Kunst im Heft 1/2022
State of Disappearance
von Chantal Meza
Wenn man über Kunst nachdenkt, scheinen immer zwei widersprüchliche Aussagen im Raum zu stehen: „Kunst ist gewalttätig“ und „Kunst ist nicht gewalttätig“. Aus meiner eigenen Erfahrung glaube ich, dass die Schöpfung die meiste Zeit mit Gewalt zu tun hat, bevor sie als Kunstform existiert.
Aus der Sicht einer Malerin muss ich zunächst sagen, dass es in einer Begegnung mit der weißen Leinwand nicht nur diese ist, die ich als weiß wahrnehme, es gibt »das Weiß« in uns selbst. Dieses Weiß empfinde ich nicht als weiß, weil es leer ist, sondern weil im Gegenteil die Sättigung der Bilder so stark ist, dass sie in unseren Köpfen aufleuchtet wie eine schrille Last, die uns am Sehen hindert. In dieser beklemmenden Begegnung entfaltet die überwältigende weiße Linie meine Sinne auf der Leinwand. Es entleeren sich nicht nur weißliche Spitzen, sondern farbige Schlieren, die ein Zwischenspiel wie eine musikalische Fuge schaffen, Abstraktionen, die nicht festgehalten werden können, sondern nur dazu da sind, wieder verändert zu werden.
Das rohe, einfache Material ist mein physisches Werkzeug, durch das ich meine Ideen herausschleudern und meine inneren Qualen präzise ausführen kann. Mit ihrer Plastizität markiert die Farbe die Dichte der Leere, zeigt die Stille und die Rhythmen, die folgen werden. Kein anderes Material tanzt auf so lebendige und subtile Weise mit dem Abstrakten wie die Farbe. Manchmal gibt es eine Konsistenz, in der sich die Körperlichkeit meines Körpers und das Material in einem beschleunigten Pulsieren miteinander verflechten, das all das festhält und freisetzt, was unsichtbar ist, aber vor meinen Augen zum Leben erwacht. An diesem Punkt kann es keine Ruhe geben, es kann nichts anderes tun als herauszuplatzen.
Wenn ich mit der Schaffung eines Bildes beginne, ist der Prozess meist quälend, um es vorsichtig auszudrücken. Es begleitet mich, und es ist schwer, es aufzugeben. Ich halte das Unbehagen des Nichtwissens fest und beginne, von außen eine Umgebung aus Spannung, Kummer und Wut zu schaffen. Es ist wirklich eher so, als wäre ich besessen. Aber wer ist von wem besessen? Beim Malen einiger Werke aus meiner Serie »State of Disappearance« (Zustand des Verschwindens), so erinnere ich mich, wollte ich all die verbrannten Körper der Verschwundenen von mir fernhalten, ihre Kämpfe ausblenden und einen von Verzweiflung zerfressenen Geisteszustand widerspiegeln. Ich wollte, dass die Oberfläche den zugefügten Schmerz zeigt, der durch die ständigen Konflikte entstanden ist, die mich an die Leben der Verdammten erinnerten.
Es ist fast sicher, dass ich, wenn ich mich als Künstlerin in diesem Moment einem psychologischen Test unterziehen würde, möglicherweise als bipolar, selbstmordgefährdet oder als gefährlich für die Allgemeinheit diagnostiziert werden würde. Aber es braucht Zeiten der Einsamkeit, Zeiten, in denen ich nicht allein bin, sondern im Gegenteil die ganze Welt im Herzen trage. Ja, ich bin danach erschöpft, aber ich schade damit anderen bestimmt nicht.
Das Gewicht von Konflikten, Gefahren und Terror ist nicht unbedeutend, ihre Kraft ist die Lawine, die uns überrollt. Diese Lawine nicht in unser künstlerisches Schaffen mitzunehmen und mit der ganzen schöpferischen Kraft, zu der man fähig ist, zum Ausdruck zu bringen, wäre eher ein Akt der völligen Bestialität. Vermischen wir uns als Künstler *innen mit den künstlerischen Darstellungen von Verletzungen? Möglicherweise.
Schöpfungen können gewalttätig sein und unsere Bilder als solche erscheinen lassen. Für mich sollten Künstler*innen nicht um des Schaffens willen arbeiten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kunst über den Schmerz hinausgeht, sie führt einen weiter weg von der einfachen Schöpfung. Sie will keinen Schaden anrichten. Es ist, als ob sie wüsste, dass es eine Zeit gibt, in der das Ungesehene und das Unausgesprochene auf eine Art und Weise berührt werden kann, die wir erst noch begreifen müssen.
Es ist viel über das Erhabene in der Kunst gesagt worden, aber vielleicht vergessen wir, uns öfter über die unerträglichen Realitäten der kreativen Prozesse zu äußern, und ich habe festgestellt, dass ich dort das Gefühl meiner »allzu menschlichen« Existenz besser verstehen kann.
Chantal Meza ist Autodidaktin in Abstrakter Malerei, und lebt und arbeitet in Großbritannien. Ihre Werke sind schon in mehr als 30 Einzel- und Gruppenausstellungen in bedeutenden Museen und Galerien in Lateinamerika und Großbritannien zu sehen gewesen. Ihre Werke werden regelmäßig für print und digitale Publikationen angefragt.
W&F dankt herzlich für die Erlaubnis, die Werke aus »State of Disappearance« abdrucken zu dürfen. Gerade weil eine Ausgabe zu Täter*innen nicht einfach zu illustrieren ist, führt uns dieser Blick in »unser Innerstes«. Er führt uns abstrakt vor, was Gewalt und Verletzungen in und an uns hinterlassen.
Heft 1/2022 fragt nach den Täter*innen der Gewalt: Wer sind sie? Wen verstehen »wir« als Täter*innen und weshalb? Wie können wir Taten erkennen, verstehen und bearbeiten? Sind Täter*innen intentional handelnde Akteure oder Opfer der Umstände?