Dossier 75

Friedenslogik statt Sicherheitslogik

Theoretische Grundlagen und friedenspolitische Realisierung

von Ulrich Frey, Christiane Lammers, Hanne-Margret Birckenbach, Sabine Jaberg, Christine Schweitzer und Andreas Buro

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.
Dieses Dossier wurde gefördert von Brot für die Welt/Evangelischer Entwicklungsdienst

Einführung

Die »Versicherheitlichung« der internationalen und nationalen Politik wurde in den letzten Jahren zur allgemeinen Handlungsmaxime, woraus konkrete Konzepte für die »vernetzte Sicherheit« entstanden. Dies führte in den letzten Jahren dazu, dass international tätige zivilgesellschaftliche Organisationen sich verstärkt mit der Anschlussfähigkeit an bzw. der Abgrenzung von sicherheitspolitischen Konzeptionen auseinandersetzten. Grundsätzliche Überlegungen zur Unterscheidung von Ziel- und Wertvorstellungen, von Eigendynamiken, Handlungsprinzipien und Methoden zwischen Friedensarbeit/ -politik und Sicherheitspolitik wurden vertieft.

Zu Beginn dieses Reflexionsprozesses standen zunächst die Unvereinbarkeit mit den eigenen ethischen Überzeugungen sowie die praktischen Auswirkungen der Versicherheitlichung auf die Friedens- und Entwicklungsarbeit im Vordergrund. Unter dem Tagungstitel »Friedenslogik statt Sicherheitslogik« wurde 2012 bei der Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung erstmals eine genauere theoretische Fundierung und Gegenüberstellung der beiden »Logiken« vorgenommen und die Praxis der eigenen, sehr unterschiedlichen Arbeitsfelder daraufhin befragt.

Für das nun vorliegende Dossier haben wir zwei damalige Referentinnen gebeten, ihre Grundlagenreferate zur Verfügung zu stellen. Sie haben sie für das Dossier weitergedacht, aktualisiert und dabei auch neue politische Fragestellungen und Diskussionen aufgegriffen: Hanne-Margret Birckenbach erklärt den Begriff der Friedenslogik. Sie unterscheidet dabei zwischen Methode und politischem Programm und stellt Dimensionen und Prinzipien dar. Sabine Jaberg schält die Handlungslogik des Sicherheitsdenkens heraus und weist auf Möglichkeiten hin, die Problematik abzuschwächen.

Um dem Leser/der Leserin zu verdeutlichen, dass »Friedenslogik« nicht reine Theorie ist, sondern – jetzt und nicht erst in ferner Zukunft – in der Politik und vor Ort praktisch umsetzbar ist, haben wir in das Dossier zwei weitere Beiträge aufgenommen: In dem einen skizziert Christiane Lammers die verschiedenen Handlungsräume, d.h. die Möglichkeiten, im Sinne der Friedenslogik in gewaltförmigen Konflikten tätig zu werden. Sie verweist zur Verdeutlichung auf konkrete zivilgesellschaftliche Praxisbeispiele, vorwiegend aus dem Israel/Palästina-Konflikt. Für den zweiten fallbezogenen Beitrag haben Christine Schweitzer und Andreas Buro ihre im Rahmen des Monitoring-Projekts »Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention« erarbeiteten Vorschläge zu einem gewaltfreien, politischen Vorgehen im syrischen Bürgerkrieg weiterentwickelt. Die differenzierte Sicht auf Syrien ist auch deshalb wichtig, da dieser blutige Konflikt angesichts neuer Konfliktherde schon fast in Vergessenheit zu geraten droht. Am Ende dieses Beitrags wird ein Blick auf die Entwicklung in der kurdischen Grenzregion Rojava im Norden Syriens geworfen, die demokratische Perspektiven aufzeigt.

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung möchte mit diesem Dossier zur Konzeptionierung und Politikfähigkeit einer alternativen, aktiven Friedenspolitik beitragen. Das Dossier soll dazu anregen, sich intensiv mit den beiden Denk-Modellen »Frieden« und »Sicherheit« auseinanderzusetzen und die Konsequenzen des einen wie des anderen Modells durchzudenken. Daraus, so hoffen wir, soll Handeln – politisches wie gesellschaftliches – erwachsen, das aktiv Frieden befördert.

Ulrich Frey ist Mitglied des SprecherInnenrats der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Christiane Lammers ist Geschäftsführerin der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Mitglied der Redaktion von W&F.

Friedenslogik und friedenslogische Politik

von Hanne-Margret Birckenbach

Der Begriff Friedenslogik bezeichnet sowohl eine Methode des Denkens, deren Schritte sich aus dem Erkenntnisinteresse an Frieden ergeben, als auch ein konsistentes politisches Programm, das sich an diesem Denken orientiert.

Als Methode hilft Friedenslogik zu erkunden, wie Frieden durch konstruktive Konfliktbearbeitung gefördert werden kann und welche Prinzipien für die Planung und Unterstützung von Friedensprozessen notwendig sind. Einige der Möglichkeiten werden bereits realisiert, andere existieren noch nicht, können aber geschaffen werden.

Als politisches Programm bezeichnet Friedenslogik den Willen, die Friedensfähigkeit staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure auszuweiten und sich dabei auf friedenslogisch erarbeitete Analysen und Prinzipien zu stützen. Friedenslogische Politik erweitert und schafft dafür Voraussetzungen. Sie stellt eine geeignete Infrastruktur bereit und nutzt sie in konkreten Konfliktfeldern der Außen- und Innenpolitik. Sie korrigiert den Einfluss wirtschafts- und bündnispolitischer Interessen, sofern diese nicht mit den friedenslogischen Prinzipien vereinbar sind. Sie entwickelt ein breites Spektrum politischer und diplomatischer Aktivitäten zur Friedensentwicklung und setzt dabei auch auf zivilgesellschaftliche Institutionen und auf BürgerInnen, die sich beispielsweise in Friedens- und Entwicklungsdiensten, in der Friedensbildung oder bei Beteiligungs- und Beratungsverfahren in politischen und sozialen Konfliktfeldern auf kommunaler, nationaler sowie internationaler Ebene engagieren. Friedenslogische Politik wirbt im In- und Ausland für zivile Konfliktbearbeitung und budgetiert die dafür erforderlichen Ressourcen.

Entstehungskontext und Ziele

Friedenslogik steht in pazifistischen Traditionen und wurde durch die kritische Friedens- und Konfliktforschung fundiert. Ziel ist die Entwicklung von Ideen für eine Praxis aktiver Friedensförderung und deren Umsetzung.

Als friedensethische und -politische Orientierung wurde Friedenslogik während des Kalten Krieges begründet. Ausgangspunkt war die von Friedensbewegungen in West und Ost geteilte Ablehnung der »Logik und Praxis der Abschreckung« mit atomaren Massenvernichtungswaffen. Die Ablehnung dieser Abschreckungslogik wiederum ergab sich u.a. aus dem religiös fundierten Leitbild vom »gerechten Frieden«. Dieses Leitbild wurde erstmals von der »Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« 1988/1989 in der DDR gefordert. Sie stützte sich auf den vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Vancouver 1983 ausgerufenen »Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung«, der ökumenisch weltweit weitgehend akzeptiert war (Frey 2012).

Als in den 1990er Jahren internationale Organisationen, wie z.B. die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), sich verstärkt um Konfliktprävention und präventive Diplomatie bemühten, entstand auch in der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung ein neues Interesse an Friedensursachen und den Möglichkeiten ziviler, konstruktiver Konfliktbearbeitung. Die Diskussion wurde vor allem von friedenspolitisch aktiven zivilgesellschaftlichen Kräften konzeptionell und praktisch aufgegriffen und weiterentwickelt. Parallel wurden jedoch gegenläufige politische Entwicklungen vorangetrieben: 1. die »Versicherheitlichung« von Politikfeldern (Brock 2005), 2. die Zurückdrängung des Friedensbegriffs in der deutschen Außenpolitik, 3. die Ausweitung militärischer Interventionspolitik und 4. die staatliche Vereinnahmung entwicklungs-, menschenrechts- und friedenspolitischer Kräfte im Rahmen des Konzepts der umfassenden und vernetzten Sicherheit. Die in Deutschland geführte Debatte »Friedenslogik versus Sicherheitslogik« reagiert auf diese Gegenentwicklungen und entwickelt friedenslogisches Denken und Handeln als Alternative zu sicherheitslogisch dominierten Ansätzen.

Begriffe

Friedenslogische Vorgehensweisen wurzeln in Friedens- und Konflikttheorien sowie in Erfahrungen und Erkenntnissen in den Politikfeldern Abrüstung, Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktbearbeitung. Anders als Sicherheitslogik unterscheidet Friedenslogik zwischen Frieden und Sicherheit.

Grundbegriff Frieden

Frieden ist der erkenntnis- und praxisleitende Grundbegriff. Er wird als soziale, normative wie empirische Kategorie verstanden. Frieden bezeichnet 1. ein visionäres handlungsleitendes Ziel menschlichen Zusammenlebens ohne Verletzung von Grundbedürfnissen. Frieden meint 2. eine Qualität von sozialen Beziehungen. Ihr Merkmal ist andauernde problemlösende Kooperation, auch wenn die Beteiligten unterschiedliche Interessen haben. Frieden meint 3. eine empirische Entwicklung im sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, internationalen und transnationalen Leben. In dieser Entwicklung bilden sich Strukturen, die auch in schweren Konflikten Rückgriffe auf massive direkte Gewalt unwahrscheinlich machen, weil Kooperation sich verdichtet, Fähigkeiten zum konstruktiven Konfliktaustrag institutionalisiert und Grundbedürfnisse zunehmend geachtet und befriedigt werden. Das gemeinsame Interesse friedenslogischer Analyse und Politik gilt der Kernfrage, wie eine Praxis eingeleitet und verstärkt werden kann, die diesem Friedensbegriff entspricht.

Sicherheit als Grundbedürfnis

Sicherheit dagegen ist kein Grundbegriff, sondern ein Wert, der im friedenslogischen Denken eine hohe Bedeutung hat. Denn Sicherheit bezeichnet ein Grundbedürfnis, dessen Verletzung als Gewalt verstanden wird. Friedenslogische Politik will Sicherheit vor Gewalt einschließlich der Freiheit von Not und Furcht (menschliche Sicherheit). Aus friedenslogischer Sicht kann Sicherheit vor Gewalt nachhaltig nicht auf paradoxe Weise durch Androhung oder Anwendung von Gewalt oder durch Machtüberlegenheit, sondern nur über den Aufbau kooperativer und problemlösungsorientierter Beziehungen erreicht werden.

In diesem Sinn folgte bereits das Konzept der »Gemeinsamen Sicherheit« friedenslogischem Denken. Dieses Konzept wurde zwischen 1980 und 1982 in den Vereinten Nationen von der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit erarbeitet (Independent Commission 1982). Die aktuelle Debatte um Friedenslogik greift diesen Pfad auf und erweitert ihn um zivilgesellschaftliche Akteure sowie um entwicklungs- und menschenrechtspolitische Themen und Instrumente, insbesondere um Konzepte und Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung.

Wirkungsannahmen

Friedenslogische Analysen kritisieren die Erwartung, Militär könne erfolgsversprechend als »letztes Mittel« (ultima ratio) eingesetzt werden, wenn alle anderen Mittel versagt haben. Vielmehr wird angenommen, dass die militärische Option in der Praxis zwangsläufig zum »ersten Mittel« wird. Denn die hohen materiellen und ideellen Vorabinvestitionen in Militär und Rüstung werden auf Kosten von Investitionen in zivile Mittel getätigt. Die Folge ist, dass zivile Mittel nicht im ausreichenden Maß geschaffen und daher nicht erfolgreich eingesetzt werden können. Friedenslogische Analysen gehen weiter von folgenden Annahmen aus:

  • Friedensursachen: In Friedensprozessen existieren keine monokausalen und linearen Ursache-Wirkung-Beziehungen. Wirkungsketten entwickeln sich nur in komplexen Konfigurationen. Angesichts ihrer Vielfalt und Individualität kann es keinen Masterplan, wohl aber einen Orientierungsrahmen für friedenslogische Politik geben.
  • Friedensdynamik: Nach dem Modell der regulierenden Rückkopplung (Fischer 2007) entsteht eine Friedensdynamik, wenn die Wirkungschancen friedenshinderlicher Faktoren, wie direkte Gewalt, Ignoranz, Kommunikations- und Kooperationsabbruch, blockiert und die Wirkungschancen friedensförderlicher Faktoren, wie Gewaltverzicht, Anerkennung berechtigter Interessen, Bemühungen um Kommunikation und Kooperation, unterstützt werden.
  • Steuerbarkeit: Konfliktentwicklungen sowie ihre Rahmenbedingungen können sowohl seitens der Beteiligten wie auch seitens externer Akteure nur begrenzt gesteuert werden. Die Steuerbarkeit nimmt mit Zunahme von Gewalt ab.
  • Interdependenz: Friedensprozesse können einseitig initiiert werden, aber sie sind auf Wechselseitigkeit angewiesen. Auch mächtige Akteure stoßen schnell an ihre Grenzen, wenn sie mehr beeinflussen wollen als ihr eigenes Konfliktverhalten. Auch sie können in der Regel Friedensprozesse nur zusammen mit allen anderen Konfliktparteien auf den Weg bringen, nicht gegen sie. Auch unter den Bedingungen von Asymmetrie ist die Mitwirkung aller Konfliktparteien unabdingbar.
  • Politische Kultur: Je stärker friedenslogisches Bewusstsein in der politischen Kultur ausgeprägt ist, umso größer sind die Chancen, dass politische Akteure Gewaltentwicklungen vorbeugen und in der Eskalation dem Druck widerstehen, militärisch zu intervenieren.
  • Zielbindung der Mittel: Je besser die eingesetzten Mittel mit dem Ziel Frieden übereinstimmen, umso eher ist Frieden die Folge. Formulierungen wie „Frieden durch friedliche Mittel“ (Galtung 1998) oder „Si vis pacem, para pacem“ (Eva und Dieter Senghaas 1996) bringen diesen Zusammenhang zum Ausdruck.

Dimensionen und Prinzipien

Fünf Dimensionen und Handlungsprinzipien haben sich für friedenslogisches Denken und Handeln als grundlegend herausgestellt.

Dimension Gewalt und das Prinzip Gewaltprävention

In dieser Dimension geht es um die Definition des Problems. Sicherheitslogisch gesehen wird ein Problem erst dann relevant, wenn es als eine Bedrohung wahrgenommen wird, vor der die eigene politische Ordnung und die ihr angehörenden Menschen zu schützen sind. Im friedenslogischen Denken dagegen wird ein Problem relevant, weil Gewalt droht oder geschieht und Menschen unter ihr leiden, unabhängig davon, wer sie für welchen Zweck und wie massiv ausübt. Die Aufmerksamkeit gilt direkten Gewalttaten und deren Vorbereitung ebenso wie Gewaltstrukturen, Rechtfertigungsmustern sowie den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Gewaltformen.

Friedenslogische Politik will Gewalt in jeder dieser Formen vermeiden. Sie ist sensibel für Eskalationsprozesse und folgt vor, während und nach Konflikten immer dem Prinzip der Gewaltprävention. Sie wird vorausschauend deeskalierend tätig und wartet nicht ab, bis die Verletzung von Menschenrechten zu gewaltsamen Aufständen und deren Niederschlagung führen oder sogar die extremen Ausmaße von Völkermord und Krieg annehmen. Auch solange sich Konflikte unterhalb der Gewaltschwelle befinden, vermeidet friedenslogische Politik alles, was den relativen Frieden gefährden könnte, sei es ein Abbruch von Kommunikation oder die Vergrößerung des militärischen Potentials, etwa durch Rüstungsexporte. Sie setzt sich selbst unter Erfolgsdruck und investiert daher ausreichend in die zur Gewaltprävention erforderlichen Mittel. Damit beugt sie auch einer Entwicklung vor, an deren Ende politische Entscheidungsträger wider Willen in eine Militärintervention gedrängt werden. Indem friedenslogische Politik rechtzeitig einen Weg einschlägt, der Gründe für Militärinterventionen gar nicht erst entstehen lässt und der Ressourcen bindet, stehen diese für Militärinterventionen immer weniger zur Verfügung. Diese Option scheidet daher langfristig aus.

Dimension Konflikt und das Prinzip Konflikttransformation

In dieser Dimension geht es um die Entstehung des Problems und seine Ursachen. In sicherheitspolitischer Perspektive entsteht eine Bedrohung außen und auf der anderen Seite. Aus friedenslogischer Sicht dagegen entsteht Gewalt nicht außerhalb, sondern zwischen Konfliktparteien, die ihre Interessen ungehindert auch gegeneinander durchsetzen wollen und bereit sind, dabei auch die Interessen Unbeteiligter zu missachten. Die Chance, Frieden zu stiften, wird in der Veränderbarkeit dieser Beziehungsmuster gesehen, in denen Menschen zu Tätern, Mittätern, Leidtragenden und Opfern von Gewalt werden. In der Regel handelt es sich um komplexe Konstellationen, in denen sich mehrere Konflikte, an denen unterschiedliche Akteure beteiligt sind, überlagern. Friedenslogische Analysen thematisieren daher die diversen Konfliktlinien, warnen vor den Mechanismen einer Eskalationsdynamik und klären Bedingungen, unter denen eine konstruktive Wende eingeleitet werden kann.

Friedenslogische Politik nutzt solche Konfliktanalysen und orientiert sich am Prinzip Konflikttransformation. Sie erkennt Konflikte frühzeitig auch wenn es noch nicht zu direkten Gewalthandlungen gekommen ist, und bemüht sich darum, unvereinbare Einstellungen, Verhaltensweisen, Interessen und Diskurse der Beteiligten konstruktiv in einer Weise zu verändern, dass diese sich für einander und damit auch für Problemlösungen öffnen können. Sie beachtet, dass es sich in jedem Fall um einen komplexen Prozess handelt, der auf allen Seiten Veränderungen erforderlich macht. Sie beginnt bei sich selbst in dem Wissen, dass es für jeden Akteur aussichtsreicher ist, sein eigenes Konfliktverhalten mit Wirkung auf alle anderen Akteure zu verändern, als umgekehrt. Sie dämpft die Angst vor solchen Schritten und stärkt das Vertrauen in ihre Wirksamkeit.

Dimension Problembearbeitung und das Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung

In dieser Dimension geht es um die Ziele und Mittel der Problembearbeitung. In sicherheitslogischer Perspektive soll die vermeintliche Bedrohung der eigenen Interessen beseitigt oder kontrolliert werden. Dies geschieht durch Mittel, die die Distanz zwischen den Konfliktparteien vergrößern, nämlich durch interne Formierung in Bündnissen einerseits und den Einsatz von Mitteln zur Abwehr, Abschreckung oder militärischen Bekämpfung der Gefahr andererseits. In friedenslogischer Perspektive geht es dagegen darum, Verbindungen zu knüpfen, Annäherungen einzuleiten und die Dialogfähigkeit zwischen den Konfliktparteien zu organisieren. Je länger und gewalthaltiger ein Konflikt ist, umso komplexer und langwieriger verlaufen Prozesse der Konflikttransformation, desto differenzierter müssen auch die eingesetzten Mittel sein.

Für friedenslogische Politik folgt daraus das Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung. Sie nutzt die Mittel der konstruktiven Konfliktbearbeitung in ihrer Breite und mit langem Atem, ist Legislaturperioden übergreifend und krisenfest angelegt. Sie überprüft die Dialog- und Prozessverträglichkeit der eingesetzten Mittel. Zwang, Drohungen, Sanktionen, Beschämung und Kränkung beschränken Kommunikation, vergrößern Distanz, fördern autistische Entscheidungen und zerstören Voraussetzungen für Dialog. Konsultationen, Konferenzen, Verhandlungen, Zusammenarbeit in einzelnen Projekten erhöhen dagegen die Interaktionsdichte, fördern Interdependenz und wecken Interesse an einer Fortsetzung. In Fällen, in denen zwischen den Konfliktparteien ein direkter partnerschaftlicher Dialog auf Augenhöhe (noch) nicht möglich ist, sucht friedenslogische Politik dialoghemmende Faktoren wie Asymmetrien auszugleichen, nutzt die Vermittlungsdienste externer Akteure oder stellt diese bereit.

Projektzusammenarbeit ist allerdings nur dann dialog- und prozessförderlich, wenn einzelne Vorhaben nicht als Belohnung für Wohlverhalten, sondern um ihrer selbst willen durchgeführt werden. Friedenslogische Politik bricht daher humanitäre und entwicklungspolitische Projekte zur Grundversorgung der Bevölkerung, zur verbesserten Kommunikation, zur Friedensbildung und zur Partizipationserweiterung sowie die Zusammenarbeit mit Mediatoren niemals ab, um eine Regierung für Fehlverhalten zu strafen. Friedenslogische Politik konzipiert solche Projekte vielmehr als Grundlage für langfristige Veränderungen in den Konfliktbeziehungen und bleibt auch in Krisenzeiten hartnäckig engagiert. Einseitig verhängte Konditionen wie die Kopplung humanitärer oder entwicklungspolitisch sinnvoller Hilfe an die Umsetzung ordnungspolitisch weitreichender Forderungen widersprechen dem Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung.

Das Prinzip ist umso wirksamer, je zahlreicher die Dialogfäden werden. Denn Dialoge benötigen viel Zeit, bevor sie zustande kommen und bevor sich Ergebnisse abzeichnen. Daher fördert friedenslogische Politik die Partizipation von vielfältigen Akteuren, die auf zivilgesellschaftlichen Ebenen Aufklärungsarbeit leisten, das Entstehen von Interesse am Dialog beschleunigen, politischen Transformationsschritten gesellschaftlichen Rückhalt geben, in der Breite wirken sowie Spezialprobleme im Detail klären können. Auch öffnet sie ihre Türen für Friedensjournalismus, setzt ebenfalls auf die Mitwirkung von wirtschaftlichen Unternehmen sowie von zivilgesellschaftlichen Netzwerken, zollt auch machtpolitisch schwachen Friedenskräften und lokalen Initiativen Respekt, sucht sie auf, lässt sich von ihnen beraten, bringt sie ins Gespräch, unterstützt sie materiell wie ideell und öffnet Zugänge im Rahmen von flachen Hierarchien und horizontalen Strukturen.

Angesichts der Überlappung von Konfliktlinien sucht friedenslogische Politik Gelegenheiten für einen verstärkten Austausch von und mit möglichst vielen politischen und gesellschaftlichen Kräften. Sie organisiert diesen Austausch mehrgleisig, Ebenen und Lager übergreifend. Sie stiftet horizontale und vertikale Verbindungen zwischen den einzelnen Dialogfäden und fördert Friedensallianzen. Friedenslogische Politik respektiert die Vielfalt der Akteure und ihre Eigenarten, schafft Verbindungen zwischen Ressorts und Ebenen, beteiligt Regierungen, Parlamente, den diplomatischen Apparat und internationale Organisationen, insbesondere die Vereinten Nationen (VN).

Dimension Legitimität und das Prinzip der Einhaltung universaler Normen

In dieser Dimension geht es um die Quellen, mit denen die Legitimität von Interessen und Mitteln der Problembearbeitung beurteilt werden. In sicherheitslogischer Perspektive ist das Interesse an der eigenen Sicherheit gegenüber allen anderen Interessen vorrangig. Daher gelten Mittel als legitim, solange sie dem Schutz der Eigeninteressen dienen.

Friedenslogische Denkmuster dagegen prüfen die Legitimität von Interessen, des Konfliktverhaltens und der Mittel der Problembearbeitung auf der Grundlage universaler Normen. Auch wenn die Bewertung einzelner Fragen häufig strittig und die Normenbildung niemals abgeschlossen ist, so existieren doch geeignete und anwendbare Maßstäbe einer globalen Ethik, um das Handeln von direkt Konfliktbeteiligten wie auch von intervenierenden Akteuren zu beurteilen. Zu solchen Maßstäben gehören

  • rechtlich gefasste Normen, die sich aus dem Völkerrecht, aus dem System der Menschenrechte sowie aus internationalen Verträgen ergeben,
  • globale Vereinbarungen wie Entwicklungsziele (Millennium Development Goals) oder die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen,
  • ethische Grundregeln, die – mit Nuancen – allgemein gelten können.

Ein solcher Katalog ethischer Grundregeln wurde 1993 in der »Erklärung zum Weltethos« der Weltreligionen zusammengetragen. Er beinhaltet eine Kultur der Gewaltlosigkeit, Toleranz, Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit sowie die Regel der Gegenseitigkeit: „Verhalte dich anderen gegenüber so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.“ (Küng 2012) Ein weiterer Normenkatalog wurde 1997 mit der »Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten« formuliert und von einem breiten Spektrum hochrangiger Politiker von allen Kontinenten als Ergänzung zum Menschenrechtsdiskurs in die Vereinten Nationen eingebracht (Goodhill 2011). Für die deutsche Diskussion bildet vor allem die grundgesetzliche Verankerung der Menschenwürde den zentralen Anknüpfungspunkt zur Beurteilung von Legitimität (Heinemann-Grüder und Bauer 2013).

Friedenslogische Politik folgt dem Prinzip der Einhaltung universaler Normen und prüft an ihnen die Legitimität der eigenen Interessen und Handlungsweisen sowie die zur Problembearbeitung eingesetzten ideologischen, militärischen, ökonomischen und politischen Machtquellen. Sie sorgt für Transparenz hinsichtlich der Einhaltung des Prinzips und macht damit auch ihr eigenes Handeln vorausschaubar, nachvollziehbar und vertrauenswürdig. Wo universale Normen mit regionalen, lokalen Werten oder mit Bündniserwartungen konkurrieren, sucht friedenslogische Politik nach Wegen, Vereinbarkeit zu erreichen. Dies kann durch Anpassung an die universalen Normen wie durch Mitarbeit an deren Weiterentwicklung geschehen. Initiativen zum Fairen Handel, zur Verpflichtung von Wirtschaftsunternehmen auf die Standards des Globalpaktes (Menschenrechte, Umwelt, Korruption) und eine humanisierende Asyl- und Migrationspolitik haben sowohl Anpassung als auch Weiterentwicklung im Auge. Doppelstandards gefährden einen auf Interessenausgleich und Kooperation bedachten Friedensprozess.

Dimension Fehleinschätzungen und das Prinzip Reflexivität

In dieser Dimension geht es um die Irrtumsmöglichkeit und Fehlerhaftigkeit menschlichen Handelns und um die Reaktion, wenn die angestrebten Ziele der Problembewältigung nicht erreicht werden. Sicherheitslogische Denkmuster verschließen den Blick für selbstverschuldetes Scheitern. Sein Eingeständnis gilt als Schwäche, die durch Kontinuität, Verstärkung und Erweiterung der eingesetzten Mittel als ausgleichbar erscheint. Friedenslogische Denkmuster öffnen dagegen den Blick für die Grenzen, Bedingtheit und Vorläufigkeit des Handelns, für Fehleinschätzungen, für die Diskrepanzen zwischen intendierten und unerwünschten Ergebnissen, für Alternativen und für die Möglichkeiten, Schäden zu beheben, Verletzungen zu heilen und Neuanfänge zu wagen. Das Eingeständnis von Fehlern gilt ihr nicht als Schwäche, sondern als eine Fähigkeit, die zu verbesserten Resultaten führen kann.

Friedenslogische Politik übernimmt Verantwortung für den Prozess der Konflikttransformation. Sie plant die Möglichkeit ein, dass ihre Bemühungen fehlschlagen oder zusammenbrechen, und vermeidet irreversible Prozesse. Sie folgt dem Prinzip der Reflexivität und ist darauf angelegt, zu lernen, Entscheidungen zu revidieren, angerichteten Schaden und Verletzungen zu heilen und neue Wege zu gehen. Sie organisiert sich Kritik und hört sie. Supervisionen, Beobachtungen, Bewertungen sind Bestandteil der Arbeit an Konflikttransformation. Das in der entwicklungspolitischen Diskussion erprobte »Do-No-Harm«-Konzept ist für eine friedenslogische Politik richtungsweisend (Anderson:2004). Friedenslogische Politik ist überdies fehlerfreundlich nach außen, also sensibel für selbstkritische Signale aller Konfliktparteien und ermöglicht Umkehr.

Offene Fragen

Realitätstüchtigkeit

Friedenslogische Denkmuster und Politikentwürfe stehen unter dem Verdacht, unrealistisch, machtblind und nicht praktikabel zu sein. Einige Befunde sprechen gegen solche Einwände:

  • Friedenslogisch geprägte Praxisfelder haben sich teilweise mit politischer Unterstützung von Regierungen und Parlamenten entwickeln können. Sie haben sich in Kreisen der Zivilgesellschaft verbreitet und bieten heute vielen BürgerInnen Orientierung für ein qualifiziertes soziales und politisches Engagement im In- und Ausland. Ein Beispiel für professionalisiertes Engagement sind die Projekte des Zivilen Friedensdienstes.
  • Insbesondere im Rahmen internationaler Organisationen werden friedenslogische Prinzipien vielfach praktiziert. Auch in einigen außenpolitischen Aktionsfeldern – zum Beispiel in der Entwicklungszusammenarbeit und auswärtigen Kulturpolitik – sind friedenslogische Akzente in Abgrenzung von traditionellen sicherheits- und militärpolitischen Denk- und Handlungsmustern erkennbar.
  • Friedenslogische Prinzipien können politisches Handeln bestimmen, auch ohne dass sich Regierungen explizit dazu bekennen. So wurde das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit niemals als Regierungskonzept beschlossen. Gleichwohl haben die Regierenden in Ost und West am Ende des Kalten Krieges dieses Konzept und seine Prinzipien stillschweigend angewendet. Sie haben damit zum friedlichen Ende des Ost-West-Konfliktes und zur unerwartet gewaltarmen Auflösung der Sowjetunion und ihres Bündnissystems beigetragen. Voraussetzung war die breite und aktive Unterstützung des Konzepts in der Gesellschaft.

Allein die Höhe der Militär- und Rüstungsausgaben belegt jedoch, dass Friedenslogik den Primat sicherheitslogischen Denkens in der Politik bislang nicht hat ablösen können. Damit ist die Frage aufgeworfen: Unter welchen Bedingungen und wie können Regierungen motiviert werden, verstärkt friedenslogischen Denk- und Handlungsmustern zu folgen und darauf zu achten, dass sie die Entwicklung friedenslogisch inspirierter Politikpfade nicht durch Rückgriffe auf sicherheitslogische Traditionen gefährden? Diskutiert werden vor allem drei Ansätze:

  • Ausweitung, Qualifizierung und Politisierung der vielfältigen zivilgesellschaftlichen Praxis ziviler Konfliktbearbeitung; ähnlich wie im Fall der Energiewende soll so demonstriert werden, welche Alternativen es gibt und wie sie geschaffen werden können,
  • Überzeugungsarbeit in der Zivilgesellschaft und Aufbau von Gegenmacht, die den Regierenden einen Umstieg von Sicherheitslogik auf Friedenslogik abverlangt,
  • Erhöhung der Wirkungssicherheit durch verbesserte Nachweise der Ergebnisse, die durch Maßnahmen ziviler Konfliktbearbeitung erreicht werden.

Übergänge

Die Veränderung von Politik entsprechend friedenslogischer Prinzipien ist ein Prozess, der Legislaturperioden überschreitend gestaltet werden muss. Offene Gestaltungsfragen betreffen zum Beispiel

  • Koexistenz von Sicherheitslogik und Friedenslogik: Welche Brücken existieren aktuell zwischen dem sicherheitslogischen Konzept der »vernetzten Sicherheit« und einem Konzept des »vernetzten Friedens« und wie können sie genutzt werden? Wie kann in einer von Sicherheitslogik dominierten politischen Kultur dennoch eine Praxis friedenslogischer Politik ausgeweitet werden?
  • Konflikte zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren: Wie können staatliche und nichtstaatliche Akteure in der zivilen Konfliktbearbeitung kooperieren, ohne dass Letztere in einen Widerspruch zu friedenslogischen Zielen geraten, weil ihre Arbeit in das Konzept der vernetzten Sicherheit eingebettet ist und dort instrumentalisiert wird? Welche Verfahren zur Konfliktregelung können zwischen diesen machtungleichen Akteursgruppen institutionalisiert werden?
  • Zukunft von Militäreinsätzen: Kann Militär in der Gewaltprävention eine Rolle spielen? Wie ist Militär aus-, ab- und umzurüsten, wenn es wenig strittige Polizei- und Pufferfunktionen im Rahmen der Vereinten Nationen wahrnehmen soll?

Verantwortung in eskalierten Konflikten

Auf absehbare Zukunft wird es immer wieder Konflikte geben, die bis zum Krieg und Völkermord eskalieren – sei es, weil Gewaltprävention nicht versucht wurde, sei es, weil sie nicht erfolgreich war. Regierungen werden weiterhin unter Druck geraten, ihre Aktionsmacht gerade auch gegenüber der eigenen Öffentlichkeit zu beweisen, Sanktionen zu verhängen und militärisch zu intervenieren. Dieser Druck baut sich immer wieder auf, obwohl die Einwände bekannt sind. Sie reichen von der Einsicht, dass mit einer Schädigung des Aggressors dessen Bereitschaft zur Umkehr sinkt, seine gesellschaftliche Unterstützung wächst und die Lage der Bevölkerung sich verschlimmert, bis hin zu der Erfahrung, dass in der Regel eine Militärintervention unter Beachtung der Eigeninteressen von Interventionsmächten trotz der verschwenderischen Bevorratung militärischer Mittel gar nicht möglich ist, und wenn doch, nicht in der Lage ist, Krieg und Völkermord zu beenden, geschweige denn Frieden zu bewirken.

Friedenslogische Politik muss daher auch für den Fall von Konflikten, die sich mörderisch zuspitzen, Vorkehrungen treffen. Diese sollen die eigene Politik vor konfliktverschärfenden Fehlentscheidungen bewahren und es ermöglichen, friedenslogische Prinzipien als Teil einer universalen Friedensverantwortung auch gegen hohen, innengeleiteten medialen Druck überzeugend zu vertreten. Bedenken gegen Militärinterventionen und Warnungen vor deren wahrscheinlichen negativen Folgen müssen erkennbar von frühzeitig und kontinuierlich praktizierten friedensstiftenden Aktionen begleitet werden. Zu ihnen gehört immer die Ausweitung diplomatischer Bemühungen um Deeskalation und die Einhaltung von humanitären Mindeststandards. Zu ihnen gehören ferner immer Aktionen, die Menschen tatsächlich aus Not befreien, sei es durch Finanzierung der Arbeit des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in den Lagern, sei es durch die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen in den Mitgliedsstaaten der EU. Mehr Transparenz und Offenheit für journalistische Begleitung solcher Aktionen, rhetorische und mediale Deeskalationsbemühungen, großzügige humanitäre Aktionen unter breiter öffentlicher Beteiligung und Konsultationen mit nichtstaatlichen Akteuren ziviler Konfliktbearbeitung sind Möglichkeiten, auch in eskalierten Konflikten friedenslogische Alternativen öffentlich sichtbar zu machen.

Literatur

Mary B. Anderson (2004): Experiences with Impact Assessment: Can we know what Good we do? In: Alex Austin et. al. (eds.): Transforming Ethnopolitical Conflict. The Berghof Handbook for Conflict Transformation. Berlin: Berghof Research Center for Constructive Conflict Management (heute: Berghof Foundation), S.193-206.

Hanne-M. Birckenbach (2012): Friedenslogik statt Sicherheitslogik. Gegenentwürfe aus der Zivilgesellschaft. Wissenschaft und Frieden 2-2012, S.42-47.

Lothar Brock (2005): Neue Sicherheitsdiskurse. Vom »erweiterten Sicherheitsbegriff« zur globalen Konfliktintervention. Wissenschaft und Frieden 4-2005, S.18-21.

Dietrich Fischer (2007): Peace as a self-regulating process. In: Charles Webel and Johan Galtung (eds.): Handbook of peace and conflict studies. Abingdon/UK: Routledge, S.187-205.

Ulrich Frey (2012): Zur Elementarisierung einer Friedenslogik statt Sicherheitslogik: Gerechter Friede und menschliche Sicherheit. In: Gerechter Friede – eine unerledigte Aufgabe. Zur Kritik der evangelischen Friedensethik. epd-Dokumentation 26 vom 26.06.2012.

Independent Commission on Disarmament and Security Issues (1982): Common Security. A Blueprint for Survival. New York.

Johan Galtung (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Frieden und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske + Budrich.

Jane Goodhill (Hrsg.) (2011): Menschenpflichten. Eine (Liebes-) Erklärung in 19 Artikeln. Frankfurt am Main: Edition Büchergilde.

Andreas Heinemann-Grüder und Isabella Bauer (Hrsg.) (2013): Zivile Konfliktbearbeitung. Vom Anspruch zur Wirklichkeit. Opladen: Budrich.

Sabine Jaberg (2012): Sicherheitspolitik zwischen immanenten Tücken und Gestaltungsspielräumen – einige kategoriale Reflexionen. Sicherheit und Frieden 2-2012, S.87-93.

Hans Küng (2012): Handbuch Weltethos. Eine Vision und ihre Umsetzung. München: Piper.

Misereor (Hrsg.) (2014): Bericht 2014 – Globales Wirtschaften und Menschenrechte. Deutschland auf dem Prüfstand. Aachen: MISEREOR.

Plattform Zivile Konfliktbearbeitung e. V. (2013): Friedenspolitische Forderungen zur Bundestagswahl 2013. Friedenslogik statt Sicherheitslogik soll Deutschlands Politik bestimmen. Mai 2013; konfliktbearbeitung.net.

Eva und Dieter Senghaas (1996): Si vis pacem, para pacem. Überlegungen zu einem zeitgemäßen Friedenskonzept. In: Berthold Meyer (Red.): Eine Welt oder Chaos? Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.245-275.

Prof. Dr. Hanne-Margret Birckenbach ist Friedensforscherin und war bis 2012 Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen. Die Autorin dankt insbesondere Ulrich Frey, Christiane Lammers und Sina Schüssler für ihre hilfreichen und anregenden Kommentare zu einer ersten Fassung des Manuskripts.

Sicherheitslogik

Eine historisch-genetische Analyse und mögliche Konsequenzen

von Sabine Jaberg

Gibt es eine Sicherheitslogik? Wer diese Frage mit »Ja« beantwortet, unterstellt, dass die Verwendung des Sicherheitsbegriffs einen gewissen Denkstil präjudiziert, der auch die ihm folgende Praxis prägt. Demnach handelt es sich beim Versuch, diese Logik aufzuspüren, nicht um akademisches Glasperlenspiel. Zentrale Bedeutung kommt Thomas Hobbes’ Schrift »Leviathan«1 von 1651 zu. Dies gilt zumindest dann, wenn zwei Prämissen geteilt werden: Erstens habe das Werk in historisch-genetischer Perspektive das Sicherheitsdenken freigesetzt. Daraus ergebe sich zweitens die Möglichkeit, dessen Logik mit Hilfe hermeneutischer Verfahren herauszufiltern. Im Folgenden soll es zuerst darum gehen, die Tücken der Sicherheitslogik aufzuzeigen, um danach Möglichkeiten der Sicherheitspolitik auszuloten, diese zumindest abzumildern.

Tücken der Sicherheitslogik

Die Sicherheitslogik weist mehrere tückische Charakteristika auf: Sie ist selbstbezüglich, kennt keine immanenten Grenzen und neigt zur Dramatisierung der Lage ebenso wie zur Eskalation im Handeln (siehe auch Tabelle 1).

Tabelle 1: Tücken der Sicherheitslogik und ihre Auswege

Tücken Auswege? Erfolg/Effekte?
Selbstbezüglichkeit(eigene Interessen als Monokategorie, prinzipieller Feindverdacht gegenüber anderen Akteuren, blinde Flecken: Struktur, eigener Anteil am Problem) Blickfeldveränderung 1: selbstreflexive Wende innerhalb realistischer Sicherheitspolitik (z.B. internationale Sicherheit, Berücksichtigung struktureller Ursachen und des eigenen Problemanteils) Symptommilderung
Blickfeldveränderung 2: Neuerfindung eines inklusiven Sicherheitsbegriffs, Theoriensprung zum Idealismus (z.B. »human security«) Ergänzung zum eigenbezüglichen Sicherheitsbegriff
Grenzenlosigkeit Errichtung äußerer Schranken (insbesondere Recht, aber auch Diskurs, soziale Bewegungen, andere Mächte) abhängig von der Unterwerfungsbereitschaft der Politik und der Stärke der Gegen­kräfte
a) Mittel Konditionierung der Sicherheitspolitik jenseits von Selbstverteidigung auf nicht-militärische Mittel Unterminierung möglich durch weiten, vernetzten Sicherheits­begriff und Umdeutungen von Angriffs- in Verteidigungskriege
b) Zeitrahmen Option 1: Befristung des Selbstverteidigungsrechts äußerstenfalls auf unmittelbar bevorstehende militärische Angriffe (Präemption) Unterminierung möglich durch Umdeutungen von präventiver bzw. antizipatorischer Selbstverteidigung in Präemption
Option 2: Befristung des Selbstverteidigungsrechts auf gegenwärtige Angriffe eher normative Klarheit als substantielle Lösung
c) Sektor, geographische Reichweite Beschränkung des Sicherheitsbegriffs auf existentielle Bedrohungen durch personale Großgewalt Begrenzung zunächst »nur« des Sicherheitsdiskurses
d) Subjektivierung / Totalisierung Begründungszwang / Mitwirkung aller Gewalten Versachlichung / Pluralisierung der Sicherheitspolitik
Dramatisierung der Lage / Eskalation im Handeln (»securitization«) sparsame Verwendung des Sicherheitsbegriffs / Fokussierung des Sicherheitsdiskurses auf personale Großgewalt Begrenzung des Dramatisierungspotentials und der Eskalations­anlässe

Selbstbezüglichkeit

Hobbes selbst verzichtet zwar auf eine explizite Definition des Sicherheitsbegriffs, den er jedoch implizit im Sinne einer Schutzverpflichtung des Staats gegenüber seinen Bürgern begreift. Unter Staat versteht Hobbes jene „allgemeine Macht […] unter deren Schutz gegen auswärtige und innere Feinde die Menschen bei dem ruhigen Genuß der Früchte ihres Fleißes und der Erde ihren Unterhalt finden können“.2 Die erfolgreiche Ausübung dieser Schutzfunktion stellt nach Hobbes die notwendige Voraussetzung dar, unter der dem Individuum ein den Naturzustand überwindender Gesellschaftsvertrag überhaupt zugemutet werden kann. Denn mit ihm tritt es „[s]ein Recht, [s]ich selbst zu beherrschen“,3 an eine übergeordnete Instanz ab. Da sich die Existenz eines Staats einzig aus der Schutzfunktion rechtfertigt, wird die Sicherheitsgewährleistung für die eigene Bevölkerung zum entscheidenden Maßstab des Handelns. Dem Staat geht es als Schutzpatron seiner Bevölkerung letzten Endes um seine Sicherheit, seine Macht, seine Interessen. Sie hat er nach Hobbes gegen »innere und äußere Feinde« zu verteidigen. Demnach korrespondiert die Selbstbezüglichkeit mit einer Fokussierung auf den Akteur, die den jeweils anderen zuerst unter Feindverdacht nimmt. Damit generiert die Sicherheitslogik zwei blinde Flecken: Zum einen gerät der eigene Beitrag zur Entstehung dessen, was als Bedrohung wahrgenommen wird, aus dem Sichtfeld. Zum anderen gilt der Feind nicht nur als Symptom, sondern er erscheint auch als Urheber der Gefahr. Dieser personalisierte Blick vermag tiefer liegende strukturelle Ursachen kaum zu erfassen.

Entgrenzungen

Sicherheitslogik kennt aus sich selbst heraus keine Grenzen.4 Im Gegenteil bemüht sie sich darum, Hindernisse, die ihrer Entfaltung im Wege stehen, zu beseitigen:

  • Die erste Entgrenzung bezieht sich auf die für prinzipiell zulässig erachteten Mittel. Bei Hobbes liest sich dies folgendermaßen: „[W]em die Erhaltung […] der allgemeinen Sicherheit obliegt, dem muß auch der freie Gebrauch aller dazu dienlichen Mittel zugestanden werden.“5 Dazu zählt nicht zuletzt die Entscheidung über Krieg und Frieden: „[D]ie höchste Gewalt [muß] Krieg gegen andere Staaten nach Gutdünken beschließen oder mit ihnen Frieden machen, das heißt beurteilen können, ob ein Krieg ihrem Staate vorteilhaft oder nachteilig sein werde […].“ 6 Die einzigen beschränkenden Instanzen sind demnach funktionale Angemessenheit und einzelfallbezogene Kosten-Nutzen-Kalküle.
  • Die zweite Entgrenzung befreit Sicherheit aus jedem Zeitrahmen. Denn dem Staat gebührt – so Hobbes – „das Recht, sowohl in der Gefahr selbst wie zu ihrer Abwendung schon vorher das Nötige zu veranstalten, damit die Bürger im Innern und von außen her in Sicherheit leben […]“.7 Folglich adressiert die Sicherheitslogik nicht nur reaktiv akute Gefahren, sondern greift bereits »präventiv« auf potentielle Bedrohungen aus.
  • Die dritte Entgrenzung erlaubt es der Sicherheitslogik, sich in jeden inhaltlichen Sektor und in jeden geographischen Raum vorzuschieben. Denn für Hobbes ist „mit der höchsten Gewalt auch das Recht verbunden zu entscheiden, was zur Erhaltung oder zur Störung des Friedens dienen kann“.8 So autorisiert er den Staat zur „Beurteilung aller Meinungen und Lehren, weil diese nicht selten Grund […] von Bürgerkrieg sind“.9 Allerdings dient dieses innenpolitische Beispiel lediglich der Illustration. Hobbes hat es ganz unter dem Eindruck blutiger Auseinandersetzungen zwischen Krone und Parlament (1642-1648) in England gewählt. Unter anderen Zeitumständen hätten andere Bedrohungen im Mittelpunkt gestanden. Dabei bedeuten geographische Entfernungen keine prinzipiellen Schranken. Entscheidend ist allein die Einschätzung der höchsten Gewalt, was den Frieden – im Sinne staatlicher Schutzverpflichtung – gefährden und was ihn fördern kann.
  • Die uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit leitet argumentativ zur vierten Entgrenzung über. Hobbes gibt keine überprüfbaren Kriterien vor, die eine Bedrohung erfüllen muss, um mit gutem Grund als Sicherheitsgefährdung zu gelten. Er bestimmt lediglich die Instanz, der das Entscheidungsmonopol obliegt: den „Oberherren“.10 An seiner Person hänge die Einigkeit des Staats und von dieser die Stärke der Kriegsheere ab. Damit leistet die Sicherheitslogik einer radikalen Subjektivierung Vorschub. Sicherheit ist demnach das, was der »Oberherr« als Sicherheit einstuft und behandelt. Sie begünstigt darüber hinaus eine Totalisierung. Denn jede Gewaltenteilung trüge nach Hobbes zur Schwächung der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Staats und damit zur Erosion seiner Schutzfunktion bei.

Dramatisierung und Eskalation

Hobbes’ Sicherheitsbegriff besitzt sowohl einen Lage- als auch einen Handlungsbezug. Deren Zusammenspiel nennt die so genannte Kopenhagener Schule in ihrem »securitization«-Ansatz „security form“ 11 oder auch „grammar of security“.12

  • Sicherheit beschreibt eine Lage, in der der Schutz der eigenen Bevölkerung gegen auswärtige und innere Feinde gewährleistet ist. Als Folge können die Menschen – um Hobbes’ Redewendung aufzugreifen – die Früchte ihres Fleißes in Ruhe genießen. Demnach wäre im Stadium der Unsicherheit die Bevölkerung inneren oder äußeren Feinden schutzlos ausgeliefert und könnte ihrem Alltag nicht ungestört nachgehen. Sicherheit gewährleistet das physische Überleben, Unsicherheit gefährdet es. Insofern enthält jede Sicherheitsbedrohung eine existentielle Dimension.
  • Der Sicherheitsauftrag legitimiert den Staat nach Hobbes dazu, sich zu jeder Zeit all jener Instrumente zu bedienen, die er für erforderlich erachtet – militärische Gewalt eingeschlossen. Der Verweis auf die Sicherheitsdimension leistet damit einer Eskalation im Handeln Vorschub. Er gestattet den Rekurs auf das äußerste Mittel, den Krieg. Ohnehin erhebt Hobbes das „Recht über die Kriegsheere […] an und für sich“ zur „höchste[n] Gewalt“, weil seines Erachtens „darin die ganze Stärke des Staates besteht“.13 Gemäß Sicherheitslogik stellen Hochrüstung und Kriege »normale« Handlungsformen dar.

Auswege der Sicherheitspolitik

Wie kann Sicherheitspolitik die Tücken der Sicherheitslogik überformen? Gegen Selbstbezüglichkeit helfen Blickfeldveränderungen. Grenzenlosigkeit verlangt nach Schranken. Das Dramatisierungs- und Eskalationspotential ruft nach einer Refokussierung des Sicherheitsdiskurses.

Blickfeldveränderungen

Der Selbstbezüglichkeit wirken zwei Strategien zur Veränderung des Blickfelds entgegen:

  • Innerhalb einer »realistischen« Weltsicht lässt sich die Selbstbezüglichkeit zwar nicht überwinden, aber doch mildern. Hierzu bietet sich die Kategorie internationaler Sicherheit an – sei es im Weltmaßstab als »globale Sicherheit« oder im geographisch begrenzten Raum als »regionale Sicherheit«. Anders als beim nationalen Pendant geht es hier nicht um die isolierte Betrachtung eines Staats, sondern dieser wird Teil einer Gesamtkonstellation. Eine solche Einbindung nötigt ihn systematisch, um der eigenen Sicherheit willen auch Interessen und Perspektiven anderer Akteure zu berücksichtigen. Wenngleich letzteren aus Sicht des jeweiligen Staats keine eigenständige, sondern lediglich eine von seinem Kalkül abhängige Wertigkeit zukommt, so eröffnen sich hier Chancen auf eine eher kooperativ als konfrontativ angelegte Sicherheitspolitik. Und je selbstreflexiver sie wird, desto eher lassen sich blinde Flecken wie der eigene Beitrag zur Problementstehung ausleuchten und verkürzte Perspektiven vom Akteur auf zugrunde liegende Strukturen verlängern.
  • Zumindest auf den ersten Blick besteht eine radikalere Alternative darin, den Sicherheitsbegriff aus dem angestammten Theorierahmen des »Realismus« herauszulösen und in einen eher »idealistischen« Kontext einzufügen. Dies käme einer Neuerfindung des Sicherheitsbegriffs gleich. In eine solche Richtung weist der »human security«-Ansatz. All seine Varianten verfügen über zwei Gemeinsamkeiten: Sie fokussieren ohne Umweg über den Staat direkt auf den einzelnen Menschen. Und sie ersetzen das Prinzip der Exklusivität durch das der Inklusivität. Mithin geht es nicht mehr um die besondere Sicherheit von Angehörigen eines bestimmten Staatsverbands, sondern um die Sicherheit eines jeden Menschen. Offenbar unternimmt das Konzept der »human security« eine sicherheitspolitische Reformulierung friedenswissenschaftlicher Basiskategorien.14 In Johan Galtungs Begriffsrepertoire ausgedrückt entspricht die enge »kanadische« Variante »freedom from fear« dem »negativen Frieden« im Sinne einer Abwesenheit personaler Großgewalt. Demgegenüber betont die weite »japanische« Variante »freedom from want« ähnlich dem »positiven Frieden« den Aspekt nachhaltiger menschlicher Entwicklung. Deshalb bezieht sie zusätzliche lebensrelevante Faktoren ein. Hierzu zählen Ökonomie, Gesundheit, Ökologie, Gesellschaft und Politik. Die »europäische« Variante fokussiert wiederum etwas enger auf Menschenrechte und Rechtssicherheit.15 Im Konzept menschlicher Sicherheit ist es durchaus möglich, die Grenze zwischen idealistischem Friedensdenken und realistischem Sicherheitsdenken zu überwinden. Auf den zweiten Blick dürfte eine Herangehensweise, die sich aus Perspektive des wohlhabenden und befriedeten »Westens« zunächst altruistisch auf andere zu beziehen scheint, eher als Ergänzung denn als Alternative zum etablierten eigennützigen Sicherheitsbegriff taugen, der seit Jahrhunderten den Staat als Schutzpatron seiner Bevölkerung konstruiert.

Errichtung von Schranken

Immanentes Begrenzungspotential kennt die Sicherheitspolitik kaum: Es erschöpft sich in negativen Kosten-Nutzen-Kalkülen bzw. im Verdacht auf unangemessene Zweck-Mittel-Relationen. Bereits im Konstrukt internationaler Sicherheit sind es aus Sicht des politischen Akteurs letztlich die Interessen und Fähigkeiten der anderen, die dem eigenen Sicherheitsstreben Grenzen setzen. Dauerhafte Schranken lassen sich demnach nicht den Eigenbewegungen der Sicherheitslogik entnehmen, sondern sie müssen ihr von außen gesetzt werden.

Als begrenzende Instanz kommt vornehmlich das Recht in Betracht. Seine Aufgabe besteht ja gerade darin, Erlaubnis- und Verbotsräume möglichst klar voneinander zu separieren, aber auch Verfahren der Entscheidungsfindung zu fixieren. Allerdings stehen nicht alle sicherheitsrelevanten Aspekte einer Verrechtlichung offen. Insbesondere politische Diskurse lassen sich nicht auf diese Weise reglementieren, leben sie doch vom freien Austausch der Argumente. Deshalb gilt es, sowohl die konzeptionelle Ausgestaltung als auch die praktische Umsetzung amtlicher Sicherheitspolitik kritisch zu begleiten, Gegendiskurse zu etablieren und politischen Druck aufzubauen.

Welche Schranken ließen sich mit welchen Effekten setzen?

  • Über die Einschränkung der Mittel gibt bereits die Charta der Vereinten Nationen (UN) Auskunft: Sie unterwirft die Staaten bei der Verfolgung ihrer Anliegen in Artikel 2 (Absatz 4) einem absoluten Gewaltverbot. Einzig im Falle eines „bewaffneten Angriffs“ erlaubt sie in Artikel 51 den Einsatz militärischer Mittel. Unterhalb dieser Schwelle legt sie Sicherheitspolitik auf friedliche Instrumente fest. Allerdings versuchen Staaten gemäß der Sicherheitslogik, Verbotsräume für sich zu öffnen – sei es, dass sie Angriffskriege in Verteidigungskriege umdeuten oder diese gar inszenieren, sei es, dass sie das militärische Instrument in komplexe (vernetzte, umfassende) Sicherheitskonzeptionen einspeisen und auf diese Weise gleichsam verschwinden lassen.
  • Zumindest das Selbstverteidigungsrecht als äußerster Ausdruck der Sicherheitslogik lässt sich in einen festen Zeitrahmen einspannen. Auch hier hält die UN-Charta eine entsprechende Regelung parat. Denn Artikel 51 erlaubt den Einsatz militärischer Mittel einzig zur Abwehr eines (gegenwärtigen) bewaffneten Angriffs – und auch dies nur solange, bis der UN-Sicherheitsrat „die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Das Gewohnheitsrecht gestattet darüber hinaus äußerstenfalls noch die präemptive Selbstverteidigung gegen unmittelbar bevorstehende kriegerische Attacken. Kategorisch verboten ist jedoch eine militärische Generalprävention, die auch alles ins Visier nimmt, was sich erst in Zukunft möglicherweise zu einer Gefährdung aufbauen könnte. Allerdings versuchen Staaten immer wieder, in verbotene Räume vorzustoßen. Erinnert sei an die Konstruktion eines »Rechts« auf „antizipatorische Selbstverteidigung“, das die USA in ihrer nationalen Sicherheitsstrategie von 2002 dann für sich reklamieren, „wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird“.16 Noch hat sich die Umdeutung (verbotener) militärischer Generalprävention zur zeitgemäßen Variante (erlaubter) präemptiver Selbstverteidigung nicht durchgesetzt. Sie entspricht aber ganz der Sicherheitslogik. Hier drängt sich dann die Frage auf, ob im Interesse der Friedensverträglichkeit nicht auf die Konstruktion eines missbrauchsanfälligen Rechts auf Präemption verzichtet werden sollte. Allerdings brächte dies eher eine Klärung auf der normativen Ebene als eine substantielle Lösung. Faktisch käme den geschätzten Konsequenzen einer anderweitig nicht mehr abzuwendenden militärischen Attacke wohl entscheidendes Gewicht zu. Drohte gar die Totalvernichtung, nähme die Pflicht zur Erduldung des Angriffs absurde Züge an: Dann ließe sich zwar der Tatbestand der Aggression eindeutig nachweisen, das Opfer, das sich gegen sie wehren dürfte, existierte aber nicht mehr. Darauf dürfte sich kaum ein Staat einlassen. Dennoch gilt: Je restriktiver das Recht auf Selbstverteidigung einschließlich der Präemption gefasst ist, desto stärker mahnt es zur militärischen Zurückhaltung.
  • Die Tendenz der letzten Jahre, sowohl den sektoralen Einzugsbereich als auch die geographische Reichweite des Sicherheitsbegriffs auszuweiten,17 d.h. immer mehr Probleme der Sicherheitslogik zu unterwerfen, gilt es umzukehren. Hierzu bietet sich an, den sicherheitspolitischen Diskurs auf existentielle Bedrohungen durch personale Großgewalt zu beschränken. Hierunter werden zwischenstaatliche Kriege, Bürgerkriege, Völkermorde oder auch folgenträchtige terroristische Anschläge gefasst. Allerdings lassen sich etablierte Diskurse nicht einfach korrigieren oder gar aus der Welt schaffen, die mit ihnen eroberten Erlaubnisräume nicht zügig schließen. Insofern können Plädoyers für eine Engführung des Sicherheitsbegriffs zunächst lediglich Impulse für entsprechende Beschränkungen setzen.
  • Der Subjektivierung und Totalisierung von Sicherheitspolitik lässt sich Einhalt gebieten. Der Ermessensspielraum des »Oberherrn« kann zum einen durch öffentliche Diskurse beschnitten werden, die sachgemäße Begründungen einfordern und Alternativen thematisieren. Aber auch eine institutionell abgesicherte Pluralisierung sicherheitspolitischer Entscheidungsprozesse vermag einer Subjektivierung gegenzusteuern, sofern unterschiedliche Institutionen auch unterschiedliche Sichtweisen einbringen. Zumindest jedoch schiebt die Gewaltenteilung, die heutige Demokratien gegenüber dem Hobbes’schen Leviathan auszeichnet, der Totalisierung einen Riegel vor. Ganz in diesem Sinne stellt das Bundesverfassungsgericht mit seinem Streitkräfteurteil von 1994 die Entsendung deutscher Soldatinnen und Soldaten unter einen konstitutiven Parlamentsvorbehalt. Das schließt jedoch weder Versuche der Exekutive zur Erweiterung ihres autonomen Ermessenspielraums noch Bestrebungen zur Zusammenführung von Sicherheitsapparaten aus.

Refokussierung des Sicherheitsdiskurses

Sicherheitspolitik zielt auf das eigene Überleben. Die damit einhergehende Gefahr einer Dramatisierung der Lage und einer Eskalation des Handelns in den Notwehrmodus lässt sich zwar nicht bannen, durch Reduktion entsprechender Anlässe aber verkleinern. Hierzu bietet sich an, den Sicherheitsdiskurs auf existentielle Bedrohungen in Form personaler Großgewalt zu begrenzen. Hierin spiegelt sich der Hobbes’sche Schutzgedanke konzentriert wider. Gleichzeitig verbleibt die Auseinandersetzung mit den meisten Problemen im »Normalmodus«, der politische Lagen weder existentiell auflädt noch militärische Lösungen favorisiert. Gleichwohl besteht zum einen das Dramatisierungs- und Eskalationspotential dort fort, wo der Sicherheitsbegriff weiterhin Verwendung findet – und seien Lageanalysen noch so sorgfältig erstellt, Handlungsoptionen noch so skrupulös ausgelotet. Zum anderen droht die Gefahr, wonach vom Sicherheitsdenken »befreite« Räume von Diskursen »besetzt« werden, die sich zwar um andere Begriffe ranken, aber ebenfalls den Einsatz militärischer Mittel legitimieren können. Dazu zählen eher dem »Realismus« entsprungene Kategorien (z.B. Macht, Interesse, Bündnissolidarität),18 aber auch dem »Idealismus« zugeneigte Figuren wie die »responsibility to protect«.19 Diese nimmt die Staatengemeinschaft in die Pflicht, Menschen vor Völkermord, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Jedes der genannten »Argumente« für den Einsatz der Streitkräfte bedürfte einer eigenen kritischen Überprüfung.

Fazit

Der friedenswissenschaftliche Anspruch gerät in ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite sind der Sicherheitslogik einige Tücken eingeschrieben, die den Verzicht auf den Sicherheitsbegriff nahe legen. Demgemäß forderte Ekkehart Krippendorff bereits in den 1980er Jahren, die Politik von „falschen Fragestellungen wie der nach »Sicherheit« zu befreien“.20 Auf der anderen Seite lässt sich in Anlehnung an Franz-Xaver Kaufmann argumentieren, eine vollständige Abstinenz gegenüber dem Sicherheitsbegriff ignoriere einen (anthropologisch wie sozial relevanten) Teil der »Wirklichkeit«.21 Denn das Streben nach Sicherheit gilt durchaus als konstitutives menschliches Attribut. Sicherheit avanciert somit zur quasi unvermeidbaren Kategorie.

Im Umgang mit dem Spannungsfeld bestehen zwei Optionen, die praktisch einander sinnvoll ergänzen können: Da gibt es zum einen die Entspannungsstrategie, die Sicherheitspolitik im Sinne der vorherigen Ausführungen entdramatisiert und deeskaliert. Zum anderen zielt eine Umgehungsstrategie darauf, die nunmehr im Sicherheitsparadigma konstruierten Problemfelder (z.B. Migration, Piraterie) im Lichte eines gerechten Friedens neu zu formulieren. Dem öffentlichen Diskurs täte eine solche Pluralisierung allemal gut. Allerdings sollte dies nicht von der Pflicht entbinden, das mühsame Ringen um eine „friedensverträgliche Sicherheitspolitik“ 22 (Karlheinz Koppe) aufzunehmen. Sicherheit ist zu wichtig, um sie ihren Apologeten zu überlassen.

Anmerkungen

1) Thomas Hobbes (1651): Leviathan. Erster und zweiter Teil. Stuttgart: Philip Reclam jun., 1980. Als Leviathan bezeichnet Hobbes den Staat.

2) Ebd., S.155.

3) Ebd., S.155.

4) Ein Hinweis auf diesen Sachverhalt findet sich bereits bei Lothar Brock: Der erweiterte Sicherheitsbegriff: Keine Zauberformel für die Begründung ziviler Konfliktbearbeitung. Die Friedens-Warte, 3-4/2004, S.323-343, hier S.325.

5) Hobbes, op.cit., S.163.

6) Ebd., S.162.

7) Ebd., S.160.

8) Ebd., S.161.

9) Ebd., S.161.

10) Ebd., S.162.

11) Barry Buzan, Ole Waever, Jaap de Wilde (1998): Security. A New Framework for Analysis. Boulder, London: Lynne Rienner, S.33.

12) Ebd., S.33.

13) Hobbes, op.cit., S.162.

14) Johan Galtung (1975): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek: Rowohlt, S.7-59.

15) Cornelia Ulbert und Sascha Werthes (2008): Menschliche Sicherheit – Der Stein der Weisen für globale und regionale Verantwortung? In: dies. (Hrsg.): Menschliche Sicherheit. Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven. Baden-Baden: Nomos, Eine Welt – Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden 21, S.13-27.

16) Die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika (2002). Washington: White House, Übersetzung des Amerika-Dienstes, S.23.

17) Christopher Daase: Der erweiterte Sicherheitsbegriff. Frankfurt am Main: Projekt Sicherheitskultur im Wandel an der Goethe-Universität Frankfurt, Working Paper 1/2010.

18) Neue Macht. Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch (2013). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund of the United States (GMF).

19) Frazer Egertonund W. Andy Knight (eds.) (2012): The Routledge Handbook of the Responsibility to Protect. London; New York: Routledge.

20) Ekkehart Krippendorff (1983): Einseitige Abrüstung. In: Ekkehart Krippendorff und Reimar Stuckenbrock (Hrsg.) (1983): Zur Kritik des Palme Berichts. Atomwaffenfreie Zonen in Europa. Berlin: Verlag- und Versandbuchhandlung Europäische Perspektiven, Schriftenreihe des AK atomwaffenfreies Europa 1), S.211-222, hier S.217.

21) Franz-Xaver Kaufmann (1973): Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 2., umgearbeitete Auflage.

22) Karlheinz Koppe: Exkurs zum Friedensbegriff in der Friedenswissenschaft. In: Dieter Senghaas und Karlheinz Koppe (Hrsg.) (1990): Friedensforschung in Deutschland. Lagebeurteilung und Perspektiven für die neunziger Jahre. Dokumentation eines Kolloquiums Berlin 17.-19. Juli 1990. Bonn: Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn, S.106-110, hier S.110.

Dr. Sabine Jaberg ist Dozentin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Friedensforschung an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

Handlungsräume ziviler Konfliktbearbeitung im Zeichen der Friedenslogik – eine Skizze

von Christiane Lammers

Zivile Konfliktbearbeitung« ist ein Begriff mit mehreren Bedeutungen: Er heißt auf jeden Fall: Konflikte mit nicht-militärischen Mitteln bearbeiten; er kann auch heißen: nicht staatliches Handeln, d.h. Handeln durch zivilgesellschaftliche Akteure.

Hiervon ausgehend wird im Folgenden skizziert, welchen Beitrag Dritte, also Nichtbeteiligte, leisten können, damit eine »gerechte«, nicht gewaltförmige Bearbeitung eines Konflikts ermöglicht wird.

90 Prozent der derzeitigen gewaltförmigen Konflikte sind innerstaatliche und damit auch innergesellschaftliche Konflikte. Ob nach dem Ende des Ost-Westkonflikts oder, um ein zweites Datum eines Paradigmenwechsels zu nennen, nach dem 11. September 2001 eine Zunahme des Anteils innergesellschaftlicher Konflikte zu verzeichnen ist, ist durchaus strittig. Dies mag einer unterschiedlichen Wahrnehmung oder dem Blick auf bestimmte Konfliktursachen oder -auswirkungen geschuldet sein. Konfliktakteure und von Konflikten Betroffene sind immer Menschen. Damit haben Konflikte neben der politischen auch eine individuelle und eine gesellschaftliche Dimension. Die Konfliktursachen liegen weniger in dem abstrakten oder eindimensionalen Ringen um staatliche Macht und nationale Interessen als vielmehr in gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Ebenso bleiben die Konfliktauswirkungen nicht auf staatliche und politische Institutionen begrenzt, sondern ein gewaltförmiger Konflikt verändert die gesellschaftliche Wirklichkeit. Gewalthandeln wird auf den verschiedenen Ebenen tradiert, Gewalt wird gesellschaftlich »kultiviert«, und sie verselbständigt sich. Aus Gewalt entsteht oft neue Gewalt; die Komplexität eines Konfliktes nimmt insbesondere bei einer Eskalation hin zu Gewalt nicht ab, sondern zu.

Eine »Einmischung« Dritter kann in solchen Konflikten hilfreich und aus humanitären Gründen auch geboten sein, entscheidend für die zivile Konfliktbearbeitung und ihren Erfolg sind aber die Konfliktbeteiligten: Der Schlüssel liegt bei den staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im Konflikt selbst.

Was ist nötig, damit die Einmischung Dritter sinnvoll ist?

  • Eine adäquate Konfliktanalyse ist zu erstellen, um die Ursachen und den Verlauf eines Konflikts zu verstehen.
  • Die Auswirkungen des Konflikts und mögliche weitere Folgen sind zu bedenken.
  • Die Dimensionen des Konflikts sind zu erkennen.
  • Die Akteure sind zu identifizieren: diejenigen, die im Konflikt agieren, die von dem Konflikt betroffen sind, wie auch die, die den Konflikt konstruktiv oder destruktiv beeinflussen können.

Möglichst frühzeitig sollte die Analyse erarbeitet werden, um rechtzeitig, wo möglich präventiv, tätig werden zu können.

Gesellschaftliche Handlungsräume

Wie können externe zivilgesellschaftliche Kräfte die zivile Bearbeitung von Konflikten unterstützen? Zunächst ist der Blick auf die eigenen Zusammenhänge zum Konfliktgeschehen zu richten:

  • Konfliktsensibilität entwickeln, genau hinschauen, solidarische Verantwortung entwickeln;
  • das Wissen über konkrete Konflikte an politische und gesellschaftliche Akteure weitergeben;
  • die eigene Verstrickung in aktuelle Konflikte problematisieren und eigene Handlungskonsequenzen ziehen;
  • die staatliche Unterstützung einwerben, die die Partner vor Ort und man selbst für die Arbeit in der Konfliktregion benötigen;
  • die entsprechenden, auch internationalen, politischen Rahmenbedingungen und Maßnahmen einfordern, die friedensförderndes Handeln ermöglichen und gewalttätiges Handeln verhindern.

Desweiteren werden im Folgenden acht Handlungsräume benannt, die zivilgesellschaftliche Akteure als Dritte in Konflikten mitgestalten können. Exemplarisch wird jeweils kurz auf konkrete Projekte zivilgesellschaftlicher Organisationen verwiesen. Die meisten Beispiele wurden aus der Arbeit im Israel/Palästina-Konflikt ausgewählt, um zu verdeutlichen, dass es auch jenseits einer politischen Konfliktlösung Handlungsmöglichkeiten gibt. Gerade in Bezug auf diesen Jahrzehnte dauernden Konflikt ist die Verschränkung zwischen der gesellschaftlichen und der politischen Dimension besonders eng, und es wird keine politisch nachhaltige Lösung ohne eine gesellschaftliche Konfliktbearbeitung geben.

Humanitäre Hilfe

In Nablus und Hebron bieten die Ärzte ohne Grenzen medizinische, psychologische und soziale Unterstützung für die vom Konflikt betroffenen Menschen an. Im Jahr 2012 nahmen die psychologischen Beratungen um 50 Prozent zu. In Ost-Jerusalem, wo die Teams psychologische und soziale Hilfe anbieten, verdreifachte sich die Anzahl der Patienten. Fast ein Drittel von ihnen ist unter 18 Jahren. Angststörungen, Depressionen, Verhaltensauffälligkeiten und posttraumatische Belastungsstörungen kommen sehr häufig vor.

Seit 2002 organisiert das Komitee für Grundrechte und Demokratie, aufbauend auf langjährige Erfahrung mit dem Projekt »Ferien vom Krieg« mit inzwischen mehr als 20.000 Kindern und Jugendlichen aus den Balkankriegsgebieten, Feriencamps für israelische und palästinensische Kinder und Jugendliche. Neben dem Ferienerlebnis ist der »Dialog zwischen Feinden« ein zentrales Element der Camps.

Schutzmaßnahmen ergreifen

In dem von Pax Christi und anderen entwickelten »Ökumenischen Friedensdienst in Palästina und Israel« begleiten Freiwillige gefährdete Personen bei ihren Alltagsgeschäften und schützen sie durch ihre gewaltfreie Präsenz.

Amnesty International und andere verbreiten Petitionen an die israelische Regierung gegen die Inhaftierung von Militärdienstverweigerern und versuchen diese so durch internationale Aufmerksamkeit zu schützen.

Die Organisation International Women’s Peace Service initiiert internationale Ernteeinsätze in palästinensischen Olivenhainen, die von der Abholzung durch israelische Siedler bedroht sind.

Zur Deeskalation beitragen

Nicht für den Nahen Osten, aber für viele andere Konfliktgebiete baute das Bonn International Center for Conversion eine umfassende Expertise zur Demilitarisierung und Demobilisierung auf und ist weltweit beratend tätig.

In Palästina gibt es eine lange Tradition des gewaltfreien Widerstands, die jedoch immer wieder in den Hintergrund gedrängt wird. Der Bund für Soziale Verteidigung nahm Kontakt zu 14 gewaltfreien Organisationen und Gruppen in der Westbank auf, um gemeinsame Aktivitäten auf palästinensischer Ebene anzuregen. Zur Stärkung der Partnerschaft machte ein Mitglied einer Widerstandsgruppe 2011 einen Europäischen Freiwilligendienst in der BSV-Geschäftsstelle.

Lösungsvorschläge für die Konfliktdimensionen mitentwickeln

Im Fall des Tschad-Pipeline-Projekts erarbeitete ein internationales Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen, an dem u.a. Brot für die Welt und EIRENE beteiligt waren, Lösungsvorschläge, wie die Folgen des Pipelinebaus und der Ölförderung konkret durch politische Maßnahmen abgefedert werden können.

Empowerment fördern und Kompetenzen stärken

Die Gewalt Akademie Villigst hat nicht nur in Deutschland palästinensische und israelische Jugendliche in Deeskalationstraining ausgebildet; sie hat auch mitgewirkt an der Gründung des »SOS-Gewalt/Zentrum für Gewaltstudien in Israel« in Jerusalem und dem »SOS-Gewalt/Zentrum für Gewaltstudien in Palästina« in Ramallah. Die beiden Zentren kooperieren in Seminaren und bei der Fortbildung von MitarbeiterInnen sowie im wissenschaftlichen Austausch und beim Einsatz von Volontären aus Europa.

Von 2003 bis 2008 kooperierten die KURVE Wustrow und die Union of Palestinian Women Committees in einem Projekt des Zivilen Friedensdienstes mit dem Ziel, Frauen, die vornehmlich aus dem ländlichen Bereich kommen, zu stärken, dezentrale Trainingsstrukturen auf der Graswurzelebene aufzubauen sowie eine Gruppe von TrainerInnen zu vernetzen.

Dialogforen auf allen Ebenen unterstützen

Auch die Gewerkschaften sind gefragt: Am neutralen Sitz des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) in Brüssel trafen sich z.B. 2005 der Generalsekretär des palästinensischen Gewerkschaftsbundes und der Präsident der israelischen Gewerkschaftszentrale Histadrut. Sie verpflichteten sich, ein Abkommen zu unterstützen, das der Ausbeutung in den israelischen Unternehmen vorbeugt, den Zugang und die Legalisierung von Arbeit vereinfacht und allen Arbeitern eine bessere soziale und Gesundheitsversorgung sichert.

Der Ökumenische Rat der Kirchen gründete 2007 das Palästinensisch-Israelische Forum, um das interreligiöse Eintreten für Frieden zu koordinieren und neue Dialog-Projekte anzustoßen.

Als Drittpartei Mediationsverfahren durchführen

Die Institute Berghof-Conflict Research, Inmedio und CSSProject for Integrative Mediation haben vielfältige Kompetenz in internationalen Mediationsverfahren auf den unterschiedlichen Ebenen. Sie sind nun daran beteiligt, modellhafte High-level-Mediationsverfahren auf europäischer Ebene zu entwickeln.

Die Konfliktkultur aufbrechen helfen

Die »Friedensschule« in Wahat al Salam (Oase des Friedens), die auch durch eine deutsche Gruppe unterstützt wird, beherbergt neben überregionalen Kursen für arabische und jüdische Jugendliche und Erwachsene auch eine konsequent zweisprachige Grundschule mit Kindergarten und Mittelstufe. Sie vermittelt Kindern aus dem Dorf und der Umgebung Zugang zu beiden Kulturen und deren Wertschätzung. Das bilinguale Erziehungssystem dient inzwischen als Model für ähnliche Versuche im Land.

Das Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung unterstützt seit 2002 mit wissenschaftlicher Beratung das Projekt »Die Texte der Anderen«, ein israelisch-palästinensisches Schulbuchprojekt zur Geschichte des Nahostkonfliktes.

Schlussbemerkungen

Dargestellt wurden oben ausschließlich zivilgesellschaftliche Handlungsbeispiele. Sie können (auch) als Aufforderung an die Politik verstanden werden, in eben diesen Handlungsräumen friedenspolitische Initiativen zu entwickeln und umzusetzen. Manche der aufgeführten Beispiele mögen aufgrund der Vielzahl, der Komplexität und der Gewalttätigkeit der Konflikte banal, wirkungslos oder zu langwierig scheinen. Vielleicht ist die Suche nach der einfachen, schnellen, selbst machbaren Lösung aber gerade das größte Hindernis für die Umsetzung der Friedenslogik.

Christiane Lammers ist Geschäftsführerin der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Mitglied der Redaktion von W&F.

Syrien aus friedenslogischer Sicht

Konfliktentwicklung und politische Handlungsoptionen

von Christine Schweitzer und Andreas Buro

Historisch gehörte Syrien zum Osmanischen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Frankreich die Verwaltung der Region übertragen. 1946 wurde Syrien unabhängig. 1958-1961 schloss es sich mit dem von Gamal Abdel Nasser regierten Ägypten zusammen; ein Militärputsch beendete dieses panarabische »Experiment«. Seit 1963 regiert in Syrien die Baath-Partei; wirkliche Oppositionsparteien wurden nie zugelassen. Die Verfassung von 1973 bezeichnet Syrien als sozialistische Volksrepublik mit Präsidialsystem. Der gegenwärtige Präsident Baschar al-Assad ist der Sohn von Hafiz al-Assad, der von 1971 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 autoritär regierte. Syrien ist ein Land mit ca. 22,5 Millionen EinwohnerInnen. Drei Viertel der Bevölkerung sind Sunniten, die Regierung wird aber vorwiegend von der ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung umfassenden schiitischen Gruppe der Alawiten gestellt. Christen machen ebenfalls zehn Prozent der Bevölkerung aus. Ethnisch sind rund 90 Prozent der Bevölkerung Araber und neun Prozent Kurden.

Der Aufstand und seine Strukturen

Der Konflikt in Syrien lässt sich in mehrere Phasen unterteilen:

1. Der zivile Widerstand

Kurz nach Beginn der Aufstände 2010/11 in Tunesien und Ägypten kam es auch in Syrien zu einzelnen Protesten, die aber zunächst wenig Widerhall fanden. Der März 2011 gilt vielen BeobachterInnen als der eigentliche Beginn der Unruhen, als in der im Süden Syriens gelegenen Stadt Dar’a nach dem Freitagsgebet am 18. März eine Demonstration von der Polizei unter Beschuss genommen wurde. Ab diesem Zeitpunkt begannen Hunderttausende, regelmäßig auf die Straße zu gehen. Die Regierung verfolgte anfänglich die Strategie, durch hartes Durchgreifen – schon ab Mai 2011 mit Hilfe des Militärs –, gekoppelt mit politischen Konzessionen, der Lage Herr zu werden. Im Juli 2011 beteiligten sich an einem Tag bis zu drei Millionen Menschen an Protesten gegen das Regime. Auch später im Juli wurden bei Demonstrationen in einzelnen Städten mehrere hunderttausend TeilnehmerInnen gezählt.

Anfänglich wurde der damals noch ausschließlich zivile Widerstand durch lokale Bürgerkomitees unterschiedlicher Zusammensetzung organisiert, die sich in den meisten Städten gegründet hatten. Ungefähr die Hälfte der rund 300 lokalen Komitees schloss sich – bei vielen Doppelmitgliedschaften – in zwei großen Netzwerken zusammen: den Local Coordination Committees of Syria (LCC) und der Syrian Revolution General Commission (SRGC). Auf nationaler Ebene gab es 2011-2012 zwei Zusammenschlüsse, die einen Führungsanspruch anmeldeten: den Syrian National Council und das National Co-ordination Committee. Der Syrian National Council wurde Anfang Oktober 2011 in der Türkei gegründet und besteht ungefähr zur Hälfte aus Mitgliedern, die in Syrien leben, und zur Hälfte aus solchen im Exil. Ende 2012 wurde in Doha die »National Coalition for Syrian Revolutionary and Opposition Forces« ins Leben gerufen, die ebenfalls sowohl Menschen in Syrien wie im Exil umfasst und vom Ausland als »die« Vertretung der syrischen Opposition angesehen wird, aber keineswegs die volle Zustimmung aller Oppositionellen genießt.

2. Ziviler und gewaltsamer Widerstand Hand in Hand

Im Herbst 2011 kam es zu einer Militarisierung des Widerstandes, als Soldaten, die aus der syrischen Armee desertiert waren, die »Freie Syrische Armee« bildeten. Sie beanspruchten anfänglich, die zivilen Demonstrationen vor Angriffen der staatlichen Sicherheitskräfte zu schützen. Eine gewisse Zeit existierten ziviler und gewaltsamer Widerstand parallel. Die syrische Regierung nutzte die Eskalation, um mit massivem Militäreinsatz gegen den Aufstand vorzugehen.

Auf internationaler Ebene erfuhr Syrien in diesem Jahr politische und materielle Unterstützung vor allem aus Russland und Iran (Waffenlieferungen), während die meisten arabischen Länder und der Westen die Kräfte gegen das Assad-Regime förderten. Die arabische Liga suspendierte die Mitgliedschaft Syriens in November 2011.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen befasste sich im Februar 2012 erstmalig mit Syrien, es kam aber zu keiner Resolution, weil Russland und China dagegen stimmten. Erst 2013 wurde in Folge des Einsatzes von Giftgas eine erste UN-Resolution verabschiedet.

2012 eskalierte der Konflikt weiter. Besonders die Stadt Homs, von Anfang an eine der Hochburgen des Widerstands, wurde zum Ziel des Versuchs der Regierung, den Widerstand mit militärischen Mitteln zu brechen. An anderen Orten gab es aber auch in dieser Zeit noch gewaltlosen Widerstand.

Ein von den Vereinten Nationen vermittelter und durch BeobachterInnen zu kontrollierender Waffenstillstand im April 2012 war nur von kurzer Dauer, und die BeobachterInnen wurden schon im Juni wieder abgezogen. Als Kofi Annan, der von den Vereinten Nationen zum Sondervermittler bestimmt worden war, nach wenigen Monaten enttäuscht zurücktrat, benannten die Vereinten Nationen Lakhdar Brahimi zu seinem Nachfolger.

3. Syrien wird zum Schlachtfeld ausländischer Milizen

Im Laufe des Jahres 2012 kamen aus dem Ausland immer mehr radikal-islamische Kämpfer. Sie wurden und werden teilweise von Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten ausgerüstet und finanziert. Sie stehen oftmals dem Netzwerk von al Kaida nahe oder gehören ihm direkt an. Elf der Gruppierungen bildeten im Herbst 2013 eine militärische Allianz mit dem Ziel, einen islamischen Staat zu schaffen. Die militärischen Auseinandersetzungen weiteten sich zwischen 2012 und 2013 auf weitere Städte (z.B. Aleppo) aus. Zahlreiche Bombenanschläge, Massaker an ZivilistInnen und die Bombardierung von Städten prägen den Krieg. In vielen Fällen, so auch bei dem Einsatz von Giftgas am 21.8.2013 in einem Vorort von Damaskus, bei dem fast 1.500 Menschen umkamen, ist die Urheberschaft nicht eindeutig zu klären. Regierung und Opposition beschuldigen sich gegenseitig.1

Der Giftgaseinsatz führte zur Drohung mit einer internationalen Militärintervention unter Führung der USA. Diese wurde vor allem durch die Vermittlung der russischen Regierung (in Zusammenarbeit mit den USA) Anfang September 2013 abgewendet. Die syrische Regierung ließ sich darauf ein, dem Chemiewaffenübereinkommen beizutreten, ihre Giftgasvorräte offenzulegen und durch die Vereinten Nationen vernichten zu lassen. Die Vernichtung des Giftgases hat inzwischen begonnen.

Während die internationale Aufmerksamkeit sich auf die Chemiewaffen konzentrierte, ging der Krieg in Syrien ungehindert weiter. Bis Ende Februar 2014 sind über 100.000 Menschen umgekommen; rund zwei Millionen leben in Flüchtlingslagern vor allem in Jordanien, dem Libanon und der Türkei. Über neun Millionen (manche Hilfswerke sprechen von zwölf Millionen) Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, also die Hälfte der gesamten syrischen Bevölkerung. Aus einigen Regionen, besonders den kurdischen Gebieten im Norden, wurde das staatliche Militär weitgehend vertrieben und ferngehalten. Islamische Milizen versuchten vielerorts, die Kontrolle zu übernehmen. Die Folge waren bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen.

Im Januar 2014 begann nach langer Vorbereitungszeit eine internationale Konferenz in der Schweiz, in der die Regierung Assad, die Opposition und eine Reihe von Anrainerstaaten sowie die »Kontaktgruppe« unter der Vermittlung der Vereinten Nationen über eine Lösung des Konflikts beraten sollten. Bislang blieb sie nach zwei Verhandlungsrunden – eine dritte soll es geben, ist aber noch nicht terminiert – ohne relevantes Ergebnis.

Internationale Interessen am Konflikt

Syrien ist heute das Schlachtfeld für Konflikte, bei denen die Wünsche der syrischen Bevölkerung nach Frieden, Freiheit, Demokratie und Anerkennung von Minderheiten rücksichtslos ignoriert werden. Saudi-Arabien und Katar fördern trotz unterschiedlicher Adressaten sunnitische Milizen, die al Kaida nahe stehen. Ihr Motiv: Aus Syrien soll ein sunnitisch-islamistischer Partnerstaat werden. So würde der Rivale Iran als potentielle Regionalmacht geschwächt. Der Iran hält mit der Entsendung von schiitischen Kämpfern und Waffenlieferungen dagegen. Russland setzt seine Waffenlieferungen an das Assad-Regime fort. Die libanesische Hisbollah schickt eigene Kämpfer nach Syrien, um das befreundete Regime in Damaskus zu stützen, das für ihr eigenes Überleben wichtig ist. Dabei riskieren sie die Ausweitung des Krieges in den Libanon. Die Türkei wiederum finanziert und bewaffnet islamistische Milizen und Teile der Freien Syrischen Armee, damit sie gegen die Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden vorgehen. Frankreich liefert Waffen an die Freie Syrische Armee und leistet politische, finanzielle und mediale Unterstützung. Auch die USA sind geostrategisch involviert. Der Sturz des Assad-Regimes würde dazu beitragen, den Iran zu isolieren, zu schwächen und einen Regimewechsel zu erreichen. Damit würden die USA den Mittleren und Nahen Osten unter ihre Kontrolle bringen. Ihr Zögern, dies in Syrien mit militärischen Mitteln zu erreichen, dürfte einerseits an der Kriegsmüdigkeit der US-Gesellschaft nach den langen Kriegen im Irak und Afghanistan liegen. Andererseits aber auch daran, dass schwer absehbar ist, wer nach einem Sturz von Assad die Macht übernehmen würde.

Eine amerikanische Alleinkontrolle der Region kann der russischen und der chinesischen Regierung, aber auch den regionalen Anrainerstaaten nicht gefallen. Den Russen geht es nicht nur um den Kriegshafen in Tartus,2 sondern vor allem um die Abwehr der US-Dominanz in dieser großen, bis Zentralasien reichenden Region. Sie wollen aber auch keine Stärkung der islamistischen Kräfte, da sie befürchten, diese könnten sich verstärkt im Süden Russlands einmischen. Ein grundlegendes Problem aller Außenakteure liegt darin, dass ihre Ziele untereinander nicht kompatibel sind.

Politische Handlungsoptionen aus friedenslogischer Sicht

Ein friedenslogischer Ansatz könnte sein, die unterschiedlichen internationalen Unterstützer der Konfliktparteien dazu zu bewegen, den Einfluss, den sie durch ihre Unterstützung gewonnen haben, zu nutzen, um ihre Adressaten zum Niederlegen der Waffen zu veranlassen und sich konstruktiv an einer Friedenslösung zu beteiligen. Es müsste eine Situation hergestellt werden, bei der alle Seiten bereit sind, miteinander zu reden. Ein solcher regionaler Ansatz müsste den Iran, Libanon, Israel-Palästina und Russland einschließen, wahrscheinlich auch den Irak und weitere Konfliktherde in dem Raum.

Um das zu erreichen, ist eine Konzentration auf die Ursachen für die Außeneinmischungen in diesem Konflikt notwendig. Der Stellvertreterkrieg in Syrien soll die Achse Iran, Syrien, Hisbollah im Libanon und Hamas in Gaza zerbrechen, um so eine Schwächung des Iran und letztlich einen Regimewechsel zu erreichen. Dieses gegen Iran gerichtete Ziel eint die Absichten der USA und der EU mit denen von Saudi-Arabien und Katar, wenn auch die angestrebten Ziele der Umgestaltung sich unterscheiden. Saudi-Arabien und Co. steuern eine sunnitisch-islamistische Herrschaft in Syrien an, während die USA und Co. eine Erstarkung der islamistischen Kräfte verhindern wollen und eher einen laizistisch orientierten Staat mit verschiedenen Religionsgemeinschaften anvisieren.

Während des letzten Jahres deutete sich jedoch an, dass die USA eine zweite Option ansteuern und ihr ursprüngliches Ziel des »regime change« in Iran zugunsten einer Annäherung an den Iran aufgeben könnten. Wenn die USA tatsächlich eine friedliche Lösung für den Syrien-Konflikt anstreben, müssen sie eine Verständigung mit Teheran suchen: direkte Kontakte, Vertrauen bildende Maßnahmen durch schrittweise Aufhebung von Sanktionen, Unterstützung der von den Vereinten Nationen beschlossenen »Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im Mittleren und Nahen Osten« und so weiter.

Die Chance zur Verständigung zwischen den USA und Iran, die sich nach dem Präsidentenwechsel in Teheran aufgetan hat, ist allerdings bisher in Washington wie in Teheran noch stark umstritten. Zum einen bedeutet eine Verständigung mit Teheran und ein gemeinsames Bemühen, den Krieg in Syrien zu beenden, für die USA gleichzeitig, den militärischen Zugriff auf den Mittleren und Nahen Osten aufzugeben. Zum anderen wollen im Iran unterschiedliche Gruppierungen das Feindbild USA aus innenpolitischen Gründen erhalten.

Gelingt jedoch die Verständigung und sitzt Teheran erst mit am Verhandlungstisch, dann werden auch Russland, China und die EU-Staaten kooperativer sein, da damit die US-Vorherrschaft in Mittel- und Nahost zumindest in Frage steht und neue Konstellationen der multipolaren Koexistenz ins Auge gefasst werden können. Auch die sunnitischen Kriegsakteure, wie Saudi-Arabien und Katar, und die kurdenfeindliche Türkei werden ihre kriegsfördernden Aktionen nicht mehr durchhalten können. Für eine Nah- und Mittelost-Konferenz, die auf lange Dauer angelegt sein muss und nicht nur die Frage der Massenvernichtungswaffen, insbesondere der Atomwaffen, behandelt, bleibt dann die Aufgabe, schrittweise eine Annäherung zwischen den beiden konkurrierenden Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien zu bewirken.

In einer solchen auf Verhandlungen orientierten Situation können vermutlich die Konflikte im Inneren Syriens eher reguliert werden. Doch auch dann hat die Zivilbevölkerung in Syrien keine starke Lobby und wäre den Interessen der Mächte von außen und ihren Verhandlungsfortschritten unterworfen. Daraus ergibt sich die Frage, ob und welche Prozesse im Inneren Syriens friedensfördernd wirken und wie sie gestützt werden könnten.

Friedensperspektive aus der syrischen Gesellschaft heraus? Ein Beispiel

Im Norden des von Kämpfen zerrissenen Landes liegt das kurdische Siedlungsgebiet, das sich Rojava (Der Westen) nennt. Rojava weist eine große kulturelle und religiöse Vielfalt auf. Viele Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens – inzwischen etwa 1,2 Millionen – haben sich dorthin gerettet, denn Rojava versucht, sich aus den Kämpfen herauszuhalten. Es hat sich zum autonomen Gebiet innerhalb Syriens erklärt und alle Separatismusvorwürfe energisch zurückgewiesen. Dort sollen alle Ethnien gleiche Rechte haben und nicht etwa der kurdischen Mehrheit unterworfen sein. Inzwischen wurden eigene Verwaltungsstrukturen geschaffen und es wurde ein Nationaler Rat gebildet. Frauen sollen den Männern gleichgestellt werden.

Freilich sind die proklamierten Ziele bisher keineswegs Wirklichkeit. Gewalt von außen fördert Gewalt im Inneren. Der UN-Generalsekretär wies auf die Anwerbung von Kindersoldaten für die Verteidigung von Rojava hin. Traditionen sind nicht von heute auf morgen überwindbar, Demokratie muss erst eingeübt werden, ebenso gute Regierungsführung, unabhängige Justiz und die strikte Durchsetzung internationaler Menschenrechtsstandards. Europäische Gesellschaften wissen aus ihrer Geschichte, wie lange solche Prozesse dauern können und wie mühevoll sie sind.

Gegenwärtig gerät das Rojava-Projekt zudem in Gefahr. Von der Türkei aus und mit deren Unterstützung kämpfen islamistische Gruppierungen (ISIS und die al Nusra Front) gegen das Autonomiegebiet. Sie wollen einen Gottesstaat errichten. Die Türkei hat ihre Grenzen für den wichtigen Transithandel geschlossen. Ankara hat noch immer nicht seinen Frieden mit den Kurden gemacht. Aus dem kurdischen Teil des Irak kommt wegen der dortigen inneren Auseinandersetzungen kaum Hilfe oder sie wurde sogar unterbunden. Es fehlen Grundnahrungsmittel, wärmende Kleidung und Brennstoffe. Die Notlage wird immer drückender.

Der gewichtige friedenslogische Hintergrund des Rojava-Projekts

Das Autonomiegebiet begreift sich als ein demokratisch organisierter Modellbaustein eines zukünftigen föderalen Vielvölkerstaates Syrien. Das ist ein großer, jedoch vernünftiger Anspruch. Er beinhaltet, die syrische Gesellschaft und ihre zukünftige politische Organisation zum Inhalt einer nationalen Zukunftsdiskussion zu machen. Es scheint erste Ansätze in diesem Sinne auch in anderen Regionen Syriens zu geben. Sie könnten Zusammenarbeit vereinbaren und Koexistenz praktizieren.

Wir machen uns keine Illusionen, das ist kein leichter Weg. Aber wo ist der bessere? Ein militärischer Sieg einer der Konfliktparteien wird nicht Aussöhnung schaffen, sondern nur die Voraussetzungen für nächste Kriege.

Das Rojava-Projekt ist deshalb kritisch zu begleiten und wo politisch sinnvoll und möglich zu unterstützen – durch Druck auf die deutsche Regierung, durch Hilfen zur Milderung der Nöte, durch Bekanntmachung dessen, was wirklich geschieht und durch Kritik auch an falschen Entwicklungen. Solidarität heißt nie bedingungslose Zustimmung, sondern schließt solidarische Kritik ein. Es ist unsicher, ob Rojava im skizzierten Sinne erfolgreich sein wird. Die Versuchung, auf Gewalt zuzugreifen und interne Schwierigkeiten durch Repression zu beantworten, ist groß. Die Erfolgschancen hängen davon ab, ob sich andere Regionen an einem solchen Verständigungsprozess beteiligen werden.

Die hier friedenslogisch begründete Zuwendung zum Rojava-Projekt schließt selbstverständlich Hilfsappelle zur Unterstützung durch Institutionen, wie dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes, dem UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen) oder von Hilfsorganisationen wie medico international usw., nicht aus, auch nicht politische Forderungen an die Kriegsakteure von innen und außen.

Anmerkungen

1) Siehe den Beitrag »Syrien. Vorrang für zivil oder Spielball internationaler Politik?« der AutorInnen in W&F 4-2013, S.32-36, zu den verschiedenen Interpretationen, die sich um den Giftgaseinsatz ranken.

2) Russland hat einen Marinestützpunkt in Tartus, der den einzigen Mittelmeerstützpunkt der russischen Marine darstellt.

Dr. Christine Schweitzer ist Mitglied des Instituts für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung und Geschäftsführerin im Bund für Soziale Verteidigung. Prof. Dr. Andreas Buro ist emeritierter Professor für internationale Politik an der Goethe Universität in Frankfurt, Mitbegründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Mentor der westdeutschen Friedensbewegung.

Positionspapier »Friedenslogik statt Sicherheitslogik soll Deutschlands Politik bestimmen«

Anfang des Jahres wurde u.a. vom Bundespräsidenten, vom Bundesaußenminister und von der Bundesverteidigungsministerin eine Debatte über die Wahrnehmung der außenpolitischen »Verantwortung« Deutschlands angestoßen. Ähnlich wie die Sicherheitsdiskussion tendiert auch die Verantwortungsdiskussion dazu, sich allein auf die Verfügbarkeit von militärischen Mitteln zu konzentrieren. Einer hiermit verbundenen sprachlichen und tatsächlichen Militarisierung gilt es zu wehren.

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung verweist hierzu auf ihr Positionspapier zur Bundestagswahl 2013, das Schritte hin zu einer auf Friedenslogik statt auf Sicherheitslogik gründenden deutschen Außenpolitik formulierte.

Näheres siehe konfliktbearbeitung.net/node/626e.