Dossier 3

Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE)

Vom Atlantik bis zum Ural. Kann Europa abrüsten?

von Ingo Arend und Michael Kalman

In Wien verhandeln seit dem 9. März 1989 die Mitgliedsstaaten von Warschauer Pakt und NATO in der seit langem aussichtsreichsten Abrüstungskonferenz zwischen Ost und West über die Reduzierung konventioneller Rüstung in Europa. Zusammen mit dem INF-Abkommen könnten diese »Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa« (VKSE) einen Wendepunkt markieren, steht doch erstmals nahezu das gesamte Militärpotential in Europa zur Verhandlung an. Für Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat deshalb “das Jahr 1989 gute Aussichten, ein entscheidendes Jahr der Abrüstung zu werden” (WDR-Interview vom 16.1.1989). Selbst NATO-Oberbefehlshaber General John Galvin betrachtet die Wiener Verhandlungen als “die wichtigsten für Europa”. (FAZ vom 21.1.1989)
Trotz der neuen Aufrüstungsversuche seitens der NATO durch die sogenannte »Modernisierung« scheint nämlich nicht nur die politische, sondern auch die militärische Rivalität in Europa ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Für den sowjetischen Außenminister Schewardnadse geht es denn auch bei den Abrüstungsverhandlungen “nicht nur um die Beseitigung von Waffen, sondern um die Überwindung der Teilung Europas”. (Rede auf der Schlußberatung der Wiener KSZE-Folgekonferenz am 19. Januar 1989) Fortgesetzten, konsequenten öffentlichen Druck auf den weiteren Abrüstungsprozeß vorausgesetzt, könnte sich aus dieser chancenreichen politischen Situation des alten Kontinents das Modell einer anderen Entwicklungslogik in den internationalen Beziehungen herausbilden: Echte Abrüstung und die Ersetzung des Abschreckungssystems. Wird es gelingen, die militärische Konfrontation zu beenden, Kriege und militärische Angriffe in Europa unmöglich zu machen, die europäische Nachkriegsordnung in eine entmilitarisierte europäische Friedensordnung umzugestalten und die Periode des Kalten Krieges endgültig hinter sich zu lassen?

I. Konventionelle Abrüstung und die Sicherheit in Europa

Pulverfass Europa – Glacis Bundesrepublik

Militärische Rivalität und Rüstungskonkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt haben die in Friedenszeiten größte militärische Konzentration in der Geschichte hervorgebracht. Europa gleicht einem Waffenlager ohnegleichen. Rund 14 Millionen aktive Soldaten und Reservisten stehen im Dienst auf beiden Seiten unter Waffen. Dazu kommen über 200 stehende Divisionen Bodentruppen und über einhundert Reserve-Divisionen. Zu den ständig in Europa stationierten Truppen zählen: ca. 75.000 schwere Kampfpanzer, 60.000 Artilleriegeschütze, 30.000 Schützenpanzer und 12.000 Kampfflugzeuge. Dazu kommen noch ca. 1000 Kriegsschiffe und U-Boote. Zählt man die Ausgaben beider Bündnisse zusammen, verzehrt die militärische Konfrontation in Europa ungefähr zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für Streitkräfte von einer Billion Dollar jährlich. Die Verteidigungsausgaben verschlingen ca. 5 Prozent des Bruttosozialproduktes der NATO-Staaten und ca. 10 Prozent desjenigen der Warschauer-Pakt-Staaten.(vgl.: Götz Neuneck: Strukturelle Angriffsunfähigkeit und konventionelle Rüstungskontrolle. Wege zur Entmilitarisierung des Ost-West-Verhältnisses. Heft 35 der Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, IFSH, Dezember 1988, S. 1-7)

Allein in der mit 280 Einwohnern pro Quadratkilometer dicht besiedelten Bundesrepublik – die gerade mal so groß ist wie der US-Bundesstaat Oregon – sind etwa 900.000 Soldaten und 10.000 Panzer stationiert. Mit insgesamt über vier Millionen Flügen pro Jahr hat die Bundesrepublik den dichtesten Luftverkehr der Welt. 580.000 davon sind militärisch. Mehr als zwei Drittel der Fläche der Bundesrepublik sind Tieffluggebiete. Denkt man sich den Besatz an Kernkraftwerken und chemischer Industrie hinzu, wird deutlich, daß bereits ein mit wenig aufwendigen Mitteln konventionell geführter Krieg das Ende ganz Europas und insbesondere der Bundesrepublik bedeuten würde. Die liberale Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« resümiert die waffenstarrende Situation: “Dies ist absurd in einer Zeit, in der die Spannung zwischen den Blöcken nachgelassen hat.” (Theo Sommer: Raketen – wider deutschen Willen?, Die Zeit, Nr. 18 vom 28.4.1989).

Ziele konventioneller Abrüstung

Diese Zahlen und die geschilderte Situation machen nicht nur die Dringlichkeit des Problems konventioneller Abrüstung, sondern auch seine Komplexität deutlich. Die bisherigen Ansätze, etwa im Bereich der MBFR-Verhandlungen, haben sich jedoch als untauglich erwiesen, dieser Problemstellung gerecht zu werden. Sie scheiterten am mangelnden politischen Interesse beider Seiten und an der Datenfrage. (Vgl. ausführlich Kapitel II. – MBFR)

In den von der Bundeswehr und NATO vorgelegten Kräftevergleichen wird in der Regel nur mit der Zahl der Divisionen gearbeitet. Das Weißbuch 1985 und die 1988 von der Hardthöhe präsentierten Zahlen beharren auf einer Drei-zu-Eins-Überlegenheit des Warschauer-Paktes bei Waffen und Divisionen und wurden selbst von der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« als unnötige Gruselstory abgetan, deren “Waffenzählen nicht gerade nach Adam Riese” gestrickt worden sei (FAZ vom 23.2.1988). Ein bis auf drei Stellen hinter dem Komma exakter Kräftevergleich ist im übrigen auch gar nicht so wichtig, solange man die Datenfrage nicht zur alles entscheidenden Voraussetzung macht. Dahinter steckte bislang in der Regel das Bemühen, den fehlenden politischen Willen zur Abrüstung zu verschleiern. Allerdings ist die prinzipielle Offenheit in der Datenfrage eine wichtige Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen in die Ernsthaftigkeit der Verhandlungsabsichten. Und bis Anfang 1989 trug auch die Warschauer-Pakt-Seite mit ihrer traditionellen Geheimniskrämerei dazu nicht gerade bei.

Im Gegensatz zur atomaren Abrüstung mit der klaren Zielstellung der restlosen Beseitigung atomarer und natürlich auch chemischer Massenvernichtungsmittel auf Null, kurz: Denuklearisierung, läßt sich angesichts der Größenordnung und Vielschichtigkeit des Übermaßes an konventionellen Rüstungen und Streitkräften für diesen Bereich der Abrüstung als konkretes Verhandlungsziel nicht so ohne weiteres die Forderung vollständiger Demilitarisierung West- und Osteuropas aufstellen.

Ein umsetzbarer Ansatz für die Einleitung eines Prozesses konventioneller Abrüstung, an dessen Ende die Demilitarisierung stehen könnte, wird erst sichtbar, wenn man sich die allgemeinen und grundlegenden Prinzipien einer neuen europäischen Sicherheitspolitik vergegenwärtigt. Diese basieren auf der Annahme, daß Sicherheit nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch gemeinsam mit politischen Mitteln erreicht werden kann. Eigene Sicherheit muß dabei stets auch die Sicherheit des Nachbarn oder des Gegenüber berücksichtigen, zumal auch Gefahren und Krisen wie Umweltverschmutzung, zivile Reaktorunfälle, von den Folgen eines Atomkrieges ganz zu schweigen, nicht vor Grenzen haltmachen. Die Grundprinzipien einer so verstandenen Sicherheitspolitik müssen demnach lauten:

  • Beseitigung des militärischen Faktors als Mittel der Politik durch Abrüstung auf allen Ebenen
  • Schaffung kriegsverhindernder, vertrauensbildender und entspannungsfreundlicher Strukturen
  • Abrüstung muß Mittel zum Zweck, das heißt zur Entmilitarisierung des Ost-West-Konfliktes und die Umformung dieser Systemauseinandersetzung in einen friedlichen Wettbwerb sein
  • Durchsetzung umfassender und systemübergreifender Kooperation zur Lösung der globalen Probleme (Abrüstung, Entwicklung, Ökosphäre, Ressourcen, Menschenrechte)

Daraus lassen sich dann drei Hauptziele für den militärischen Bereich ableiten:

Überwindung der atomaren Abschreckung, das heißt Abschaffung der Massenvernichtungswaffen und C-Waffen Herstellung konventioneller Stabilität durch nichtoffensive Verteidigung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit dauerhafte Senkung der Rüstungsausgaben

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und konventionelle Abrüstung

Auch in dem Mandat über die VKSE-Verhandlungen (siehe Kapitel III.) kehrt der Begriff der »konventionellen Stabilität» wieder. Was er schließlich konkret bedeuten, wie er in konkrete gegenseitige Schritte der Abrüstung und Umstrukturierung umgesetzt werden soll, darüber wird in den nächsten Jahren zäh verhandelt werden.

Militärexperten, Friedensforscher und Sicherheitspolitiker haben in den letzten Jahren eine Fülle von Konzepten zur konventionellen Stabilisierung entwickelt. (Ein Überblick bei: Karsten D. Voigt, Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte.In: aus politik und zeitgeschichte B 18/1988). Diese Vorschläge stellen vor allem militärische Lösungsansätze dar. Ihre Einordnung in übergreifende politische Konzeptionen wie in die Konturen einer Neuen Europäischen Friedensordnung oder dem Gemeinsamen Haus Europa geschieht allerdings selten. Ihre Wirksamkeit ergibt sich also erst im Rahmen des geschilderten politischen Gesamtkonzepts. Gleichwohl haben sich um den Begriff »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit» (StruNa), der Anfang der achtziger Jahre aufkam (vgl. Hans-Peter Dürr, Albrecht A.C. von Müller, NATO am Scheideweg. In: Frankfurter Rundschau, 1.+ 3.7.1983) Konzepte gruppiert, die aus realpolitischer Sicht sinnvolle Vorschläge enthalten. Sie stellen sozusagen die verteidigungs- und militärstrategische Ebene der politischen Konzeption Gemeinsame Sicherheit dar.

In diesem Zusammenhang von Militärstrategie und Politik soll das Stabilitätsziel durch die Orientierung an folgenden Kriterien erreicht werden:

  • Angriffsunfähigkeit: alle offensiven Optionen (sei es die Fähigkeit zu raumbesetzenden Operationen oder zu tiefen Schlägen – deep strikes – in gegnerisches Hinterland) müssen unmöglich gemacht werden. Damit würde ein signifikanter Abbau von Bedrohungen und Bedrohungsvorstellungen einhergehen.
  • Verteidigungsfähigkeit durch ein Potential zur strikten und effizienten Abhaltung eines gegnerischen Angriffs verlangt gegenseitige Verteidigerüberlegenheit. Die defensiven Mittel der beiden Kontrahenten müssen ihre Angriffspotentiale bei weitem übertreffen.
  • Abrüstung: aus der konzeptionellen Funktionslosigkeit von Offensivpotentialen ergeben sich weitreichende Perspektiven der Abrüstung.
  • Strukturveränderung: Streitkräfte und Bewaffnung müssen so angeordnet und gestaffelt sein, daß ihr defensiver Charakter deutlich wird.

(vgl.: E. Bahr / D. S. Lutz (Hg.), Gemeinsame Sicherheit Dimensionen u. Disziplinen, Baden Baden 1986-1987, Band I-III).

Dementsprechend definieren der ehemalige NATO-General Gerd Schmückle und der Starnberger Militärexperte Albrecht A.C. von Müller konventionelle Stabilität als “den Zustand einer robusten, wechselseitigen Verteidigerdominanz. Hier geht es also um ein militärisches Kräfteverhältnis, bei dem die nicht durch Überraschungsschläge zu gefährdende Verteidigungsfähigkeit beider Seiten deutlich größer ist als die Angriffsfähigkeit des jeweiligen Gegenübers. Die Verwirklichung eines derartigen Zustandes setzt die bewußte Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit bei gleichzeitigem Abbau von Angriffsfähigkeit in Ost und West voraus.” (Schmückle/von Müller: Das Konzept der “Stabilen Abhaltung”, Manuskript, Starnberg, April 1988)

Schwachpunkt der »StruNa«-Konzepte ist die Nuklearfrage. StruNa strebt zunächst keine vollständige Denuklearisierung an. Das verwandte Konzept der »stabilen Abhaltung« will eine nukleare Minimalabschreckung durch einige hundert Sprengköpfe mit politischem Demonstrationscharakter. Außerdem birgt StruNa die Gefahr der Verlagerung eines Rüstungswettlaufs auf den Bereich defensiver Waffensysteme.

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit ist, und hier wird die gemeinsame Sicherheit sozusagen »sinnfällig«, dann gegeben, wenn alle darin übereinstimmen, daß sie gegeben ist. Mit ihr werden die materiellen Voraussetzungen für Blockauflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung geschaffen.

In dieser Perspektive hat sie bereits Eingang in konkrete Politik gefunden. Vordenkerarbeit in dieser Hinsicht haben die SPD und die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) geleistet. Mit der Vorlage des gemeinsamen Papiers für vertrauensschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa hatten die Sozialdemokraten den Rahmen ihrer “zweiten Phase der Entspannungspolitik” nach den gemeinsamen Erklärungen mit der KPdSU und der SED um ein weiteres Stück vervollständigt. Diese Positionen finden sich inzwischen großenteils in den offiziellen Verhandlungszielen wieder.

Das Papier knüpft an die Warschauer-Pakt-Vorschläge von 1986 (Budapest) und 1987 (Ost-Berlin) sowie an den Jaruzelski-Plan von 1987 an (vgl. Teil II des Dossiers). Die Thesen fassen Vorschläge, “Kriterien und Maßnahmen für vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa” zusammen.

Aus ihm lassen sich Kriterien für eine solche Umorientierung ableiten:

  • gleiche Obergrenzen für Waffen, Verbände und Soldaten
  • drastische Reduzierung der Truppenstärken
  • Reduzierung durch weitgehende Abrüstung von Waffen und Verbänden auf ein niedrigeres Niveau als vorher
  • Beseitigung der Offensivfähigkeiten
  • Durchsetzung vertrauensbildender Maßnahmen und Verfikationsmodelle
  • Verbote und Beseitigungen bestimmter Waffen und Technologien
  • beidseitiges Vorgehen unter Einschluß eigenständiger Initiativen
  • paralleles Vorgehen auf allen Feldern mit Vorrang bei den atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen. (Gemeinsame Erklärung der Arbeitsgruppe SPD/PVAP über Kriterien und Maßnahmen für vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa, Bonn 1988).
  • Bündnisimmanenz des Prozesses. Die existierenden Militärbündnisse, sind eine unausweichbare Realität, die nur aus den Bündnissen heraus überwunden werden kann. Statt der isolierten und sterilen Diskussionen über die Frage einer abstrakten Blockzugehörigkeit, geht es beim Konzept Gemeinsamer Sicherheit auch darum, “die Bündnisse auf der Grundlage eines erweiterten Sicherheitsbegriffs zu einem aktiven Faktor beim Umbau der Ost-West-Beziehungen zu machen”, wie es der Starnberger Friedensforscher Albrecht von Müller (auf dessen Forschungen das Wortungetüm Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit zurückgeht) und der ehemalige Bundeswehr- und NATO-General Gerd Schmückle forderten.

Nach Ansicht der Sicherheitsexpertin der SPD-Bundestagsfraktion, Katrin Fuchs, sind Abrüstung und Beseitigung besonders der offensivfähigen Waffen die Voraussetzung, um eine wirklich einschneidende Reduzierung der Militärausgaben zu erreichen, die wiederum dringend gebraucht wird, wenn der Menschheit ihre vielfältigen Probleme nicht endgültig über den Kopf wachsen sollen. Dies hatte schon der Nürnberger SPD-Parteitag gefordert.(Parteitag der SPD in Nürnberg, 25.-29.8.1986, Beschlüsse, S. 861-897).

Konventionelle und nukleare Abrüstung hängen in diesem Prozeß eng zusammen. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht darum die Auseinandersetzung über die nuklearen Kurzstreckenraketen. An dieser Frage scheinen alle Widersprüche der nuklearen Abschreckungsstrategie wie in einem Brennglas auf. Aufgrund der veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen und deren Rückwirkungen auf die NATO-Strategie sieht der Friedensforscher Alfred Mechtersheimer die NATO in einer “Existenzkrise”. (Rede im Deutschen Bundestag, 28.4.1989) Zugleich werden – im Lichte der Erfahrungen von Reykjavik, als “die Supermächte bereit waren, die Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit einzureißen und über die Köpfe ihrer Verbündeten hinweg die nukleare Abschreckung zur Disposition zu stellen” (Günther Nonnenmacher, FAZ vom 29.4.1989) – die Befürchtungen über eine unkontrollierbare Veränderung des sicherheitspolitischen status quo zu Lasten Europas und der Deutschen laut, die zu einer psychologischen Hemmschwelle für den Abrüstungsprozeß werden könnten.

Insgesamt steht fest, daß mit den Wiener Verhandlungen aufgrund ihres Zusammenhanges in die bevorstehende Entscheidung über das NATO-Gesamtkonzept der Gesamtzusammenhang aller Fragen von Abrüstung, Rüstungskontrolle und politischer Kooperation auf der Tagesordnung steht. Für die realistischen Konservativen stellt sich folgerichtig die Frage einer “verläßlichen Ordnung für einen zerbrechlichen Kontinent”, in der die militärische Sicherheitskomponente “nicht mehr allein das gestaltende Element sein” kann. (Michael Stürmer, FAZ vom 29.4.1989). Sie warnen deshalb davor, Chancen zu verpassen: “Die NATO muß dort auf Gorbatschow eingehen, wo es für eine Neuordnung der europäischen Sicherheit nötig ist. Sie muß begreifen, daß die Nachkriegszeit zu Ende ist und die im kalten Krieg erstarrten Fronten in Bewegung geraten sind.” (Jan Reifenberg, FAZ vom 18.4.1989)

Im Unterschied zu den INF-Verhandlungen ist die Bundesrepublik diesmal bei den VKSE-Verhandlungen als direkt beteiligter Verhandlungspartner gefordert. Damit wird ihre Schlüsselrolle an der Nahtstelle der Systeme noch deutlicher. Hier wird sich besonders klar zeigen, ob die Bundesregierung dafür sorgen wird, daß einschneidende konventionelle Abrüstungsschritte möglich werden, damit ein weitergehender Abrüstungsprozeß ermöglicht wird.

II. Die Entwicklung der Positionen zur konventionellen Abrüstung 1986-1989.

Der Gorbatschow-Plan

Am 15.1.1986 legte KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow in Moskau einen Plan zur phasenweisen Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor, den sogenannten Gorbatschow-Plan.

Den Beginn dieser Entwicklung sollte die 50prozentige Reduzierung aller strategischen Waffen machen. Gleichzeitig sollten USA und Sowjetunion auf die Entwicklung von Weltraumwaffen und weitere Atomwaffenversuche verzichten.

Als weitere Vorschläge enthielt der Gorbatschow-Plan die Bereitschaft der UdSSR, alle Abkommen, auch vor Ort, der Verifikation (Kontrolle) zu unterwerfen. Gorbatschow sprach sich darin in sehr allgemeiner Form auch für Fortschritte bei der konventionellen Rüstungskontrolle aus. Er erklärt außerdem die Bereitschaft, durch Abrüstung die Entwicklung der Dritten Welt zu fördern.

Mit diesem Vorschlag – man mag es drehen und wenden wie man es will – hatte die Sowjetunion auch ganz offiziell als erste konsequent mit der atomaren Abschreckungsideologie gebrochen und ihre Bereitschaft verkündet, einen Umwandlungsprozeß analog zu den genannten Kriterien Gemeinsamer Sicherheit einzuleiten.

Bewegung in die Frage konventioneller Abrüstung kam erst durch eine neue Initiative des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow auf dem SED-Parteitag am 18. April 1986 in Ost-Berlin. In seinem Vorstoß schlug er “bedeutende Reduzierungen aller Komponenten der Landstreitkräfte und der taktischen Fliegerkräfte bei Auflösung der jeweiligen reduzierten Truppenteile und Vernichtung oder nationaler Lagerung der Rüstungen” vor. Diese sollten verknüpft werden mit dem “Abbau nuklearer Rüstungen operativ-taktischer Bestimmung”. Die Reduzierungen sollten in einer von beiden Seiten kontrollierten Weise vorgenommen werden. Dazu zählte Gorbatschow auch internationale Überprüfungsformen, z.B. Vor-Ort-Inspektionen. Als Reduzierungsraum schlug Gorbatschow erstmals – und damit verließ er den Ansatz der bisherigen MBFR-Gespräche – das Gebiet “vom Atlantik bis zum Ural”, also ganz Europa unter Einbeziehung der westlichen UdSSR-Militärbezirke. vor. Gorbatschow begründete seine Initiative darüberhinaus mit dem Wunsch, westliche Einwände gegen weitergehende Schritte auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung aus dem Weg zu räumen.

Die NATO reagierte auf diesen Vorschlag und die neue Situation, die durch ihn entstanden war auf ihrer Frühjahrstagung im Mai 1986 im kanadischen Halifax mit der Einsetzung einer »High Level Task Force« (HLTF), die die Vorschläge überprüfen sollte. (Arms Control Reporter, 1/1989, 407.A.3; FAZ vom 30.6.1986)

Budapester Appell – Brüsseler Erklärung

Gorbatschows Vorschlag wurde auf der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschußes des Warschauer-Paktes am 11. Juni 1986 in Budapest aufgenommen und als »Budapester Appell» verkündet. In ihm näherte sich der Warschauer Pakt noch weiter an die westlichen Vorstellungen an.

Der Appell sah als ersten Schritt vor, “eine einmalige Reduzierung der Truppenstärken der Staaten der beiden einander gegenüberstehenden militärpolitischen Bündnisse innerhalb von ein bis zwei Jahren um 100.000 bis 150.000 Mann auf jeder Seite vorzunehmen... Bei entsprechender Bereitschaft der Länder des nordatlantischen Bündnisses würden dadurch Anfang der 90er Jahre die Landstreitkräfte beider Bündnisse in Europa um ca. 25 Prozent des heutigen Niveaus reduziert werden.” Es handelte sich also um einen Vorschlag, der symmetrische Reduzierungen in beiderseits gleichem Umfang und den prozentualen Abbau von einem gegebenen Niveau vorsah und mit diesem Element noch keine wesentliche Neuerung bedeutete.

Außerdem wurde die Notwendigkeit der Umstellung der Militärdoktrinen auf “Verteidigungsprinzipien” festgestellt. Maßnahmen zur Vermeidung eines Überraschungsschlages und von Offensivoperationen sollten eingeleitet werden. Zur weiteren Erörterung der Vorschläge zur konventionellen Rüstung sollte ein “spezielles Forum” oder eine erweiterte MBFR-Runde diskutieren.

Im Appell heißt es weiter: “Die durch entsprechende Reduzierungen der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen freiwerdenden Mittel dürfen nicht für die Schaffung neuer Waffenarten oder für andere militärische Zwecke eingesetzt, sondern müssen für die ökonomische und soziale Entwicklung verwendet werden.” (Appell der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages an die Mitgliedstaaten der NATO, an alle europäischen Länder zur Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa. TASS-APN, Dokumente, Nr. 54/86, Köln 12.6.1986)

In Reaktion auf diese Entwicklung verabschiedeten die NATO-Außenminister am 12. Dezember 1986 die »Brüsseler Erklärung», in der sie dem Warschauer Pakt vorschlugen im Rahmen und unter dem Dach des KSZE-Prozesses neue Verhandlungen über ein Mandat für Verhandlungen über die Konventionelle Rüstungskontrolle (KRK) neben den weiterzuführenden MBFR- und KVAE-Verhandlungen aufzunehmen und deren Geltungsbereich ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural umfassen sollte. Die Brüsseler Erklärung verlangte weiter den einseitigen Abbau des von des NATO wahrgenommenen Übergewichts des Warschauer-Paktes im konventionellen Bereich. Die vorgeschlagenen Mandatsverhandlungen begannen schließlich am 17. Februar 1987 im Rahmen des KSZE-Folgetreffens in Wien. (FAZ, 12.12.1986; vgl. auch: Sigurd Boysen: Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural. In: aus politik und zeitgeschichte, B 44/87, S. 24ff)

Asymmetrie-Zugeständnis in Prag

Ein weiteres Einschwenken auf westliche Forderungen zeigte sich schließlich erneut in einer Rede Gorbatschows am 10. April 1987 in Prag, als er erstmals existierende Ungleichgewichte im konventionellen Bereich des Ostens zugab und asymmetrische Reduzierungen akzeptierte. Gorbatschow erklärte, die Sowjetunion sei für “die Beseitigung irgendwelcher Elemente der Ungleichheit, der Asymmetrie, wenn es diese bei diesen Waffen tatsächlich gibt.”

In dem wiederum dieser Rede folgenden Beschlüssen des Warschauer Paktes von Ostberlin vom 28./29. Mai 1987 wurden “Konsultationen über entstandene Ungleichgewichte bei einzelnen Arten von Rüstungen und Streitkräften sowie die Suche nach ihrer Beseitigung”, also Verhandlungen zur “Verminderung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt.” Damit war quasi vorgeschlagen, gemeinsam auf die Herstellung einer gegenseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit hinzuwirken. Wiederum wird die Auflösung von WVO und NATO im Falle der Schaffung eines Systems kollektiver Sicherheit vorgeschlagen und zum ersten Mal werden Konsultationen zu Fragen der Militärdoktrinen vorgeschlagen. Die Konferenzteilnehmer erteilten jedem militärischem Angriff gegen ein Staatenbündnis eine Absage.

Zusätzliche Zielstellungen tauchten in Form der Schaffung von “Zonen verringerter Rüstungskonzentration” auf, an deren Frontlinie an der Nahtstelle der Bündnissysteme die Rüstungs- und Streitkräftekonzentration verringert werden solle. (Europa-Archiv, 1987, 14, S. D 392-394)

Vorausgegangen war diesem Vorschlag am 8. Mai 1987 die Präsentation des sogenannten Jaruzelski-Plans, der, auf den polnischen Plänen für eine nuklearwaffenfreie Zone und das Einfrieren der atomaren Rüstungen aufbauenden Vorschläge zur atomaren und konventionellen Rüstungsverminderung im MBFR-Gebiet machte und vorschlug, die Waffen allmählich abzuziehen, die für einen Überraschungsangriff besonders gut geeignet sind. Außerdem sieht der Jaruzelski-Plan blockübergreifende Gespräche über den Charakter der Militärdoktrinen vor.

Die NATO reagiert auf die östlichen Vorschläge auf ihrer Außenministertagung in Reykjavik am 12. Juni 1987 mit der Forderung nach der “Entwicklung eines Gesamtkonzeptes für Rüstungskontrolle und Abrüstung” (Europa-Archiv, Nr. 14/1988, S. D 382f.).

Ende 1987 einigten sich die 23 Verhandlungspartner bei den KRK-Mandatsverhandlungen auf eine Liste der künftigen Verhandlungsgegenstände, die sich im wesentlichen an der Brüsseler Erklärung der NATO von 1986 orientierte und

  • die Herstellung eines stabilen Gleichgewichts bei den konventionellen Truppen und Waffensystemen,
  • den Abbau der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zu großräumigen Offensiven,
  • die Beseitigung von Disparitäten, die sich nachteilig auf die Stabilität und Sicherheit auswirken
  • sowie regionale Differenzierungen hinsichtlich der Obergrenzen der verbleibenden Potentiale umfasste. (Arms Control Reporter, 1-89, 407.A.3/Mutz, in: Friedensgutachten 1988, S. 124)

Brüsseler Erklärung: “Der Weg nach vorn”

Im März 1988 versammelten sich die Staats- und Regierungschefs der NATO erneut in Brüssel zu einem Gipfeltreffen, um die Ergebnisse der Wiener Mandatsverhandlungen zu würdigen. Die NATO-Führer erklärten in ihrer Deklaration “Der Weg nach vorn” ihre Bereitschaft zu Gesprächen über konventionelle Rüstungsreduzierung, allerdings nur im Rahmen eines noch auszuarbeitenden Gesamtkonzeptes für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Diese Gespräche sollen der “Herstellung eines stabilen und sicheren Niveaus konventioneller Streitkräfte durch die Beseitigung von Ungleichgewichten in ganz Europa” dienen. Die NATO wandte sich wegen der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes in Europa gegen jede Denuklearisierung. Eine gesonderte Erklärung zur konventionellen Rüstungskontrolle wiederholt die Ziele der NATO bei den VKSE-Mandatsverhandlungen Ende 1987.

Die Erklärung stellte fest: “Das Bestehen eines konventionellen Ungleichgewichts zugunsten des Warschauer Paktes ist nicht der einzige Grund für die Anwesenheit von Kernwaffen in Europa. Die Bündnisstaaten sind und werden von sowjetischen nuklearen Streitkräften verschiedener Reichweiten bedroht. Obwohl ein konventionelles Gleichgewicht für die (Gesamt-)Stabilität wichtige Vorteile schaffen würde, kann nur die nukleare Komponente einen Angreifer vor unannehmbare Risiken stellen. Deshalb benötigt die Abschreckung für die übersehbare Zukunft eine zureichende Mischung von nuklearen und konventionellen Streitkräften.”

Die NATO verlangte, einen “hohen, asymmetrischen Abbau des Ostens, der beispielsweise den Abzug von Zehntausenden von Waffen des Warschauer Paktes beinhaltet, die für Überraschungsangriffe dienen können.”(Europa-Archiv, Nr. 7/1988, D201-208)

Auf seiner Außenministertagung am 6.4.1988 in Sofia ließ der Warschauer Pakt die Forderung nach einer Koppelung von VKSE-Verhandlungen mit Gesprächen über die taktischen Nuklearwaffen und Systemen mit doppelter Verwendungsfähigkeit fallen und befürwortet separate Verhandlungen.

Warschau: Drei-Stufen-Plan

Am 8. Juni 1988 stellte der sowjetische Außenminister Schewardnadse vor der UN-Generalversammlung in New York einen Drei-Stufen-Plan zur konventionellen Abrüstung in Europa vor, der auf einer Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer-Paktes am 15. und 16. Juli 1988 in Warschau konkretisiert und verkündet wurde. Ziel dieses Plans war es, einen solchen “Zustand herbeizuführen, bei dem die Länder der NATO und des Warschauer Vertrages Kräfte und Mittel behalten, die für die Verteidigung erforderlich sind, jedoch für einen Überraschungsangriff und für Angriffsoptionen nicht ausreichen.”

In der ersten Etappe dieses Plans soll die “beiderseitige Liquidierung der Ungleichgewichte und Asymmetrien” und die Herbeiführung gleicher niedrigerer Obergrenzen erreicht werden. In der zweiten Etappe “würden die Streitkräfte jeder Seite um ungefähr 25 Prozent (ca. 500.000 Mann) mit ihrer strukturmäßigen Bewaffnung reduziert”, in der dritten Phase schließlich “würden weitere Reduzierungen der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen erfolgen und die Streitkräfte beider Seiten strikten Verteidigungscharakter annehmen.” Dazu gehört auch der Austausch von Ausgangsdaten über das Ausmaß der konventionellen Rüstung noch vor Verhandlungsbeginn. Außerdem sollen entlang der Berührungslinie der beiden militärisch-politischen Bündnisse Zonen verringerten Rüstungsniveaus geschaffen werden. Mit dieser Tagung hatte der Warschauer Pakt offiziell und eindeutig die Position eingenommen, daß zuerst die Asymmetrien zwischen den Paktsystemen abgebaut und die weiteren Reduktionen dann in gleich großen Schritten unternommen werden müssen. (Europa-Archiv, Nr. 15, D420-429)

UNO-Initiative Gorbatschows

Am 7. Dezember 1988 legte Michail Gorbatschow auf der 43. UNO-Vollversammlung noch einmal nach und verkündete einen weitreichenden einseitigen Rüstungsschnitt. Danach wird in den Jahren 1989 und 1990 der Personalbestand der sowjetischen Streitkräfte um 500.000 Mann verringert, zugleich werden aus der DDR, der CSSR und Ungarn 50.000 Mann, 10.000 Panzer 8.500 Systeme der Artillerie, 800 Kampfflugzeuge abgezogen, sechs sowjetische Panzerdivisionen aufgelöst. Die verbliebenen Truppen im europäischen Teil der Sowjetunion werden erheblich verringert und die bei den Verbündeten verbliebenen Truppen werden neu, d.h. defensiv umstrukturiert. Von bloß symbolischer Effekthascherei konnte bei diesem Vorschlag eigentlich keine Rede sein: “Gorbatschows Vorschlag kommt einer Reduzierung der besten und modernsten sowjetischen Streitkräfte in Osteuropa und in den westlichen Militärbezirken Rußlands um ein Drittel gleich.” (Jan Reifenberg, FAZ vom 9.12.1988).

(Rede Michail Gorbatschows vor der UNO in New York, Sowjetunion heute, Nr. 1, Januar 1989).

Genau einen Tag später reagierte die NATO: Am 8.12.1988 legten die Außenminister noch vor der Verabschiedung des von der High-Level-Task-Force erarbeiteten Dokuments für das Verhandlungsmandat in Wien eine Erklärung mit eigenen Abrüstungseckdaten vor. Kernpunkt der Forderung des westlichen Bündnisses blieb die Forderung nach asymmetrischer Abrüstung. Nach ihrem Vorschlag soll kein Staat zwischen Atlantik und Ural mehr als 12.000 Kampfpanzer unterhalten dürfen. Die Gesamtzahl der Panzer auf beiden Seiten soll eine Obergrenze von 40.000 nicht überschreiten. “Dies würde eine Reduzierung für den Warschauer Pakt um mehr als 60 Prozent bedeuten, die NATO müßte zehn Prozent abbauen... Diese Forderung hat vor allen Dingen für die Sowjetunion und ihre großen Panzerbestände Bedeutung. Ihr blieben, wie allen anderen Staaten auch, nur höchstens 12.000 Panzer. Einschränkungen sollen vor allem für die außerhalb des eigenen Landes stationierten Streitkräfte wirksam werden. Dabei sollen auch Untergrenzen eingeführt werden, damit die Streitkräfte-Konzentration in Schlüsselregionen Europas unmöglich werde.” (Jan Reifenberg in: FAZ vom 9.12.1988)

Auf der Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages im Januar 1989 gibt der Warschauer Pakt – noch vor Beginn der Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa – einen offiziellen Kräftevergleich der konventionellen Streitkräfte in Europa heraus.

Darin gibt er “eine Überlegenheit bei Panzern, Startrampen für taktische Raketen, Kampf-Abfangflugzeugen der Truppen der Luftverteidigung sowie bei Schützenpanzern, Schützenpanzerwagen und Artillerie” zu. (vgl. FAZ vom 31.1.1989; Süddeutsche Zeitung vom 8.2.1989).

III. Mandat und Ausgangslage bei den Wiener Verhandlungen

Das Mandat

Am 15. Januar 1989 wurde in Wien das Abschließende Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens, das am 4. November 1986 begonnen hatte und am 19. Januar 1989 beendet worden ist, verabschiedet. Es enthält im Anhang u.a. auch das Mandat für die “Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa”, auf das sich die Verhandlungsdelegationen am 16. Januar 1989 im Wiener Palais Liechtenstein nach fast 23monatiger Verhandlungsdauer geeinigt hatten.

Die VKSE-Runden, die im Rahmen der Verhandlungen der 35 KSZE-Mitgliedsstaaten und parallel zu den Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen und Verifikation (KVAE) stattfinden, sollen die nach 15jähriger Verhandlungsdauer nahezu ergebnislos verlaufenden MBFR-“Verhandlungen über einen beiderseitigen, ausgewogenen Truppenabbau” in Europa ersetzen. Die VKSE-Verhandlungen der 23 und die KSZE-Folgekonferenzen sollen durch »eine enge bilaterale Kooperation und Information« gekoppelt werden. Das schließt eine Pflicht der Unterrichtung der 23 am KSZE-Prozeß Teilnehmenden gegenüber den Neutralen und Nichtpaktgebundenen Staaten durch die Vertreter der 23 ein. Die VKSE-Verhandlungen bleiben jedoch nach den gemeinsamen Verfahrensregeln eine selbstständige Konferenz: “Die Ergebnisse der Verhandlungen werden nur von den Teilnehmern bestimmt.”

Verhandelt werden soll über die Abrüstung konventioneller Waffen und Streitkräfte in dem “gesamten Landterritorium der Teilnehmer in Europa vom Atlantik bis zum Ural.” Ziel der Verhandlungen ist

  • “die Festigung der Stabilität und Sicherheit in Europa durch die Schaffung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte...auf niedrigerem Niveau”
  • “die Beseitigung von Ungleichgewichten, die nachteilig für Stabilität und Sicherheit sind” und “als vorrangige Angelegenheit”
  • “die Beseitigung der Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung grossangelegter offensiver Handlungen”.

Als Methoden zur Erreichung dieser Ziele nennt das Mandat “Reduzierungen, Begrenzungen, Bestimmungen zu Umdislozierungen, gleiche Obergrenzen” und auch “regionale Differenzierungen, um Ungleichgewichte innerhalb des Anwendungsgebietes zu beseitigen.”

Als Verhandlungsgegenstand werden ausschließlich “die auf Land stationierten konventionellen Streitkräfte” benannt. Damit sind die Luftstreitkräfte von NATO und Warschauer Pakt grundsätzlich im Mandat enthalten. Kernwaffen, Seestreitkräfte und chemische Waffen sind von den Verhandlungen ausgeschlossen.

Ein wichtiger strittiger Punkt der Vorverhandlungen waren die doppelt verwendbaren Waffensysteme. Der Warschauer Pakt hatte auf einer Einbeziehung bestanden, Frankreich dagegen war von Anfang an dagegen, um seinen Atomstatus nicht zu gefährden und indirekt in den NATO-Zusammenhang hineingezogen zu werden. Das Mandat sieht einen Kompromiß vor. Es bestimmt: “Keine konventionelle Bewaffnung oder Ausrüstung wird als Verhandlungsgegenstand ausgeschlossen, weil sie neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben kann. Solche Bewaffnung oder Ausrüstung wird nicht als gesonderte Kategorie herausgestellt.” Mit diesem auf den bundesdeutschen Außenminister Genscher zurückgehenden Kompromiß, diese Systeme nicht zu erwähnen, sollte zunächst gesichert werden, daß die Verhandlungen überhaupt aufgenommen werden können. Später soll dann konkret entschieden werden, welche Waffen zu welcher Zeit behandelt werden. (Der Spiegel, 40/1988, S. 22). Damit behält sich aber jede Seite das Recht vor, zu gegebener Zeit einzelne Waffensysteme und Streitpunkte solcher Art zu benennen. Für den Westen wären das dann Truppenstärken, Panzer und Kanonen, bei denen die NATO den Warschauer Pakt überlegen wähnt. Erst wenn diese “so weit abgebaut wären, daß sie nur noch Verteidigungszwecken dienen könnten” (FAZ vom 19.7.1988) könnte es dann für den Osten möglich sein die Kampfflugzeuge, bei denen er ein westliches Übergewicht sieht, einzubringen.

Darüberhinaus fordert das gemeinsame Mandat ein “wirksames und striktes Verifikationsregime” sowie das “Recht auf Vor-Ort-Inspektionen”. Jede Veränderung des Verhandlungsmandats kann nur mit Übereinstimmung aller Teilnehmer erfolgen: “Die erzielten Abkommen sollen international verbindlich sein. Über die Art ihres Inkrafttretens wird während der Verhandlung entschieden.”

Insgesamt gesehen ist das Mandat ein Erfolg der USA, da die Frage der taktischen Nuklearwaffen, die die Sowjetunion in die Verhandlungen einbezogen wissen wollte, nicht im Mandat enthalten sind. Wann parallele Verhandlungen zu diesem Thema aufgenommen werden sollen, ist derzeit noch unklar. In einer Verlautbarung der NATO in Brüssel im April wurde betont, daß für die NATO die Wiener Verhandlungen Vorrang vor möglichen Verhandlungen über die taktischen Nuklearwaffen haben. “Der Westen habe trotz der Aufforderung der Außenminister des Warschauer Pakts in Ost-Berlin, gleichzeitig über Kurzstreckenwaffen zu verhandeln, keinen Anlaß, von dem Ziel abzugehen, die Invasionsfähigkeit des Ostens und damit die unmittelbare Gefährdung Westeuropas zu beseitigen und Stabilität zwischen Atlantik und Ural herzustellen.” Damit will sich die NATO eine Modernisierungsoption vor allem deshalb offenhalten, um der von der Sowjetunion ausgehenden Gefahr der Denuklearisierung Europas zu entgehen, also nicht von der nuklearen Abschreckungsdoktrin abgehen zu müssen. (FAZ vom 14.4.1988).

Der westliche Verhandlungsvorschlag

In der Substanz umfasst der westliche Verhandlungsvorschlag nur die drei Waffensysteme, in denen er die Ungleichgewichte zugunsten des Ostens vermutet: Kampfpanzer, Artillerie, und gepanzerte Infanterie-Kampffahrzeuge. Hier sollen vor allem durch Vereinbarung gemeinsamer Obergrenzen Reduzierungen auf ca. 90% der Waffenbestände der NATO erreicht werden. Vorschläge für die Kampfflugzeuge liegen keine vor. Ihre Einbeziehung wird nicht grundsätzlich abgelehnt. Der Westen will sie erst später in die Verhandlungen einbeziehen und darüber “erst nach Abschluß der ersten Verhandlungsphase mit der Verringerung der drei Hauptwaffenkategorien der konventionellen Rüstung reden.” (dpa, 6.3.1989).

Nach dem Willen des Westens soll

  • der Gesamtbestand im Vertragsgebiet zwischen Atlantik und Ural auf 40.000 Panzer, 33.000 Artilleriegeschütze und 56.000 Infanterie-Kampffahrzeuge reduziert werden. Das hieße, daß der Warschauer Pakt wie die NATO jeweils 20.000 Kampfpanzer, 16.500 Artilleriegeschütze und 28.000 Infanterie-Kampffahrzeuge besitzen dürfe.
  • kein Land soll – im Sinne der “Hinlänglichkeit (Suffizienz)” – dann in Europa mehr als dreißig Prozent dieser Gesamtzahl dieser drei Kategorien beibehalten, d.h. jeweils 12.000 Kampfpanzer, 10.000 Artilleriegeschütze und 16.800 Infanterie-Kampffahrzeuge.
  • bei den Bündnisstaaten, die Streitkräfte auf dem Territorium von Partnern unterhalten, soll bei den aktiven Verbänden die Zahl 3200 Panzer, 1700 Geschütze und 6000 Infanterie-Kampffahrzeuge nicht übersteigen.

Im Vorschlag der NATO ist der Gesamtraum der Reduzierungen in verschiedene ineinander verschachtelte Unterzonen untergliedert, in denen sukzessive die Verminderungen vorgenommen werden sollen. Es handelt sich um die Gebiete:

  • In der Zone 1: Vom Atlantik bis zum Ural sollen beide Pakt-Systeme in aktiven Verbänden nicht mehr als 11.300 Panzer, 9000 Artilleriegeschütze und 20.000 Infanterie-Kampffahrzeuge unterhalten.
  • Die Zone 2: von Frankreich bis Weißrußland sollen in aktiven Einheiten nicht mehr als 10.300 Panzer, 7600 Artilleriegeschütze und 18.000 Infanterie-Kampffahrzeuge vorhanden sein.
  • Die Zone 3: umfasst nach NATO-Vorstellung die alte MBFR-Zone Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Luxemburg, die Niederlande, die DDR, Polen und die CSSR. Hier sollen in den aktiven Einheiten nicht mehr als 8.000 Kampfpanzer, 4.500 Artilleriegeschütze und 11.000 Infanterie-Kampffahrzeuge unterhalten werden.

(Quelle: NATO-Vorschlag zu Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE), Stichworte zur Sicherheitspolitik des Bundespresseamtes, Bonn, März 1989).

Darüberhinaus enthält der westliche Vorschlag weitere “Maßnahmen im Hinblick auf Stabilität, Verifikation und den Ausschluß einer Umgehung von Reduzierungsmaßnahmen” für notwendig: Transparenz-, Notifizierungs- und Beschränkungsmaßnahmen für die Dislozierung konventioneller Streitkräfte; Verifikationen und Vor-Ort-Inspektionen. Als “längerfristige Perspektive” der Verhandlungen nennt er

  • weitere Reduzierungen oder Begrenzungen konventioneller Waffen und Ausrüstung sowie
  • die Umstrukturierung von Streitkräften mit dem Ziel, ihre defensiven Fähigkeiten zu stärken und die offensiven Fähigkeiten weiter zu verringern.

Der Verhandlungsvorschlag des Ostens

Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse legte auf der Eröffnungssitzung der Wiener Konferenz für den Warschauer Pakt ein »Arbeitspapier» mit dem Titel “Konzeptioneller Ansatz zur Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa” vor. Nach diesem Vorschlag soll die Abrüstung in Europa in drei Etappen vor sich gehen:

  • Erste Etappe: (1991-94): Hier sollen die Asymmetrien zwischen den beiden Bündnissen, sowohl hinsichtlich der zahlenmäßigen Stärke, als auch der wichtigsten Rüstungsarten beseitigt werden. Außerdem soll mit dem Abbau der Offensivwaffen begonnen werden: Kampfflugzeuge, Panzer, Kampfhubschrauber, Schützenpanzer und Artillerie. In dieser Etappe sollen die Streitkräfte auf gleiche gemeinsame Höchstgrenzen reduziert werden, die bei jeder Waffenart um 10 bis 15 Prozent niedriger liegen als das jetzige niedrigste Niveau eines der beiden Bündnisse.
    Dabei sollen auch Berechnungsregeln für einen einheitlichen Datenaustausch festgelegt werden. Ebenfalls in dieser ersten Etappe sollen entlang der Berührungslinie der beiden Bündnisse Gebiete eines verringerten Rüstungsniveaus geschaffen werden, aus denen die gefährlichsten Waffenarten entweder abgezogen oder begrenzt werden. Der Umfang, die Tiefe dieser Gebiete soll unter der Berücksichtigung geostrategischer und andere Faktoren erfolgen.
  • Zweite Etappe (1994-97): Darin sollen auf der Grundlage der dann bereits erreichten gleichen Höchstgrenzen beider Bündnisse weitere Reduzierungen vorgenommen werden. Die Streitkräfte mit ihrer Bewaffnung sollen um etwa 25 Prozent, das wären auf jeder Seite ca. 500.000 Mann verringert werden. Der Abbau der Offensivpotentiale soll in dieser Etappe weitergeführt werden und z.B. die im Mandat nicht genannten Rüstungskategorien, wie Seestreitkräfte erfasst werden. Gleichzeitig sollen Schritte auf eine defensive Umorientierung der Streitkräfte eingeleitet werden.
  • Dritte Etappe (1997-2000): Hier werden die Reduzierungen fortgesetzt bis zu dem Stand, wo keine Seite mehr die Mittel für einen Angriff besitzt. Zu diesem Zeitpunkt sollen auch alle Rüstungskategorien von der Abrüstung erfasst sein. Zur Kontrolle der Vereinbarungen schlägt die Sowjetunion ein umfassendes System vor, einschließlich von Inspektionen vor Ort, auf dem Land und in der Luft und zwar ohne ein Recht auf Verweigerung. Kontrollpunkte sollen innerhalb der Reduzierungszone geschaffen werden, außerdem eine internationale Kontrollkommission mit umfassenden Vollmachten, der Vertreter aller Teilnehmerstaaten angehören.

Der sowjetische Vorschlag ist von Offenheit und Flexibilität geprägt. Während der Westen mit genauen numerischen Höchstgrenzen und einem detaillierten Regionalkonzept operiert, nennt der Osten nur Prozentzahlen, bekundete aber im Prinzip auch die Bereitschaft, Höchstgrenzen zuzustimmen. Generell ist der Vorschlag der Sowjetunion auch deutlich offener für tiefere Rüstungsschnitte, während die NATO nur unwesentlich (95%) unter ihr derzeitiges Niveau gehen möchte. Der SPD-Politiker Andreas von Bülow nennt den NATO-Ansatz deswegen “timide”. Er wolle Abrüstung nur in Form »homöopathischer Dosen» verabreichen. (Pressekonferenz am 28.4.1989 in Bonn) Indem der Osten die Nennung konkreter Zahlen zunächst umging, weigerte er sich implizit einem rein quantitativen Kräftevergleich zuzustimmen und brachte damit die technologische Überlegenheit des Westens auf die Agenda der Konferenz in Wien. Die FAZ urteilt:“ Als besonders auffallend wertet man in westlichen Verhandlungskreisen die Tatsache, daß der Osten seinen Vorschlag so allgemein formuliert hat. Man zögert, dies als einen Mangel zu bewerten, sondern hält es für möglich, daß dahinter die Absicht steht, sich die Möglichkeit des Eingehens auf konkrete Vorschläge der anderen Seite zu belassen.” (FAZ vom 11.3.1989) Damit hält sich die sowjetische Seite offensichtlich auch die Möglichkeit offen, im kommenden Verhandlungs- und Diskussionsverlauf den Gang der Auseinandersetzung mit weiteren einseitigen Aktionen zu begleiten. Das Interesse der UdSSR nach einem dynamischen Verhandlungsprozeß wird auch daran deutlich, daß der sowjetische Außenminister Schewardnadse vorgeschlagen hat, zweimal im Jahr eine Außenministerkonferenz in den Verhandlungsprozeß zu integrieren, damit das “Feuer” der Verhandlungsführung erhalten bleibe.

(Quelle: Monitor-Dienst, Stimme der DDR, 10.3.1989; FAZ vom 11.3.1989; Kurier (Wien), vom 9.3.1989, Süddeutsche Zeitung vom 7.3.1989).

Nach dem Ende der ersten Verhandlungsperiode wird die sowjetische Absicht deutlich, nun bereits die Kampfflugzeuge, bei denen der Osten eine Überlegenheit der NATO vermutet, in ein erstes Abkommen mit einbeziehen zu wollen. Die westlichen Staaten befürworten dies erst nach erfolgter Einigung bei der Abrüstung der übrigen Kategorien: “Die sowjetischen Sprecher, der Verhandlungsführer Grinevski und sein militärischer Berater, General Tatarnikov, machten in Wien deutlich, daß ihre Regierung auf die Einbeziehung bestimmter Kategorien von Kampfflugzeugen, nämlich von Jagdbombern, in ein erstes Abkommen dringt.” Der Westen bezweifelte die östlichen Zahlenangaben in dieser Kategorie und lehnt außerdem die von der UdSSR bevorzugte Ausklammerung der der Heimatverteidigung dienenden sowjetischen Kampfflugzeuge ab. Die indirekte Einbeziehung dieser Kategorie in die Verhandlungen dadurch, daß sie nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurden, war ein Kompromiß innerhalb der westlichen Staaten. Zwar bleibt, wie die FAZ berichtet, (auf westlicher Seite unbestritten, daß die Flugzeuge, obwohl deren hohe Beweglichkeit sie zu einer Sonderkategorie macht, die nicht zur direkten »Invasionsfähigkeit« beider Seiten zählt, auf die Dauer nicht aus den VKSE-Verhandlungen ausgeschlossen werden können.” (Jan Reifenberg: Ernsthafte Abrüstungsgespräche in Wien, FAZ vom 25.3.1989) Die sowjetische Absicht wird hier nun aber als Versuch gewertet, die Einigkeit des Bündnisses zu erproben und so die Verhandlungen früh zu gefährden, wiewohl unbestritten ist, daß Kampfflugzeuge eindeutig ebenso offensive Fähigkeiten besitzen wie Panzer usw. (Karl Feldmeyer: Moskau hat den Hebel angesetzt, in: FAZ vom 7.4.1989).

In der letzten Verhandlungsrunde Anfang Mai in Wien hat der Warschauer Pakt ein eigenes Regionalkonzept vorgelegt. Darin spricht er von einer Verhandlungszone mit einem nördlichen und südlichen Teil, in dem jeweils eigene Teilobergrenzen der Reduzierung gelten sollen. Die Zone erstreckt sich vom Nordkap bis zum Kaukasus.

Würden nur einige der Ziele der Verhandlungen erreicht und Angriffshandlungen unmöglich gemacht, würde erstmals ein qualitativer Übergang von der konventionellen Rüstungskontrolle zur konventionellen Abrüstung erreicht. Wenn also auch die verkündete “Hoffnung auf ein neues Zeitalter” (Christoph Bertram in: Die Zeit, Nr. 11 vom 10.3.1989) ein wenig verfrüht erscheinen mag, so sehen doch selbst konservative Interpreten die Chancen dieser Entwicklung. Für sie bestehe sie immerhin darin, einen “Prozeß einzuleiten, der zu Vereinbarungen in Gestalt eines Sicherheitssystems auf Gegenseitigkeit führt.” (Wolfram von Raven in: Europäische Wehrkunde, 2/1989, S. 94). Der Bonner Verhandlungsleiter bei der VKSE-Runde Heydrich ergänzt: “Der Westen hat noch gar nicht richtig verstanden, was in Wien wirklich geschieht. Bisher haben wir alles unter Konfrontations-Aspekten gesehen. Hier aber entsteht ein gemeinsames Kooperations- und Kontrollsystem, das alle Voraussetzungen der politischen Arbeit verändert.” (Bonner Generalanzeiger, 23. 3. 1989). Das wäre dann in der Tat ein wichtiger Schritt hin auf ein “Neues Europa”, wie es der sowjetische Außenminister Schewardnadse zur Eröffnung der VKSE beschwor. (Die Welt vom 6.3.1989)

Es wäre angesichts der fast unentwirrbaren Menge von Streitkräften, Ausrüstungen und Waffensystemen in Europa aber illusionär zu glauben, daß sich die 23 Delegationen in Wien bald zu konkreten Abrüstungsschritten einigen könnten. Bei allen Annäherungen gibt es nach wie vor außerordentlich schwer zu überbrückende Differenzen, die sich vor allem auf die gegenseitige Gesamtbeurteilung des Kräfteverhältnisses, unterschiedliche Perzeptionen der geostrategischen Lage, verschiedene Einschätzungen der Reduzierungsankündigungen des Warschauer Paktes, der Militärdoktrinen und vor allem der taktischen Nuklearwaffen beziehen. Bonn, aber auch offensichtlich der sowjetische Außenminister Schewardnadse rechnen mit ersten notifizierbaren Erfolgen wohl frühestens in drei Jahren. (FAZ vom 2.3.1989; SZ vom 7.3.1989).

IV. Probleme konventioneller Rüstung in Europa

NATO-Strategie und Rolle der Nuklearwaffen

Die taktischen Nuklearwaffen in Europa sind nicht Verhandlungsgegenstand in Wien, werden aber in besonderer Weise Erfolg oder Mißerfolg der Konferenz mitbestimmen.

Die NATO sieht in der Existenz von taktischen Nuklearwaffen auch für die absehbare Zukunft einen Garanten westlicher Sicherheit. Deshalb plädierte auch NATO-Generalsekretär Manfred Wörner dafür, ständig “ein Minimum” an Nuklearwaffen “auf dem neuesten Stand” zu halten. (Süddeutsche Zeitung vom 8.3.1989)

Ein ständiger Modernisierungsbedarf ist also auch weiterhin programmiert.

Die NATO verfolgt mit ihren atomaren Systemen in Europa mindestens zwei zentrale (Abschreckungs-)Ziele:

  1. “Ankopplung” an den “Schutzschild” des nuklearstrategischen Potentials der USA durch einen lückenlosen “Eskalationsverbund”.
  2. Kompensation der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes durch Androhung nuklearen Ersteinsatzes im Krisenfall, Schläge gegen hohe gegnerische Truppenkonzentrationen und nukleare “Warnschläge”.

Die nukleare Abschreckungsdoktrin der NATO hat jedoch zu einem überdimensionierten Atomwaffenarsenal geführt, das strukturell und technisch in einer unentwirrbaren Weise mit der konventionellen Rüstung verkoppelt ist. Beides – die zahlreichen doppelt (atomar und konventionell) verwendungsfähigen (dual capable) Trägersysteme wie Flugzeuge, Artillerie und Raketen und die laufenden Modernisierungen werden die Perspektiven konventioneller Abrüstung beeinträchtigen:

  1. Die Verifikation der doppelt verwendbaren Systeme wird erschwert, wenn nur eine Kategorie abgerüstet werden soll.
  2. Die NATO hat ein zusätzliches Interesse, Flugzeuge und Raketen als atomare Trägersysteme möglichst lange aus den Wiener Gesprächen herauszuhalten. Das führt zu einer unfruchtbaren Verhandlungsposition, wenn zunächst nur die überlegenen Landstreitkräfte des WP, die offensiven Optionen der NATO hingegen erst später behandelt werden sollen. Wie soll den WP-Staaten plausibel gemacht werden, daß prioritär ihre Panzer abzubauen seien, die dann einer atomar aufgerüsteten NATO gegenüberstünden, deren Luftflotte um keinen Deut vermindert wäre.
  3. Atomare “Modernisierungen” und Aufrüstungsvorhaben, die durch die “dual-capables” auch konventionelle Systeme betreffen würden, wirken lähmend auf den gesamten Abrüstungsprozeß.

Dennoch verstärkt sich innerhalb der NATO der Druck der Modernisierungsbefürworter. Ende April drang aus militärischen Kreisen um den NATO-Oberbefehlshaber Europa, Galvin, drohend durch, daß die Vereinigten Staaten ihre Truppen in der Bundesrepublik nur dann belassen werde, “wenn ihnen das gesamte Spektrum zur Abschreckung notwendiger Waffen, also auch atomare Kurzstreckenwaffen, zur Verfügung stünde.” (FAZ, 29.4.89) Man sieht in Brüssel und Washington die Gefahr einer Demontierung der gültigen Strategien “Vorneverteidigung” und “flexible response”, die solange gültig bleiben müßten, bis die “Invasionsfähigkeit” des Warschauer Paktes beseitigt sei. Ein solch zähes Festhalten an nuklearen Angriffsoptionen, die mit angeblichen Verteidigungserfordernissen begründet werden, dokumentiert den “überproportionalen Einfluß des Denkens der U.S. Army, die eine starke Neigung zu offensiven, siegorientierten Optionen zeigt.” (HSFK, Modernisierung und kein Ende?, HSFK-Report 1-2/1989, April 1989, S. 52). Der Verdacht liegt heute näher denn je, daß Nuklearsysteme ganz konkrete Kriegsführungsoptionen wahrnehmen sollen. Selbst der Chef des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr, Flottillenadmiral Schmähling räumt angesichts der jüngsten Erfahrung mit der Wintex-Cimex-Übung ein: “Der Widerspruch zwischen militärischer und politischer Rollenzuweisung an Nuklearwaffen tritt in Europa immer deutlicher zutage.” (Der Spiegel, 1. Mai 1989)

Angesichts solcher Gefahren unterstrich der sowjetische Außenminister Schewardnadse auf der Wiener KSZE-Schlußberatung am 19. Januar 1989 und ähnlich auf der Eröffnung der Wiener VKSE-Konferenz die seit langem bekannte sowjetische Position mit den Worten: “Wir gehen eindeutig von der Prämisse aus, daß Nuklearraketenmodernisierung einen Schritt rückwärts und nicht nach vorne darstellt. ... und ich bekräftige: die Sowjetunion ist nicht dabei, ihre taktischen Nuklearraketen zu modernisieren”, (zitiert nach: Frieden und Abrüstung Nr. 1/1989).

Unterschiedliche Perzeption des konventionellen Kräfteverhältnisses

Ein weiterer Stolperstein: Die gravierenden Unterschiede in der Einschätzung des konventionellen Kräfteverhältnisses.

Im November 1988 und Januar 1989 legten NATO und Warschauer Pakt ihre offiziellen Versionen des konventionellen Kräfteverhältnisses in Europa vor.

Anhand der beiden Kräftevergleiche lassen sich Möglichkeiten und Grenzen der Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle bereits erahnen.

Die NATO zählt aussschließlich Land- und Luftstreitkräfte, was durchaus in Einklang mit dem Wiener Mandat steht. Der Warschauer Pakt betont in seiner Gegenüberstellung hingegen die Bedeutung der westlichen Seestreitkräfte für die Nachschublinien aus den USA. Dies ist aus seiner geostrategischen Perspektive verständlich; gleichwohl bleibt die maritime Komponente aus den Wiener Verhandlungen ausgeklammert.

Durch diese unterschiedliche Sichtweise kommt es etwa bei der Einschätzung der Streitkräfte-Personalstärke auch zu differierenden Zahlen. Während der WP hier von einer Parität ausgeht (WP: 3,57 Mio. / NATO: 3,66 Mio.), konstatiert die NATO ein deutliches Übergewicht von 1,4 : 1 zugunsten des Warschauer Pakts (WP: 3,09 Mio. / NATO: 2,21 Mio.). Noch extremer liegen die Werte bei den Kampfflugzeugen auseinander. Die WVO sieht sich hier nur minimal im Vorteil (WP: 7876 / NATO: 7130, Verhältnis 1,1: 1). Die NATO hingegen ermittelt eine doppelte Überlegenheit des östlichen Bündnisses (WP: 8250 / NATO: 3977).

Die meisten anderen Vergleichswerte mit extrem unterschiedlicher Ausprägung resultieren aus differierenden Zählkriterien – Beispiel: (Kampf-)Panzer. Die NATO kommt hier zu einer dreieinhalbfachen WP-überlegenheit (WP: 51500 / NATO: 16424). Der Warschauer Pakt subsummiert unter die unspezifischere Kategorie “Panzer” lediglich ein Verhältnis 1,9 : 1 (WP: 59470 / NATO: 30690). Ähnliches gilt für die Artillerie; die NATO zählt hier nur schwere Geschütze und Mörser über 100mm Kaliber, der WP hingegen berechnet auch Geschütze ab 75mm und Mörser ab 50mm. So nimmt es nicht wunder, daß verschiedene Werte deklariert werden NATO: WP 43400 / NATO 14458 (3 : 1): WP: WP 71560 / NATO 57060 (1,3 : 1). Gleichwohl fällt hier auf, daß die extreme Spanne der auseinanderliegenden Zahlen dennoch nicht erklärbar ist. Auch einige andere Differenzen entziehen sich der Deutung. In der ersten VKSE-Runde wird es daher eine Menge zu tun geben, alle Daten kontrolliert und exakt zu ermitteln. Insgesamt erweist es sich, daß der Warschauer Pakt mit seinem Kräftevergleich die alte These von einer generellen Parität mit der NATO stützen wollte. Dies hat das westliche Bündnis immer bestritten (SZ, 1.2.89).

Zweierlei bleibt aber positiv anzumerken:

  1. Der Warschauer Pakt hat erstmals einen Kräftevergleich der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Dies ist eine glaubwürdige Geste im Rahmen von Glasnost auch in den Streitkräften.
  2. Dieser Kräftevergleich ist durchaus ernstzunehmen und gibt ein konstruktives politisches Signal, weil er spezifische Überlegenheiten des Warschauer Paktes zugibt. Bei 11 von den 26 Zählkategorien konzediert der WP Asymmetrien zu seinen Gunsten. Aus westlicher Sicht besonders erfreulich sind die Zahlen zu den “Startrampen für taktische Raketen” (WP: 1608 / NATO: 136, Verhältnis 11,8 : 1).
  3. Auch bei den zentralen Großkampfgeräten wie Panzern und Artillerie sieht sich die WVO vorn (siehe SZ, 8.2.89)

Die Kompliziertheit der militärischen Materie endet natürlich nicht bei numerischen Zahlenverhältnissen, dem berüchtigten und politisch mißbrauchbaren “Erbsenzählen”. Qualitative, strukturelle, geographische und geostrategische Dimensionen vielfältigster Art und Bezugspunkte kommen hinzu, um die Kampfkraft von Streitkräften zu beurteilen. Je nach Gewichtung solcher Faktoren können im Extremfall numerische Relationen auf den Kopf gestellt werden.

Beispiel: Kampfpanzer. Die zahlenmäßige Überlegenheit des Warschauer Paktes ist mittlerweile in Ost wie West unstrittig (siehe oben). Man braucht jedoch aus den vielen zusätzlichen und notwendigen Beurteilungskriterien nur eines herauszunehmen, um zu völlig veränderten Ergebnissen zu kommen. Beispiel: Herstellungsjahr der Panzer. Über 90% aller WP-Panzer sind vor 1975 erbaut worden, sie sind also nach dem neuesten technischen Stand völlig überaltert. Von den Panzern, die seit 1975 erbaut wurden, besitzt die NATO eine dreifache Überlegenheit (9095 zu 2950) (siehe Carl Levin, Beyond the Bean Count, Bericht an den Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses des U.S. Senats, Sam Nunn, 1988, zit. nach “Frieden und Abrüstung”, Nr. 28, Schluß mit der Erbsenzählerei, S. 52)

Auch wenn die SU-Panzer nachgebessert werden, bleibt aber zwischen einem hochmodernen NATO-Kampfpanzer und einem lediglich modernisierten WP-“Veteran” nicht zuletzt auf Grund westlicher technologischer Überlegenheit ein riesiger Unterschied. Zwei renommierte Verteidigungsexperten, Malcolm Chalmers und Lutz Unterseher kamen bereits 1987 in der Studie “Is there a tank gap?” unter Berücksichtigung sehr vieler qualitativer, szenariengebundener Aspekte gar zum Schluß, daß die NATO eine leichte Kampfpanzerüberlegenheit gegenüber dem Warschauer Pakt in Mitteleuropa hat (Siehe: Chalmers, Unterseher, Is there a tank gap? A comparative assessment of the tank fleets of NATO and the Warsaw Pact, Oktober 1987)!

Auch wer dieses Ergebnis für unrealistisch hält, muß zugestehen, daß bei der Gegenüberstellung von Kräfteverhältnissen immer wieder die falsche Vergleichsgrundlage gewählt wird; so ist es allemal fragwürdig Kampfpanzer mit Kampfpanzer aufzurechnen. Das offensive Kampfsystem des WP sollte man zunächst nur in Beziehung setzen zu dem entsprechenden Defensivsystem der NATO. Gerade bei den Panzerabwehrwaffen, deren panzerbrechende Fähigkeiten selbst das modernste Kettenfahrzeug des Warschauer Pakts fürchten muß, erfreut sich das westliche Bündnis aber einer beachtlichen (nicht nur technischen) Überlegenheit (Siehe z.B. Admiral (ret.) Antoine Sanguinetti, Einseitiges Übergewicht oder Gleichgewicht der beiden Blöcke im Konventionellen Bereich, Occasional Papers Nr. 3, Generals for Peace and Disarmament, 1987/88 S.3f.).

Diese Diskussion könnte man bis in die entlegensten militärischen Details im Für und Wider weiterführen. Dies wollen wir uns an dieser Stelle ersparen. Es sollte aber deutlich geworden sein, daß es kein Monopol für die Beurteilung militärischer Kräfteverhältnisse gibt. Dieses können weder die NATO noch die WP-spezialisten für sich in Anspruch nehmen. Die konkrete zahlenmäßige Gestalt von militärischen Stärkerelationen ist immer auf die Interessengebundenheit ihrer Urheber, sowie ihrer politischen Zielsetzungen hin zu analysieren. Wichtig ist es, daß in Wien gemeinsame Zählkriterien vereinbart werden können.

Invasionsfähigkeit?

Die WP-Fähigkeit zu großangelegten Offensiven – in der Bundesrepublik hat sogar der Begriff “Invasionsfähigkeit” Karriere gemacht – scheint von maßgeblichen NATO-Kreisen hingegen vielfach überschätzt zu werden. Denn der Zeitfaktor spielt hier eine andere Rolle als beim Überraschungsangriff. Je länger eine WP-Offensive dauerte, desto stärker würden sich die überlegenen Eigenschaften der NATO-Streitkräfte wie Einsatzfähigkeit, Ausbildungsstand und Qualität der Waffensysteme auswirken. (Es erscheint daher überzogen, von einer “Invasionsfähigkeit” des Warschauer Pakts zu sprechen. Denn dieser Begriff entstammt nicht etwa dem militärischen Vokabular, sondern wurde vor einigen Jahren aus Bonner Regierungskreisen politisch lanciert (siehe die Studie des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung von Wulf Lapins, Besitzt der Warschauer Pakt eine “Invasionsfähigkeit”?, Bonn 1987). Er überhöht die konventionelle Bedrohung durch den Warschauer Pakt. Mit einer “Invasion” verbindet man das feindliche Einrücken von Truppen in fremdes Gebiet (als raumbesetzende Operation); damit weckt dieser Terminus auch Vorstellungen einer irreversiblen Okkupation.

Einseitige SU-Reduzierungen

Von den 5300 Panzern, die Gorbatschow unilateral aus Ostmitteleuropa abziehen will, müßten nach Auflösung von sechs Panzerdivisionen und Rückverlegung von fünf Panzerausbildungsregimentern immerhin 2860 Panzer durch die Defensivstrukturierung der übrigen 24 sowjetischen Divisionen (10 Panzer- und 14 Mot-Schützendivisionen) frei werden. General Batenin konkretisierte dies im Februar 1989 gegenüber einer SPD-Delegation in Moskau. Nach einem bestimmten Modus sollen in den Mot. Schützendivisionen und Panzerdivisionen Panzerregimenter mit 95 Panzern durch Mot. Schützenregimenter mit 40 Panzern ersetzt werden. Zusammen mit dem Austausch bestimmter Panzerbataillone durch Mot. Schützenbataillone in ausgewählten Panzerregimentern der Panzerdivisionen ergibt sich in der Tat die von Gorbatschow angekündigte Gesamtgrößenordnung von 5300 Panzern (FR, 24.2.89, sowie antimilitarismus information, ami, Nr. 5/89, S. 5).

Zu diesen sowjetischen Maßnahmen kommen die Ankündigungen einseitiger Reduzierungen aus den meisten anderen WVO-Staaten. Die DDR z.B. baut ihre Streitkräfte um 10.000 Mann ab, löst 6 Panzerregimenter auf, reduziert 600 Panzer, 50 Kampfflugzeuge und ihren Verteidigungsetat um 10%.

Diese Initiativen werden im Westen zwar fast durchweg positiv, gleichwohl unterschiedlich bewertet. Es ist strittig, ob die sowjetischen Maßnahmen allein einen signifikanten Verlust an Offensivfähigkeit bedeuten oder nur eine “notwendige Anpassung an die veränderten Gefechtsfeldrahmenbedingungen” (FAZ, 6.3.89) darstellen. Nicht wenige Experten argumentieren, daß der Kampfkraftverlust der Streitkräfte auf dem Territorium der Sowjetunion eher gering ist.

Hans-Joachim Schmidt von der HSFK kommt aber insgesamt zum Schluß, daß die “Fähigkeit (des Warschauer Paktes) zum Angriff nach kurzer Vorbereitungszeit ... weiter signifikant abgebaut und die Zeitdauer für die Mobilisierung erhöht” worden ist. Das östliche konventionelle Übergewicht sei zwar noch nicht abgebaut, aber “bedeutsam reduziert” (FR 24.2.89). Aber die NATO will nicht wahrhaben, was sich ändert.

Militärdoktrinen und Defensivität

“Die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes hat ausschließlich Verteidigungscharakter” – so steht es in einem Dokument des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes vom 28./29. Mai 1987. An anderer Stelle heißt es: “Die Streitkräfte der verbündeten Staaten werden in einer Gefechtsbereitschaft gehalten, die ausreicht, um nicht überrascht zu werden. Falls dennoch ein Angriff gegen sie verübt wird, werden sie dem Aggressor eine vernichtende Abfuhr erteilen.” In welcher Form? Durch Gegenangriffe auf feindliches Territorium? Offensive Optionen innerhalb seines Verteidigungskonzepts schien der Warschauer Pakt nicht auszuschließen, wenn man u.a. liest: “Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages werden niemals und unter keinen Umständen militärische Handlungen gegen einen beliebigen Staat oder ein Staatenbündnis beginnen, wenn sie nicht selbst einem bewaffneten Überfall ausgesetzt sind.” Diese Formulierung ließ zumindest offen, ob nicht auch offensive Operationen gegen feindliches Territorium durchgeführt werden sollen. Pauschale westliche Stellungnahmen, an dem offensiven Charakter der sowjetischen Militärdoktrin habe sich nichts geändert, reflektieren allerdings nicht die Implikationen der “eigenen” Doktrin und übersehen zudem die beachtlichen östlichen Zugeständnisse im militärischen Denken; denn die Sowjetunion hat in den letzten zwei Jahren viel unternommen, um ihrer Doktrin einen strikteren Defensivcharakter zu verleihen.

  1. Erstmals wurde die östliche Militärdoktrin vom Warschauer Pakt offiziell festgeschrieben (am 28./29. Mai 1987 auf der Tagung des Politschen Beratenden Ausschusses in Berlin).
  2. Zusätzlich wurden der NATO Gespräche über den Vergleich beider Doktrinen vorgeschlagen. Dabei soll gemeinsam der Charakter der Doktrinen und ihre zukünftige Ausrichtung erörtert werden. Der WP sieht seinen Vorstoß als vertrauensbildende Maßnahme, indem er zu einem besseren Verständnis der beiderseitigen Absichten beitragen und gewährleisten könnte, daß die Militärkonzeptionen und -doktrinen beider Militärblöcke und ihrer Teilnehmer auf Verteidigungsprinzipien beruhen. Ein Treffen der Verteidigungsminister Carlucci und Jasow im März 1988 in Bern diente diesem Zweck.
  3. Die qualitativen Veränderungen im sowjetischen militärischen Denken in den letzten Jahren sind beträchtlich. Zwei Punkte seien herausgegriffen:
  4. Die Führung von Präventivschlägen, um einem Angreifer zuvorzukommen, wird nicht mehr gefordert.
  5. Neue Definition des Begriffes »Aggression«; darunter wird nicht mehr die “Absicht zu einem Überfall” verstanden, was ja erhebliche Interpretationsspielräume zuließe, sondern nur noch der reale Beginn der feindlichen Operationen.

Neuerdings soll eine Verteidigung aufgebaut werden, die einen Angriff auf das Territorium der Warschauer-Vertrags-Staaten lediglich abwehrt und die nicht über Paktgrenzen hinausgeht. Auch die Lehrmittel und Instruktionen für die Ausbildung der Offiziere sind bereits im Hinblick auf eine defensive Ausrichtung der Doktrin umgestellt worden (Erklärung der SPD-Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs und Gernot Erler vom 14. Februar 1989 nach einer Informationsreise in die Sowjetunion). Die Tatsache, daß die östliche Dialogbereitschaft nun auch das Thema Militärdoktrinen nicht ausklammert, sollte vom Westen entschlossen genutzt werden.

Denn auch die NATO hat genügend Grund ihre eigenen offensiven Optionen zu reflektieren. Die Bundeswehr-Strategie der Vorneverteidigung, die amerikanische Heeresdoktrin Air Land Battle (ALB) und die NATO-Strategie Follow-on-Forces-Attack (FOFA) sehen im Fall eines WP-Angriffs innerhalb der “flexible response” massive Schläge gegen feindliches Hinterland und andere Formen offensiver Kriegsführung vor. Im Weißbuch 1985 steht der auch heute gültige Grundsatz: “Verteidigung kann nicht bedeuten, daß der Angreifer sein Territorium als Sanktuarium betrachten und das Schadensrisiko allein dem Angegriffenen aufbürden kann. Die Fähigkeit zur Bekämpfung des Gegners mit Waffenwirkung in der Tiefe ist schon seit langem Bestandteil der Strategie der Flexiblen Reaktion.” (BMVG, Weißbuch 1985, S. 28f.).

Hemmnisse: altes Denken, neues Denken

Die vielfach zu beobachtende Skepsis und Zurückhaltung westlicher Fachleute über die deklarierte Defensivorientierung der sowjetischen Militärdoktrin (siehe z.B. Gerhard Wettig in Aussenpolitik II/1988, S. 172ff.) nährt sich aus nicht überwundenem Mißtrauen gegenüber einer angeblich ungebrochenen aggressiven Tendenz des Kommunismus.

Der »Leitfaden« des Hardthöhen-Generalinspekteurs Wellershoff nimmt hier eine Extremposition ein. Dieses Kompendium war als interne militärpolitische Argumentationshilfe gedacht und ging Mitte März 1989 an alle Kommandeure der Bundeswehr. Dort heißt es zum Beispiel: “Es zeichnet sich keine grundlegende Wende in der sowjetischen Außenpolitik ab. Geändert haben sich vor allem Stil, Taktik und Klima der politischen Auseinandersetzung” (zit. nach Stuttgarter Zeitung, 16. März 1989). “Auch »Friedliche Koexistenz« und Abrüstungsverhandlungen bedeuten nicht etwa Stillstand oder Abbruch der Auseinandersetzung, sondern lediglich eine Phase, die zur Schwächung des Gegners genutzt werden soll, z.B. durch verstärkten ideologischen Kampf.” (zitiert nach Süddeutsche Zeitung, 15.3.1989). Wellershoff kommt zum Schluß, “daß sich am grundlegenden Ziel, dem “Sieg des Kommunismus” im Weltmaßstab nichts geändert habe (siehe auch taz, Express v. 15.3.89).

Gegen eine solche Sichtweise sprechen die programmatisch-ideologischen Neuerungen der »Perestroika» für die Außenpolitk:

  1. Verzicht auf eine finale geschichtsphilosophische Perspektive, die von Lenin bis Breschnew das östliche staatskommunistische Denken prägte. Die Geschichte ist offen. Die Behauptung eines Sieges des Kommunismus im Weltmaßstab wird nicht mehr weiter aufrechterhalten.
  2. Damit verliert auch die »Friedliche Koexistenz« ihren “janusköpfigen Charakter”. Dieses Prinzip ist nicht mehr einem geschichtsnotwendigen “Meisterplan zur Weltrevolution” verpflichtet, ist nicht mehr lediglich eine “Atempause” im mörderischen Kampf mit dem “kapitalistischen Lager”. “Die Konzeption der Friedlichen Koexistenz wird im »Neuen Denken« vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck weiterentwickelt”, der sich nur noch der friedlichen Gestaltung der Gegenwart verpflichtet ist. Sie wird zu einer den Status quo achtenden “neuen Theorie des Friedens” (Karsten Voigt in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 4/1989, S. 308f.).
  3. Betonung und Begrüßung der Vielfalt der Welt. Damit verbunden eine Absage an Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Das gilt auch für die eigenen Verbündeten: der auch früher zumindest deklaratorisch geltende Grundsatz von den “verschiedenen Wegen des/zum Sozialismus” wird heute voll umgesetzt. Moskau läßt den ungarischen Kurs hin zu einem demokratischen Mehrparteiensystem ebenso gewähren wie den dogmatischen Kurs der DDR. Nie war das alte Wort vom Polyzentrismus zutreffender als heute.
  4. Verzicht auf “Revolutionsexport”. Der sowjetische Rückzug aus Afghanistan ist das spektakulärste Beleg dafür, daß Moskau nicht mehr in alten Kategorien des Bipolarismus denkt. Infiltrationen, Okkupationen und Stellvertreterkriege in der »Dritten Welt« für zweifelhafte Geländegewinne im Ost-West-Konflikt gehören der Vergangenheit an.
  5. Ebenso die Vorstellung von der Weltpolitik als globalisierter Klassenkampf. Im Neuen Denken ist der zentrale Bezugspunkt nicht mehr eine Klasse, sondern die Menschheit als Ganzes. “Der weitere Friedensprozeß ist jetzt nur über den Weg eines allgemeinmenschlichen Konsenses zur Schaffung einer neuen Weltordnung möglich”, sagte Gorbatschow in seiner UN-Rede vom 7. Dezember 1988.

Diese zentralen Aspekte des außenpolitischen Credos der Perestroika werden in überzeugender Weise durch die bahnbrechenden innersowjetischen Reform- und Demokratisierungsprozesse beglaubigt.

Wer diese gravierenden und komplexen Entwicklungen in der UdSSR ignoriert, verrät einen erschreckenden Mangel an (real)politischer Phantasie und Konzeptlosigkeit. Er flüchtet in (irreale) rückwärtsgewandte Negativutopien des hochgerüsteten Blockantagonismus aus Zeiten des Kalten Krieges. “Zum ersten Mal in der Geschichte des (NATO) Bündnisses droht sein potentieller Gegner oder Feind, die Bedrohung wegzunehmen.” (Egon Bahr auf der 26. Wehrkundetagung in München, zit. nach Manuskript, 12.1.89). Das kann doch nun nicht heißen, das die derzeitige militärische Gestalt der NATO quasi zeitlos gültig und unangetastet bleibt.

Die Perestroika ist ein Angebot, gemeinsam mit dem Westen das internationale Staatensystem zu reformieren. Diese Offerte sollte nach eingehender Prüfung energisch genutzt werden. Eine Voraussetzung hierfür aber ist die Bereitschaft der NATO, sich auf die antizipierte Logik neuer kooperativer Formen der Weltpolitik einzulassen.

V. Die Diskussion und der politische Prozess in der Bundesrepublik

Abrüstung-Militär-Akzeptanz-Öffentlichkeit

Die politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik und die Diskussion, die um die konventionelle wie die weitere nukleare Abrüstung geführt werden, unterscheiden sich wesentlich von der Stimmungslage, wie sie die Auseinandersetzung um die Pershing II und die Cruise Missiles kennzeichnete. 1988/1989 ist nicht 1983. Es gibt heute neue Ideen, veränderte Kräfteverhältnisse, drängende globale Notwendigkeiten und durch die Friedensbewegung eine neue Form der Beteiligung der Öffentlichkeit an der Friedens- und Sicherheitspolitik. Die Politik von Glasnost und Perestroika hat zu einem Schwinden der Bedrohungsgefühle gegenüber den osteuropäischen Staaten geführt. Das alte Feindbild schwindet, gleichzeitig verliert die Politik der militärischen Stärke und der Androhung wechselseitiger nuklearer Selbstvernichtung an Akzeptanz. In Politik, Wissenschaft und Gesellschaft verstärken sich angesichts der Perzeption einer zunehmenden Verwundbarkeit unserer hochindustrialisierten Zivilisation die Zweifel an jeder Art von militärischer Verteidigungspolitik. Fast alle Entscheidungen der Bonner Regierungskoalition in Sachen Militär, Abrüstung und Rüstungskontrolle waren von diesen Rahmenbedingungen geprägt. Das gilt für die halbherzige Kanzlerentscheidung zum Verzicht auf die Pershing IA wie für die Rücknahme der umstrittenen Wehrdienstverlängerung auf 18 Monate. Die Dominanz einer antinuklearen Stimmung in der Bevölkerung ist offensichtlich und schafft andere Voraussetzungen für die Zuspitzung der Diskussion um die anstehenden Abrüstungsperspektiven.

Auch die innenpolitischepolitische Diskussion in der Bundesrepublik um die konventionelle Abrüstung spiegelt diese veränderten Bedingungen. Sie oszilliert zwischen atavistischen Rückfällen in nukleares Stärkedenken, Versuchen durch symbolische Akte dem antinuklearen und antimilitaristischen Trend die Spitze zu nehmen und kompromißhafter Hilflosigkeit im Hinblick auf die eigenständige Formulierung von Abrüstungsinteressen der Bundesrepublik vor allem gegenüber den USA in einer Phase tiefgreifenden europäischen Wandels. Die Rangeleien um den jüngsten Koalitionskompromiß zur Frage der Bonner Haltung in der »Modernisierungs"frage vor dem Brüsseler NATO-Gipfel sind ein Beispiel dafür. Dem Umbruch in der Sowjetunion steht noch kein gleichwertiges Äquivalent im Westen oder in der Bundesrepublik gegenüber. Die innenpolitische Situation zeigt zudem eine große Asymmetrie der treibenden Kräfte für ein Konzept konventioneller Abrüstung. Um heute jedoch – im Gegensatz zu dem Ziel der Verhinderung einer qualitativ hochwertigen Aufrüstungsmaßnahme – das anspruchsvollere positive Ziel einer weitergehenden und tiefergreifenden konventionellen Abrüstung in ganz Europa durchzusetzen bedarf es aber eines umfassenderen gesellschaftlichen Konsenses (Wolfgang Zellner, Das Mandat von Wien. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/1989).

Die weitestgehende Position in der Bundesrepublik vertritt die

SPD: Überwindung der Abschreckung…

In ihrem Parteitagsbeschluß von Münster fordert sie im Rahmen ihres Willens zur Überwindung der Abschreckung, “in Europa einen Zustand des gesicherten Friedens durch strukturelle Angriffsunfähigkeit beider Seiten auf möglichst niedrigem Niveau der Streitkräfte zu schaffen”. Gleichzeitig fordert sie explizit einen über das Genfer Mandat hinausgehenden Verhandlungsbereich: “Die Verhandlungen...sollten das Ziel haben, die Streitkräfte so zu vermindern, daß sie verteidigungsfähig, aber strukturell zu einem Angriff unfähig sind. Dabei müssen selbstverständlich auch die Luftstreitkräfte von Anfang an einbezogen werden.” Die Sozialdemokraten fordern “die Halbierung der heutigen NATO-Streitkräfte und eine darüber hinausgehende Verminderung der offensiven Waffensysteme, verbunden mit Stationierungsbeschränkungen zur Verhinderung angriffsfähiger Konzentrationen” als “Maßstab gleicher Obergrenzen mit den Streitkräften des Warschauer Paktes”. Diese gleichen Obergrenzen in Höhe von etwa 50 Prozent der heutigen NATO-Bestände sollen für schwere Kampfpanzer und Artilleriesysteme (Geschütze und Werfer) gelten, verbunden mit einer Dichtebeschränkung, die angriffsgeeignete Truppenkonzentrationen verhindert. Gleiche Obergrenzen von ca. 50 Prozent sollen auch für die NATO-Bestände für Kampfflugzeuge und für Kampfhubschrauber gelten. Diese Reduzierung um 50% ist als Übergang zu weiterer Abrüstung gedacht. Zusätzlich sollen Munitionsvorräte und offensiv nutzbares Brückengerät beschränkt werden. Die SPD verlangt zudem “eine Reichweitenbeschränkung auf ca. 50 km für alle unbemannten Flugkörper mit konventionellen Sprengköpfen”. In dem vom Parteitag angenommenen Leitantrag wird die Einsetzung einer gemeinsamen “High Level Task Force” von NATO und Warschauer Pakt empfohlen, “die den Auftrag erhält, innerhalb eines Jahres die Details für ein Kräfteverhältnis struktureller Angriffsunfähigkeit zu erarbeiten und die Militärdoktrin und Strategien aufeinander abzustimmen.” Außerdem wird die Entfernung aller schweren angriffsfähigen Waffen aus dem von der Palme-Kommission vorgeschlagenen Korridor entlang der Blockgrenzen vorgeschlagen.

(Parteitag der SPD in Münster, 30.8.-2.9.1988, Beschlüsse, Antrag A1, Parteivorstand, Frieden und Abrüstung in Europa, S. 695ff.) Ferner sprechen sich die Sozialdemokraten für drei weitere Null-Lösungen bei atomaren Gefechtsfeldwaffen (Artillerie) Kurzstreckenraketen und luftgestützten atomaren Mittelsystemen aus.

…und dritte Null-Lösung

Zu Beginn der Wiener Abrüstungsverhandlungen präzisierte SPD-Präsidiumsmitglied Egon Bahr die Haltung seiner Partei und forderte, “parallel zu den konventionellen Verhandlungen möglichst noch in diesem Jahr Verhandlungen über Atomwaffen mit der Reichweite von weniger als 500 Kilometer” aufzunehmen. Es sei “unakzeptabel”, so Bahr, “eine neue Grauzone zu schaffen, auf die sich neue Aufrüstungsbemühungen der Beteiligten konzentrieren, sei es durch eine neue Rakete als Lance-Nachfolger oder eine sowjetische Antwort darauf...Das Ziel der Verhandlungen sollte ein niedriges Niveau der konventionellen Streitkräfte sein, etwa die Hälfte dessen, was die NATO heute hat, bei Vorteilen für den Verteidiger.” Mit diesen Verhandlungszielen seien aber für die SPD im Hinblick auf die Ausrichtung der NATO-Strategie weitergehende Zielvorstellungen verknüpft, da diese Reduktionen notwendig “Strukturveränderungen” zur Folge hätten, “also Ausdünnungen mit unausweichlichen Änderungen der bisherigen strategischen Überlegungen.

Zwischen Modernisierungsverhinderung…

Auf der außerparlamentarischen Seite der Opposition, auf Seiten der Friedensbewegung gibt es außer einem ganz allgemein gehaltenen Bekenntnis zur konventionellen Abrüstung und zu “tiefgreifenden, einseitigen Abrüstungsschritten auf Seiten der NATO” (Aufruf zur Demonstration der Friedensbewegung am 10. Juni in Berlin: Das Denken modernisieren – Gerechtigkeit und Frieden brauchen Abrüstung, Flugblatt, Bonn 1989) keine weitergehende Befassung mit der Problematik. Die Friedensbewegung richtet ihre Aktionen fast nur gegen die »Modernisierung« der NATO.

und einseitigen Abrüstungsforderungen…

Auch die GRÜNEN haben bislang außer einem abstrakten Bekenntnis zur vollständigen Entmilitarisierung, Demobilisierungsforderungen und dem Verlangen nach einseitiger Abrüstung keine umfassende Gesamtkonzeption von Entmilitarisierung und Denuklearisierung aufzubieten, die – unter Einschluß einseitiger Schritte – darauf orientiert – die beiden Blöcke in einem wechselseitig aufeinanderbezogenen Prozeß zu einer neuen Friedensstruktur kommen zu lassen.

Die sozialdemokratischen Konzepte zur konventionellen Abrüstung und zur defensiven Umorientierung stammen in der Regel aus den Reihen der Friedensforschung. Hervorgetreten im Vorfeld der Wiener Verhandlungen sind erneut der ehemalige Bundeswehr-General Gerd Schmückle und der Starnberger Forscher Albrecht von Müller, die in einem neuen Abrüstungskonzept für die NATO zu der Auffassung gelangt sind, daß eine Obergrenze von 10.000 Panzern auf beiden Seiten und 5000 Artilleriegeschütze eine ausreichende Bewaffnung darstellen. Dabei soll jeweils nur die Hälfte dieser Systeme im zentraleuropäischen Raum stationiert sein.

Der SPD-Politiker Andreas von Bülow hatte bereits für die Minimalmarge von 5.000 Panzern pro Bündnissystem plädiert. (Interview in »frontal«-Magazin, April 1988) Dieser klaren abrüstungspolitischen Orientierung auf Seiten der Sozialdemokraten steht ein schwankendes und uneinheitliches Bild der die Bundesregierung tragenden Kräfte gegenüber.

Bundeskanzler Kohl sprach noch zu Beginn der VKSE-Konferenz – ohne weitere konkrete Perspektiven aufzuzeigen – ungenau von einer historischen Chance und einem “Markstein” zu einer Friedensordnung, warnte aber zugleich vor zu großen Erwartungen (Bonner Generalanzeiger vom 6.3.1989).

Die Kontrahenten: Genscher – Scholz

Die eigentlichen Kontrahenten im Regierungslager waren jedoch bis zur Kabinettsumbildung im April 1989 Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und der damalige Verteidigungsminister Prof. Rupert Scholz (CDU). Der Außenminister ist seit einigen Jahren nicht müde, die Veränderungen der Positionen und der Taten in der UdSSR zu loben. Genscher beharrt auf der Position, die “neue sowjetische Offenheit beherzt und entschlossen nutzen” (FAZ vom 29.4.1989). Für die Umbruchperiode im Ost-West-Verhältnis hatte er immer wieder zum Ärger der Unionsrechten den Begriff »Gezeitenwechsel» gefunden. Genscher lobte die Perestroika, die eine “Vertrauensbildung und eine Stabilisierung der internationalen Beziehungen auf kooperativer Grundlage” bei gleichzeitigem Abschied von dem Kampf der Systeme und einer Absage an die Ideologisierung der sowjetischen Außenpolitik gebracht habe. Die Vorgänge in der Sowjetunion nannte er “unumkehrbar”. Genscher mit Blick auf seinen sicherheitspolitischen Widersacher: “Diese Entwicklung liegt in unserem Interesse. Wir sollten ihr mit einer konstruktiven Grundhaltung begegnen. Abwarten und Skepsis würden unsere eigenen Interessen schädigen, würden uns zum Statisten der Weltgeschichte machen, anstatt uns in die Lage zu versetzen, die historische Chance einer durchgreifenden Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses beherzt zu nutzen (Süddeutsche Zeitung vom29. 7. 1988).

Abschreckung erhalten

Scholz dagegen sprach in der Regel von Hoffnungen, denen Realitäten erst noch folgen müssten. Gorbatschows Politik müsse in “ihren tatsächlichen Auswirkungen und ihren Entwicklungsperspektiven für das Ost-West-Verhältnis noch sehr genau und sehr sorgfältig beobachtet und untersucht werden ...dieser Weg ist noch mit vielen Ungewißheiten und offenen Fragen gepflastert.” (Rede auf der 6. Internationalen Wehrkundetagung am 28.1.1989 in München). Für die NATO nahm er ohne jede Abstriche in Anspruch, sowohl strikt defensiv zu sein, als auch “kein Feindbild, das wir nie hatten”, abbauen zu müssen. Scholz beharrte – in deutlichem Gegensatz zu Genschers Formel, daß die Abschreckung zumindest ein zweites Sicherheitsnetz benötige, – klar auf der Abschreckung und qualifizierte die Gorbatschowsche Politik des Ausstiegs aus der Abschreckung groteskerweise als Ziele ab, “die keineswegs einem neuen Denken zu entspringen scheinen.” Trotz der bis dahin überreichlich vorhandenen Vorschläge des Warschauer Paktes zum Abbau von Asymmetrien beharrte er auf der Einschätzung, es sei “offensichtlich daß eine Erfüllung dieser Forderungen die vorhandene militärische Überlegenheit des Warschauer Paktes noch mehr zur Wirkung bringen würde.”

“Das operative Minimum”

In Anlehnung an sozialdemokratische Begriffsbildungen kreierte Scholz zwar das “Konzept gegenseitiger Sicherheit”, daß “von keiner Seite mehr als den Verzicht auf absolute militärische Sicherheit” verlange, mithin “die Bereitschaft, sich gegenseitig das gleiche Maß an Sicherheit einzuräumen.” Eine Abrüstungsperspektive sucht man aber in diesem Konzept vergeblich, da der Minister für die NATO behauptete, daß im Rahmen der “klassischen Defensivausrichtung ihrer Strategie der Umfang ihrer Streitkräfte für die grenznahe Vorneverteidigung zu gering sei. Schon das notwendige “operative Minimum ist bereits größer, als die NATO heute an präsenten, rasch verfügbaren Kräften bereitstellen kann.” (Sicherheit in Europa, Rede vor der Konrad-Adenauer-Stiftung am 12. September 1988, Bulletin der Bundesregierung, Nr.114 vom 15. 9. 1988). Wenig später relativierte er zwar die 95-Prozentorientierung bei den Reduzierungsvorschlägen der NATO für die VKSE-Verhandlungen, die gegebenenfalls “kein Dogma” sein dürften, sprach aber vor Beginn der Verhandlungen wiederum von “dem gigantischen Militärpotential, das die Sowjetunion gerade in Europa aufgetürmt hat” und lehnte mit Blick auf die Gorbatschow-Initiative vor der UNO einseitige Vorleistungen des Westens strikt ab (Zum Beginn der VKSE, Süddeutsche Zeitung vom 6.3.1989).

Demgegenüber verfolgte Außenminister Genscher eine konstruktivere Linie. In einem vielbeachteten Namensartikel in der »Frankfurter Rundschau« vom 7.4.1988 forderte er die Beseitigung der Fähigkeit zum Überraschungsangriff und eine Absage an den Gedanken, konventionelle Ungleichgewichte mit taktischen Nuklearwaffen ausgleichen zu wollen. Genscher verlangte in dem vom Bundessicherheitsrat abgesegneten Gesetz Verhandlungen über den asymmetrischen Abbau der Waffengattungen, die die Sowjetunion begünstigten: Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie mit dem Ziel “gleiche Obergrenzen nur leicht unter dem Niveau der schwächeren Seite durchzusetzen. In einer langfristigen Perspektive sollten dann weitergehende Reduzierungen erfolgen. (Konventionelle Stabilität-Kernproblem europäischer Sicherheit, Frankfurter Rundschau vom 7.4.1989).

Rühe auf SPD-Kurs

Ebenso für ein flexibleres, längerfristig angelegtes Konzept plädierte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Volker Rühe, mit dem er die im Wettstreit um Konzepte zur konventionellen Abrüstung erklärtermaßen zumindest öffentlich in die Defensive geratene NATO wieder in eine Initiativposition manövrieren wollte. Rühe schlug eine weitere Halbierung des bereits auf gemeinsame Obergrenzen auf niedrigerem Niveau (85% des NATO-Niveaus) reduzierten kampfentscheidenden Großgeräts vor und die Überführung des herausgelösten Materials in Depots: “Die Verhandlungsformel für diesen Schritt heißt also: gleiche Obergrenzen minus 50 Prozent”. Dies seien, so Rühe “deutliche Opfer und Einschnitte”. (Als Ziel ein Europa mit weniger Panzern, Süddeutsche Zeitung vom 22.9.1988) Damit war Rühe mit ein paar rhetorischen Verrenkungen und Windungen schließlich bei dem schon skizzierten Konzept des SPD-Parteitages von Münster angekommen. Ein Unterschied freilich bleibt bestehen. Rühe will keinen Verzicht auf die atomare Abschreckung. Voraussetzung bleibt auch für ihn die Aufrechterhaltung der Abschreckung, “die auf einem Mindestmaß an Nuklearwaffen besteht.”

Damit wird der enge Zusammenhang der konventionellen Abrüstung mit der nuklearen »Modernisierungs«-Diskussion deutlich. Da das Kriterium für den Verzicht auf nukleare Kurzstreckensysteme die Herstellung konventioneller Stabilität sei, so der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl Lamers, gehe es bei den Verhandlungen über konventionelle Abrüstung nicht nur um konventionelle, sondern zugleich um atomare Waffen. Damit markierte er zugleich eine verhaltene Positionsbestimmung zugunsten einer dritten Null-Lösung. (Karl Lamers: Konventionelle Abrüstung in Europa. In: aus politik und zeitgeschichte, B18/1988, 29.4.1988)

An dem damit angesprochenen Punkt der taktischen Nuklearwaffen wird das ganze zerrissene Dilemma der Bonner Politik der “manifesten Panik” (FAZ vom 20.4.1989) zwischen nuklearer Nibelungentreue zum Bündnis, zwischen dem öffentlichen Druck der stärker an Unterstützung gewinnenden politischen Perspektive einer von Atomwaffen befreiten Welt und der Betroffenheit als potentieller Kriegsschauplatz in der Mitte Europas deutlich. Diese halbherzige Position führt im Effekt dazu, daß substantielle Abrüstungsziele auch im konventionellen Bereich entweder nicht formuliert werden können oder nicht formuliert werden wollen.

Dregger: Verminderung der taktischen Nuklearwaffen

Die Interessenlage im konservativen Lager ist dabei alles andere als eindeutig. Selbst Alfred Dregger treibt die Erkenntnis, daß “die dichtbesiedelte Bundesrepublik atomar vernichtet, aber nicht atomar verteidigt werden ” kann. Noch im April 1989 erneuerte Dregger die Forderung, das Gesamtkonzept der NATO mit einer Abrüstungsinitiative des Westens bei atomaren Kurzstreckenraketen zu verbinden. (Alfred Dregger: Entwurf einer Sicherheitspolitik zur Selbstbehauptung Europas. Europäische Wehrkunde, 12/1987, FAZ vom 10.4.1989). Demgegenüber behauptete der Kanzler noch fest: “Eine wirksame Abschreckung ist ohne auf dem zu verteidigenden Territorium stationierte Nuklearsysteme nicht glaubwürdig.” (Die Welt vom 14.12.1988)

Galvin: auf keine Aufrüstung verzichten

Der NATO-Oberkommandierende General Galvin machte denn auch schon deutlich wohin die defensive und alles andere als abrüstungsorientierte Diskussion weist. Nämlich auf eine Erneuerung des taktischen Nuklearpotentials auch dann nicht zu verzichten, wenn die Sowjetunion von ihrem konventionellen Übergewicht entscheidend herabrüste. (Interview in Die Zeit vom 23.9.1988) Welche politischen Ziele hinter dieser Haltung stehen, hatte bereits 1987 der damalige Bundesverteidigungsminister Wörner formuliert: “Die abschreckende Wirkung taktischer Nuklearwaffen ist um so größer, je tiefer diese Waffen in den Warschauer Pakt hineinreichen. Das heißt, zur flexiblen Reaktion brauchen wir auch solche taktischen Nuklearwaffen, die das Territorium der Sowjetunion erreichen können.” (FAZ vom 30.6.1987)

Der Koalitionskompromiß

Der kurz nach der letzten Kabinettsumbildung gefasste Koalitionskompromiß enthält beide Elemente der widerstrebenden Auffassungen zu diesem Problem: Aufrüstungs- und Abrüstungsbereitschaft. Er erfüllt so hervorragend die Funktion, sich weiterreichende Perspektiven zugunsten einer Abrüstungsoption im nuklearen Kurzstreckenbereich offenzuhalten- dies auch aus Gründen populistischer Anbiederung – offenzuhalten, zugleich aber die Sowjetunion mit dem Offenhalten einer Aufrüstungsoption politisch unter Druck zu halten.

Zwischen diesen Polen schwankt die Bundesregierung. Kanzler Kohl sprach in seiner Regierungserklärung vom 27.4.1989 zwar von der Möglichkeit von “Verhandlungen über die nuklearen Kurzstreckenraketen...mit dem Ziel...die bestehenden Ungleichgewichte durch drastische Reduzierungen und gleiche Obergrenzen abzubauen”, verblieb aber damit ebenfalls im Rahmen der Abschreckung, da er die Formulierung der Null-Lösung vermied. (Bulletin, 28.4.1989) Die unnachgiebige Haltung machte der CSU-Abgeordnete Graf Huyn in der Debatte über die Regierungserklärung deutlich, als er “sich für eine Modernsierung und gegen Verhandlungen vor einem Vollzug konventioneller Abrüstung” aussprach (FAZ vom 29.4.1989) Dahinter steckt die Vorstellung, die Sowjetunion in ihrem Willen nach Abrüstung mit der Ablehnung der Dritten Null-Lösung unter Druck zu halten und so konventionell entwaffnen zu können: “Aus militärischer Sicht ist daher das Ziel von KRK etwas konkreter zu formulieren. Es gilt, die Streitkräfte des Warschauer Paktes unter das Invasionsminimum zu reduzieren, der NATO jedoch das Verteidigungsminimum zu erhalten.” (Karl-Heinz Kamp: Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural – Sachstand und Probleme. aus politik und zeitgeschichte, b8/89 vom 17.2.1989). Wobei ja bereits Verteidigungsminister Scholz festgestellt hatte, das das “operative Minimum” der NATO schon jetzt gefährdet sei. Bewußt offen bleibt dabei natürlich, wie diese Begriffe konkret zu füllen sind.

Da die USA ihre Position aber offenkundig im Bündnis unter allen Umständen durchsetzen wollen, sah die FAZ bereits das Horrorbild einer ihrer nationalen Souveränitäten beraubten Staatenallianz heraufschimmern und prophezeite: “Die Zeichen stehen auf Sturm.” (FAZ vom 20.4.1989) Der Koalitionskompromiß steht auch insofern für gewachsene Konfliktbereitschaft der Bundesregierung nationale Interessen im Bündnis stärker zu vertreten. Hieran gilt es anzuknüpfen.

Im Banne der Abschreckungsparadoxie

Hinter dieser verkeilten Interessenlage steht nichts anderes als die zunehmende Unverantwortbarkeit einer Militärstrategie, die das, was sie zu verteidigen vorgibt, gleichzeitig aber ständig als Verfügungsmasse möglicher Vernichtung kalkuliert.

Eine friedenspolitische Perspektive der Entmilitarisierung und Denuklearisierung vermag und will sich die NATO jedoch trotz der Tatsache, daß sie mit der Abschreckung in die Sackgasse geraten ist, nicht vorstellen. Noch immer windet sie sich in dem nur noch semantisch auflösbaren Dilemma, die Verteidigung der USA mit der Europas verkoppeln zu wollen: Der ausgeschiedene Verteidigungsminister Scholz konnte als Antwort auf die Frage nach der Strategie der Zukunft nur ein “weiter so” formulieren: “Es ist eine permanente Aufgabe der militärstrategischen Konzeption der NATO, die Spannung zwischen den Maximen der Konflikteindämmung und der Risikoausweitung zu überbrücken.” (“Europäische Sicherheit” –Rede auf der 26. Internationalen Wehrkundetagung am 28.1.1989 in München). Für den SPD-Politiker Andreas von Bülow ist die hinter dieser Position stehende Sichtweise, Frieden nur als Resultat nuklearer Abschreckung definieren zu können, ein “Entmündigungsbescheid”, bei dem nur diejenigen, die den nuklearen Schirm spannen, zu bestimmen hätten. (Pressekonferenz am 28.4.1989 in Bonn) Bei diesen Positionen ist es nicht verwunderlich, daß die NATO auch keine eigenständige Antwort jenseits der Abschreckung auf die entscheidende Zukunftsfrage zu formulieren vermag: “Wie sollte sicherheitspolitisch Europa im Jahre 2000 aussehen?...Jetzt könnte erstmalig eine Krise der Glaubwürdigkeit entstehen, wenn nämlich seine Bürger den Eindruck gewinnen würden, das Bündnis sei nicht abrüstungswillig oder -fähig.” (Egon Bahr. Süddeutsche Zeitung vom 6.3.1989)

VI. Druck auf tiefergehende Abrüstungsschnitte

In der Fachdiskussion wie in der öffentlichen Meinung verstärkt sich allerdings der Druck auf ein umfassendes Abrüstungskonzept im konventionellen Bereich. Annäherungen an die von einer fortschrittlichen, europäischen, weiterreichende Abrüstungsschnitte befürwortende Sichtweise war bereits 1987 in den Vereinigten Staaten durch eine Studie des Forschungsdienstes des US-Kongresses zum Ausdruck gekommen. Ein für den demokratischen Abgeordneten Stephen Solarz verfasster Bericht gelangt zu dem Resultat, daß die Aussichten auf eine Stärkung der konventionellen Streitkräfte, wie sie die USA seit langem von den westeuropäischen NATO-Mitgliedern fordern, sehr gering sind.

Als Alternative schlugen sie vor, daß in den anstehenden Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung die NATO zunächst auf die Entfernung und Zerstörung aller amerikanischen und sowjetischen nuklearen, chemischen und konventionellen Kurzstreckenraketen aus dem Reduktionsgebiet dringen solle und auch die Kampfbomber daraus entfernen solle. Damit solle die Gefahr eines Überraschungsangriffs auf die NATO reduziert werden. Neu an der Studie war, daß die amerikanische Demokratische Partei die atomare Abrüstung offensichtlich nicht weiter mit der konventionellen Rüstungsverstärkung koppeln will. Damit wurden erste Anklänge an das SPD-Konzept der »strukturellen Nichtangriffsfähigkeit« sichtbar. (Congressional Research Service/Library of Congress (CRS): Report for Congress. Conventional Arms Control and Military Stability in Europe. Washington, Oktober 1987)

Bereits Anfang 1988 hatte der SPD-Abrüstungsexperte Egon Bahr nach Beratungen der sogenannten „Skandi-Lux-Gruppe» in Bonn, einem informellen Gremium sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien Norwegens, Dänemarks, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs für die Abrüstungsverhandlungen im konventionellen Bereich eine so weitgehende Abrüstung vorgeschlagen, daß die auf beiden Seiten verbleibenden konventionellen Waffen die Anwesenheit landgestützter amerikanischer Atomwaffen in Europa nicht mehr rechtfertigten. (FAZ vom 1.3.1988)

Reduzierung um 50 Prozent

In der Zwischenzeit hat sich der frühere NATO-Oberkommandierende in Europa, US-General Goodpaster in die Diskussion um die konventionelle Abrüstung eingeschaltet und mit einem eigenen Vorschlag den Finger in die Wunde des marginalen NATO-Lösungsansatzes gelegt. Goodpaster “hat auf eine Halbierung der Truppen der NATO und des Warschauer Paktes gedrängt und damit im US-Senat beträchtliches Aufsehen erregt. Beide Bündnisse sollten bis Mitte der 90er Jahre in Europa auf die Hälfte ihrer derzeitigen Stärke abrüsten und eine von schweren Waffen freie Zone schaffen, sagte Goodpaster... vor dem Streitkräfteausschuß des Senats. Die nach einer Halbierung verbleibenden Waffen sollten umgruppiert werden. Das Angebot der NATO, die Zahl ihrer Panzer und Artillerie um bis zu zehn Prozent zu verringern, sei nur als Ausgangspunkt angemessen. Wenn die NATO nicht weiter gehe, würde dies nicht den Interessen der westlichen Länder dienen.” (Kölner Stadt-Anzeiger, 8./9. 4. 1989).

Ein weiterer in dieselbe Richtung zielender Vorschlag wurde kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt. In einem “Alternativen Gesamtkonzept für Verteidigung und Abrüstung der NATO” schlugen so bekannte Forscher und Politiker wie die früheren SIPRI-Chefs Frank Blackaby und Frank Barnaby, der frühere CIA-Chef William Colby, der deutsche Admiral Elmar Schmähling sowie der ehemalige Chef der US-Abrüstungsbehörde, Paul Warnke am Vorabend der Präsentation des offiziellen Gesamtkonzeptes der NATO zeitgleich in Brüssel, Bonn, Washington und London “langfristig ein Europa (vor), in dem die internationalen Beziehungen demilitarisiert worden sind.” Das vom British-American-Security-Information Council in Verbindung mit der Alternative Security Working Group in Großbritannien und dem Committee of National Security in den USA entwickelte Konzept spricht angesichts des Prozesses in der Sowjetunion im Gegensatz zu dem vor Jahren immer benutzten Begriff vom “Fenster der Verwundbarkeit” von einem “Fenster der Möglichkeiten”. Die Studie schlägt der NATO vor, mit dem Tabu der einseitigen Abrüstung zu brechen und parallel zu den Wiener Verhandlungen mit der Verschrottung der atomaren Artillerie zu beginnen. Ziel der Verhandlungen soll ein System gemeinsamer Sicherheit sein, am Ende des Abrüstungsprozesses müsse eine Umstrukturierung beider Militärblöcke zu Defensivbündnissen stehen. Dazu biete sich auch eine Defensivzone ohne Angriffswaffen entlang der Blockgrenze an. (The »Comprehensive Concept« of Defence and Disarmament for NATO from Flexible Response to Mutual Defensive Superiority, London 1989)

Zu den anstehenden Verhandlungen in Wien hat auch die Sachverständigengruppe Sicherheitspolitik der Deutschen Kommission Justitia et Pax ein ausführliches Gutachten beigesteuert. Die sicherheitspolitischen Berater der katholischen Kirche fassen darin ihre Vorschläge in mehreren Empfehlungen für beiderseitiges kooperatives Vorgehen zusammen, die die Beseitigung der konventionellen Offensivfähigkeiten beinhaltet. Dabei gehe es vorrangig um die Beseitigung von Übergewichten, Reduzierung der Streitkräfte sowie deren Umstrukturierung im Sinne einer wirksamen Einschränkung der Offensivfähigkeiten und nicht um die bloße Herstellung von Parität. Die katholischen Experten fordern gleichzeitig die Reduzierung der nukleartaktischen Potentiale. (Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa, Kommission Justitia et Pax, Bonn 1989)

VII. Schlussfolgerungen

  1. Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte bieten erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa die Chance zu weitreichenden Rüstungsschnitten und zur Einleitung eines Prozesses defensiver Umwandlung der militärischen Blockkonfrontation, an dessen Ende der Aufbau einer politischen Friedensordnung stehen könnte.
  2. Das Verhandlungsmandat läßt eine große Übereinstimmung in den Kriterien und Bereichen für diese Umwandlung und damit politischen Willen für diesen Prozeß erkennen.
  3. Die Staaten des Warschauer Paktes haben bereits einseitig mit Reduzierungen begonnen, beginnen ihre Militärdoktrinen defensiv umzustellen und haben einen Verhandlungsvorschlag vorgelegt, der offen ist für weitergehende Schnitte in allen Rüstungsbereichen.
  4. Mit dem Vorschlag, auf ca.95 Prozent des jetzigen Niveaus der NATO-Streitkräfte herabzurüsten, steht dem ein marginaler, defensiver Lösungsansatz der NATO gegenüber, der im wesentlichen auf dem status quo beharrt. Zudem läßt sie keinerlei kritische Überprüfung und Änderung ihrer bisherigen Militärstruktur erkennen.
  5. Das Konzept der NATO zielt im weiteren auf eine Kombination von Abrüstung (im konventionellen Bereich) und Aufrüstung (im nuklearen Bereich). Ziel ist eine erhebliche konventionelle Entwaffnung der Sowjetunion, gleichzeitig soll auf westlicher Seite die Abschreckung auf qualitativ verbessertem Niveau neu installiert werden. Damit wird der Prozeß konventioneller Abrüstung behindert. Als größtes Hindernis, den Abrüstungsprozeß vertraglich voranzutreiben, stellt sich die Weigerung der NATO dar, auf die Modernisierung ihres taktischen Nuklearpotentials zu verzichten.
  6. Aufgrund der Kompliziertheit der Verhandlungsmaterie, der Vielzahl der beteiligten Interessen und Verhandlungsteilnehmer besteht die Gefahr einer über lange Jahre sich hinziehenden Verzögerung und Verwässerung des Prozesses und eines Erlahmens des öffentlichen Interesses und des politischen Willens an diesem Prozess.
  7. Gleichzeitig gibt es eine sich verschärfende Akzeptanzkrise für die Abschreckungsstrategie der NATO und die Strategie militärischer »Verteidigung« generell. Die Auseinandersetzung um die konventionelle Abrüstung war aber bislang eher ein weißer Fleck im programmatischen Konzept der Friedensbewegung. Die Wiener Verhandlungen sind ebenfalls nicht in ausreichendem Maße im allgemeinen öffentlichen Interesse präsent.
  8. Die Friedensbewegung muß bei ihrer Arbeit, die sich bisher fast ausschließlich gegen die »Modernisierung« richtete, dialektisch vorgehen. Da die (taktischen) Nuklearwaffen und die konventionellen Streitkräfte in der NATO-Strategie unauflöslich zusammenhängen, muß sie gegen die nukleare Aufrüstungsrunde der NATO und für weitergehendere konventionelle Abrüstung, als es das NATO-Konzept vorsieht, eintreten. Sie muß deutlich machen, daß das Festhalten an atomarer Abschreckung die konventionelle Abrüstung behindert und daß ein gesellschaftliches Klima und gesellschaftlicher Druck gegen Atomwaffen auch Erfolge bei der konventionellen Abrüstung wahrscheinlicher machen kann.
  9. Die Friedensbewegung muß Druck auf die Bundesregierung ausüben, bei den Wiener Verhandlungen die Forderung nach einer 50prozentigen Reduzierung des konventionellen Rüstungspotentials als offizieller Forderung der Bundesrepublik im Verhandlungsprozeß zu erheben. Sie muß angesichts der sich ausweitenden Diskussion um konventionelle Abrüstungskonzepte für diese Forderung einen breiteren gesellschaftlichen Konsens zustandebringen. Gleichzeitig sollte sie die sofortige Aufnahme von parallel zu den Wiener Verhandlungen stattfindenden Gesprächen über eine dritte Null-Lösung bei den taktischen Nuklearraketen fordern.
  10. Darüberhinaus sollten zur Verhinderung neuer Aufrüstungsschritte und zur Durchsetzung künftiger abrüstungsfördernder Strukturen die Forderungen nach einem Einfrieren des Rüstungshaushalts und die Durchsetzung einseitiger Abrüstungsschritte der Bundesrepublik erhoben werden: Verzicht auf die atomare Artillerie, Herabsetzung der Bundeswehrstärke beispielsweise durch Auflösung einer Bundeswehrdivision und der Verzicht auf offensive Militärstrategien wie FOFA und ALB-Konzepte.
  11. Der Prozeß der Abrüstung sollte programmatisch mit Forderungen zu ökonomischen Alternativen für einen ökologischen und sozialen Umbau verknüpft werden: Für einen nationalen Rüstungskonversionsplan, Stop neuer Aufrüstungsprogramme, Stop der Entwicklung neuer Waffensysteme. Verhinderung der bundesdeutschen Beteiligung an westeuropäischen Rüstungsprogrammen und -industrie (MBB/Daimler-Benz).

Redaktion: Stillstand bei MBFR – ein warnendes Beispiel

Schon einmal gab es Ost-West-Verhandlungen über konventionelle Rüstung in Europa: MBFR (Mutual Balanced Force Reduction) oder Verhandlungen über “Gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Fragen in Mitteleuropa”. Diese Konferenz begann am 30. Oktober 1973 in Wien noch auf dem Höhepunkt der ersten Phase der Entspannungspolitik und stand unter schlechteren Vorzeichen als die aktuellen VKSE-Verhandlungen. Keines der beiden Bündnisse hatte nämlich ein ernsthaftes Interesse an echter konventioneller Abrüstung.

Der Warschauer Pakt schien nur deswegen in die Aufnahme der Wiener Gespräche einzuwilligen, um ihren Zugang zum KSZE-Prozeß nicht zu verbauen; die NATO hatte zuvor den Beginn der Helsinki-Konferenz von der Eröffnung der MBFR-Verhandlungen abhängig gemacht.

Der Westen hingegen konnte mit MBFR jahrelangen Bestrebungen des US-Senators Mansfield um einen einseitigen Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa entgegenwirken. Denn während der multilateralen Verhandlungsrunden verboten sich unilaterale Maßnahmen von selbst (Ernst Jung, Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa im Licht der MBFR-Erfahrungen, in: Außenpolitik II/1988, S. 154).

Aber auch sonst unterschied sich MBFR in mannigfaltiger Hinsicht von seinem viel ambitionierteren “Nachfolgeprojekt”:

Das Verhandlungsgebiet war nur auf Mitteleuropa beschränkt. Das Gebiet Frankreichs blieb ebenso ausgeklammert wie die westlichen Militärbezirke der UdSSR. Es wurde immer wieder kritisiert, daß dieser Ansatz selbst bei drastischen Reduzierungen in der »Zentralregion« angesichts der kurzen Nachschubwege für sowjetische Truppen und Waffen aus der Ukraine nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bedinge. Das sehr viel größere VKSE-Anwendungsgebiet nimmt solchen geostrategischen Befürchtungen ihre Relevanz.

  • Teilnehmer waren lediglich die Staaten des Verhandlungsgebiets und Länder mit ausländischer Militärpräsenz, also die Sowjetunion, die USA, Kanada und Großbritannien. Frankreich hielt sich abseits. Ganz anders die VKSE-Konferenz, wo sämtliche Mitglieder beider Militärbündnisse unter Einschluß Frankreichs teilnehmen.
  • Das Verhandlungsziel war noch viel unkonkreter formuliert als im VKSE-Mandat: “Die Teilnehmer ... kamen überein, während der Verhandlungen die gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Maßnahmen in Mitteleuropa zu erörtern ... es (wird) das allgemeine Ziel der Verhandlungen sein ..., zu stabileren Beziehungen und zur Festigung von Frieden und Sicherheit in Europa beizutragen.” (Abschlußkommunique der vorbereitenden Konsultationen vom 28. Juni 1973, Europa-Archiv 1973, D 514). De facto verengte sich der Blickwinkel in den folgenden fruchtlosen Verhandlungsjahren nur noch auf die Truppenstärken. Eine Einigung auf ein konkret anzustrebendes Verhandlungsziel konnte hier immerhin Mitte 1978 erzielt werden: Beschränkung der Landstreitkräfte beider Bündnisse auf je 700.00 Mann. Bewaffnung, gar strukturelle Probleme blieben völlig außer Acht. West wie Ost boten immer wieder nur das marginale Ziel einer linearen Reduzierung um 10 bis 15 Prozent an.
  • Nicht einmal unter diesen vereinfachten Bedingungen konnte eine Einigung erzielt werden. Die Datenfrage wurde nämlich zu keinem Zeitpunkt gelöst. Moskau lehnte Vor-Ort-Inspektionen kategorisch ab und trug mit seiner traditionellen Geheimniskrämerei in dieser Frage zum Mißerfolg bei. Die Folge war, daß die Verhandlungen 15 Jahre vor sich hin dümpelten und außer der berühmten Konferenzkrawatte keinerlei Ergebnis erbrachten.
  • Die wechselseitigen Perzeptionen des konventionellen Kräfteverhältnisses gingen extremer auseinander als heute. Da die UdSSR ohne Differenzierungen von einer Parität ausging, forderte sie notorisch symmetrische Reduzierungen und ein Einfrieren der Rüstungen auf einem niedrigeren Niveau von numerischer Parität. Die westliche Seite hingegen konstatierte eine extreme östliche Überlegenheit und forderte dementsprechend starke asymmetrische Verminderungen zu ihren Gunsten.

Am 2. Februar 1989 wurden die MBFR-Verhandlungen nach über 15 Jahren »begraben«. Sie sind für VKSE Warnung und Hoffnung zugleich: Datenstreitigkeiten durch absolute Transparenz ausräumen und nicht zum Vehikel mangelnden politischen Abrüstungswillens zu machen.

Ingo Arend, M.A., Politologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V., (IWIF) und des Informationsdienstes Wissenschaft und Frieden in Bonn. Er ist Mitglied des Bundesvorstandes der Jungsozialisten in der SPD und Mitglied der Kommission für Sicherheitspolitik beim SPD-Parteivorstand.
Michael Kalman, M.A., Politologe, arbeitet als Mitarbeiter der Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS) in Bonn.