Das Kyoto Protokoll und das Paradox des Multilateralismus

Das Kyoto Protokoll und das Paradox des Multilateralismus

von Christoph Bals

Mehr als 70 Staaten, darunter alle EU-Staaten und Japan haben ihre Ratifizierungsurkunden, das Kyoto-Protokoll, bereits hinterlegt. Kyoto, mit Emissionsreduktionszielen für die Industrieländer, kann zur völkerrechtlichen Realität werden. Doch was ist das für eine Realität, wenn der Hauptverursacher des Treibhausgasausstoßes, die USA, außen vor bleibt? Christoph Bals (GERMANWATCH) zu den Chancen für einen erfolgreichen Kyoto-Prozess, über politische und ökonomische Entwicklungen, die auch die US-Regierung zu einer Kurskorrektur veranlassen könnten.
Beim letzten Vorbereitungstreffen für den »UN-Gipfel für nachhaltige Entwicklung« auf Bali zeichnete sich die Bush-Regierung wie erwartet durch die Abwehr von politisch verbindlichen internationalen Standards – etwa im Bereich Abwasser oder für die Energieversorgung aus erneuerbaren Energieträgern – aus. „Sie lehnten jede Verbindlichkeit ab, jede multilaterale Definition von Zielen ebenso. Es zeigen sich alte Traditionen, die die USA nicht nur im Bereich der Umweltpolitik, sondern auch bei anderen globalen Problemen immer wieder an den Tag legen: die Ablehnung eines multilateralen Ansatzes in der Politik“ (FR, 8.7.02), fasste Bundesumweltminister Trittin zusammen.

Dieselbe Haltung der US-Regierung hatte den Kyoto-Prozess vor einem Jahr an den Rand des völligen Scheiterns gebracht. So grenzt es fast an ein politisches Wunder, dass es nun immer wahrscheinlicher wird, dass das Kyoto-Protokoll bald in Kraft tritt. Mehr als 70 Staaten, darunter alle EU-Staaten und Japan haben ihre Ratifizierungsurkunden bereits hinterlegt. Wenn jetzt noch Russland und entweder Polen oder Kanada ratifizieren, sind alle quantitativen Schwellen übersprungen, an die ein Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls geknüpft ist. Kyoto mit Emissionsreduktionszielen für die Industrieländer (neben den USA wird wohl auch Australien zunächst nicht ratifizieren) wird dann zur völkerrechtlichen Realität. Ein wichtiger Schritt für den Klimaschutz, ein wichtiger Schritt für den Multilateralismus.

Sowohl für den Klimaschutz als auch für den Multilateralismus wird aber der Kyoto-Prozess nur dann zu einem dauerhaften Sieg, wenn es gelingt, ihn so zu gestalten, dass über kurz oder lang die USA mit eingebunden werden können. Ohne den größten Emittenten, der ein Viertel des Treibhausgasausstoßes verantwortet, wird es auf die Dauer unmöglich sein, die notwendigen ehrgeizigen Reduktionsziele bei den anderen Industriestaaten durchzusetzen; es wird kaum gelingen, dass die Entwicklungsländer nach dem Grundsatz der »gemeinsamen aber differenzierten Verantwortung« Begrenzungen des Wachstums ihres Treibhausgasausstoßes akzeptieren.

Als Paradox des Multilateralismus im internationalen Klimaschutz unserer Zeit kann man formulieren: Auf die Dauer lässt sich multilateraler Klima- und Umweltschutz nur »mit den USA« etablieren. Aber dies hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn die anderen Staaten den Mut haben, engagiert »ohne die USA« zu beginnen. Oder kurz: Jetzt ohne die USA, damit mittelfristig ein »mit den USA« möglich wird. Die USA werden auf die Dauer nur mitmachen, wenn der Prozess – in diesem Fall das Kyoto-Klimaregime – genug Eigendynamik entwickelt, so dass selbst die USA über kurz oder lang aus nationalem Eigeninteresse gar nicht anders können, als sich einzureihen. Die spannende Frage heißt derzeit: Kann das Kyoto-Protokoll, wenn es denn bald in Kraft tritt, diese Eigendynamik entwickeln. Woher kann diese Eigendynamik kommen?

Internationaler Emissionshandel auf Unternehmensebene?

Eine Schlüsselfrage wird sein, ob es gelingt, in der EU und in Japan ein internationales und integres Emissionshandelssystem auf Unternehmensebene aufzubauen. Nach der Vorlage eines EU-Richtlinien-Entwurfes zum Emissionshandel im Oktober 2001 als wichtiger Teil der Umsetzung der Kyoto-Beschlüsse in der EU besteht die Chance, dass in der EU diese Dynamik in Gang kommt. Allerdings versucht eine von der BASF angeführte Gruppe von Unternehmen, gerade dies zu verhindern.

Das Zentrum der intellektuellen Schwerkraft in der Klimadebatte würde sich durch ein Emissionshandelssystem verlagern. Während bisher die Klimapolitik in Unternehmen meist von der Umweltabteilung entworfen wurde, betreten dann die ökonomischen Abteilungen der Unternehmen die Bühne. Emissionshändler, Broker, Risikomanager und ökonomische Modellierer spielen von jetzt ab eine immer wichtigere Rolle (vgl. etwa Evolution Markets, 2001) und könnten bald zu treibenden Kräften des Klimaschutzes werden. Allerdings muss, gerade da sich die meisten dieser Akteure aus finanziellen und nicht Klimaschutzmotiven am Emissionshandel beteiligen, ein strikter rechtlicher Rahmen für dessen Umweltintegrität sorgen. Vieles spricht dafür, dass ein Emissionshandelssystem auf Unternehmensebene in der EU und Japan über kurz oder lang einen starken Anreiz für internationale US-Unternehmen setzen würde, auch an diesem neuen Markt teilzunehmen. Auch wenn dies nach dem 11. September für einige Zeit in den Hintergrund trat, so besteht doch die Chance, dass ein derart ökonomisch denkendes Land wie die USA seine Unternehmen nicht lange von einem entstehenden internationalen Emissionshandelsmarkt fernhalten wird. Dies zeigten schon die ersten politischen Debatten nach der vermutlichen Rettung des Kyoto-Protokolls beim Klimagipfel in Bonn.

Skeptisch stimmen kann einen allerdings, wie stark sich in den USA – schon vor dem 11. September – eine strukturelle Kopplung zwischen Politik und Wirtschaft eingespielt hat, die segmentäre Kurzfristziele gegenüber Langfristzielen bevorzugt. Infolge der überwiegend privaten (Großindustrie-)Parteienfinanzierung sieht sich die Politik in immer größerem Maße dem Druck ausgesetzt, durch kollektiv bindende Entscheidungen kurzfristige Lobbyinteressen zu bedienen. Dies lässt sich in der Energiepolitik der derzeitigen Legislaturperiode besonders intensiv beobachten.

Das Kyoto-Protokoll als Startschuss für Investoren?

„Wir Versicherungsunternehmen und andere institutionelle Investoren beginnen bei unseren Investitionen Klima- und Kohlenstoffrisiken zu berücksichtigen. Wenn dieser Ball wirklich ins Rollen kommt, kann das die Welt verändern“, erklärte Dr. Gerhard Berz vom weltweit größten Rückversicherer Münchener Rück bei der Auftaktveranstaltung der Klima-Ausbade-Kampagne von »Germanwatch« am 31. Mai (Berz, 2002) . Tatsächlich mehren sich die Anzeichen, dass bei Versicherungen, Banken und Pensionsfonds, die jährlich über die Platzierung von vielen Milliarden Euro entscheiden, der Zusammenhang von Kohlenstoff- und Klimarisiken mit der Investitionspolitik ganz allmählich vordringt.

  • So sind etwa Finanzhäuser wie Merrill Lynch and Henderson Global Investors unter den 30 Initiatoren des auch am 31. Mai vorgestellten »Kohlenstoff-Bericht-Projektes« (Mesure, 2002). Sie fordern die 500 größten Unternehmen der Welt auf, regelmäßig zu veröffentlichen, welche und wie viele Treibhausgase sie emittieren und wie sie auf das Problem des globalen Klimawandels reagieren. Hintergrund der Initiative ist die Furcht einiger der einflussreichsten Finanzinstitutionen der Welt, dass das Verhalten der Unternehmen gegenüber dem globalen Klimawandel den Wert ihrer Investment-Fonds beeinflussen wird. Erstmals überhaupt unterstützten institutionelle Investoren wie Credit Suisse oder UBS, die nicht gerade als kritische Aktionäre bekannt sind, eine solche Aktion. Emma Howard Boyd von Jupiter betonte, dass es hier nicht um freiwilliges ethisches Investment gehe, sondern um ein klares Signal an die Industrie, dass die Berücksichtigung ihres Umweltverhaltens beginnt, eine feste Verpflichtung für alle zu werden.
  • Bereits im April erschien in den USA die neue Studie »Risiken für Werte« des bekannten US-Finanzdienstleisters »Innovest Strategic Value Advisors« (Innovest, 2002) . Sie belegt zum ersten Mal eine direkte Beziehung zwischen Klimawandel, den Pflichten gegenüber den Aktionären und Risiken für den Wert der Aktien. „Wir haben immer überzeugendere Evidenz, dass das Umweltverhalten von Unternehmen die Wettbewerbsfähigkeit, die Profitabilität und den Aktienkurs beeinflussen. Dann ist es nur logisch, dass die Antwort der Unternehmen auf die Risiken und Chancen des globalen Klimawandels – oder die fehlende Antwort – einen ernsthaften Einfluss auf ihre Finanzentwicklung und damit auch den Aktienkurs haben wird“, erklärte James S. Martin, Vorsitzender von Innovest Strategic Value Advisors und früherer Chefinvestor eines der größten Pensionsfonds der Welt. „Viel steht auf dem Spiel: je nach Sektor und spezifischen Risiken des einzelnen Unternehmens könnte der Klimawandel die Unternehmen und ihre Aktionäre mehrere Zehnmillionen Dollar kosten und einen grundsätzlichen Wandel der Strategie notwendig machen.“ Die Studie macht deutlich, dass „anders als ihre Europäischen Wettbewerber, US-Unternehmen und Finanzinstitutionen der Entwicklung hinterherhinken.“ Vier einflussreiche Kräfte drängen demnach in Richtung eines verstärkten Klima-Enagements:
  • Der wachsende Konsens der Regierungen weltweit, dass das Klimathema ernst zu nehmen ist;
  • die wachsende Evidenz, dass der Umgang mit sozialen und ökologischen Fragen zunehmend Einfluss auf den Aktienkurs hat;
  • der wachsende Druck der Aktieninhaber in diese Richtung;
  • und der wachsende Druck auf Unternehmen, über ihre Klima- und Kohlenstoffrisiken zu berichten.
  • Am 29. Mai forderte eine bislang nie gesehene Zahl von traditionellen Investoren die Klimaposition von Exxon (in Deutschland Esso) und damit des Unternehmens heraus, das weltweit am aktivsten gegen Klimaschutz und Kyoto-Protokoll lobbyiert hat. Erhielt eine ähnliche Resolution im vergangenen Jahr bereits beachtliche 8,9 Prozent der Stimmen, so waren es diesmal gar 20,3 Prozent. Das »Nein« zum Klimakurs von Exxon wurde von Investoren gedeckt, die insgesamt Anteile im Wert von 55 Millionen Dollar repräsentieren (Campaignexxonmobil, 2002).

Dieser sanfte Druck des Finanzmarktes könnte bei immer mehr US-Unternehmen die Frage aufwerfen, ob der Widerstand gegen Kyoto und verbindliche Klimaschutzziele tatsächlich dem Eigeninteresse der Unternehmen entspricht, in deren Namen die US-Regierung den Auszug von Kyoto verkündete.

Kyoto bringt neue Möglichkeiten

Das Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls hat auch das Potenzial, die »Gefechtslage« zwischen WTO und Vorreiterstaaten im Klimaschutz zu verändern. Denn das Inkrafttreten dieses multilateralen Abkommens wird beträchtlich die verbleibenden Unsicherheiten bezüglich WTO-Kompatibilität von nationalen und internationalen Klimapolitiken und -maßnahmen reduzieren. Mehr noch, sobald es in Kraft gesetzt ist, würde das Kyoto-Protokoll ein wichtiges Forum darstellen, in dessen Rahmen progressive Regierungen sich vorwärtsbewegen können und spezifische Fragen und Spannungen klären, die im Verhältnis zwischen internationalem Handelsrecht und Klimaregime entstehen könnten. Im Kontrast dazu würde ein Scheitern des Versuches, das Kyoto-Protokoll in Kraft zu setzen, die Wahrscheinlichkeit von Handelskonflikten wegen der Einführung von Klimaschutz-Politiken und -Maßnahmen steigern (Buck/Verheyen, 2001).

Steigt durch Kyoto der Druck in Richtung Verantwortungsübernahme wegen der Klimaschäden?

„Wer das Leben anderer gefährdet – gewollt oder ungewollt –, gilt in allen Ländern, Kulturen und Zeiten als »Verbrecher«, der mit hohen, höchsten Strafen zu rechnen hat“ (Beck, 1993: 87). Er muss zweierlei Pflichten nachkommen. Erstens muss er aufhören, den Schaden zuzufügen – also seinen Treibhausgasausstoß drastisch reduzieren. Zweitens muss er die potentiellen Opfer bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützen und die tatsächlichen Opfer kompensieren. Auf der Grundlage eines völkerrechtlich verbindlichen Kyoto-Protokolls steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Klagen gegen Regierungen oder Wirtschaftsakteure geprüft werden, damit diese ihrer Verantwortung angesichts der schnell steigenden Klimaschäden gerecht werden. Staaten oder Unternehmen, die versuchen, das Klima schönzureden und sich nicht an Kyoto beteiligen, könnten im Zentrum der Aktionen stehen, die derzeit weltweit von Juristen geprüft werden. In den kommenden zwei Jahren sollen zunächst die Erfolgsaussichten durch verschiedene Studien geprüft werden. „Einige Leute haben die Vorteile des Verbrauchs von fossilen Brennstoffen, andere tragen die Konsequenzen … Es wird Menschen und Länder geben, die zur Verantwortung gezogen werden für die Verluste an Menschenleben und Lebensmöglichkeiten in armen Ländern“, wird einer der Initiatoren zitiert (Business Council for Sustainable Energy, 2000). Der Ausgang solcher Klagen ist völlig ungewiss. Aber der politische Druck auf Industriestaaten, Verantwortung (responsibility) zu übernehmen, wird jedenfalls zunehmen. Dabei wird der Druck auf Unternehmen und Regierungen der Staaten, die eine Kyoto-Ratifizierung ablehnen am stärksten sein. Auch «Germanwatch« hat das Ziel der Verantwortungsübernahme angesichts von schnell wachsenden Klimaschäden – vor allem in den Entwicklungsländern – in den Vordergrund seiner neuen Klima-Ausbade-Kampagne gestellt. Falls tatsächlich Klagen erfolgreich wären oder falls größere Wetterkatastrophen einen öffentlichen Proteststurm entfachen, könnte auch die Debatte um Verantwortungsübernahme Druck auf die USA ausüben, sich am Kyoto-Protokoll zu beteiligen.

Geraten die USA ins Abseits bei innovativer Technologieentwicklung?

Es spricht einiges dafür, dass die USA durch den Ausstieg aus Kyoto anderen Staaten den Vorrang bei der Entwicklung und Vermarktung innovativer Energie- und Verkehrstechnologien lassen. Staaten wie Deutschland, die bei der Umsetzung der Kyoto-Ziele im internationalen Vergleich zu den Vorreitern gehören, könnten bei dieser Innovationswoge die Nase vorne haben. Schon ist Deutschland durch das Energieeinspeisegesetz (EEG) weltweit Vorreiter bei der Windenergie. Durch die relativ hohen Benzinpreise – unter anderem durch die Öko-Steuer – lassen sich hier spritsparende Autos wesentlich besser als noch vor kurzem verkaufen. Der Anteil der verkauften US-Autos im deutschen Markt hat sich dadurch verändert. Wenn die EU und Japan ihre Klimapolitik mutig weiterentwickeln, können sich solche Trends – auch in anderen Sektoren – fortsetzen. Auch eine solche Entwicklung könnte das Nachdenken in den USA über den Sinn multilateralen Klimaschutzes sehr befördern.

Wird die Nicht-Ratifizierung zum politischen Misserfolg für die USA?

Ziel multilateraler Abkommen wie des Kyoto-Protokolls ist es sicherzustellen, dass rechtswidriges Handeln – vor allem ein Verfehlen der Klimaschutzziele – für die entsprechenden Nationalstaaten politisch zum Misserfolg wird. Angesichts der Meinungsunterschiede mit der einzig verbliebenen Supermacht über den grundsätzlichen Sinn eines solchen Vorgehens, muss an den Erfolg des Kyoto-Protokolls ein noch höherer Anspruch geknüpft werden: Kann das Kyoto-Protokoll so eine Dynamik erzeugen, das über kurz oder lang die Nicht-Ratifizierung zum politischen Misserfolg wird – etwa in den USA oder auch in Australien, das einstweilen nicht ratifizieren will? Nur wenn Kyoto ohne USA zügig in Kraft und intelligent umgesetzt wird, besteht Aussicht auf einen Klima-Multilateralismus mit den USA.

Literatur

Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a.M., edition suhrkamp.

Berz, Gerhard (2002): Statement auf der Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung der Klima-Ausbade-Kampagne von GERMANWATCH, Berlin, 31.05.2002.

Business Council for Sustainable Energy (2000): Climate Change & Business, October 2000, Volume IV, Issue 9, E-mail-Version.

Campaignexxonmobil (2002): Exxonmobil Shareholders Show Growing Concern about Company´s Lack of Ren3wable Energy Strategy – Doubled Vote Total Boosts Efforts to Change Exxon Mobil‘s Isolation on Global Warming. News Release, Dallas, Texas, USA, altman@campaignexxonmobil.org, 29.05.02.

Innovest, Strategic Value Advisors (2002): Value at Risk. Climate Change and the Future of Governance, Hg. CERES, USA.

Mesure, Susie (2002): Companies told to disclose emissions, in The Independent’s, 01-06-2002.

Verheyen, R., Tol, R.( 2002): Liability and Compensations for Climate Change Damages – A Legal and Economic Assessment, wird demnächst veröffentlicht.

Christoph Bals, Promotor für den Dialog mit der Wirtschaft in NRW bei »GERMANWATCH«

Umweltkrank durch NATO-Treibstoff?

Umweltkrank durch NATO-Treibstoff?

Multiple Chemikalien-Sensitivität durch JP8

von Marion Hahn

MCS, die Multiple Chemikalien-Sensitivität, kann für die Betroffenen die Hölle bedeuten. Bis zu 15 Prozent der Bevölkerung in den Industriestaaten leiden an dieser Krankheit. Das besagen jüngste Schätzungen aus den USA. Und ihre Zahl steigt ständig. Wo die Ursachen dieser Krankheit liegen, ist immer noch nicht zweifelsfrei geklärt, und MCS gilt als nicht heilbar. Marion Hahn, selbst seit 1990 schwer an MCS erkrankt, hat über 10 Jahre die Ursachen ihrer Erkrankung erforscht und die Ergebnisse jetzt in einem Buch zusammengefasst.1 Während im Allgemeinen immer wieder Holzschutzmittel, Amalgam und Insektizide als mögliche Ursachen für MCS genannt werden, kommt sie zu dem Ergebnis, dass dieses nur die Auslöser sind. Als eigentliche Ursache verortet sie den NATO-Treibstoff JP8.
Stellen Sie sich vor, die Abwehrfunktionen Ihres Körpers brechen zusammen und Ihr Alltag wird in unserer chemisierten Umwelt für Sie zu einem einzigen Überlebenskampf. In Ihrer täglichen Not geht es um so selbstverständliche Dinge wie die Luft, die Sie atmen. Stellen Sie sich vor, dass Sie Ihre Möbel, Ihre Kleidung und Ihre gewohnte Nahrung mit einem Mal nicht mehr vertragen, dass Sie auf alles mit einer Unzahl von teils lebensbedrohlichen Symptomen reagieren. Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit Ihren vielen schweren Symptomen vertrauensvoll von Arzt zu Arzt und bekommen immer wieder zu hören: Sie haben nichts, Sie sind kerngesund, Sie bilden sich das Ganze nur ein.

Bis zum Ausbruch der Krankheit haben Sie sich für einen ganz normalen, vernunftbegabten Menschen gehalten, und nun beginnen Sie, in zweierlei Hinsicht den Boden unter Ihren Füßen zu verlieren. Auf der einen Seite lernen Sie die friedliche Situation Ihres Landes, in dem Sie sich angeblich so gut wie alle Wünsche erfüllen können, als äußerst bedrohlich für Ihr Leben kennen. Auf der anderen Seite laufen Sie mit Ihren gesundheitlichen Klagen immer wieder an eine merkwürdige Wand aus Ablehnung und Leugnung Ihrer Not. So bleiben Sie mit der schwersten Krankheit Ihres Lebens medizinisch unversorgt und sich selbst überlassen. Fassungslos können Sie schauen, wie Sie zurecht kommen.

Die Rede ist von MCS (Multiple Chemikalien-Sensitivität). Eine seltene Krankheit? Ich halte diese Krankheit für eine der weitverbreitesten und schwersten in unserer Zeit – in unterschiedlichem Schweregrad sind nach Schätzungen aus den USA bis 15 Prozent der Bevölkerung westlicher Industrienationen betroffen.2

Von Seiten der MCS-Selbsthilfeorganisationen ist zu hören, dass sich die Krankheit immer mehr ausweitet und immer schwerwiegender wird.

Wenn Sie an schwerer MCS leiden, sind Ihre Lunge, Haut und Schleimhäute durchlässig für alle äußeren Einflüsse wie z.B. Autoabgase, Tabakrauch, Agrarspritzmittel, Waschmittel und Parfüms. Was Sie früher vielleicht sogar als Wohlgeruch empfunden haben, löst mit einem Mal bei ihnen schwere Herz-Kreislauf-Zusammenbrüche aus. Es kommt z.B. zu einer unsäglichen Schwäche, zu Schwindel, Benommenheit, Schlaflosigkeit, Schweißausbrüchen, Bewusstseinsveränderungen der verschiedensten Art, Nierenproblemen, Haarausfall, schwerster Atemnot, Dauerdurchfällen und Bewusstlosigkeiten. Bei MCS-Kranken wird der Geruchssinn als Warninstrument dermaßen empfindlich, dass alles, was den Körper belasten könnte, noch in kleinsten Konzentrationen wahrgenommen wird. Mit der Zeit vertragen Sie kaum noch Pkw‘s, können keine öffentlichen Verkehrsmittel, geschweige denn ein Flugzeug benutzen. Kaum ein MCS-Kranker findet ein Hotel, in dem er übernachten könnte. Hinzu kommen häufig finanzielle Probleme: Man kann nicht mehr arbeiten, ist aber gleichzeitig auf privatärztliche Behandlungsversuche angewiesen. Das alles führt dazu, dass MCS-Kranke nach einiger Zeit gesellschaftlich total isoliert sind und ein Schattendasein führen. Da gibt es z.B. eine Mutter, die mit ihrem Kleinkind im Auto lebt, da beide in der Wohnung das Bewusstsein verlieren; da gab es eine junge Frau, die in einem selbstgebastelten Verhau aus ihr verträglichen Steinen und Plastikplanen ausharrte und inzwischen gestorben ist. Ein Dreißigjähriger sprang wegen seiner schweren MCS aus dem 6. Stock, überlebte wie durch ein Wunder und wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Jetzt hat er sich vor eine S-Bahn geworfen und ist tot. Da gibt es die unzähligen Familientragödien, in denen sich nach der ärztlichen Diagnose »Sie haben nichts! Sie bilden sich alles nur ein!« der gesunde Partner aus dem Staube macht. Meist sind es die Frauen und Kinder, die schwerstkrank zurückbleiben. Greifen die Ämter ein, wird den MCS-kranken Müttern nicht selten auch noch das Sorgerecht entzogen, das Kind in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht. Man geht irrigerweise davon aus, dass MCS-kranke Mütter ihre MCS-Symptome auf ihre Kinder übertragen! Eine Giftbelastung wird für ein Hirngespinst gehalten.

Ich selbst war so schwer an MCS erkrankt, dass ich nur knapp überlebt habe. Dass ich heute wieder ein fast ganz normales, gesundes Leben führe, obwohl MCS als unheilbar gilt, ist für viele unvorstellbar. Ich führe es darauf zurück, dass ich heute vor allem den chemischen Belastungen aus dem Militärbereich ausweiche. Die von mir durchgeführte Selbstbehandlung u.a. mit homöopathisch aufbereitetem JP8 und EDB finden Sie ausführlich beschrieben in meinem Buch.

Die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen

Auch schwerstkrank war ich noch davon überzeugt, dass es hinter jedem zunächst noch so abstrus erscheinenden Phänomen – so auch hinter meiner Krankheit – eine plausible Erklärung gibt. Deshalb begann ich schon bald nach Ausbruch meiner Krankheit nach deren Ursachen zu forschen.

Zunächst notierte ich penibel meine eigene, mir völlig fremde und ausgesprochen ungewöhnlich erscheinende Symptomatik. Dann konzipierte ich Fragebögen und begann nach Mitbetroffenen zu suchen. Manchmal war mir fast unheimlich zumute, wenn ich dabei erfuhr, dass z.B. eine Frau aus Karlsruhe, in der Nachbarschaft einer militärischen Einrichtung lebend, die gleichen seltsamen Symptome hatte wie ich und diese obendrein mit ihrer besten Freundin teilte, die vor einigen Jahren nach Nürnberg in die Nähe einer militärischen Einrichtung gezogen war. Oder wenn ich feststellte, dass meine 53 Symptome bis ins Detail mit denen eines bestimmten Golfkriegsveteranen-Bataillons übereinstimmten und dass diese wiederum auch identisch waren mit der Symptomatik der Überlebenden der Absturzkatastrophe von Amsterdam-Bijlmermeer, bei der dubiose militärische Güter als Fracht im Spiele waren. Trotzdem: Meine Frage nach einem gemeinsamen Faktor, der bei allen MCS-Krankheitsfällen im Hintergrund beteiligt ist, glich der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen und dementsprechend gab mir jahrelang kaum einer eine Chance.

Das Verwirrende und letztlich Fatale an der MCS-Situation ist, dass die Vielzahl der Symptome je nach persönlicher Beschaffenheit individuell verschiedene Schwerpunkte aufweist. Zwar haben die MCS-Kranken im Wesentlichen die gleiche Symptomatik, doch kann es sein, dass der eine als größtes Problem seine Herz- oder Darmprobleme, der andere seine parkinsonartigen Zitteranfälle nennt. Obendrein wird die Vielzahl der Symptome durch eine Vielzahl von Chemikalien ausgelöst, was zu der in der Umweltmedizin weit verbreiteten Auffassung »Alles macht alles« führte. Genauso wie die Auffassung, MCS sei Ausdruck psychischer Probleme, blockiert auch das »Alles macht alles«-Denken den Erkenntnisweg, dass sich höchstwahrscheinlich hinter all den vielen auslösenden Chemikalien ein spezielles Chemikaliengemisch verbirgt, das als die eigentliche Ursache der Krankheit MCS angesehen werden muss. Die MCS-Kranken haben in der Vergangenheit (soweit ihnen möglich) keine Kosten und Mühen gescheut, auf der Auslöserebene (Amalgam, Holzschutzmittel u.a.) Analysen durchführen zu lassen, die beweisen sollten, dass dort die Krankheit entstanden ist. Die Ursachenebene wurde meines Erachtens nicht berührt, Widersprüche blieben stehen. Denn warum gibt es Gesunde, die den ganzen Mund voller Amalgam haben, während es Schwerst-MCS-Kranke gibt, die nicht eine einzige Füllung in ihren tadellosen Zähnen haben; warum wurden Leute, die ihren Wohnort gewechselt haben, trotz Amalgam im Mund wieder arbeitsfähig und warum blieben MCS-Kranke, deren Zähne saniert wurden, auch weiterhin krank? Dass Amalgam nur der Auslöser, nicht aber die Ursache von MCS sein könnte, wird bislang kaum einmal angedacht.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ein MCS-Kranker mit seinen zerstörten Schleimhäuten und seinem speziellen toxischen Milieu im Mund kann Amalgam (wie zahlreiche andere Zahnfüllungsmaterialien) auf keinen Fall vertragen und muss diese unbedingt entfernen lassen. Aber meiner Meinung nach verträgt er Amalgam nicht, weil er MCS hat, hat aber nicht durch das Amalgam seine MCS bekommen.

Ich selbst – bis 40 kerngesund – wurde ausgerechnet in einem baubiologisch restaurierten Haus krank. Kaum hatte ich Haus und Region wieder verlassen, ging es mit meiner Gesundheit wieder bergauf – und das, obwohl ich mitten in einem Weinbaugebiet mit all seinen Spritzmitteln gelandet war.

Die Spur führt zum Militär

Dass ich mich schon sehr bald hauptsächlich mit Belastungen aus dem Militärbereich befasste, hatte u.a. mit meinen Ausflugserfahrungen zu tun. Jahrelang habe ich in Karten alle Orte festgehalten, an denen ich mich besonders gut oder besonders schlecht gefühlt habe. Oft reagierte ich an ökologisch scheinbar absolut unbedenklichen Orten dermaßen heftig mit meiner überwunden geglaubten Symptomatik, dass ich mich im Nachhinein nach möglichen Belastungsquellen erkundigte. Ausnahmslos hatte ich mich dann in großer Nähe zu militärischen Einrichtungen befunden.

Im Laufe der Jahre habe ich zu weit über 400 MCS-Kranken Kontakt gehabt. Auch hier die Erkenntnis: Die MCS-Kranken leben in der Nähe militärischer Einrichtungen.

Eine Zeitlang habe ich nach Recherchen in toxikologischer Literatur Nervenkampfstoffe als Krankheitsursache vermutet und mich in diesem Zusammenhang mit Rüstungsaltlasten aus dem Zweiten Weltkrieg befasst. Doch ab einem bestimmten Punkt gingen die Krankheitsbilder MCS und Nervenkampfvergiftung auseinander.

Dann bekam ich fast gleichzeitig Hinweise, nach denen der von der US-Armee eingesetzte Treibstoff JP8 schwere gesundheitliche Probleme verursache3 und dass diesem Treibstoff das hochgiftige Additiv EDB beigemischt werde.4 Was mich verblüffte und in meiner Recherche bestärkte, war die Tatsache, dass sich die EDB-Vergiftungssymptome bis in auffällige Details decken mit den Symptomen MCS-Kranker. Hinzu kamen Informationen über das NATO-Pipeline-System CEPS, das Hafenanlagen und Raffinerien mit Tanklagern und Flugplätzen verbindet, das 1990 eine Länge von 6.000 km hatte und sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden kann.5/6 Hinzu kommen noch acht weitere NATO-Pipeline-Systeme, die – da offensichtlich zivil nicht nutzbar – auch nicht bekannt gegeben werden, sowie sieben zivile Treibstoff-Pipelines.

Hatte ich hier die Nadel im Heuhaufen gefunden? Was hat es auf sich mit diesem Treibstoff, den das US-Militär und die NATO – also auch die Bundeswehr – benutzen?

1988 hat das US-Militär mit allen seinen militärischen Verbündeten – so auch der NATO – vereinbart, dass für jegliche militärischen Gerätschaften – vom Kampfjet bis zum Panzer, vom Lkw bis zum Feldkocher – einheitlich ein einziger Treibstoff zu verwenden ist und dass der damit verbundene Konversionsprozess weltweit bis 2010 beendet sein soll, so dass alle mit den Amerikanern verbündeten Militärs überall bei möglichen Einsätzen über JP8 verfügen können.7

Mit dem Thema nicht Vertraute schütteln ungläubig den Kopf bei der Vorstellung, dass man mit demselben Treibstoff, mit dem ein Panzer bewegt wird, auch einen Kampfjet fliegen können soll.

Und dennoch ist es so: Die entsprechende Additivierung macht’s möglich! Auch müssen die Additive gewährleisten, dass sämtliche Gerätschaften unter allen klimatischen Bedingungen – also sowohl bei klirrender Kälte als auch bei glühender Hitze – auf den Punkt anspringen und funktionieren. Außerdem muss der Treibstoff JP8 zwangsläufig – das Militär kann ja nicht überall gleichzeitig agieren – lagerfähig sein. Auch hierfür braucht man entsprechende (teils biozide) Additive.

Wie aber kommen die MCS-Kranken mit JP8 in Berührung? Auf der einen Seite haben wir es in Deutschland mit einer sehr hohen Dichte militärischer Einrichtungen zu tun, die vom Truppenübungsgelände mit Panzern und sonstigen Gerätschaften über den Militärflugplatz bis zur Kaserne und das mit einem JP8 betriebenen Generator versehene Sendeturmareal im einsamen Wald reichen. Mir ist keine militärische Einrichtung bekannt, die ohne Treibstoff – also JP8 – denkbar wäre. Andererseits kommt als wichtiger Faktor und Verteilsystem die unterirdisch verlegte NATO-Pipeline CEPS mit ihren angeschlossenen Tanklagern hinzu.

Selbst wer sich sicher ist, nicht in unmittelbarer Nähe einer Militäreinrichtung zu leben, atmet dennoch möglicherweise JP8 aus den Belüftungsvorkehrungen der NATO-Pipeline und den Tanklagern ein. Noch dazu wird – weitestgehend unbeachtet – über unseren Köpfen seit einiger Zeit die Betankung von Kampfflugzeugen in der Luft praktiziert, wobei es möglicherweise ebenfalls zu JP8-Freisetzungen kommt. So sollen zur Zeit – laut Auskunft eines Insiders – Bomber der US Airforce auf dem Weg nach Afghanistan über der US Airbase des Frankfurter Flughafens betankt werden.

Besonders zwei Stoffen im JP8 gilt mein besonderes Interesse. Das Vorhandensein des einen – das hochgiftige, im Zivilbereich verbotene 1,2-Dibromethan – wird von der Bundeswehr und vom Verteidigungsministerium bestritten. Ein amerikanischer Text hingegen weist diesen Treibstoffzusatz aus als eines der am häufigsten im Umfeld amerikanischer Militäreinrichtungen in den USA gefundenen Gifte, das u.a. großflächig das Grundwasser verseucht.

Die Verhältnisse in Übersee – also auch bei uns – sollen nicht anders sein.8Bei dem zweiten Stoff handelt es sich um ein Detergens, dessen Zusammensetzung aus patentrechtlichen Gründen nicht einmal dem deutschen Verteidigungsministerium bekannt ist.9

Dieser Stoff könnte vielleicht erklären, warum MCS-Kranke so extrem auf andere Detergentien enthaltende Substanzen (z.B. Waschmittel und Totalherbizide wie Roundup Ultra) reagieren.

Groß ist die Zahl der Texte zu JP8 und seinen Risiken.Und nicht ein einziger Text ist zu finden, der die Unbedenklichkeit des hochbrisanten Gemisches zum Thema hätte.10 Die jüngste Literatur über JP8 bestätigt die Ergebnisse meiner Recherche. JP8 steht im Verdacht, bei 14 Kindern im Umfeld einer Airbase in den USA Leukämie verursacht zu haben.11 Auch ich bin immer wieder im Zusammenhang mit meiner MCS-Recherche auf Leukämie-Cluster am Rande militärischer Einrichtungen gestoßen.

Inzwischen geht man davon aus, dass JP8, wenn eingeatmet, das Lungenepithel zerstört. Ebenfalls zerstört es im Tierversuch den molekularen Aufbau der obersten Hautschicht, so dass Löcher entstehen, durch die körperfremde Chemikalien eindringen können. JP8 wird toxikologisch bewertet als ein Stoff, der das Immunsystem dermaßen zerstört und sämtliche Abwehrfunktionen eines Versuchstieres so schnell und gründlich zum Erliegen bringt, wie man es bisher von keiner Chemikalie gekannt hat.12

Eine Bestätigung für meine Theorie sehe ich auch darin, dass das Pentagon eine Studie in Auftrag gegeben hat, in der die Rolle des JP8 bei der Entstehung des Golfkriegs-Syndroms untersucht werden soll.

Zwei Dinge möchte ich am Schluss noch zu bedenken geben: Da ist einmal der immens hohe – und von der Öffentlichkeit kaum beachtete – Treibstoffverbrauch beim Militär, z.B. verbraucht ein M1-Abrams Panzer des US-Militärs 600 Liter pro 100 km, ein F15-Düsenjager bei höchster Schubkraft 908 Liter pro Minute. Da ist zum anderen die gegenwärtige Überlegung, das zivile Jet Fuel A1 durch das militärische JP8+10013 zu ersetzen. Ausgangspunkt für diese Planung ist die Angst, dass zivile Flugzeuge auf AKWs zum Absturz gebracht, zu verheerenden Kerosinbränden führen würden. JP8 hat einen höheren Flammpunkt.14 Das dürfte verheerende gesundheitliche Folgen haben.

Fazit

Nach zehnjähriger MCS-Recherche bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass JP8 der Verursacher von MCS ist und dass nur wer JP8-Freisetzungen meidet, eine Chance hat MCS zu überwinden. Da aber nicht jeder in der Lage ist, JP8 aus dem Wege zu gehen, muss JP8 in der derzeitigen Form sofort aus dem Verkehr gezogen, müssen kontaminierte Gebiete umgehend saniert werden.

Anmerkungen

1) Marion Hahn: Umweltkrank durch NATO-Treibstoff? Multiple Chemikalien-Sensivität (MCS) und Militär Emissionen. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. O. Wassermann und einem Nachwort von Prof. Dr. Knut Krusewitz. Heidelberg 2001, PVH, 124 S., ISBN 3-9805389-3-1, DM 32,85.

2) Cernaj, Ingeborg: Umweltgifte – Krank ohne Grund? MCS – die Multiple Chemische Sensibilität – eine neue Krankheit und ihre Ursachen. Südwest-Verlag, München 1995, S. 21. Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag: TAB-Arbeitsbericht Nr. 47, TA-Projekt »Umwelt und Gesundheit«, Vorstudie, Karlsruhe, März 1997, S. 151.

3) Thomas, William: Hospitals jammed as banned Pesticide is sprayed from the Skies. Und drs., Contrails: Poison from the Sky. Beides in www.islandnet. Com/wilco/invest-sky.htm, Seattle, Februar 1999

4) „Die sonst wenig informativen »Datenblätter« geben im Falle von 1,2 Dibromethan (EDB) offen zu, dass es sich um eine äußerst aggressive, reaktionsfähige und hochgradig gesundheitsschädliche Substanz handelt. EDB gilt als »pervasive«. D.h. fast alles durchdringend, Kunststoffe (und Dichtungen) auflösend. ist ein allgemeines »Zellgift«, für das es keine sichere, »akzeptable Schwellenkonzentration« gibt, auf das die Menschen (…) sehr unterschiedlich, d.h. auch extrem empfindlich, reagieren.“ (Prof. Dr. Otmar Wassermann in Hahn, S. 9)

5) NATO-Leitungen für zivile Versorgung, FAZ, 10.10.1990, S.17.

6) CEPMA (Central Europe Pipeline Management Agency) : CEPS Central Europe Pipeline System – Mitteleuropäisches Pipelinesystem. BP 552-78005, Versailles Cedex France, CEPS Katalog.

7) http://www.quartermaster.army.mil/oqmg… 1_Bulletin/1997/autumn/singlefuel.html

8) Schettler, Ted H.: Auswirkungen des Militarismus auf Umwelt und Gesundheit. In: Medizin und globales Überleben, 1995, 2. Jg., Nr. 5, S. 20-31.

9) Antwort des Verteidigungsministers vom 20.6.01 auf eine Kleine Anfrage der PDS-Fraktion zu Inhalten militärisch genutzter Treibstoffe (Drucksache 14/6206).

10) Hahn, Marion, siehe Anm.1, S. 64f.

11) http://www.newscientist.com/dailynews/news.jsp?id=ns9999876

12) s.o.

13) Bei JP8+100 handelt es sich um eine Weiterentwicklung von JP8, die möglicherweise noch gesundheitsgefährlicher ist als JP8. Siehe Hahn, 2001, S. 68.

14) Flottau, Jürgen: Am Flammpunkt. In: Süddeutsche Zeitung, 16.10.01.

Marion Hahn hat Ethnologie, Psychologie und Philosophie studiert.

Nur der Profit zählt

Nur der Profit zählt

TotalFinaElf und der Umweltschutz

von Jörg Feddern

Der französische Erdölkonzern Elf-Aquitaine ist in den Schlagzeilen. In Deutschland geht es um Millionen-Schmiergelder im Zusammenhang mit dem Kauf der Leuna-Werke, in Frankreich stehen in einem Aufsehen erregenden Korruptionsprozess ein ehemaliger Außenminister und Teile der alten Geschäftsführung vor Gericht. Die Untersuchungsrichter sind dabei, wie die FAZ (31.05.01) schreibt, „auf ein übles Gemisch aus Korruption, Wirtschaftsinteressen, Geheimdienstaktionen, Waffenhandel und politischer Einflussnahme gestoßen – vornehmlich in Afrika.“ Durch den Zusammenschluss von Elf mit TotalFina ist der Konzern jetzt auf Platz vier der Ölunternehmen in der Welt vorgerückt. Ob sich durch die Prozesse und den Zusammenschluss etwas am »System« ändert, bleibt abzuwarten. Wie stark Wort und Taten aber auch bei TotalFinaElf auseinander klaffen, belegt Jörg Feddern am Beispiel der Erdölproduktion in Russland, wo Profit allemal vor Umweltschutz geht.
TotalFinaElf ist nach der Fusion aus TotalFina und Elf Aquitaine das größte Unternehmen Frankreichs und das viertgrößte Ölunternehmen der Welt. Das Unternehmen beschäftigt weltweit rund 150.000 Mitarbeiter und besitzt 10,5 Milliarden Barrel (circa 1,35 Mrd. Tonnen) an eigenen Öl- & Gasreserven. Dieser Vorrat reicht bei der aktuellen Jahresproduktion von 766 Millionen BOE noch 14 Jahre. TotalFinaElf betreibt 29 Raffinerien (mit einer Tageskapazität von zusammen 2,4 Mio. Barrel) und verkauft in den 20.000 eigenen Tankstellen täglich 524 Mio. Liter Kraftstoff.

TotalFinaElf ist mit 14,5 Prozent Anteil hinter dem französischen Staat zweitgrößter Anteilseigner des Atomkonzerns Compagne Générale des Matières Nucléaires (Cogema), vor allem bekannt durch die weltgrößte Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brennelemente in La Hague.

TotalFinaElf und die französische Politik

Der Name ELF stand in der Vergangenheit lange Zeit für eine französische Parallel-Außenpolitik, der vor allem in Afrika großer Einfluss nachgesagt wurde. „Frankreichs ELF hat jahrelang das Spiel Afrikanischer Politik gespielt – nicht nur um die Kontrolle über die begehrten Öllizenzen zu gewinnen, sondern auch als ein Arm französischer Diplomatie und Intelligenz.“1 Beispiel: Nach einem Besuch von Jacques Chirac in Angola im Juni 1998 erhielt Elf die umkämpfte Fördererlaubnis (»ultra-deep licence«) in einem Abschnitt eines neuen angolanischen Offshore-Ölfeldes. Andre Tarallo, Ex-Afrikabeauftragter von Elf, erläutert das System: „Im Ölgeschäft sprechen wir von Prämien. Es gibt offizielle Prämien, die in den Verträgen erwartet werden; (…) die Ölgesellschaft, die eine Bohrerlaubnis haben möchte, willigt beispielsweise ein, den Bau eines Krankenhauses, einer Schule oder einer Straße zu finanzieren, bzw. – im Falle, dass sich das Interesse an einer Gegend als begründet erweist – eine ansehnliche Geldsumme zu zahlen. Von Elf – wie auch von diversen anderen Ölgesellschaften – wurde diese Praktik immer genutzt.“2

TotalFinaElf und die Umwelt

Umweltleitlinien des Gesamtkonzerns sucht man vergebens. Die einzige Erwähnung des Begriffs »Environment« auf der TotalFinaElf-Homepage betrifft das neue Motoröl Aquazole (Dieselöl-Wasser-Emulsion), das Partikel- und Stickoxid-Emissionen reduziert. Die Klimaveränderung wird von TotalFinaElf auf ihrer Webpage zwar nicht geleugnet, der Konzern bekennt sich selbst zu einer Mitverantwortung (z.B. durch Abfackeln von Erdgas bei der Ölförderung, Energieverbrauch der Raffination), eine ökologische Unternehmensbewertung, durchgeführt von einem Münchener Unternehmen im vergangenen Jahr, kam jedoch zu einem deutlich negativen Ergebnis bezüglich der Umweltpolitik. Beide Unternehmen lagen in der ökologischen Bewertung unter dem Durchschnitt aller untersuchten Ölkonzerne. Elf Aquitaine belegte Platz 11, Total Fina sogar nur Platz 18 von 23 untersuchten Unternehmen.3 Diese Situation dürfte sich durch die Fusion kaum geändert haben.

TotalFinaElf in Deutschland

Elf Aquitaine (bzw. die Konzern-Tochter Elf Oil Deutschland) besitzt seit Anfang der 90er Jahre in Deutschland insbesondere die Raffinerie Leuna. Seit dem 1. September 2000 haben sich auch in Deutschland die beiden Konzerne TotalFina und Elf zusammengeschlossen. Sie beschäftigen 1250 Mitarbeiter und unterhalten in Deutschland das fünftgrößte Tankstellennetz.

Bei Elf Oil Deutschland finden sich zehn Umweltleitlinien, die neben generellen Absichtserklärungen („Die Elf Oil Deutschland sieht ihre Umweltpolitik als eine Aufgabe an, die sie regelmäßig und systematisch an die ökologischen & gesellschaftlichen Anforderungen anpassen wird.“) und dem konkreteren Ziel der „Vermeidung bzw. Reduzierung von Abfällen, Abwässern, Lärmemissionen und Schadstoffen“ auch folgenden Passus enthalten: „Die Elf Oil Deutschland erwartet von ihren Lieferanten und sonstigen Partnern, dass sie die Normen & Richtlinien anwenden und umsetzen, die für die Elf Oil Deutschland selbst gelten.“4

TotalFinaElf und das russische Erdöl

TotalFina nennt als eigene und als Partner-Produktions-Standorte in Russland Kharyaga (Timan Pechora Becken, autonome Region Nenets) und Romashkino (südl. Ural) sowie vier Stellen im Kaspischen Meer.5 Der russische Staat erhält 6 Prozent der Fördermenge als Lizenzgebühr, das restliche Öl wird über den lettischen Hafen Ventspils verschifft. TotalFina hat deshalb die Kapazität der 146 Kilometer langen Pipeline Kharyaga-Usa auf 10.000 Barrels/Tag (bpd) erhöht.

Elf Aquitaine hat darüber hinaus im März 1998 für 528 Mio. US-Dollar einen 5 Prozent-Anteil an Yuksi Oil, Russlands größtem Ölkonzern, gekauft. Elf erhielt damit einen Sitz im Vorstand und nimmt an Prospektionen neuer Felder in Westsibirien teil.

Mitschuldig an einer gigantischen Ölpest

Ein großer Teil des russischen Rohöls, das nach Deutschland exportiert wird, kommt über die »Druschba-Pipeline« (Pipeline der Freundschaft) zu den Raffinerien Schwedt (16,33 Prozent Anteil von TotalFinaElf) und Leuna. Insgesamt rund 20 Mio. Tonnen russischen Öls gelangen auf diesem Weg in den Westen.6

Die Mitteldeutsche Erdöl-Raffinerie GmbH wurde für knapp fünf Milliarden Mark in unmittelbarer Nachbarschaft des früheren Leuna-Werkes errichtet. Während das frühere Leuna-Werk als größtes DDR-Kombinat 28.000 Menschen beschäftigte, finden heute in der Raffinerie nur noch 550 Menschen Arbeit, weitere 2.000 bei den Dienstleistern. Die Raffinerie gilt als eine der modernsten der Welt. Pro Stunde fließen etwa 1.000 Tonnen Rohöl, d.h. jährlich rund 10 Millionen Tonnen, aus der russischen Pipeline in das Werk.7Doch was anschließend »sauber« in die Tanks von Autos, Flugzeugen und Häusern fließt, ist begleitet von einer gigantischen Ölpest in Russland. Allein in den westsibirischen Ölförderregionen, wo der größte Teil des Erdöls für die Raffinerie in Leuna und Schwedt gefördert wird, treten pro Jahr bis zu 5.000 Brüche von Ölpipelines auf. Jährlich werden bis zu 300 Havarien mit Ölaustritten von bis zu 100.000 Tonnen gemeldet. Auslaufendes Öl (schätzungsweise treten jährlich drei bis zehn Millionen Tonnen aus) verseucht Böden und Gewässer. Riesige Ölseen zerstören den Lebensraum von Menschen, Tieren und Pflanzen.8 Von den bestehenden Pipelines sind etwa ein Drittel über 30 Jahre alt und reparaturbedürftig. Doch es passiert so gut wie nichts.Auch die einheimische Bevölkerung leidet zunehmend unter der Ölverschmutzung. Im Gebiet von Surgut, einer Stadt mitten in einem der größten Ölfelder Sibiriens, leben beispielsweise die Chanten, Nenzen und Mansen. Ihr Lebensraum ist akut bedroht. Mehrere Millionen Hektar Rentierweide sind bereits durch das Öl vernichtet, Wasser und Nahrungsmittel verseucht. Die Luft ist durch das Gasabfackeln belastet. Das dabei frei werdende krebserregende Benzpyren überschreitet vielerorts die zulässigen Grenzwerte.9

Als einer der Hauptimporteure russischen Rohöls ist TotalFina Elf mitschuldig an den dort herrschenden Zuständen. Doch die von TotalFinaElf selbst festgelegten »Umweltleitlinien« scheinen in dieser Gebieten außer Kraft gesetzt.10 Es wird nichts unternommen, um die Situation zu ändern, im Gegenteil: Die Gewinne des Konzerns werden weiter und weiter gesteigert, auf Kosten der Umwelt und der dort ansässigen Bevölkerung.

Greenpeace konfrontierte TotalFinaElf wiederholt mit den Zuständen in den betroffenen Gebieten. Bei zahlreichen Aktionen vor den Raffinerien des Konzerns in Ostdeutschland demonstrierte Greenpeace gegen die Praktiken vor allem in Westsibirien. Während eines vierwöchigen Camps begannen Greenpeace-Aktivisten mit dem Beseitigen von Öl im Samotlor-Ölfeld und machten vor, was die eigentliche Aufgabe von TotalFinaElf u. a. ist. Doch statt sich Gedanken über die Veränderung der bestehenden Zustände zu machen, versucht der Konzern mit einstweiligen Verfügungen Greenpeace daran zu hindern, die Öffentlichkeit über die Missstände zu informieren. Erst Anfang diesen Jahres ließ der Konzern per Gericht untersagen, dass Greenpeace unter der Internetadresse www.oil.of.elf.de über die Zustände in den sibirischen Fördergebieten berichtet und TotalFinaElf als Mitverantwortlichen benennt.

Auch der Versuch, sich mit der Begründung aus der Affäre zu ziehen, dass TotalFinaElf gar kein Öl aus den von Greenpeace genannten Gebieten bezieht, ist gescheitert. TotalFinaElf unterhält einen Exportvertrag mit der Tyumen Oil Co. in dem festgelegt wird, dass TotalFinaElf eine festgesetzte Menge Rohöl von Tyumen Oil abnimmt. Der russische Ölkonzern sicherte damit im Juli 1999 eine Obligation über 103 Millionen US-Dollar ab.11Laut der Nachrichtenagentur Reuters ist Tyumen Oil einer der wenigen langfristigen russischen Öl-Lieferanten von TotalFinaElf und verkauft 70 Prozent seiner Ölexporte an den französischen Konzern.12 TotalFinaElf trägt somit als Großkunde der russischen Ölförder- und Transportfirmen ein hohes Maß an Mitverantwortung für die Ölpest in den russischen Fördergebieten.

Greenpeace fordert, dass sich TotalFinaElf zu einer Mitverantwortung an den Zuständen in den betroffenen russischen Gebieten bekennt, zusammen mit seinen russischen Partnern konkrete Projekte zur Reparatur der russischen Pipelines startet und die Säuberung der ölverseuchten Landschaften schnellstmöglich in Angriff nimmt.

Greenpeace fordert weiterhin, dass TotalFinaElf seinen Konzern-Leitlinien gerecht wird und gemeinsam mit den russischen Ölfirmen und Lieferanten akzeptable Umweltstandards bei Ölförderung und Öltransport erarbeitet und umsetzt.

Das, was für TotalFinaElf gilt, gilt auch für die deutsche Mineralölindustrie, die mit vielen Firmen in Russland engagiert ist. Sie muss endlich einen Beitrag leisten, um die Umweltzerstörung in den russischen Ölfördergebieten drastisch zu verringern.

Anmerkungen

1) dpa 09.02.2000: Langwierige Eheschließung von Frankreichs ewigen Öl-Rivalen.

2) Global Witness Ltd: A Crude Awakening. The Role of the Oil and Banking Industries in Angola‘s Civil War and the Plunder of State Assets.

3) oekom research, München, Environmental Rating TotalFina und Elf Aquitaine, 09/2000.

4) http://www.elf.de/in_deutschland/umwelt/leitlinien_text_inhalt2.html

5) TotalFina: 1999, factbook. http://www.TotalFinaElf.com/us/html/bi/df/da/1999/fato99.pdf

6) Atrium, Dezember 2000; Mitarbeiterzeitung von TotalFinaElf, S. 3.

7) Greenpeace-Factsheet: Bonjour Elf – Gute Nacht Sibirien, 6/2000.

8) Greenpeace-Factsheet: Schwarzes Gold, schwarze Pest, 4/2000.

9) Greenpeace spezial: Umweltkatastrophe in Sibirien, April 2000.

10) Petroleum Economist, Vol. 66 No. 11 Pg. 41, 11/1999: Totalfina. http://library.northernlight.com/EL20000405070002837.html

11) World Reporter, accession number & update 06305097 19990722 (Datastar-File Repro): TNK Presents $103 M Bond Issue. Source: The Moscow Times, 21 July 1999, p. 10.

12) Reuters, 04.08.00: Russia: Greenpeace Urges France‘s Total to clean up Taiga. Quelle: Moscow Times 04/08/2000.

Jörg Feddern ist Kampagnenleiter im Bereich Energie von Greenpeace Deutschland e.V.

Die ökologische Zeitbombe

Die ökologische Zeitbombe

Der Atommüll der Nordmeerflotte

von Ulrike Kronfeld-Goharani

Jahrzehnte lang wurden weltweit nukleare Sprengköpfe und Reaktoren produziert ohne dass man wusste, wie ausgedientes nukleares Material sicher entsorgt werden kann. Erklärt wurde dies in Ost und West mit der Logik des Kalten Krieges. Nuklearsektoren unterlagen absoluter Geheimhaltung und waren öffentlicher Kritik und Kontrolle vollständig entzogen. Die Risiken kannte man nicht genau und dementsprechend unzureichend waren vielerorts die Sicherheitsstandards, wenn es sie überhaupt gab. Zu den Regionen, die von den Folgen dieser Politik besonders stark betroffen sind, zählt die Kola-Halbinsel in Nordwestrussland. Wiederholt wies der Euro-Arktische Barentsrat (BEAC) daraufhin, dass die nukleare (Un-)Sicherheit und der radioaktive Müll in Nordwestrussland ein wachsendes Umwelt- und Sicherheitsproblem darstellen.

Zu den Problemgebieten zählt die russische Halbinsel Kola, die im Westen an Norwegen und Finnland, im Norden an die Barentssee und im Süden an das Weiße Meer grenzt. Auf Kola, wo sich die Stützpunkte der Nordmeerflotte befinden, lagern große Mengen nuklearen Abfalls und alte, außer Dienst gestellte Schiffe und U-Boote des Militärs, letztere zum Teil noch mit ihrem nuklearen Brennstoff an Bord. Der Atommüll, der sich seit Inbetriebnahme der ersten atomar betriebenen Schiffe in rund 40 Jahren angesammelt hat, wächst durch den Betrieb der Flotte noch immer an, obwohl nach wie vor große Probleme in Bezug auf das Managen, Aufbereiten und Lagern des alten und des neuen Mülls bestehen. Zwar hatte Russland 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärt, das Problem des atomaren Mülls verantwortlich in Angriff zu nehmen, ist aber aufgrund der schlechten finanziellen Situation, die nicht nur die Kosten für das Müll- und Entsorgungsproblem, sondern die Funktionsfähigkeit der gesamten Nordmeerflotte betrifft, kaum dazu in der Lage. Nach Ansicht der neuen finnischen Präsidentin Tarja Halonen sollten daher die Umweltprobleme in der ökologisch sensiblen arktischen Region weltweites Interesse finden:

„Die Größe des Problems erfordert permanente multilaterale Anstrengungen, Entwicklung internationaler Finanzierungseinrichtungen und eine nicht nachlassende Aufmerksamkeit“.1

Ohne internationale Hilfe und finanzielle Unterstützung könnte in der Region eine ernste Situation entstehen. Die norwegische Umweltorganisation Bellona spricht in diesem Zusammenhang von einem »Tschernobyl in Zeitlupe«.2

Die Nordmeerflotte –
Stolz der sowjetischen Marine

Der Aufbau der Nordmeerflotte begann mit Ende des II. Weltkriegs, während dessen Verlaufs die strategische und taktische Bedeutung des U-Boot Einsatzes deutlich geworden war. Die Sowjetunion begann mit dem Ausbau der Kola-Halbinsel in Nordwestrussland, die, obwohl nördlich des Polarkreises gelegen, einen eisfreien Zugang zum Weißen Meer und zur Barentssee bietet. Es wurden zahlreiche Schiffswerften errichtet, die mit dem U-Boot Bau begannen. Nach und nach wurde die Kola-Halbinsel zu einem der größten Waffenarsenale der Welt ausgebaut. Mitte der 50er-Jahre begann die Entwicklung nuklear angetriebener Boote. Das erste russische Atom-U-Boot, die »Leninsky Komsomol«, lief 1957 vom Stapel. Seitdem wurden vier Generationen von Atom-U-Booten entwickelt, eine große Zahl davon in den Schiffswerften auf Kola oder in Severodvinsk. Bis 1995 wurden 245 Atom-U-Boote der Marine übergeben und zwei Drittel davon dem Kommando der Nordmeerflotte unterstellt.

Parallel mit der Errichtung großer Schiffswerften entstanden große U-Boot-trainingslager in Paldiski (heute Estland), Sevastopol (heute Ukraine) und Sosnovy Bor bei St. Petersburg. In Sevastopol befand sich das größte und modernste Ausbildungszentrum; dort konnten hochmoderne Computer- und Reaktorsimulationen durchgeführt werden. Mehr als 500 Offiziere wurden jährlich dort ausgebildet. Die Ausbildung galt als lang und schwierig. Doch wer es endlich geschafft hatte, U-Bootfahrer zu werden, den erfüllte nicht nur Stolz, sondern der erhielt auch eine Reihe von Privilegien: Das Gehalt nach Dienstgrad plus Verpflegungsgeld ergaben eine Summe, von der sich relativ gut leben ließ. Wer der Nordmeerflotte angehörte, hatte allen Grund, stolz und selbstbewusst zu sein.

Der lange Abschied
von der Sowjetunion

Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion scheinen die Kreml-Chefs das Interesse an dem einstigen Prestigeobjekt verloren zu haben. Jelzins Abrüstungsverhandlungen mit den USA und die angespannte wirtschaftliche Lage Russlands haben die Nordmeerflotte in schwieriges Fahrwasser manövriert.

1994 flossen der Nordmeerflotte nur 35% der Mittel zu, die eigentlich für Wartung und Unterhalt bestimmt waren. Der größte Anteil davon wurde für nach zu zahlende Löhne und andere Personalkosten aufgewendet. 1995 war der gesamte Jahresetat der Nordmeerflotte wegen der hohen Inflation bereits nach sechs Monaten aufgebraucht. Löhne konnten monatelang nicht ausgezahlt, Materialien und Ersatzteile nicht eingekauft und Reparaturen nicht ausgeführt werden. Von der Finanzmisere sind auch die Instandhaltung und Ausrüstung der Schiffswerften und die Wartung der Boote betroffen. U-Boot-Bau findet heute nur noch in einer (Severomorsk) von ehemals vier Schiffswerften statt. Die Boote werden aus Kostengründen mit weniger und zum Teil schlechter ausgebildetem Personal besetzt, fahren kürzere Einsätze oder bleiben im Hafen liegen. Dadurch reduziert sich die praktische Ausbildung und das Sammeln von Erfahrungen im Umgang mit einer heiklen Technologie. Insgesamt haben die Qualität und Kompetenz der U-Boot-Crews erheblich abgenommen. Das Risiko für Unfälle wächst stetig.

Hinzu kommt die schwindende Motivation der Marineangehörigen wegen der Gehaltsmisere und der schlechten sozialen Bedingungen. Offiziere wurden bisher in den Ferien grundsätzlich nicht bezahlt und mussten immer wieder Verzögerungen bei der Auszahlung der Gehälter hinnehmen. Als Folge davon sind immer weniger von ihnen bereit ihre Fünfjahresverträge zu verlängern und verlassen die Marine. Nachschub durch neu ausgebildete Offiziere gibt es nur wenig pro Jahr, denn ausgebildet wird nur noch in Sosnovy Bor.

Auch der Prestigeverlust der Flotte macht vielen ehemaligen Offizieren zu schaffen. Sie verstehen nicht mehr, warum sie viele Jahre ihres Lebens für die Flotte verbracht haben und sind erfüllt von Wehmut und auch Wut. Sie machen Gorbatschows Reformprogramm und Jelzins Abrüstungsverhandlungen für die Misere der Flotte verantwortlich.3

Der hohe Sozialdruck, die Finanzmisere der Nordmeerflotte und eine ungewisse Zukunft sind Ursachen dafür, dass es immer wieder zu Streiks und Zwischenfällen kommt. Im September 1995 unterbrach die Energiegesellschaft Kolenergo die Energieversorgung des Marinestützpunktes Gadzhievo, nachdem monatelang der Strom nicht bezahlt worden war. Auf vier U-Booten fielen die Kühlsysteme aus und ein Inferno konnte nur verhindert werden, weil der Strom nach 40 Minuten wieder floss, nachdem der Befehlshaber der Nordmeerflotte bewaffnete Soldaten zur Energiestation geschickt hatte. Am 9. November 1997 streikten Arbeiter auf einer Reparaturwerft in Polyarny, nachdem sie monatelang keine Gehälter bezogen hatten und drohten mit der Parole: »We will arrange another Chernobyl«. Es stellt sich die Frage, ob und wie lange noch der Befehlshaber der Nordmeerflotte diese beunruhigenden Zwischenfälle unter Kontrolle hat, ohne dass es eines Tages zu einem schwerwiegenden Unfall kommt.

Das verdrängte Problem: der sorglose Umgang mit dem Atommüll

Mit dem Einsatz der Atom-U-Boote begann auch das Problem des radioaktiven Abfalls. Doch in der Ära des Kalten Krieges galt das Hauptinteresse dem Entwurf und der Konstruktion von Atom-U-Booten und verschiedenen Raketensystemen. Dagegen spielte die Entsorgung von Nuklearmüll ebenso wie der Aufbau von Infrastruktur an den Stützpunkten und auf den Schiffswerften nur eine untergeordnete Rolle. Die Geschwindigkeit, mit der neue U-Boot-Typen entworfen, gebaut und in Dienst gestellt wurden, war so hoch, dass die Entwicklung dazugehöriger Wartungs-, Reparatur- und Versorgungseinrichtungen um fünf bis acht Jahre hinterherhinkte. Während das erste Atom-U-Boot bereits 1957 vom Stapel lief, wurden die ersten Einrichtungen zur Handhabung und Lagerung radioaktiven Abfalls erst Anfang der 60er-Jahre fertiggestellt. Dieses Problem begleitete die Entwicklung aller nachfolgenden U-Boot-Generationen und besteht bis heute. Im Marinestützpunkt Nerpichya wurden zum Beispiel die Dockanlagen für die modernen Typhoon-U-Boote nicht vollständig ausgebaut und für die Docks benötigte Kräne nie errichtet.4

Dass der sicheren Handhabung und Lagerung radioaktiven Mülls nur untergeordnete Bedeutung zugemessen wurde, drückte sich auch in dem Mangel an technischen und ökonomischen Ressourcen aus, die von der Marine für diesen Zweck bereitgestellt wurden. Viele Einrichtungen für das Management radioaktiven Abfalls wurden zwar konstruiert, aber nur auf den Reißbrettern. Wurden Mittel für den Bau einer bestimmten Anlage bewilligt handelte es sich häufig nur um einmalige Aufwendungen. Waren diese verbraucht blieb die Anlage in dem (unfertigen) Zustand zurück, in dem sie sich gerade befand. In Andreeva Bay, wo sich die größte Lagerstätte für verbrauchten Nuklearbrennstoff befindet, wurde 1960 zwar mit dem Bau einer Wiederaufbereitungsanlage für flüssigen Atommüll begonnen, das Vorhaben aber nie zu Ende geführt.

Umweltschutzmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen für die Marineangehörigen und die Bevölkerung in der Region hatten nur eine untergeordnete Bedeutung. Anfangs gab es überhaupt keine Vorsichtsmaßnahmen um die Bevölkerung und insbesondere die Arbeiter zu schützen. Auch wurden keine Vorkehrungen getroffen um U-Boote irgendwann abwracken zu können.

Als Folge dieser Politik befinden sich heute 18 % aller in der Welt existierenden Reaktoren in dieser Region. Die Kola-Halbinsel und Severodvinsk am Weißen Meer verfügen mit ca. 300 Reaktoren über die höchste Konzentration nuklearer Reaktoren in der Welt.5

Das Ausmaß
des nuklearen Abfalls

Der Gebrauch, die Unterhaltung und die Außerbetriebnahme von Reaktoren erzeugt nuklearen Abfall. Im Normalbetrieb fallen große Mengen bei der Auffüllung von U-Boot-Reaktoren mit neuem Brennstoff an. Die ersten russischen Atom-U-Boote wurden nach sieben bis zehn Jahren mit neuem Brennstoff ausgerüstet, je nach Anreicherungsgrad des benutzten Uran 235 und Einsatzdauer des Reaktors. Modernere U-Boote werden bereits nach drei bis fünf Jahren mit neuem Brennstoff aufgefüllt, sodass heute in wesentlich kürzeren Abständen nuklearer Müll erzeugt wird. Bei Brennstofferneuerungsarbeiten entstehen 155 bis 200 Kubikmeter feste und flüssige Anteile nuklearen Abfalls.

Jährlich fällt in Russland nuklearer Müll von 20 Atom-U-Booten an. Lagerkapazitäten sollen dagegen nur für den Abfall von drei Booten vorhanden sein. Insgesamt müssten Jahr für Jahr rund 30.000 Kubikmeter flüssiger und 6.000 Kubikmeter fester Atommüll entsorgt werden. Hinzu kommt ein beträchtlicher Anteil aus Reparaturarbeiten an beschädigten oder havarierten U-Booten.

Der nukleare Abfall der Nordmeerflotte wurde in der Vergangenheit auf der Kola-Halbinsel gelagert, im Meer versenkt oder zur Wiederaufarbeitung nach Mayak transportiert, einer von insgesamt drei Wiederaufarbeitungsanlagen6 in Russland, die sich im 3.000 Kilometer von der Kola-Halbinsel entfernten Tscheljabinsk im Ural befindet.

Die fünf Militärbasen der Nordmeerflotte auf der Kola-Halbinsel liegen zwischen Zapadnaya Litsa im Westen und Gremikha im Osten. An allen Stützpunkten befinden sich Lagerkapazitäten für festen und flüssigen Nuklearmüll. Gremikha und Andreeva Bay sind die Hauptlagerkapazitäten für verbrauchte Brennelemente. Obwohl es Politik der ehemaligen Sowjetunion war, aus Furcht vor einer zukünftigen Uranknappheit möglichst den gesamten verbrauchten Brennstoff wieder aufzubereiten und erneut einzusetzen, wurden Andreeva Bay und Gremikha bis heute nicht an das Eisenbahnnetz angeschlossen, sodass ein Transport mit speziellen Schiffen in Häfen mit Eisenbahnanschluss erforderlich ist um verbrauchte Brennelemente nach Mayak zu transportieren. Seit Anfang der 90er-Jahre hat die Marine allerdings immer weniger Transporte nach Mayak geschickt, weil sie die Kosten sowohl für den Transport als auch die Wiederaufarbeitung immer schlechter finanzieren konnte.

Fester radioaktiver Müll wird an elf verschiedenen Plätzen entlang der Kola-Halbinsel sowie in Severodvinsk gelagert. Alle Lagerkapazitäten sind voll, einige von ihnen in sehr schlechtem bautechnischen Zustand. An einigen Stellen wird fester radioaktiver Müll unter freiem Himmel ohne besondere Schutzvorkehrungen gelagert. Es bereitet keine großen Schwierigkeiten radioaktiven Schrott, der für viele ein lohnenswertes Geschäft bedeutet, zu entwenden.

Flüssiger radioaktiver Abfall, der vor allen Dingen bei der Brennstofferneuerung der noch in Dienst gestellten U-Boote anfällt, wird in allen Marinebasen gelagert, zum Teil in unterirdischen Tanks auf dem Land, an Bord von Versorgungsschiffen oder in Schwimmtanks. Einige der Tanks befinden sich auch in sehr schlechtem Zustand. Ein Teil des neu anfallenden flüssigen Atommülls wird in die Wiederaufbereitungsanlage der zivilen Eisbrecherflotte in Murmansk gebracht. Allerdings ist die Kapazität der Anlage zu gering und sind die Kosten der Wiederaufarbeitung für die Nordmeerflotte zu hoch.

Die größte Lagerstätte für verbrauchten Nuklearbrennstoff liegt in Zapadnaya Litsa in Andreeva Bay, nur 40 Kilometer von der Norwegischen Grenze entfernt. In Norwegen ist die Furcht vor radioaktiven Verseuchungen groß zumal sich Befürchtungen, dass an vielen Stellen auf der Kola-Halbinsel mit spaltbarem Material grob fahrlässig umgegangen wird, mit Bekanntgabe des Bellona-Reports bestätigt haben.

In Andreeva Bay sollen ca. 21.000 verbrauchte Brennelemente, der Inhalt von etwa 90 Reaktoren, in drei überalterten, innen mit Stahlplatten versehenen Betontanks und bedeckt von einer ca. 4 Meter dicken Wasserschicht gelagert sein. Im Februar 1982 traten in zwei der Betonbecken Leckagen auf. Ein halbes Jahr lang trat hochgradig kontaminiertes Wasser aus, zeitweilig bis zu 30 Tonnen pro Tag, und entwässerte in den nur 350 Meter entfernten Litsa Fjord. Weitere 200-220 Brennelemente, verpackt in Containern, sollen seit 36 Jahren unter freiem Himmel stehen.

Ähnlich wie in Andreeva Bay wurden auch in Gremikha Reaktorkerne in Betonbecken abgesenkt und mit Wasser bedeckt. Auch hier traten Leckagen auf. 1982 wurde entdeckt, dass der Wasserstand in einem von insgesamt vier Tanks sank und kontaminiertes Wasser austrat. 1984 wurden drei der Becken entleert, die Brennelemente geborgen, nach Murmansk verschifft und von dort mit dem Zug nach Mayak transportiert. 95 beschädigte Brennelemente wurden in den vierten Pool umgelagert, wo sie sich bis heute befinden sollen. Auch in Gremikha gibt es ein Areal, wo auf einem relativ ungeschützten offenen Gelände Container mit verbrauchten Brennelementen unter freiem Himmel stehen. Zur Zeit soll die Nordmeerflotte über kein Schiff mit geeigneten Vorrichtungen an Bord verfügen, um die überalterten Container aus Gremikha fort zu schaffen. Auch der nukleare Abfall der mit Flüssigmetall gekühlten Reaktoren wurde hier gelagert.

Radioaktive Verschmutzungs-
quellen im Meer

Ein nicht unbeträchtlicher Teil des anfallenden Nuklearmülls wurde als Folge der dargestellten Politik im Meer versenkt. Von 1959 bis 1991 versenkten die russische Marine und die russische Eisbrecherflotte festen und flüssigen Nuklearmüll, darunter auch Reaktorbestandteile und verbrauchte Brennelemente.7 Die Hauptversenkungsgebiete (siehe Grafik) befanden sich vor der Küste der Atomtestinsel Nowaja Semlja (1), in der Barentssee (2 und 3) und vor der Küste der Kola-Halbinsel (4 und 5).

Im Kara-Meer vor Novaja Semlja sollen 16 Reaktoren auf Grund liegen, darunter mindestens sechs, die noch Brennelemente enthalten. Insgesamt sollen ca.17.000 Atommüllcontainer mit flüssigem und anderem radioaktiven Müll vor der Insel ins Meer gekippt worden sein. Zwölf Atom-U-Boote und drei atombetriebene Eisbrecher wurden vor der Küste von Nowaja Semlja versenkt, ebenso wie 1964 die »N. Baumann«, die 1.500 bereits undichte Atommüll-Behälter geladen hatte.8 1984 wurden vom Eisbrecher »Lepse« weitere Atommüll-Container abgeworfen, die zunächst nicht sinken wollten. Mit Hilfe von Geschosssalven wurden sie undicht geschossen und zum Sinken gebracht. Die Container sollen jetzt in 200 Metern Tiefe liegen.

Im Hafen von Murmansk liegt die aus den 60er-Jahren stammende »Lepse«, die heute als Zwischenlager für ca. 630 zum Teil beschädigte Brennelemente dient. Da im Umfeld der »Lepse« bereits erhöhte Strahlenwerte im Meerwasser gemessen wurden, sind dringend Maßnahmen erforderlich, die eine Zunahme der Kontamination der Umwelt verhindern. Auf internationaler Ebene bemüht sich besonders Norwegen, nicht zuletzt aus Furcht vor einer radioaktiven Verseuchung der reichen Fischgründe in der Barentssee, in Kooperation mit der EU um eine schnelle Lösung für das Problem »Lepse«.

Neben dem Atommüll, der im Normalbetrieb der Flotte anfällt, entsteht eine erhebliche Verschmutzung durch Unfälle auf Atom-U-Booten oder bei den anfallenden Reparatur- und Wartungsarbeiten in den Werften.

Einer der bekanntesten Atom-U-Boot Unfälle ist der Fall der »Komsomolets«, die 1989 vor der norwegischen Bäreninsel sank. Die »Komsomolets«, die für das russische Militär als das sicherste und größte Jagd-U-Boot aller Zeiten galt, maß 122 Meter Länge und 12 Meter Breite und war 7.000 Tonnen schwer. An Bord sollen sich ein gerissener Reaktor mit zehn Tonnen leicht- und eineinhalb Tonnen hochangereichertem Uran sowie zwei korrodierende Torpedo-Sprengköpfe mit jeweils 25 Kilogramm Plutonium befinden. An der Stelle, wo die »Komsomolets« liegt, die sich in 1.700 Metern Tiefe auf dem untermeerischen Kontinalabhang befindet, gleiten ständig dichte Bodenwassermassen aus dem flachen Schelfmeer Barentssee in das ozeanische Tiefseebecken im Westen ab. Die Folgen für die Umwelt sind hier unabsehbar.

Zusammenfassung

Der U-Boot-Bau und der Betrieb der Nordmeerflotte waren und sind höchst risikoreich. In der Vergangenheit kam es immer wieder zu U-Boot-Havarien oder Zwischenfällen bei Wartungs- und Reparaturarbeiten. Trotz außer Dienst Stellung einer großen Zahl alter U-Boote im Rahmen von START I und II ist das Risiko nuklearer Unfälle nicht kleiner, sondern eher größer geworden. Hauptursache ist die schwierige ökonomische Situation Russlands, wovon auch die Unterhaltung der Nordmeerflotte, die gesamte Zulieferindustrie in der Region und die Zukunft einzelner Stützpunkte betroffen sind. Schlechter gewartete U-Boote, geringer qualifizierte Mannschaften und ein Mangel an zahlreichen Ausrüstungsgegenständen und Ersatzteilen erhöhen das Risiko für weitere Nuklearunfälle, ebenso wie die Zunahme von Streiks der Marineangehörigen oder Kurzschlusshandlungen Einzelner, die dem Sozialdruck nicht mehr gewachsen sind.

Aus ökonomischen und sicherheitstechnischen Gründen kann Russland sich die Nordmeerflotte in der bisherigen Größe nicht mehr leisten und müsste sie stillegen oder zumindest drastisch verkleinern, wesentlich stärker noch als es im Rahmen von START I und II seit 1989 bereits erfolgt ist.9

In Bezug auf das Problem des Nuklearmülls benötigt Russland internationale Unterstützung. Auf der Kola-Halbinsel sind alle Speicherungskapazitäten für festen und flüssigen Nuklearmüll sowie verbrauchte Brennstoffstäbe erschöpft und befinden sich zum Teil in einem technisch äußerst schlechten Zustand. Gleichzeitig wächst der Nuklearmüll durch den Betrieb der Flotte unaufhörlich weiter an. Nationale und internationale Maßnahmen sind dringend erforderlich, um weitere Nuklearverseuchungen oder Unfälle zu vermeiden. Diese werden zur Zeit stark behindert durch die Weigerung der Marine, unabhängigen ExpertInnen den Zugang zu besonders risikoreichen Orten wie Andreeva Bay oder Gremikha zu gewähren.

Klare Verifikationsmechanismen zur Kontrolle internationaler Vereinbarungen in Bezug auf die Lagerung oder Wiederaufbereitung militärischen Nuklearabfalls zwischen den Weltmächten sind notwendig, damit auch Russland an seiner überkommenen Geheimhaltung nicht länger festhält und unabhängigen ExpertInnen Zugang gewährt, um sich ein Bild vor Ort zu machen, und finanzielle Mittel zur Sicherung der Lebensgrundlage aller Menschen zur Verfügung stellt.

Ort Einrichtung Quellen für radioaktive Kontamination
Zapadnaya Litsa
Bolshaya,
Lopatka,
Nerpichya, Andreeva Bay
Militärbasis – 26 einsatzbereite Atom-U-Boote
– 1 stillgelegtes Atom-U-Boot mit Nuklearbrennstoff an Bord
– 1 stillgelegtes Atom-U-Boot ohne Nuklearbrennstoff
– 23.260 verbrauchte Brennelemente
– 2.000 m3 flüssiger Atommüll
– 6.000 m3 fester Atommüll
Vidyayevo Ura Bay Militärbasis – 4 einsatzbereite Atom-U-Boote
– 1 Reaktor der Nurka-Klasse
– 14 stillgelegte Atom-U-Boote mit Nuklearbrennstoff an Bord
– mind. 3 m3 flüssiger Atommüll
– fester Atommüll
Gadzhievo Skalisti Militärbasis – unbekannte Anzahl von Atom-U-Booten
– 200 m3 flüssiger Atommüll
– 2.037 m3 fester Atommüll
– gelegentlich: Versorgungsschiffe mit Nuklearbrennstoff
und flüssigem Atommüll an Bord
Saida Bay Lagerstätte – 12 U-Bootrümpfe mit ihren Reaktoren
Severomorsk Militärbasis – 2 nuklear angetriebene Zerstörer
Gremikha Militärbasis – einige einsatzbereite Atom-U-Boote
– 15 stillgelegte Atom-U-Boote
– 300 m3 fester Atommüll
– 2.000 m3 flüssiger Atommüll
– 795 verbrauchte Brennelemente
– 9 Reaktorkerne von Atom-U-Booten
mit Flüssigmetall gekühlten Reaktoren
Nerpa Schiffswerft – 2 Atom-U-Boote, die außer Dienst gestellt werden
– gelegentlich: Versorgungsschiffe mit verbrauchtem
Nuklearbrennstoff und flüssigem Atommüll
– 200 m3 fester Atommüll
– 170 m3 flüssiger Atommüll
Shkval
Polyarny
Schiffswerft – 1 Atom-U-Boot zur Instandsetzung / Wartung
– 1 Versorgungsschiff mit Nuklearbrennstoff an Bord
– 1 Versorgungsschiff mit flüssigem Atommüll an Bord
– 7 stillgelegte Atom-U-Boote mit Nuklearbrennstoff an Bord
– Lagerstätte für festen Nuklearmüll
– 150 m3 flüssiger Atommüll
Sevmorput Schiffswerft – 1 stillgelegtes Atom-U-Boot mit Nuklearbrennstoff an Bord
– 1 stillgelegtes Atom-U-Boot ohne Nuklearbrennstoff
– gelegentlich: Versorgerschiffe mit flüssigem Atommüll
– Lagerstätte für festen Atommüll
Severodvinsk Schiffswerft – 12.539m3 fester Atommüll
– 3.000 m3 flüssiger Atommüll
– 4 Atom-U-Boote zur Instandsetzung / Wartung
– 12 stillgelegte Atom-U-Boote mit Nuklearbrennstoff an Bord
– 4 Reaktorblöcke von außer Dienst gestellten Atom-U-Booten
Überblick über den Nuklearmüll in den Militärbasen der Nordmeerflotte. (Quelle: Nilsen, Thomas / Kudrik, Igor / Nikitin, Alexandr (1996): The Russian Northern Fleet. Sources of Radioactive Contamination – a short summary and presentation of the Bellona report.)
Versenkungsgebiete im Meer
(Bildquelle: www.bellona.no)

Anmerkungen

1) Nordischer Ministerrat, Nr. 1, 1998, S. 3.

2) Die Bellona-Stiftung ist eine unabhängige Umweltorganisation, die 1986 in Norwegen gegründet wurde. Zu den Zielen von Bellona zählt es, Probleme der Umweltverschmutzung, der Degradation und umweltbedingte Gefahren für die menschliche Gesundheit zu bekämpfen. Die Organisation bemüht sich die Öffentlichkeit in umfassender Weise über Umweltprobleme und daraus resultierende Gefahren zu informieren. Mit ihrem 1996 erschienenen Bericht, dem »Bellona-Report«, hat die Organisation wesentlich dazu beigetragen, auf die Probleme in Nordwestrussland aufmerksam zu machen. Der vorliegende Text stützt sich weitgehend auf Angaben des Bellona-Reports: The Northern Fleet.

3) Nordmeerflotte, ARTE, 28.10.1999.

4) Nilsen, Thomas / Kudrik, Igor / Nikitin, Alexandr (1996): The Russian Northern Fleet. Sources of Radioactive Contamination, Bellona-Report, Kapitel 1: The Northern Fleet, http://www.bellona.no/e/russia/nfl/nfl1.htm

5) Nach Angaben von Bellona verfügt die Nordmeerflotte über insgesamt 339 Reaktoren. Baklanov und Bergmann (1999) geben ca. 296 Reaktoren an für 2 Schlachtschiffe und insgesamt 154 Atom-U-Boote, wobei sie sowohl die in Betrieb befindlichen als auch die außer Dienst gestellten Boote berücksichtigen. Ferner geben sie an, die Nordmeerflotte verfüge über 8 nuklear angetriebene Eisbrecher und 5 Schiffe seien mit nuklearem Abfall beladen. (Baklanov, Alexander / Bergmann, Ronny (1999): Radioactive Sources in the Barents Euro-Arctic Region. Are there reasons to be concerned?, NEBI Yearbook 1999. Springer Verlag, Copenhagen, S. 172.

6) Zwei weitere befinden sich bei Krasnoyarsk und Tomsk.

7) Official Documentation and Information from Norway ODIN (1998): The Norwegian Ministry of Environment, »Radioactive pollution in northern ocean areas«, http://odin.dep.no/html/english/publ.html

8) ODIN, a.a.O; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juli 1992.

9) Nach Angaben von Bellona waren 1989 noch 196 Atom-U-Boote im Einsatz (Nord- und Pazifikflotte gemeinsam), 1996 nur noch 109, davon 67 bei der Nordmeerflotte. Bis zum Jahr 2003 soll die Gesamtzahl auf 80 reduziert werden, Bellona-Report, Introduction, 1996.

Dr. Ulrike Kronfeld-Goharani ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Schleswig-Holsteinischen Institut für Friedenswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.