivilen Verwendungszweck, jedoch immer wieder auf einschneidende Maßnahmen. So wurde das Projekt 1728 schlicht als Abwasseranlage deklariert und die Beteiligten wollen von einer militärischen Verwendung nichts geahnt haben. Die zunehmende Kriminalisierung der Rüstungsexporteure nach dem Giftgasskandal im libyschen Rabta sowie verschiedene Attentate auf Teilnehmer an Raketenprojekten führten zu einer gewissen Verunsicherung bei einigen beteiligten Firmen, die um ihren »guten Ruf« fürchteten und sich im Verlauf des Jahres 1990 zurückzogen. Der Beginn der Golfkrise am 2. August 1990 und das daraufolgende UN-Embargo gegen den Irak brachten die Zusammenarbeit zum Erliegen, von einigen Ausnahmen abgesehen.

Möglichkeiten und Probleme der Exportkontrolle

In der Bundesrepublik Deutschland wird der rechtliche Rahmen für die Exportkontrolle durch das Kriegswaffengesetz (KWG) und das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) abgesteckt. In einer Liste legt das KWG in 13 Kategorien fest, was als Kriegswaffe genehmigungspflichtig ist. In der Kategorie »Flugkörper« wird unterschieden zwischen: Lenkflugkörper, ungelenkte Flugkörper (Raketen), sonstige Flugkörper, Abfeuereinrichtungen und Triebwerke.

Nach dem AWG ist der Außenwirtschaftsverkehr mit Kriegswaffen, sonstigen Rüstungsgütern und Technologien, denen eine strategische Bedeutung zugemessen wird, staatlicher Kontrolle unterworfen. Die Genehmigungsbehörde, das Bundesamt für Wirtschaft (BAW) in Eschborn, kann Angaben und Unterlagen über das Bestimmungsland, den voraussichtlichen Verwendungszweck und Endverbleib verlangen. Problematisch ist der geforderte Nachweis, daß eine Ware für militärische Zwecke »besonders konstruiert« sein muß, um der Genehmigungspflicht als Kriegswaffe zu unterliegen. Damit sind Dual-use-Güter, die erst im Ausland für den Raketeneinsatz modifiziert werden (etwa ein LKW zum Raketentransport), nicht erfaßt (Lock (1990)).

Anders als für den Export von Nukleartechnologie sind die Raketentechnologien über die Ausfuhrliste verteilt. So finden sich in der Waffenliste A unter Punkt 4 „Bomben, Torpedos, Raketen, gelenkte und ungelenkte Flugkörper … sowie besonders entwickelte Software hierfür “. Unter Punkt 6 werden militärische Hochenergie-Treibstoffe aufgelistet, einschließlich Additiven, Stabilisatoren und Vorprodukten. Weitere Punkte umfassen militärische elektronische Ausrüstung, Übungsausrüstung, Produktionstechnologien, Software. Unter den sonstigen Technologien strategischer Bedeutung der Liste C finden sich etwa Metallbearbeitungsmaschinen, Windkanäle, Raumfahrzeuge und Weltaumraketen, einschließlich Kompasse, Kreiselgeräte, Beschleunigungsmesser und Trägheitssysteme, sowie eine Vielzahl elektronischer Geräte (z.B. Navigationsgeräte, Kommunikationssysteme, Computer).

Eine umfassende Zusammenstellung der für die Raketentechnik genehmigungspflichtigen Güter wird im Trägertechnologie-Kontrollregime (Missile Technology Control Regime, MTCR) gegeben, das 1987 zwischen USA, Kanada, Großbritannien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und Japan unterzeichnet wurde. Als Vorbild diente das COCOM-Regime, mit dem die NATO-Staaten und Japan den Fluß strategisch sensitiver Güter in den Ostblock blockierten. Die Beschränkungen gelten nur für Raketen, die eine Nutzlast von mindestens 500 kg über eine Reichweite von mindestens 300 km tragen können (eine Modifizierung der Grenze nach unten ist im Gespräch). Damit liegt die SCUD-B gerade im genehmigungspflichtigen Bereich. Erfaßt sind auch Entwicklung, Fertigung, technische Unterstützung und Weitergabe relevanter technischer Daten für solche Raketen. Es wird unterschieden zwischen Gegenständen höchster Sensitivität (Kategorie I) und sonstigen sensitiven Gegenständen (Kategorie II).

Zur Kategorie I gehören vollständige Raketensysteme, einschließlich ballistischer Raketensysteme, im Weltraum gestarteter Flugkörper und Höhenforschungsraketen, sowie unbemannte Luftflugkörpersysteme, einschließlich Cruise Missile Systemen, Zieldrohnen, Aufklärungsdrohnen. Ebenso genannt sind vollständige Untersysteme wie Raketenstufen und -motoren, Lenksysteme, Wiedereintrittsflugkörper und Gefechtskopfteile. Kategorie II betrifft neben Antriebstechnologie und Werkstoffen sowie Unterstützungs- und Testeinrichtungen auch elektronische Komponenten (Avionik, Computer und Software). Zum Teil werden sehr scharfe Grenzen zwischen freiem und genehmigungspflichtigem Export gezogen. So sind unter Punkt 2 des Anhangs Lenksysteme der Kontrolle unterworfen, wenn sie einen Streukreisradius von weniger als 10 km bei einer Reichweite von 300 km haben (damit sind die SCUD-Lenksysteme erfaßt). Gyroskope mit einer Driftrate von weniger als einem halben Grad pro Stunde werden ebenfalls genannt, dem 30,000-fachen der Driftrate bei der MX-Rakete.

Zwar konnte das MTCR den Raketentechnologiefluß in Länder wie Indien, Brasilien oder Argentinien verlangsamen, doch nicht völlig unterbinden, wie das Beispiel Irak klar gemacht hat. Ein Grund liegt weniger im illegalen Rüstungsexport als vielmehr in der Dual-use-Problematik, verbunden mit einer laxen, ja gleichgültigen Genehmigungspraxis. Auch wenn bei rund 15 Millionen Ausfuhrsendungen jährlich eine Kontrolle nicht lückenlos sein kann, ist eine sorgfältigere Prüfung bei personeller wie finanzieller Aufstockung möglich. Neben der verschärften Strafpraxis für Rüstungsgeschäfte deutscher Staatsbürger im Ausland – vor allem in Krisenregionen – ist eine Verstärkung der Kontrolle bei Dual-use-Gütern erforderlich, besonders bei solchen in der zivilen Weltraumfahrt. Ein Ansatzpunkt ist der detaillierte Endverbleibsnachweis bei Lieferanten und Empfängern einer militärisch einsetzbaren Technologie und die Zusammenfassung der relevanten Informationen in einem Datenerfassungssystem (hier wurde Anfang 1991 ein erster Schritt gemacht). Dies zwingt zur Selbstkontrolle der Industrie. In besonderen Fällen könnte, nach dem Vorbild der Chemiewaffen-Konvention, die Möglichkeit zu Vorort-Inspektionen verdächtiger Anlagen durch die Genehmigungsbehörde geschaffen werden. Bei einer verbesserten Veröffentlichungspraxis ist es für die Öffentlichkeit leichter möglich, sich frühzeitig ein Gesamtbild von möglichen Gefahren zu machen.

Für eine Internationalisierung der Exportkontrolle ist die Zahl der Teilnehmer-Staaten im MTCR-Abkommen noch zu gering (einige westliche Staaten sind inzwischen dazu gekommen). Viele der für das Verhältnis ziviler und militärischer Kernenergie gemachten Erfahrungen gelten auch für den Bereich Raumfahrt und Raketentechnik. Wie schon beim Atomwaffensperrvertrag fühlen sich die »Raketen-Habenichtse« durch die raketenbesitzenden Länder diskriminiert. Eine Technologie-Barriere der Industrienationen gegenüber der Dritten Welt schadet beiden Seiten. Militärische Maßnahmen zur Zerschlagung des jeweils vorhandenen Raketenpotentials einzelner Staaten sind ebensowenig eine Lösung wie lokale oder globale Rüstungswettläufe zwischen Raketen und Raketenabwehrsystemen. Einschneidende Abrüstung an der Quelle der Proliferation in den Staaten des Nordens, verbunden mit einem kooperativen Technologietransfer- und Kontrollregime mit den Staaten des Südens scheint der erfolgversprechendste Weg zu sein.

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Anmerkungen

1) Siehe hierzu Shuey (1989), Karp (1989)(1990), Nolan (1990), Neuneck (1990), Navias (1990). Zurück

2) Andere wichtige Staaten wie China, Libyen, Israel oder Pakistan werden hier aus Platzgründen nicht behandelt. Zurück

3) Eine Grundlage des Beitrags sind die hervorragenden Vorarbeiten Birkholz (1983) und Rudert (1985). Zurück

4) Karp (1988) Zurück

5) Rudert (1985) Zurück

6) Rudert (1985), S. 98. Zurück

7) Winter (1983). Zurück

8) Zur »Vorgeschichte« siehe Ordway (1979), Winter (1983), Benecke (1987) Zurück

9) Engelmann (1985), S. 3. Zurück

10) Zur V1 siehe Engelmann (1986), Benecke (1987) Zurück

11) Ordway (1979), S. 47. Zurück

12) Engelmann (1985), S. 38. Zurück

13) Ordway (1979), S. 78. Zurück

14) Ordway (1979), S. 253. Zurück

15) Bower (1987). Zurück

16) Geissler (1978). Zurück

17) Engelmann (1985), S. 29. Zurück

18) Ordway (1979), S. 251-252. Zurück

19) Albrecht (1990) sieht darin, am Beispiel der Flugzeugentwicklung, eine Realisierung nationalsozialistischer Technikideologie. Zurück

20) Greschner (1987), S. 262. Zurück

21) Engelmann (1985), S. 18. Zurück

22) Siehe die Einzelbeiträge in Kaiser (1987) Zurück

23) Bower (1987). Zurück

24) Die Entwicklung deutscher Hochdrucktriebwerke, die trotz anfänglicher Schwierigkeiten im SPACE SHUTTLE und in den ARIANE-Antrieben Verwendung fanden, wird dargestellt in Stöckl (1983). Der Stand der deutschen Rückkehrtechnologie wird geschildert in Wuest (1983). Zurück

25) Die folgende Darstellung basiert auf Geissler (1978)(1979). Zurück

26) Die Personenangaben stammen aus Geissler (1978), Lorscheid (1986). Zurück

27) Geissler (1979). Zurück

28) Gatland (1984). Zurück

29) Zitiert nach Geissler (1979), S. 15 Zurück

30) Geissler (1979). Zurück

31) Eine Übersicht über die verschiedenen Typen findet sich bei Benecke (1987). Zurück

32) von Welck (1987), S. 433. Zurück

33) von Welck (1987), S. 442. Zurück

34) Rudert (1985), S. 97. Zurück

35) Karp (1989), S. 296. Zurück

36) Milhollin (1989). Zurück

37) Shuey (1989), S. 76. Zurück

38) Milhollin (1989). Zurück

39) Milhollin (1989), S. 32. Während ein open-loop System nur die Raketenstellung korrigiert, nicht aber Abweichungen von der geplanten Flugbahn, kann ein closed-loop System zusätzlich die Raketenposition im Raum bestimmen und korrigieren. Zurück

40) Rudert (1985), S. 99. Zurück

41) Milhollin (1987), S. 33. Zurück

42) Milhollin (1989), S. 33. Zurück

43) Welck (1987), S. 447. Zurück

44) Rudert (1985), S. 95. Zurück

45) So die indische Militärzeitschrift Vikrant; nach Rudert (1985), S. 98. Zurück

46) Zitiert nach Milhollin (1989). Zurück

47) Rudert (1985), S. 32. Zurück

48) Rudert (1985), S. 37. Zurück

49) Rudert (1985), S. 42. Zurück

50) Die folgenden Angaben stammen vorwiegend aus Shuey (1989), S. 88-94. Zurück

51) Rudert (1985), S. 45. Zurück

52) Shuey (1989), S. 89. Zurück

53) Rudert (1985), S. 47. Zurück

54) Shuey (1989), S. 88. Zurück

55) Rudert (1985), S. 55. Zurück

56) Rudert (1985), S. 56. Zurück

57) Birkholz (1983). Zurück

58) Siehe Birkholz (1983). Zurück

59) Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, 87. Sitzung, Protokoll vom 3.10.84. Zurück

60) Rudert (1985), S. 43. Zurück

61) Arms Control Reporter (1990). Zurück

62) Rudert (1985), S. 84. Zurück

63) Rudert (1985), S. 84. Zurück

64) Rudert (1985), S. 87, Shuey (1989). Zurück

65) Shuey (1989). Zurück

66) Rudert (1985), S. 85-86. Zurück

67) Spiegel 9/82 zit. nach Rudert (1985), S. 86. Zurück

68) Koppe (1990), S. 303. Zurück

69) Timmerman (1990), S. 24. Zurück

70) Koppe (1990), S. 309. Zurück

71) Zitiert nach Rudert (1985), S. 87. Zurück

72) Koppe (1990), S. 314. Zurück

73) Nolan (1990). Zurück

74) Shuey (1989), S. 87. Zurück

75) Die Darstellung basiert auf Frank (1967). Zurück

76) New York Times vom 5.8.1962. Zurück

77) Nolan (1990), Shuey (1989). Zurück

78) Koppe (1990), S. 315. Zurück

79) Koppe (1990), S. 319. Zurück

80) Koppe (1990), S. 323. Zurück

81) Koppe (1990), S. 331. Zurück

82) Koppe (1990), S. 338. Zurück

83) Leyendecker (1990), S. 87. Zurück

84) Carus (1990), S. 204. Zurück

85) Bonsignore (1990). Zurück

86) Lennox (1991), S. 59. Zurück

87) Stache (1987), S. 139. Zurück

88) Koppe (1990), S. 329-331. Zurück

89) Leyendecker (1990), S. 101, Spiegel (5/91). Zurück

90) Liebert (1990), Albright (1991). Zurück

91) Leyendecker (1990), S. 102-103. Zurück

92) Leyendecker (1990), S. 117. Zurück

93) Timmerman (1990), S. 24. Zurück

94) Timmermann (1990), S. 24. Zurück

95) Timmerman (1990), S. 22. Zurück

96) Koppe (1990), S. 337. Zurück

97) Koppe (1990), S. 334. Zurück

98) Leyendecker (1990), S. 109. Zurück

99) Leyendecker (1990), S. 109. Beispiele verschiedener internationaler Technologieregimes finden sich bei Albrecht (1989). Zurück

Dr. Jürgen Scheffran, Physiker, arbeitet in der interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS) zu Raketenproliferation und Risiken der Rüstungstechnik