Friedensschule im Krieg

Friedensschule im Krieg

Franjo Starcevic und die Friedenspädagogik in Gorski kotar (Kroatien)

von Valentina Otmacic

Die Friedensschule in Gorski Kotar (Kroatien) war ein ganz besonderes pädagogisches Experiment. Entstanden ist sie in einer Region, die dank des Engagements der örtlichen Bevölkerung den prekären Frieden zwischen den dort lebenden Serb*innen und Kroat*innen retten und bewahren konnte. Um diesen Frieden zu verstetigen, wurde ein System an Kursen geschaffen, die »Friedensschule«, die Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichem Hintergrund, zunächst aus der Region, dann aus ganz Ex-Jugoslawien und dem angrenzenden Ausland, einander näherbringen sollte. Der Motor all dieser Bemühungen war Professor Franjo Starcevic. Ein Porträt zu seinem 10. Todestag.

Gorski kotar ist eine gebirgige Region im Nordwesten Kroatiens, die von Kroaten und Serben bewohnt wird, zwei Bevölkerungsgruppen, die während der Auflösungskriege Jugoslawiens 1991-1995 in einen gewaltsamen Konflikt gegeneinander verstrickt wurden. Während die meisten ethnisch gemischten Regionen in Kroatien Spaltungen und Gewalt erlebten, blieb Gorski kotar durch die gesamte Kriegszeit eine Oase des Friedens, die die vorherrschenden nationalistischen Praktiken der ethnischen Zersplitterung der Gesellschaft und des Territoriums durch ihr leuchtendes Gegenbeispiel herausforderte. Die Gemeinde Gorski kotar verhinderte nicht nur jegliche bewaffneten Zusammenstöße in der Region, sondern bewahrte auch den positiven Frieden auf lokaler Ebene. Diese außergewöhnliche Errungenschaft war möglich dank des strategisch klugen, oft heldenhaften Engagements und des unkonventionellen Denkens einiger außergewöhnlicher Menschen. Einer der wichtigsten von ihnen war Professor Franjo Starcevic, ein Pionier der Friedensarbeit und Friedenserziehung, der im April 2011 verstorben ist1. Über seine Heimat sagte er Folgendes:

„Gorski kotar ist etwas Besonderes. Ich denke mir, dass dies daran liegt, dass es zu den höchstgelegenen Orten in Kroatien gehört. Ich denke mir, dass wir dem Himmel und den Wolken, die nicht aufeinander schießen, ein Stück näher sind; auch die Sterne schießen nicht aufeinander“ (Franjo Starcevic, im Nansen-Dialogzentrum Osijek, 2009).

Geboren 1923 im kleinen Ort Mrkopalj in Gorski kotar, absolvierte Franjo Starcevic sein Studium der Philosophie und Psychologie an der Universität Zagreb. Nach vielen Jahren pädagogischer Arbeit an verschiedenen Schulen war er zur Zeit der Auflösung Jugoslawiens schon im Ruhestand, aber politisch immer noch in der Gemeindeverwaltung seines Heimatortes engagiert. Tief davon überzeugt, dass Gorski kotar all seinen Bewohner*innen gehört und dass der Frieden dort trotz der schwierigsten Umstände bewahrt werden kann, wurde Franjo Starcevic – oder der »Professor Starcevic«, wie ihn die meisten Menschen nennen – zu einer Ikone der Friedensbewahrung in der Region und darüber hinaus.

„Der Professor vertraut seinen Nachbarn“

Als der jugoslawische Staat ab 1990 zerfiel und die Zukunft seiner Republiken und Bürger*innen höchst ungewiss war, nahmen die Spannungen in ganz Kroatien zu, vor allem in den Gebieten mit ethnisch gemischter Bevölkerung wie in der Region Gorski kotar. Ethnische Identitäten gewannen stark an Bedeutung, und unter der Führung nationalistischer Eliten fanden sich Menschen, die jahrzehntelang zusammen gelebt hatten, plötzlich auf gegnerischen Seiten, als Feinde wieder. Die Polarisierung der Bevölkerung entlang ethnischer Linien wurde unter anderem durch die Unterbrechung der Kommunikation zwischen den ethnischen Gruppen befördert, die gleichzeitig aus unterschiedlichen Quellen bewaffnet wurden. Die Errichtung von physischen Barrikaden auf den Straßen, um die Weitergabe von Waffen zu verhindern und sich vor Angriffen zu schützen, wurde zu einer gängigen Praxis, die mit der Errichtung »mentaler Barrikaden« und ethnischer Trennlinien in den Köpfen der Menschen einherging. Dieses Szenario begann sich auch in Gorski kotar im Herbst 1991 abzuzeichnen, mit Barrikaden zwischen kroatischen und serbischen Dörfern, die von beiden Seiten errichtet wurden.

Ein Wendepunkt in dieser Entwicklung war erreicht, als Franjo Starcevic, ein Kroate, beschloss, die Barrikaden zu Fuß zu überqueren und mit den Führungskräften in den serbischen Dörfern zu sprechen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wagte er in Absprache mit den örtlichen Behörden diese lange, historische und höchst symbolische Reise.

Josip Horvat, damals Leiter des Krisenstabs der Gemeinde Delnice, erinnert sich an den Moment, als diese Entscheidung getroffen wurde:

„Die Barrikaden von irgendeiner Seite zu überqueren bedeutet, seinen Kopf zu riskieren (…) Aber der Professor [Starcevic] vertraut seinen Nachbarn. Es ist unmöglich, dass der Wirbelwind des Krieges in so kurzer Zeit friedliche Menschen in Kriegsmonster verwandelt hat. Wir warnen ihn, dass die Reise riskant, lang und schwierig ist, man muss den Berg zu Fuß überqueren. ‚Ich bin siebzig Jahre alt und es wird nicht viel schaden [wenn ich sterbe], und Sie werden wenigstens wissen, wo Sie stehen!‘ Er ist ruhig und lächelt. Es scheint, dass er unsere Verwirrung genießt.“ (Horvat 2003, S. 45)

Dies war nur der erste von vielen Besuchen, die Professor Starcevic den serbischen und später auch den kroatischen Dörfern in der Region abstatten sollte. Er übernahm die Rolle eines Vermittlers und initiierte eine Reihe von Austauschen, die eine kontinuierliche und konstruktive Kommunikation zwischen den serbischen und kroatischen Führungen fördern sollten, die auf diese Weise zu Partnern bei der Bewahrung des Friedens in Gorski kotar wurden. Dieser ebenso symbolische wie pragmatische Akt des Friedens – eine außergewöhnliche menschliche Anstrengung, die Professor Starcevic unternahm, um die Hand auszustrecken und »den anderen« zuzuhören – hatte eine stark positive Wirkung auf die serbische Bevölkerung auf der anderen Seite des Berges und weckte Vertrauen. In einem Video des Nansen-Dialogzentrums Osijek (2009) erinnert sich Ðuro Trbovic, der Chef der überwiegend serbischen Gemeinde Drežnica:

„Der Mann hat sich geopfert, er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, er ist 27 Kilometer von hier nach Jasenak gelaufen.“

Im gleichen Video betont ein Bewohner des Dorfes Jasenak:

Er kam durch den Schnee, es lag ein Meter Schnee, er kam über die Straße, durch den Wald, er kam, um allen, die schlechte Absichten hatten, das Gegenteil zu beweisen.“

Bei der Betrachtung der Auswirkungen dieser von Professor Starcevic initiierten Aktionen ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass in vielen Orten in Kroatien, die enorme menschliche und andere Verluste erlitten, die Gewalt mit den Barrikaden begann. Dem folgten: Das Gefühl der Bedrohung, das wachsende Misstrauen, die Verschanzung der Menschen entlang der ethnischen Zugehörigkeit, die erste Kugel, das erste Opfer, die Zunahme der Feindseligkeiten, zusätzliche militärische Kräfte, die von beiden Seiten zur Unterstützung ihrer ethnischen Gruppe herbeigerufen wurden – das war ein übliches Szenario in solchen Orten. In Gorski kotar hingegen wurden die Barrikaden langsam abgebaut, das Holz wurde von Jasenak nach Rijeka gebracht und dort verkauft, Menschen beider ethnischer Gruppen gingen weiter ihrer Arbeit nach und die lokalen Eliten begannen, sich von der Idee des ethnischen Konflikts zu lösen (siehe Wintersteiner 1994 und Glad 2017).

Die positiven interethnischen Beziehungen in Gorski kotar, die durch den Dialog der lokalen Eliten erhalten wurden, mussten aber auch auf allen Ebenen gepflegt werden. Da die Kinder systematisch den dominanten Diskursen der Spaltung ausgesetzt waren, bestand die Notwendigkeit, sie bei der Überwindung dieser Herausforderung zu unterstützen. Die Idee der Friedensschule war geboren.

Friedensschule in Mrkopalj

Mitten im Krieg, im Jahr 1994, startete Franjo Starcevic zusammen mit seinem Kollegen, dem Künstler Josip Butkovic, und einer Gruppe gleichgesinnter Freiwilliger diese ungewöhnliche Initiative und eröffnete eine Friedensschule in Mrkopalj. Die »Schule« versammelte Kinder aus den umliegenden Dörfern und mehreren Städten Kroatiens, bot einen Raum für Begegnungen und Workshops zu verschiedenen Themenbereichen und mobilisierte lokale Familien, die sich freiwillig bereit erklärten, die externen Kinder aus anderen Teilen Kroatiens in ihren Häusern aufzunehmen.

Die erste einwöchige Veranstaltung der Friedensschule wurde im August 1994 organisiert und versammelte 46 Teilnehmer*innen aus Gorski kotar, Rijeka und Zagreb, kroatischer, serbischer und muslimischer Herkunft. Darunter auch Kinder, die aufgrund des Krieges aus anderen Teilen Kroatiens vertrieben worden waren. Das Programm war sehr vielfältig – es umfasste Kunsthandwerk, Sport, Ökologie, Konferenzen und Seminare zur gewaltfreien Konfliktlösung, Bastelworkshops und viele andere Aktivitäten. Wie die Organisator*innen betonten, belehrten sie die Schüler*innen zu Beginn nicht theoretisch über Frieden, sondern ließen die Jugendlichen einfach gemeinsam etwas tun. In diesem Prozess wurden viele Barrieren abgebaut und eine Reihe von verschiedenen Akteuren war daran beteiligt, die die Friedensidee über die Workshops hinaus weiter trugen.

Im Laufe der Zeit erweiterte die Schule ihre geografische Ausstrahlung und ihren Einfluss – auch nach dem Ende des Krieges: Initiiert in Mrkopalj, breiteten sich die Aktivitäten der Schule auf Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Slowenien aus und bezogen auch Initiativen und Personen aus der Schweiz und Österreich mit ein. Anfänglich auf Spenden von Einzelpersonen angewiesen, erhielt die Friedensschule nach und nach Mittel vom Europarat, dem Open Society Institute und anderen Organisationen. Über viele Jahre hinweg blieb diese Schule ein Ort der Begegnung und der positiven gemeinsamen Erfahrungen von Kindern verschiedener ethnischer Gruppen, von den örtlichen Dörfern bis hin zu den Nachbarländern.

Die Organisation der Friedensschule basierte auf dem zuvor aufgebauten gegenseitigen Vertrauen zwischen den Bewohner*innen von Gorski kotar und stärkte dieses Vertrauen weiter. Milan Kosanovic, ein Serbe aus Jasenak, erinnert sich an die Entscheidung, seine Tochter im August 1994 in die Friedensschule zu schicken:

„Das ist die Logik: Wenn ich dir etwas anvertraue, dann mein Kind […] es gibt nichts, was man mehr in etwas Gutes oder in etwas Ehrenvolles und Faires investieren könnte, als dir sein eigenes Kind anzuvertrauen.“ (Nansen Dialogzentrum Osijek 2009)

Wechselseitig vertrauensvolle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern beider ethnischer Gruppen wurden durch diese Erfahrung gestärkt und intensiviert, denn die Organisation und Durchführung der Aktivitäten der Friedensschule erforderte ihre Zusammenarbeit, gemeinsame Entscheidungsfindung und gegenseitiges Vertrauen. Im Kontext des andauernden Krieges in Kroatien und dem benachbarten Bosnien-Herzegowina war die Idee der Friedensschule revolutionär und blieb der Bevölkerung von Gorski kotar und darüber hinaus als bedeutendes Vermächtnis erhalten.

Die Friedensschule als Vermächtnis

Das Erlebnis der oben geschilderten Praxis der Friedensschule ist eine wertvolle pädagogische Erfahrung, die in den Augen der Organisator*innen sowohl an Kinder als auch an Erwachsene weitergegeben werden musste, in Kroatien und im Ausland.

Als eine Art erfolgreiches soziales Experiment, das zur Erhaltung des Friedens in Gorski kotar beitrug, war es gleichzeitig aber auch eine einzigartige und innovative Art des Widerstands gegen die Angst vor dem »Anderen«.

Mit ihrer Kriegs- und Nachkriegspraxis wurde die Friedensschule zu einer Art »Museum der ungebrochenen Beziehungen« (um die Analogie mit dem bekannten Zagreber »Museum der zerbrochenen Beziehungen« zu verwenden), zum Ort des Widerstands gegen Angst und Spaltung. Sie wurde zu einem Allgemeingut im kollektiven Gedächtnis von Gorski kotar und stellt ein soziales Kapital dar, das für die weitere Friedensarbeit nutzbar gemacht werden sollte. Allerdings werden Franjo Starcevic, die Friedensschule oder die Friedenserfahrung von Gorski kotar in den Lehrplänen der Schulen in Kroatien heute nicht erwähnt. Das ist nicht überraschend, da diese Erzählung dem dominanten Diskurs über den Krieg 1991-95 widerspricht und ihn herausfordert. Gerade deshalb wäre die Friedensschule der richtige Ort, um Geschichtslehrer*innen zu versammeln und gemeinsam darüber nachzudenken, wie kritisches Denken gefördert und das Verständnis der Kriegsereignisse durch die Erfahrungen aus Gorski kotar vertieft werden könnten.

Die Friedensschule ist aber nicht nur eine gemeinsame Erfahrung aus der Vergangenheit oder ein Gebäude in Mrkopalj; sie ist vor allem eine Idee, ein Konzept, das von Franjo Starcevic initiiert wurde. Es hätte ihm sicher gefallen, wenn die Schule heute wieder ein Ort der aktiven Suche nach Antworten auf die aktuellen Herausforderungen des Friedens werden könnte, denn von diesen Herausforderungen gibt es viele.

Friedensförderndes Potenzial für das 21. Jahrhundert

Der Krieg mag vorbei sein, aber wir können die Situation sicher nicht als Frieden bezeichnen, in der manche Erwachsene – in Jajce (Bosnien), in Vukovar (Kroatien) oder anderswo – Kinder entlang der ethnischen Linien aufteilen oder in der einige Kinder von »anderen Leuten« (Geflüchteten) ihr Leben in den Lastwagen von Schmugglern verlieren, um nur einige Beispiele zu nennen.

Denn Frieden ist nicht einfach nur die Abwesenheit von direkter, bewaffneter Gewalt, sondern die Abwesenheit jeglicher Art von Gewalt und die Anwesenheit von Gerechtigkeit und Zusammenarbeit unter den Menschen.

Deshalb wird die Friedensschule heute genauso gebraucht wie in den Kriegszeiten der 1990er Jahre. Obwohl sie 2006 aufgrund finanzieller Engpässe geschlossen wurde, gibt es heute gute Aussichten, dass sie dank der Bemühungen einiger Enthusiast*innen wieder eröffnet werden kann. Um für das 21. Jahrhundert relevant zu sein, muss sich die Schule auf die Themen konzentrieren, die für die Kinder und Jugendlichen von heute am wichtigsten sind. Unter diesen Themen sticht die Frage der Klimakrise und der Klimagerechtigkeit als eine der wichtigsten Herausforderungen für den Frieden von heute und morgen hervor. Mit seiner ökologischen Herangehensweise war Franjo Starcevic einer der Vorläufer der heutigen Bewegung zur Rettung des Planeten in Kroatien. In diesem Sinne müsste eine erneuerte Friedensschule die Ziele der heutigen Klimabewegung in direkter Verbindung mit der Frage des Friedens aufgreifen.

1994 wurde im Bulletin der Grundschule Mrkopalj vermerkt, dass das Ziel der Friedensschule darin bestehe, „den Kindern – Jungen und Mädchen – zu helfen, ein Leben in gegenseitiger Zusammenarbeit, Respekt und Verständnis zu beginnen und durchzuhalten; eine Welt ohne Hass und Krieg zu schaffen und die bestehenden Grenzen nationaler und missverstandener religiöser Zugehörigkeit in Begegnungspunkte des allgemeinen menschlichen Miteinanders zu verwandeln“ (Bulletin Board Club, S. 3).

Dies ist ein wichtiges und ehrgeiziges Programm, das sich die ersten Studierenden und Initiator*innen der Schule gegeben hatten. Es ist nun an der Zeit, die Reise dort fortzusetzen, wo sie aufgehört hat und diesem Programm wieder Leben einzuhauchen. So kann die Friedensschule den Fußstapfen von Franjo Starcevic folgen und daran arbeiten, Hindernisse und Grenzen zu überwinden. So kann sich das enorme pädagogische und friedensfördernde Potenzial entfalten, das in der Friedensschule in Mrkopalj steckt.

Anmerkung

1) Dieser Text erinnert anlässlich des zehnten Todestages von Franjo Starcevic an seine Pionierarbeit.

Literatur

Bulletin Board Club (1994): Delnice: Informaticka radionica Gorani OŠ Mrkopalj.

Glad, N. (2017): Goranski MIR-ovi. Delnice: Matica hrvatska.

Horvat, J. (2003): Oaza mira. Rijeka: Adamic.

Nansen Dialogzentrum Osijek (2009): Neispricane price II [Video]. URL: ndcosijek.hr.

Wintersteiner, W. (1993): Zusammenleben ist möglich: Serben und Kroaten in Gorski kotar. In: Birckenbach,H.; Jäger, U.; Wellmann, C. (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1994. München: Beck, S. 225-232.

Dr. Valentina Otmacic ist eine unabhängige Wissenschaftlerin aus Kroatien. Sie hat einen Doktortitel in Friedensforschung von der University of Bradford, UK. Ihre Forschungsarbeit konzentriert sich auf gemeinschaftliche Formen des Widerstands gegen Gewalt und gewaltfreie Ansätze zur Konflikttransformation.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Werner Wintersteiner.

Weg zur Versöhnung in Bosnien?


Weg zur Versöhnung in Bosnien?

Gemeinsam der Opfer gedenken

von Werner Wintersteiner

Kriege wirken nach – lange. Wunden werden nicht nur physisch geschlagen, sondern auch psychisch. Eine schwer aufzulösende Hinterlassenschaft von Kriegen sind der Hass und das anhaltende Misstrauen zwischen den ehemaligen Kriegsparteien. Dieser Artikel schildert die Reise des Autors nach Bosnien und wie Kriegsveteranen aller drei Lager des Bosnienkrieges durch gemeinsames Opfergedenken einen Weg der Versöhnung beschreiten.

Es ist ein frühsommerlich warmer Tag, Mitte Mai, als wir uns nach Zavidovici aufmachen, ein Städtchen am Rande des stark bewaldeten Ozren-Gebirges, zwei Stunden nördlich von Sararajevo. Wir, das ist ein ganzer Reisebus von Friedens- und Konfliktexpert*innen verschiedener Länder. Was wir hier sehen und zu hören bekommen, ist bei aller Traurigkeit erstaunlich und ermutigend.

Wir steigen zum »Site 715«, dem »Hügel des Todes« hinauf, eine Bergkuppe, die – wie uns erklärt wird – eine der am meisten umkämpften Positionen in der ganzen Region war. Rund 500 Soldaten, Serben und Bosniaken, haben hier ihr Leben gelassen. Die Gegend ist bis heute noch vermint, überall warnen rote Schilder mit Totenkopf davor, die Wege zu verlassen. Auf der Anhöhe befindet sich eine schlichte polierte Granitplatte, wie ein Grabstein, flach auf dem Boden angebracht. Ihre Form bildet die Umrisse von Bosnien und Herzegowina nach. Darauf steht: „All jenen, die diesen Platz mit ihrem Blut tränkten“ – eine Formulierung, die jede Parteinahme und Bewertung vermeidet und einfach Trauer ausdrückt.

„Die einzige Hoffnung ist Versöhnung“

Hier treffen wir Kriegsveteranen aller drei Parteien, die sich im Krieg von 1992 bis 1995 bekämpften – Bosniaken, Serben und Kroaten. Sie haben sich, und das ist fast 25 Jahre nach Ende der Kämpfe immer noch außergewöhnlich, zu einer gemeinsamen Trauerfeier und Kranzniederlegung eingefunden. Mehrere von ihnen hat der Krieg zu Invaliden gemacht, sie tragen Beinprothesen. Einer nach dem anderen ergreift das Wort, erzählt seine persönliche Geschichte.

Trotz aller Unterschiede der Erzählungen gibt es einen gemeinsamen Tenor: Alle bekennen offen ein, dass nicht nur der Gegner, sondern auch ihre eigene Seite Kriegsverbrechen begangen hat. „Die einzige Hoffnung für das Land ist Versöhnung“, ist unisono die Schlussfolgerung dieser Männer. Ich habe gekämpft, um meine Familie zu verteidigen“, sagt der Kroate Mirko, „nicht für mein Land“. Und er fügt hinzu: „Wir Veteranen müssen ein Vorbild sein und zeigen, dass wir wieder in Frieden zusammenleben können.“ Und Ðoko, serbischer Veteran, fügt hinzu: „Alle Opfer verdienen Respekt, egal, auf welcher Seite sie kämpften. Wir haben diesen Krieg nicht gebraucht. Und es haben auch nur die einfachen Leute, Arbeiter und Bauern, den Preis dafür bezahlt. Deswegen müssen sich heute gerade die einfachen Leute zusammentun, damit es nie wieder zum Krieg kommt!“ Ganz ähnlich drückt es auch Edin Ramulic aus, ein Veteran der bosniakischen Armee aus Prijedor, der heute Friedensaktivist ist: „Wir sind gekommen, um alle Opfer zu ehren und die Botschaft zu verbreiten, dass sich dieser Horror nie mehr wiederholen darf!“„Ich hatte von allen, die hier anwesend sind, den höchsten militärischen Rang, also bin ich auch am meisten zur Verantwortung zu ziehen“, bekennt offen Enes Bajric, ehemaliger Berufsoffizier der Jugoslawischen Volksarmee (JNA), der in Slowenien stationiert war und sich bei Kriegsbeginn der bosniakischen Armee anschloss. Immer wieder, so Bajric, frage er sich noch heute: „Hätten wir den Krieg verhindern können?“

Die ehemaligen Soldaten kritisieren heftig, dass die Politiker solche Gedenkfeiern ausnützen, um ihre Machtspiele zu spielen und damit die Opfer missbrauchen. „Schließlich haben nicht die Politiker, sondern die Kriegsveteranen das meiste Recht, über die Vergangenheit zu sprechen“, meint Asim.

„Ein Ort der Schande“

Unsere nächste Station ist »Kilometer 13« (auf der von der k.u.k. Monarchie erbauten Bahnstrecke, gerechnet ab dem Bahnhof Zavidovici). Eine unscheinbare, idyllisch gelegene Wiese am Waldrand, daneben die Ruinen eines längst verfallenen serbischen Klosters. Hier gibt es kein Denkmal, und erst seit Kurzem, nach jahrelangen Bemühungen von Friedensaktivist*innen, hat die Gemeinde es gestattet, eine Tafel auf einem mobilen Ständer aufzustellen. Sie erinnert in kyrillischer Schrift an die »feindlichen« serbischen Soldaten, die hier von einer Mujaheddin-Einheit, die auf Seiten der bosniakischen Regierung kämpfte, bestialisch massakriert wurden. Es waren rund 50 Kriegsgefangene, die im Sommer 1994 auf ihrem Transport von den Mujaheddins den regulären bosniakischen Truppen abgenommen wurden, um sie hier grausam zu töten und zu enthaupten. Die Fakten sind seit Langem bekannt, denn die Kämpfer haben die Morde genau dokumentiert und gefilmt. „Für uns ist das ein Ort der Schande“, erklären uns die bosniakischen Veteranen.

Dritte Station: das große zentrale Denkmal in der Stadt Zavidovici für die über 1.000 „Shahids [Märtyrer], gefallenen Kämpfer und zivilen Opfer des defensiven Befreiungskrieges von ‘92-‘95“, wie die Inschrift lautet. Während wir auch hier einen Kranz niederlegen, denke ich darüber nach, was ein »defensiver Befreiungskrieg« sein könnte.

In der Forellenschenke von Kamenica, an einem kleinen Gebirgsbach, geht die Diskussion mit den Veteranen weiter. Ihre Aussagen bleiben lange im Gedächtnis, auch wenn wir schon vergessen haben, wer genau was gesagt hat: „Jeder lang anhaltende Kampf führt zu kollektivem Wahn.“„Wir können nur am Frieden bauen, wenn wir persönlich zusammenkommen.“„Wir können nicht vergessen, aber wir können verzeihen.“ Adnan, der inzwischen zum Friedensaktivisten geworden ist, wagt sich persönlich am weitesten vor. Er erzählt, wie er selbst Hassgefühle auf den serbischen Feind entwickelt hatte. „Ich entdeckte den Krieger in mir. Ich wollte nur zerstören! Doch als meine Einheit unschuldige Serben getötet hat, war das meine Katharsis.“ Da musste ich an den Satz denken, den ich bei einem anderen Veteranen, dem Dichter Faruk Šehic, gefunden hatte: Ihr, die ihr den Krieg überlebt habt, lasst alle Hoffnung fahren, daraus jemals wieder lebend herauszukommen.“

Keine Schwarz-Weiß-Malerei

Dass Kriegsveteranen aller drei Parteien gemeinsam Gedenkfeiern besuchen, ist inzwischen schon zu einer kleinen Tradition geworden. Allgemein und selbstverständlich ist es aber in einem zerrissenen Land wie Bosnien-Herzegowina noch längst nicht. Und auch dieser Schritt der Versöhnung wäre nicht möglich gewesen ohne die systematische und geduldige Arbeit des Zentrums für gewaltfreie Aktion (Centar za nenasilnu akciju, CNA), eine Organisation – und auch das ist bemerkenswert –, die ein Büro in Belgrad und eines in Sarajevo hat. Sie haben gleich nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien (1991-1999) ihre Tätigkeit aufgenommen und arbeiten bereits seit über 15 Jahren mit Kriegsveteranen aller drei Lager. Das schien am Anfang eine Unmöglichkeit zu sein und ist heute immer noch schwierig. Sie nehmen gemeinsam an offiziellen Gedenkfeiern teil und knüpfen Kontakte zu Organisationen der Kriegsopferfamilien. In Workshops schaffen die Veteranen untereinander eine Vertrauensbasis, erzählen ihre Erlebnisse und verarbeiten ihre Erfahrungen. Viele von ihnen werden somit zu Botschaftern des Friedens.

Aber das darf man sich nicht allzu harmonisch und freundlich vorstellen. Wenn manche betonen, dass sie selbst ja einen „anständigen Krieg“ geführt hätten, und einer sogar sagt, er sei stolz auf seine Einheit von „ehrenhaften Kämpfern“, dann zuckt der Pazifist in mir zusammen. Das ist nicht der nette, saubere Frieden, von dem wir träumen, denke ich. Er stammt nicht von Friedensengeln, die sich unschuldig durchs Leben bewegen. Dieser Frieden kommt vielmehr von denen, die am besten wissen, was Krieg ist, die selbst blutig gekämpft und getötet haben – und die deshalb umso glaubwürdiger sind, wenn sie der Gewalt abschwören und sich mit ihren früheren Feinden zu einem gemeinsamen „Nie wieder!“ zusammenschließen. Das ist der Frieden, der möglich ist. Und dieser mögliche Frieden ist auch der beste Frieden.

Univ.-Prof. (i.R.) Dr. Werner Wintersteiner ist Gründer des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Zerstörtes Jugoslawien

Zerstörtes Jugoslawien

Kriegsfolgen auf dem Balkan

von Hannes Hofbauer

Engagement und persönliche Tragödie des Autors und Unternehmers Kurt Köpruner im bosnischen Travnik mögen paradigmatisch für die Langzeitfolgen der südslawischen Kriege stehen. Auch fast 15 Jahre nach dem Schweigen der Waffen sind sie allgegenwärtig, wie im folgenden Artikel beschrieben wird.

Der kürzlich verstorbene Kurt Köpruner kannte die jugoslawischen Republiken aus seiner jahrzehntelangen beruflichen Tätigkeit als Vertreter deutscher Metallfirmen. Seine persönlichen Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg in Kroatien schrieb er in einem viel beachteten Roman nieder.1 Im Jahr 2004 entschloss er sich gemeinsam mit seiner Frau, eine zerstörte Metallfabrik im bosnisch-muslimischen Travnik zu übernehmen und wieder aufzubauen. Bereits kurz nach der Übersiedlung holte ihn der beendet geglaubte Krieg ein. Zwei Minensucher der Stadt Travnik kamen bei der Entschärfung einer Landmine, die direkt auf dem Gelände des LKW-Parkplatzes vor den Fabrikhallen deponiert gewesen war, ums Leben. Ein Gedenkstein erinnert an die Toten, die wie viele andere erst Jahre nach den Friedensschlüssen dem Krieg zum Opfer fallen.

Die Zerstörungen und Kriegsfolgen sind zahlreich. Sie reichen von direkten Schäden an Menschen, Siedlungen und Landschaft über psychologische und gesellschaftliche Deformationen bis zu strukturellen demographischen Veränderungen und Auswirkungen auf Völker- und Menschenrecht im Weltmaßstab. Im Folgenden soll eine Durchsicht versucht werden. Weitgehend unbehandelt bleiben dabei die andernorts2 ausführlich beschriebene territoriale Zersplitterung und sozioökonomische Verwerfung, die von den unterschiedlichen Kriegsgängen zwischen 1991 und 1999 verursacht wurden.

Uranmunition, Minen und posttraumatische Störungen

Die wohl schlimmste direkte Langzeitfolge kam zigtausendfach vom Himmel: Großteils US-amerikanische Bomber verstreuten weit über zehn Tonnen kleinkalibrige Uranmunition.3 Betroffen davon sind Bosnien, Kosovo, Serbien, Kroatien und – zu einem geringen Teil – Montenegro. Eine UN-Studie aus dem Jahr 20034 spricht allein für den Krieg der NATO gegen Jugoslawien von März bis Juni 1999 von 30.000 entsprechenden Geschossen auf Kosovo, während die jugoslawische Seite 50.000 ausgemacht haben will.5

Exkurs: DU-Munition

In dieser so genannten DU-Munition findet abgereichertes Uran (depleted uranium) Verwendung. Dieses ist ein Abfallprodukt der Atomindustrie und enthält das nicht spaltbare Uranisotop 238. Militärisch in großem Umfang verschossen wird DU-Munition seit dem Golfkrieg 1991, hauptsächlich durch US-Streitkräfte. Sie ist billig und hat wegen ihrer hohen physikalischen Dichte eine enorme Durchschlagskraft bei Metall, dient also als panzerbrechende Waffe.6 Beim Durchbohren des Ziels wird heißer Uranstaub frei, der sich selbst entzündet und damit von innen her das entsprechende Fahrzeug, Gerät oder Gebäude zur Explosion bringt. Auf Flugzeugen oder Hubschraubern montierte Bordwaffen können pro Minute zwischen 600 und 4.000 Schuss mit dieser Munition abfeuern.7 Die Perfidie der Waffe ist – von Laie zu Laie – schnell erklärt: Anstatt die relativ schwach radioaktiven Substanzen, die tonnenweise bei der Produktion von Atombrennstoff oder Atomwaffen anfallen, zu entsorgen, ummanteln US-Militärs das abgereicherte Uran mit Patronenhülsen und verschießen es in fernen Ländern.

In Ex-Jugoslawien kam abgereicherte Uranmunition erstmals im Sommer 1995 über serbischen Siedlungsgebieten in Bosnien zum Einsatz.8 In der Folge wurden weite Teile Bosnien-Herzegowinas, mehr oder minder der gesamte Kosovo, viele Regionen Serbiens und auch kroatische Landstriche mit radioaktiv strahlender Munition überzogen.

Die Aufdeckung des Einsatzes dieser schmutzigen Waffe ist übrigens dem deutschen Arzt Siegwart-Horst Günther zu verdanken.9 Günther lehrte in den Jahren 1990/91 an der Universität Bagdad, als er erstmals im Oktober 1991 mit Geschosshülsen von DU-Munition in Berührung kam. Nachdem er Proben in drei Berliner Labors untersuchen ließ, die eindeutig Radioaktivität nachweisen konnten, kam er in die Mühlen der deutschen Justiz und Psychiatrie. Sein Lebensweg hätte fast wie jener der Physiker in Dürrenmatts gleichnamigem Theaterstück geendet. Im Juli 1992 wurde Günther wegen illegalen Imports von radioaktivem Abfall angeklagt, im Januar 1999 drohte ihm wegen des Verdachts einer angeblich »paranoiden Entwicklung« die Einweisung in eine geschlossene Anstalt.10 Nur eine zwischenzeitlich breite Solidarität aus den Reihen der Friedensbewegung und letztlich das – viel später erfolgte – Eingeständnis der NATO, DU-Munition verwendet zu haben, bewahrten Günther davor, behördlicherseits zum Schweigen gebracht zu werden.

Abgereichertes Uran bringt multiple gesundheitliche Schäden mit sich. Diese reichen von schweren Funktionsstörungen insbesondere der Niere über Auslöser von Blut-, Haut- und Lungenkrebs bis zur Schädigung des Erbgutes. Aufgenommen werden in der Regel radioaktive Nanopartikel, die nach dem Einschlag der Munition frei werden und sich über Atemwege oder den Blutkreislauf, freilich auch über das Grundwasser, im menschlichen Körper verbreiten.11 Schätzungen über die Anzahl der infolge von abgereichertem Uran zu Tode gekommenen Menschen gehen weit auseinander. Nachdem die USA erst im März 2000, also fünf Jahre nach dem ersten Einsatz, überhaupt eingestanden, DU-Munition im Balkankrieg verschossen zu haben, betonten US-Vertreter gleichzeitig, dass davon keine Gefahr ausgehe. Diesem Befund schlossen sich im Wesentlichen die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) an. Letzteres meinte in einer Stellungnahme im März 2003, dass zweifelsfrei festgestellte erhöhte Krebsraten in Bosnien-Herzegowina „nur sehr unwahrscheinlich mit dem Gebrauch der DU-Munition […] in Zusammenhang gebracht werden können“.12 Die deutsche Bundesregierung antwortete im Jahr 2008 auf eine parlamentarische Anfrage der »Linken« über den Einsatz von DU-Munition in Afghanistan lapidar, ihr würden „keine eigenen Erkenntnisse zu möglichen Einsatzorten und -zeiten […] vorliegen“.13 Schweigen im Wald also, wenn es um die Folgen radioaktiver Verstrahlung von Kriegsgegnern geht.

Gesundheitsdesaster durch DU-Munition

Von serbischer Seite wurde die Aufarbeitung der Folgen von abgereichertem Uran nach dem Regimewechsel im Oktober 2000 systematisch boykottiert. Schon allein die Tatsache, dass die dafür zuständigen Stellen im Umweltministerium geschlossen wurden,14 zeigt, dass sich Belgrad nach Slobodan Milosevic mit der unangenehmen Vergangenheit nicht mehr beschäftigen wollte, um die von den neuen Eliten angestrebte Westintegration nicht zu gefährden.

Einer der wenigen Anhaltspunkte, wieviele Todesopfer DU-Munition fordert, findet sich in einem internen Bericht der britischen Atomenergiebehörde aus dem Jahr 1999. Dort wird – den Einsatz der radioaktiven Waffe im Irak betreffend – von zusätzlich 500.000 Krebstoten ausgegangen.15 Bezogen auf die Quantität der abgeschossenen Munition für das Gebiet Ex-Jugoslawiens würde das ein Mehr an 125.000 Krebstoten bedeuten.

Der jugoslawienweit mutmaßlich am stärksten von abgereicherter Uranmunition betroffene Ort ist die kleine, von Serben bewohnte Stadt Hadzici am Rande von Sarajewo. Nach den Angriffen 1995 stellten serbische Behörden eine Erhöhung von Radioaktivität um das 3.000-fache fest und evakuierten die gesamte Bevölkerung von 3.500 Personen ins Gebirgsstädtchen Bratunac.16 Zu spät, denn in den kommenden Jahren starb nach Recherchen des Filmemachers Frieder Wagner vom WDR ein knappes Drittel davon an Krebserkrankungen.17

Landminen – die gefährliche Erbschaft

Minentote können – anders als radioaktiv Verstrahlte – statistisch nicht versteckt werden. Zwischen 1996 und 2010 wurden allein in Bosnien-Herzegowina durch explodierende Landminen 498 Menschen getötet und 1.209 verstümmelt.18 Wer durch das Land fährt, bemerkt auch heute noch die zahlreichen gelb-roten Warnbänder an den Straßenrändern, auf denen Totenköpfe davor warnen, die Asphaltflächen nicht zu verlassen.

Bosnien ist das am stärksten verminte Land. Geschätzte 200.000 Minen blieben bis heute unentdeckt. Das in Sarajewo beheimatete »Mine Action Center« geht davon aus, dass insgesamt 1.270 Quadratkilometer bzw. 2,5% der Fläche des Landes vermint sind. Ausgelegt wurden die Landminen von allen Bürgerkriegsparteien. Sie finden sich vornehmlich in Bosnien und Kroatien. Die serbischen Kämpfer in der kroatischen Krajina waren besonders eifrig bei der Verminung von Landstrichen, was auch mit der geographischen und topographischen Lage der zu verteidigenden Gebiete zu tun gehabt haben dürfte. Denn das Siedlungsgebiet der kroatischen Serben, mittlerweile von dort vollständig vertrieben, war seit dem 16. Jahrhundert von den Habsburgern als »Militärgrenze« wie ein Band rund um osmanisches Gebiet gelegt worden und an manchen Stellen nur 40 Kilometer breit.19 Sowohl Kroatien als auch Bosnien-Herzegowina gehen davon aus, dass es mindestens bis ins Jahr 2019 dauern wird, die Entminung abzuschließen.

Posttraumatische Störungen

Auf ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Quantifizierung der Strahlenopfer stößt man bei den posttraumatischen Störungen, die in weiten Teilen des Kriegsgebietes sowohl am Ort verbliebene als auch aus ihrer Heimat geflohene Menschen belasten. Eine von serbischen und amerikanischen Wissenschaftlern gemeinsam durchgeführte regionale Studie mag die Dimension andeuten, die monatelange Bombardements und gegenseitige Vertreibungen an psychischen Störungen verursacht haben: Während zweier Monate im Juli und August 2002 wurden Patienten in serbischen und kosovarischen Notfallstationen untersucht, die keine akut lebensbedrohliche Krankheit aufwiesen. Fazit: Bei der Hälfte von ihnen stellten die Ärzte posttraumatische Symptome wie z.B. Depressionen fest.20

Identität: Veteran

Eine weit verbreitete Art kompensatorischer Überhöhung erlebter Schrecklichkeiten findet mit der Definition von Kriegern – nach dem Kriegsgang – als »Veteranen« statt, also als Männer, die dem griechischen Wortstamm gemäß »aus dem Kampf« kommen. Die Gesellschaft perpetuiert damit ihre kriegerische Identität und stellt sie als wesentlich dar. Sämtliche Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sind mit diesem Phänomen konfrontiert. Die Implikationen reichen von der Sozialpolitik bis zur Denkmalkultur: Veteran zu sein bedeutet, Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung zu haben.

Landauf, landab wurden steinerne Monumente errichtet, um der Krieger zu gedenken. Diese haben sowohl abstrakten wie auch konkreten Inhalt, heroisieren die (Un-) Taten der eigenen Gemeinschaft und erinnern an bestimmte Gefallene. Diese post-kriegerische Denkmalkultur ist weit verbreitet, besonders auffällig und zahlreich ist sie allerdings in Kroatien und im Kosovo vertreten. So etwa auf dem Zagreber Friedhof Mirogoj, der um mehrere Hektar erweitert wurde, um »für die Heimat« gestorbene Kämpfer Seite an Seite zu betten. Alle Gräber werden regelmäßig mit großen Kerzen des Verteidigungsministeriums bestückt, auf denen unübersehbar das symbolische Zeichen für den – angeblichen – Sinn des Todes prangt: die kroatische Schachbrettfahne. Auch antifaschistische Denkmäler aus der Zeit des Widerstandes gegen die Diktatur der Ustascha fanden im »Heimatkrieg« der frühen 1990er Jahre weitere Verwendung. Der Betrachter steht z.B. staunend vor einer Marmorplatte am Eingang der Schiffswerft von Rijeka, auf der die Namen der von den Ustaschi getöteten Arbeiter durch die Namen derjenigen ergänzt wurden, die „für die kroatische Unabhängigkeit im Kampf gestorben“ sind.

Kein Dorf und kaum eine Überland-Straßenkreuzung existiert im Kosovo, wo nicht der schwarze Adler auf rotem Grund eine Fahne ziert, die an Heldentode gegen Serbien erinnert. Als Ende 2012 ein großes albanisch-kosovarisches Kriegerdenkmal im nicht zum Kosovo gehörenden Presevo-Tal errichtet wurde, also auf kernserbischem, wiewohl mehrheitlich von Albanern besiedeltem Gebiet, drohte man in Belgrad mit dem Einsatz einer Sondereinheit. Ende Januar 2013, nach Gesprächen zwischen Belgrad und Prishtine, wurde die »Gedenkstele der albanischen Märtyrer« wieder abgetragen.

Auf andere Art erinnern Ruinen mitten in Belgrad an den Krieg der 1990er Jahre: Zwei völlig zerstörte Gebäude des serbischen Verteidigungsministeriums wurden 1999 von Cruise Missiles der NATO getroffen. Bis heute werden sie als Mahnmal gegen die Zerstörung so belassen.

Kriegsveteranen bestimmen nicht nur nationale Symbolik und zeithistorisches Gedenken, sondern sie mischen auch kräftig in der Politik mit. Pensionisten-Parteien werden vielfach von Veteranen betrieben. Entschädigungszahlungen und Kriegspensionen stehen im Mittelpunkt ihres politischen Interesses. Damit stoßen sie auch bei IWF und Weltbank auf Kritik, fordern doch die Weltfinanzorganisationen die Regierungen zum harten Sparen auf. Ausgaben für Veteranen stören dabei die Austeritätsmaßnahmen.

Strukturelle Schäden und soziale Verwerfungen

Die Balkankriege der 1990er Jahre haben freilich auch tiefe strukturelle Folgen gezeitigt. Eine wesentliche ist die Änderung der demographischen Verhältnisse sowohl in jenen Regionen, in denen gekämpft wurde, als auch in den benachbarten Ländern.

Die größten »ethnischen Säuberungen« betreffen die kroatische und die bosnische Krajina, die Republika Srpska und Kosovo. Serben (in der Krajina und im Kosovo) sowie Moslems (in der Republika Srpska) sind am meisten von Vertreibungen durch die jeweilige Gegenseite betroffen. Über die ethnische Komponente hinaus gab es auch Einschnitte von siedlungshistorischer Bedeutung. So sind weite Teile der früher von serbischen Bauern bewohnten Krajina heute menschenleer. Die Missgunst des – kroatischen – Kriegsgegners, ergänzt durch die Kargheit des Bodens, hat weite Landesteile veröden lassen und eine Wiederbesiedlung verhindert.

Vor allem der Krieg in Bosnien-Herzegowina führte letztlich auch zu einer Zwangsmobilisierung Hunderttausender Menschen, die das Land verließen und sich in Westeuropa, Nordamerika oder Australien ein neues Leben aufbauen müssen. Dies betrifft, anders als bei der Gastarbeitergenerationen seit Ende der 1960er Jahre, auch gesellschaftliche Eliten wie die technische Intelligenz, die der zerstörten Heimat beim Wiederaufbau besonders fehlen.

Wer nicht durch ethnische Vertreibung oder unmittelbare existenzielle Bedrohung zwangsmobilisiert wurde, der muss mit den Folgen des Krieges zu Hause leben. Soziale Differenz und regionale Disparität bestimmen den Alltag in vielfacher Weise. Ironischerweise waren es diese beiden Faktoren – die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung und das zunehmende Auseinanderklaffen reicher und armen Republiken –, die in den 1980er Jahren zu gesellschaftlicher Unzufriedenheit und zunächst zu sozialen, dann zunehmend zu national gefärbten Protesten geführt hatten. Diese inneren Krisenerscheinungen wurden in der Folge von außen, vermittelt über die Schuldenpolitik des Internationalen Währungsfonds und später die geopolitischen Ambitionen des vergrößerten Deutschlands, dynamisiert. Mehr als 20 Jahre nach dem kriegerischen Auseinanderbrechen der multi-ethnischen südslawischen Föderation haben die regionalen Unterschiede sich in nationalen Grenzziehungen manifestiert und die sozialen Verwerfungen verstärkt. Die sozioökonomische Desintegration äußert sich symbolhaft im Umstand, dass in dem einstmals einheitlichen Wirtschaftsraum heute sechs Staaten (plus Kosovo) mit fünf verschiedenen Währungen existieren: In Slowenien, Montenegro und Kosovo gilt der Euro als Zahlungsmittel, in Bosnien-Herzegowina die Konvertible Mark, in Kroatien die Kuna, in Serbien der Dinar und in Makedonien der makedonische Denar.

Die Kleinstaaterei führte nicht zu einem regionalen Ausgleich. Vielmehr spiegelt sich im aktuellen Pro-Kopf-Einkommen die ungleiche Verteilung der späten 1980er Jahre wider, die mit zur Implosion der Föderation beigetragen hatte. Slowenien steht – wie vor 30 Jahren – mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von (nicht kaufkraftbereinigten) 17.000 Euro pro Jahr am besten da, Kosovo bildet wie gehabt mit 3.500 Euro das Schlusslicht.21 Die Differenz von 6:1 hat nicht nur regionale, sondern auch soziale Sprengkraft.

Mit Ausnahme Sloweniens haben die südslawischen Kriege zu einem ökonomischen Desaster geführt, das bis heute bei weitem nicht behoben ist. Anders als in ehemaligen Ländern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe haben sich in den ex-jugoslawischen Republiken auch keine ausländischen Investoren im großen Stil eingefunden, die in die industrielle Produktion investiert hätten. Ausnahmen wie U.S. Steel im serbischen Smederevo haben ihre Fabrikstore oft nach kurzen Gastspielen wieder geschlossen.

Die Deindustrialisierung ließ alte Standorte in Serbien und Bosnien verwaisen. In Kroatien wiederum wird gerade die letzte industrielle Bastion des Landes ausgelöscht. Seitdem die Europäische Union anlässlich der Aufnahmegespräche mit Zagreb befunden hat, dass die kroatischen Werften auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig seien,22 ist ihre Schließung voll im Gange. Von den ursprünglich sechs Werften soll nur die ehemalige habsburgische Kriegsmarinewerft in Pula, »Uljanik«, bestehen bleiben.

Die Arbeitsplatzverluste schlagen sich auch statistisch nieder. Der Rückgang der Beschäftigten ist seit Kriegsausbruch dramatisch. Oftmals wurden bei Kampfhandlungen zerstörte Kombinate nicht wieder aufgebaut, wie z.B. im ehemals mustergültigen Single-Factory-Ort Borovo nahe Vukovar, der heute einer Ruinenlandschaft gleicht. Allein in Serbien haben seit 1990 17% der Beschäftigten ihre Arbeit verloren.23 Entsprechend katastrophal lesen sich auch die offiziellen Arbeitslosenstatistiken. Kosovo lag 2012 mit 44% Arbeitslosen an der Spitze, gefolgt von Makedonien mit 31%, Bosnien-Herzegowina mit 28%, Serbien mit 24% und Montenegro mit 20%. Auch Kroatiens 16,5%ige Arbeitslosenrate deutet nicht auf stabile soziale Verhältnisse hin, und die 9% in Slowenien müssen vor dem Hintergrund einer schweren Rezession interpretiert werden, die dem kleinen Adria-Anrainerstaat für 2013 ein negatives Bruttoinlandsprodukt von 1,5% voraussagt.24

Das Ende der europäischen Nachkriegsordnung

Mit den Bürgerkriegen in Ex-Jugoslawien und insbesondere mit dem völkerrechtswidrigen Eingriff der NATO im März 1999 ging auch die Epoche der europäische Ordnung nach 1945 zu Ende, die freilich schon mit dem Zusammenbruch des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und des Warschauer Pakts einen wesentlichen Eckpfeiler verloren hatte. Die Auswirkungen der schleichenden Transformation vom – kodifizierten – Völkerrecht zum – schwammigen – Menschenrecht als zivilisatorische Grundlage sind unabsehbar. Dazu gehört, dass Krieg als Mittel der Politik wieder neue Legitimität erhalten hat. »Bomben für Menschenrechte« ist zur zynischen Losung des beginnenden 21. Jahrhunderts geworden, wobei dieser vorgeblich liberal-menschenrechtliche Bellizismus philosophisch von Denkern wie Jürgen Habermas und Bernard-Henry Levy25 begleitet wird. Die Intervention von außen in die jugoslawischen Bürgerkriege kann als Auftakt für diese Entwicklung gesehen werden.

Anmerkungen

1) Kurt Köpruner (2010):, Reisen ins Land der Kriege. Erlebnisse eines Fremden in Jugoslawien. Wien.

2) Vgl. Hannes Hofbauer (2013/2001): Balkankrieg – 10 Jahre Zerstörung Jugoslawiens. 4. Auflage, Wien.

3) Roug Rokke (2000): Einsatz von abgereichertem Uran: ein Verbrechen gegen die Menschheit; ag-friedensforschung.de.

4) UN Environment Programme (2003): Depleted Uranium in Bosnia and Herzegovina. Nairobi.

5) Bericht der Bundesrepublik Jugoslawien auf pregled-rs.rs/article.php?pid=176&id=17200; zitiert auf politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=853.

6) Wikipediaeintrag »Uranmunition«.

7) Ebenda.

8) »Oslobodjenje« vom 14. März 1996; vgl. auch: »Telegraf« vom 3. April 1996.

9) Siegwart-Horst Günther (1996): Uran-Geschosse: Schwergeschädigte Soldaten, mißgebildete Neugeborene, sterbende Kinder. Freiburg.

10) Interview mit Siegwart-Horst Günther, geführt von Brigitte Queck (Mütter gegen den Krieg) am 17. Februar 2012; tlaxcala-int.org.

11) Vgl. Frieder Wagner: Uranwaffen: Das größte Kriegsverbrechen unserer Zeit; hintergrund.de, 17.10.2008.

12) International Atomic Energy Agency: Depleted Uranium in Bosnia-Herzegovina. IAEA Staff Report, 27.3.2003.

13) Bundestagsdrucksache 16/8992 vom 25. April 2008.

14) Auskunft von Gordana Brun, Umweltberaterin der serbischen Regierung am 23. Mai 2001 in Belgrad.

15) »Independent« vom 22. November 1999.

16) Wikipediaeintrag »Hadžiæi«.

17) WDR-Bericht »Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra« vom 28. April 2004.

18) Wikipediaeintrag »Bosnien und Herzegowina«, Abschnitt Minenlage«.

19) Vgl. Hannes Hofbauer (2004): Jugoslawische Zerfallslinien. Aktuelle Grenzen in historischer Perspektive. In: Joachim Becker/Andrea Komlosy (Hrsg.): Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich. Wien, S.185ff.

20) Brett Nelson u.a. (2004): War-related psychological sequels among emergency department patients in the former Republic of Yugoslavia. BMC Medicine, Ausgabe 2,23. Zit. nach Christine Amrhein: Psychische Kriegsfolgen in Serbien auch heute noch zu spüren. Bild der Wissenschaft online, 1.6.2004.

21) Vasily Astrov u.a.: Double-dip Recession over, yet no Boom in Sight. Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, Current Analyses and Forecasts Nr. 11, März 2013.

22) Gespräch mit dem ortsansässigen Ökonomen der EU, David Hudson, in Zagreb am 2. August 2007.

23) Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (Hrsg.): Countries in Transition. Wien 1995, 2005, 2012; sowie eigene Berechnungen.

24) Vasily Astrov u.a., op.cit., S. vi.

25) Vgl. Hannes Hofbauer: Balkankrieg. op.cit., S.261 ff.

Hannes Hofbauer ist österreichischer Historiker und Verleger.

10 Jahre Kosovo-Krieg

10 Jahre Kosovo-Krieg

von Jürgen Nieth

Am 24. März 1999 bombardierte die NATO Serbien. Es war der Beginn eines Angriffskrieges, der 78 Tage dauern sollte und in dem die NATO 37.000 Lufteinsätze flog, Straßen, Brücken, Fabriken, Raffinerien, Rundfunksender sowie Teile der Energie- und Wasserversorgung zerstörte. Auf jugoslawischer Seite starben während des Krieges 1.002 Soldaten und etwa 2.500 Zivilisten, darunter 89 Kinder. „Die NATO selbst verlor hingegen nicht einen einzigen Soldaten bei Kampfhandlungen.“ (FAZ, 25.03.09). Sie beschränkte sich auf einen Luftkrieg aus großer Höhe – »Kollateralschäden« einkalkulierend.

Der erste Kriegseinsatz

Es war der erste Krieg, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland beteiligte, ein Krieg gegen einen souveränen Staat, ohne UN-Mandat. Die Schröder-Fischer-Regierung verstieß damit nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern „ebenso gegen das Grundgesetz sowie gegen dem 4+2 Vertrag zur Herbeiführung der deutschen Einheit.“ (Andreas Zumach, TAZ 24.03.09, S.5) „Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz stehen“, erklärte Bundeskanzler Schröder im Bundestag. Und der Glaube an eine notwendige »Humanitäre Intervention« hält sich in einigen Medien bis heute.

Eine »Humanitäre Intervention«

Allen voran Erich Rathfelder in der TAZ (23.03.09, S.4): „Wer die Zustände im Kosovo aus eigener Anschauung kannte, musste den Krieg gut heißen.“ Zur Begründung erfolgt ein Rückgriff in die Geschichte. Schließlich gab es „schon Anfang des 20. Jahrhunderts in Serbien Bestrebungen…, die albanische Bevölkerung aus dem Kosovo zu vertreiben“ und 1939 und in den 1950er Jahren „wurden zehntausende Albaner aus dem Kosovo vertrieben“. Rathfelder untermauert seine Position mit einer Auflistung der Vertreibungen vom Sommer 1998, Massakern in Orahovac und Racak und der Nichtunterzeichnung des Vertrages von Rambouillet durch Milosevic 1999. In anderen Medien wird eine wesentlich kritischere Bilanz gezogen.

Es gab politische Alternativen

Am »Massaker von Racak« wurden schon wenige Tage später Zweifel laut (siehe W&F 2/99: 20-23), die sich nach Berichten internationaler Untersuchungsteams erhärteten. Die Verhandlungen von Rambouillet können auch kritischer bewertet werden: „Die NATO hatte 1998 Milosevic elf Ultimaten gestellt, denen keine Taten folgten. Aus dieser Glaubwürdigkeitsfalle wollte sie sich im März 1999 bei ‚Verhandlungen‘ in Rambouillet befreien, indem sie den Serben erpresserische Forderungen stellte, die, so Rudolf Augstein im » Spiegel«, ‚kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können‘.“ (Wolf Oschlies, Blätter für deutsche und internationale Politik 3/09: 95) Auch die Vertreibungen wurden mit dem Einsatz von OSZE-Beobachtern 1998 gestoppt. Die größten Flüchtlingsströme gab es während des Krieges: „Bis zum 9. Juni werden nach OSZE-Angaben 862.000 Albaner und rund 100.000 Serben die Provinz verlassen – verjagt oder durch den Krieg zur Flucht getrieben.“ (Neues Deutschland 24.03.09: 2)

Bilanzierend stellt Reinhard Mutz in der Frankfurter Rundschau (24.03.09: 8) fest: „Allen amtlichen Beteuerungen zum Trotz hat es an politischen Alternativen zum Waffengang nicht gefehlt. Die NATO… verfügte nur über ein einziges Mittel, dieses jedoch im Übermaß: militärische Macht.“

Die NATO nutzte den Krieg…

„Auf dem Höhepunkt des Bombardements, am 24. April 1999, verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der NATO in Washington ihr bis heute gültiges Strategisches Konzept. Es ersetzt die Verpflichtung auf das Recht durch die Kategorie des Interesses.“ (R. Mutz, FR 24.03.09: 9) Die NATO beauftragte sich selbst „mit militärischen Einsätzen zur »Stabilisierung und Sicherung des Euro-Atlantischen Raumes«. Ein UN-Mandat sollte dazu ausdrücklich nicht erforderlich sein. Den passenden Präzedenzfall dazu hatte sich die NATO zu ihrem Jubiläum mit dem Kosovokrieg selbst geschenkt.“ (Eric Chauvistre, Freitag 05.03.09:10)

…aber sie löste nicht die Probleme im Kosovo

Matthias Geis zieht in »Die Zeit« (19.03.09) das Fazit: „‘Wir wollen miteinander einen multiethnischen und demokratischen Kosovo, indem alle Menschen in Frieden und Sicherheit leben können‘, so hatte es der Bundeskanzler in fast schon naiver Tonlage im Bundestag erklärt. Der Krieg befreite die albanische Bevölkerung von der serbischen Unterdrückung, doch die Perspektive eines multiethnischen Kosovo als Teil der Republik Jugoslawien war am Ende des Krieges schon unrealistisch geworden.“

Boris Kanzleiter bilanziert in »Neues Deutschland« (24.03.09: 4): „Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass nach der NATO-Intervention im Frühjahr 1999 weit über 200.000 Serben, Roma und andere Nicht-Albaner aus Kosovo geflohen sind“ und die NATO nichts unternahm „um die Vertreibung von Serben und Roma durch nationalistische Albaner zu stoppen… Auch ein dauerhafter Frieden ist nicht in Sicht… Das mussten bisher auch die deutschen Behörden einräumen… (deshalb) gilt für Kosovo-Roma und Kosovo-Serben aus Sicherheitsgründen immer noch ein Abschiebestopp.“

Eine noch düstere Einschätzung gibt Wolf Oschlies (Blätter … 3/09: 97): „Laut BND, Interpol und Europarat ist das Kosovo eine Region, die am europäischen Drogenhandel zu 60 Prozent, am Menschenhandel zu 98 Prozent beteiligt ist. Für konstruktive Politik und die Nöte der Menschen interessieren sich die herrschenden Ex-Bosse der UCK nicht – wie sich umgekehrt das Gros der Kosovaren nicht für den Status bzw. die Unabhängigkeit… interessiert. Man hat andere Sorgen im Kosovo, wo die Arbeitslosigkeit bei 70 Prozent liegt, wo (laut Weltbank) zwei Drittel der Menschen im Elend leben (weniger als einen Dollar pro Kopf und Tag), das Bruttoinlandsprodukt ein Zwanzigstel des slowenischen ausmacht…“

Spanien zieht Konsequenzen

Pünktlich zum 10. Jahrestag des Kosovo-Krieges hat Spaniens Verteidigungsminister Chacon mitgeteilt, dass Spanien seine „600 Mann aus dem NATO-Verbund“ im Kosovo spätestens zum August zurückziehen wird. (Freitag, 26.03.09: 2) W&F holt nach, was in keiner Bilanz zum 10. Jahrestag auftauchte: Die Bundeswehr stellt mit rund 2.700 SoldatInnen das größte Kontingent im Kosovo. Ein Einsatz, der den deutschen Steuerzahler alleine in den letzten vier Jahren 540 Millionen Euro kostete.

Die NATO im Kosovo

Die NATO im Kosovo

von Hannes Hofbauer

Zehn Jahre nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien und dem Beginn der Besetzung der serbischen Provinz Kosovo ist der Konflikt noch keineswegs gelöst. Nach der Proklamierung der Unabhängigkeit des Territoriums von Serbien – als Republik Kosovo – am 17. Februar 2008 durch das kosovarische Parlament haben bisher 53 der 192 UN-Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit anerkannt, darunter die USA sowie 20 EU-Nationen und alle Staaten des ehemaligen Jugoslawiens außer Serbien. Die EU richtet sich auf eine dauerhafte Kontrolle ihres Kolonialgebietes ein.

In der Nacht auf den 24. März 1999 gibt US-Präsident William Clinton den Befehl, Jugoslawien militärisch anzugreifen. Die NATO startet ihren ersten großen Out-of-Area-Einsatz1 in ihrer 50jährigen Geschichte. Zuvor waren die Bemühungen der US-Administration um ein UN-Mandat für den Krieg gescheitert. Das US-amerikanische Heimpublikum und mit ihm die ganze Welt erhält als unmittelbare Rechtfertigung für die Notwendigkeit des Bombenangriffs, der 78 Tage und Nächte andauern sollte, ein perfides, die Geschichte völlig verdrehendes Argument. „Die Serben“, so der US-amerikanische Präsident, hätten nicht nur den ersten Weltkrieg vom Zaun gebrochen, sondern es hätte „dort auch den Holocaust“ gegeben. Mit dieser offensichtlich bewusst unklaren Formulierung machte der oberste Kriegsherr aus historischen Opfern Täter. In der Folge beteten vom deutschen Verteidigungsminister Rudolf Scharping abwärts die NATO-Alliierten die Mär vom notwendigen antifaschistischen Kampf gegen Belgrad nach und erfanden dabei immer abstrusere Parallelen zwischen dem Jugoslawien des Jahres 1999 und dem Deutschen Reich der frühen 1940er Jahre.

Das Ziel des NATO-Angriffs auf den Rest Jugoslawiens, das zu jenem Zeitpunkt nur noch aus Serbien mit seinen beiden Provinzen Kosovo und Vojvodina sowie Montenegro bestand, war einerseits die Entmachtung von Slobodan Milosevic und andererseits die Durchsetzung militärischer Bewegungsfreiheit für die nordatlantische Allianz in der Region. Auch nach 35.000 Kampfeinsätzen aus der Luft, in deren Verlauf 15.000 Tonnen Explosivstoffe zwischen Novi Sad, Pristina und Podgortica abgeworfen wurden, konnte es nicht bzw. nur sehr teilweise erreicht werden. Milosevic blieb – bis zum Oktober 2000 – an der Macht und Jugoslawien war zwar großteils zerstört, ein Einmarsch der NATO nach Kernserbien wurde jedoch abgewendet.

Im Waffenstillstandsübereinkommen von Kumanovo, einem makedonisch-kosovarischen Grenzort, einigten sich serbische und US-amerikanische Generäle am 9. Juni 1999 auf den Rückzug der serbischen Einheiten aus dem Kosovo und die darauf folgende Übernahme der militärischen Autorität durch die NATO. Dies wurde tags darauf durch die UN-Resolution 1244 bestätigt, die eine zivile „interimistische“ Mission für den Kosovo (UNMIK) sowie eine militärische Begleitung (KFOR) derselben ins Werk setzte. Clinton formulierte überschwänglich, wenn auch der Wahrheit nicht entsprechend, schon ganz im Stil seines Nachfolgers George Bush jun.: „Ich kann dem amerikanischen Volk mitteilen, dass wir einen Sieg für eine sicherere Welt, für unsere demokratischen Werte und für ein stärkeres Amerika errungen haben.“

KFOR zieht ein

Die UN-Resolution 1244 war im UN-Sicherheitsrat einstimmig beschlossen worden. Sie beauftragte eine multinationale Militärformation unter Führung der NATO mit der Herstellung von Sicherheit im Kosovo. Dies ist bis heute die »Kosovo-Force« (KFOR), die aktuell neben 24 NATO-Mitgliedern von elf Nicht-NATO-Staaten mit Soldaten beschickt wird. Neben der unmittelbaren Einsetzung einer Militärkraft sowie einer „interimistischen Verwaltung“ (UNMIK) sprach sich die Resolution, die am 21. März 2001 unter der Ziffer 1345 wiederholt wurde, „für die Souveränität und die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien (aus), wie in der Helsinki-Schlussakte ausgeführt“.2 Noch bevor das Gros des NATO-Trosses mit seinen 50.000 Soldaten von Makedonien aus in Richtung der kosovarischen Hauptstadt Pristina/Prishtine aufbrach, besetzten allerdings am 11. Juni 1999 500 russische Fallschirmjäger den Flughafen von Pristina. Aus Bosniens SFOR-Truppe kommend, hatten sie an ihren Panzerfahrzeugen nur das »S« durch ein »K« – für Kosovo Force – übermalt und auf diese Weise Präsenz gezeigt. Für Russlands damaligen Präsidenten Boris Jelzin kam die Aktion ebenso überraschend wie für die atlantische Allianz. Der Oberbefehlshaber der NATO-Truppen (SACEUR) für Jugoslawien, General Wesley Clark, stand wohl unter Schock, als er am 11. Juni 1999 dem für den Kosovo-Einsatz zuständigen britischen Kommandierenden Michael Jackson den Befehl gab, den russischen Vorstoß auf Pristina mit militärischen Mitteln zu stoppen. „Für Sie, General Clark“, so antwortete Jackson besonnen, „riskiere ich nicht den 3. Weltkrieg.“3 Russlands Fallschirmjäger wurden tags darauf von Jelzin zurückgepfiffen. Dem Einmarsch der NATO in den Kosovo stand am 12. Juni 1999 nichts mehr im Wege.

Die Vorgeschichte

Während des ersten Höhepunkts der jugoslawischen Desintegration im Juni 1991, als Slowenien und Kroatien mit – der dann auch erfolgten – Sezession drohten, waren aus Washington noch zahme, auf Kontinuität pochende Stimmen zu vernehmen. Vier Tage vor der in Zagreb und Ljubljana zeitgleich ausgerufenen Unabhängigkeit trat US-Außenminister James Baker am 21. Juni 1991 im Belgrader Palast der Föderation vor die Kameras und vermerkte trocken: „Wenn sich Slowenien in einigen Tagen unabhängig erklärt, werden wir diese Erklärung nicht anerkennen.“4 Hinter den Kulissen hatte das nicht einmal ein Jahr zuvor vergrößerte Deutschland mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Fäden im jugoslawischen Zerfallsprozess übernommen, indem es auf die sezessionistische Karte setzte. Erst im März 1994 sollte es den USA gelingen, die politischen und militärischen Zügel auf dem Balkan wieder in die Hand zu bekommen. Die unter ihren Fittichen geschmiedete moslemisch-kroatische Koalition entpuppte sich als westliche Trumpfkarte bei den späteren Verhandlungen in Dayton. Kosovo-albanische Rufe nach Unterstützung ihres Kampfes gegen die Belgrader Zentrale stießen Mitte der 1990er Jahre im Westen noch auf taube Ohren. Erst die nach dem Zusammenbruch Albaniens im Frühjahr 1997 erfolgte Bewaffnung der UCK mit schwerem Kriegsgerät brachte diesbezüglich eine Wende. Nachdem sich die Mehrheit der Albaner durch das Platzen eines riesigen Pyramidenspiels um ihre kleinen Vermögen betrogen sahen, stürmten sie zu Tausende die Kasernen und entwendeten jene NVA-Waffen, die Helmut Kohl zuvor an Tirana verkauft hatte. Militärischer Nutznießer war die kosovarische Befreiungsbewegung, in Belgrad und teilweise auch in den USA bis dahin als Terrorgruppe identifiziert. Für sie war es ein leichtes, das in den albanischen Kasernen geplünderte Kriegsgerät bei Decani über die Grenze in den Kosovo zu bringen. In Washington erkannte man die Gunst der Stunde und unterstützte nun nicht mehr ausschließlich den zivilen kosovarischen Widerstand des Ibrahim Rugova, sondern setzte auf die militärische Karte.

Am 12. Oktober 1998 erließ die NATO, ohne dafür einen Rückhalt in der UNO zu haben, eine so genannte »activation order« gegen Belgrad. Sie beinhaltete eine Selbstmandatierung der Organisation zu einem militärischen Schlag gegen Jugoslawien im Falle der Nichtbeachtung US-amerikanischer Forderungen nach einem Rückzug der serbischen Armee und Sonderpolizei aus dem Kosovo. Serbische Repression im Kosovo sollte ab sofort mit Gewalt von außen beantwortet werden. Damit entstand zumindest ein taktisches Bündnis zwischen der UCK und der NATO. Ein halbes Jahr später, am 24. März 1999, sahen sich die Kämpfer der UCK als Bodentruppe der weltgrößten Militärmacht.

Passend für ein Militärbündnis wurde die 50-Jahr-Feier der Nordatlantiktruppen mitten im Krieg gegen Jugoslawien gefeiert. Dazu fand zwischen dem 22. und 25. April ein Gipfeltreffen der 19er-Allianz statt, auf dem jene expansive Strategie zur offiziellen Doktrin wurde, die de facto bereits mit Kriegsbeginn stattgefunden hatte. Ab sofort ermächtigte sich das Bündnis zu militärischen Operationen außerhalb des NATO-Gebietes, wobei dafür explizit kein Mandat der UNO benötigt wurde.

Die drei neuen NATO-Mitglieder Polen, Tschechien und Ungarn, die am 12. März 1999 der Allianz beigetreten waren, befanden sich keine zwei Wochen später bereits im nicht erklärten Kriegszustand mit Jugoslawien. Für Ungarn bedeutete dies sogar Krieg gegen ein unmittelbares Nachbarland. Dieser wurde von der Militärbasis Taszar bei Kaposvar aus geführt, die in unmittelbarer Nähe zur serbischen Provinz Vojvodina liegt.

Drehscheibe zwischen Westeuropa und Nahem Osten

Nach dem von Boris Jelzin betriebenen Rückzug russischer Truppen aus Pristina verblieb vorerst noch ein schwaches russisches Kontingent innerhalb der Kosovo-Force (KFOR).5 Die UN-Resolution 1244 diente Moskau und anderen Nicht-NATO-Mitgliedern als Legitimation für eine Beteiligung an der militärischen Mission, die seit dem 12. Juni 1999 formell unter UN-Dach stattfand, de facto jedoch eine US-geführte NATO-Truppe bildete. In fünf Besatzungszonen stehen seither Militärs aus 35 Staaten unter US-amerikanischem, deutschem, französischem, italienischem oder tschechisch-skandinavischem Kommando. Waren es anfangs 50.000 Mann, die in das kleine Land mit seinen gerade einmal 1,9 Millionen EinwohnerInnen einrückten, so sind es im Herbst 2008 16.500 fremde Soldaten, die sich zwischen Prizren, Decani und Prishtine breit machen. Russland hat im übrigen seine Militärs im Jahr 2003 aus der KFOR zurückgezogen.

Über die Kosten des KFOR-Einsatzes herrscht einträchtiges Schweigen. In einem Vortrag an der Berliner Humboldt-Universität am 12. November 2002 entschlüpfte dem Hohen UNMIK-Repräsentanten, dem Deutschen Michael Steiner, einmal die finanzielle Dimension des militärischen Unternehmens. Damals bezifferte er den zivilen UNMIK-Einsatz für 1999 mit 1,5 Mrd. Euro und meinte auf Nachfrage, dass die Geldmittel für die KFOR-Truppen „noch wesentlich höher“6 seien.

Das Herzstück der NATO im Kosovo liegt 30 Kilometer südlich von Prishtine nahe der Ortschaft Urosevac/Ferizaj. Camp Bondsteel erstreckt sich über 3,6 Quadratkilometer und ist damit das größte US-Camp in Europa. Karen Talbot bezeichnet es als die „größte US-Militärbasis, die seit Vietnam errichtet worden ist“.7 Gebaut wie eine US-amerikanische Kleinstadt beherbergt Camp Bondsteel, sinniger Weise nach einem in Vietnam gefallenen US-amerikanischen Offizier benannt, neben den militärischen Bereichen zwei Kirchen, Supermärkte, Schulen, einen Freizeitpark sowie Wohnbaracken für 6000 Soldaten. Der Aufbau der »Soldier City« war für die beteiligten Firmen eine Goldgrube. Allein Halliburton Energy, ein Unternehmen, an dem der damalige US-Vizepräsident Dick Cheney beteiligt war, verrechnete dem Pentagon hohe Summen dafür, dass sie im Kosovo ein riesiges Fort aus dem Boden stampfen durfte.

Camp Bondsteel steht auf unklarer rechtlicher Grundlage. Die britische Zeitung »The Independent« berichtete im April 2001 von einem Pachtvertrag für das Militärlager, den die US-Behörden mit Zustimmung der UNO und der jugoslawischen Regierung abschließen wollten.8 Die Pacht für die Militärbasis sollte 75 Jahre lang bestehen. Kosovarische Oppositionelle wie Albin Kurti9 hingegen behaupten, dass für Camp Bondsteel kein müder Cent bezahlt wird, auch nicht an Belgrad. Offizielle politische Stellen in Prishtine hüllen sich in Schweigen.

De facto, wenn nicht sogar de jure, ist Camp Bondsteel exterritoriales Gebiet. Dies wurde besonders im Anti-Terror-Kampf des George Bush jun. deutlich, der seit der US-Invasion in Afghanistan im Oktober 2001 weltweit geführt wird. Camp Bondsteel dient dabei als Zwischenstation für von Washington als Terroristen identifizierte Gefangene. In geheimen Gefängnissen werden sie – nach dem Muster von Guantanamo – gefoltert und gedemütigt. Einem Journalisten von »Le Monde« ist es 2005 gelungen, einen Besucher des hässlichen Bruders von Guantanamo in Camp Bondsteel ausfindig zu machen und vor das Mikrophon zu bitten.10 „Ich habe 15 bis 20 Gefangene in kleinen Holzbaracken gesehen, angezogen in orangefarbenen Monturen exakt wie jene Menschen, deren Bilder wir aus Guantanamo kennen“, meinte Alvaro Gil Robles von der Menschenrechtsgruppe »Human Rights Watch« gegenüber »Le Monde«. „Eine amerikanische Soldatin, die im Gefängnis Dienst machte, hat mir erklärt, dass sie gerade aus Guantanamo kommt, wo sie bis dahin ihren Dienst versehen hat.“

Camp Bondsteel ist für den langen strategischen Atem gebaut. Washington plant den Aufenthalt seiner Truppen in Südosteuropa für mehrere Generationen. Von hier aus sind sowohl der Südosten Serbiens als auch Albanien und Makedonien in weniger als einer Autostunde erreichbar, eine geographisch perfekt gelegene Basis für den gesamten Raum. Darüber hinaus dient die Basis als geopolitisch perfekt gelegene Station zwischen den NATO-Basen in Italien und Deutschland einerseits und möglichen weiteren bzw. bereits existierenden Einsatzgebieten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afghanistan.

Strategisch ist mit der Entscheidung, auf Jahrzehnte hinaus in Kosova militärische Präsenz zu zeigen, der vorläufige Schlusspunkt unter eine von langer Hand vorbereitete Korrektur der Anfang 1945 in Jalta besprochenen Einflusssphären in Europa gefallen. Damals hatten US-Präsident Eisenhower, der britische Premier Churchill und der sowjetische Führer Stalin eine Aufteilung des Kontinents beschlossen, wie sie dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges – ihrer Meinung nach – entsprochen hatte. Der für Russland und Südosteuropa zuständige US-Diplomat, Stobe Talbott, sowie hochrangige Vertreter des State Department haben die in ihren Augen notwendige Revision der europäischen Geschichte mehrmals thematisiert; zuletzt auf einer Konferenz im slowakischen Bratislava Ende April 2000. Dort war – freilich im engsten Kreise – offen davon die Rede, mit dem Einmarsch der NATO in den Kosovo endlich eine „Korrektur eines Eisenhower-Fehlers“ bewerkstelligt zu haben. Die Stationierung von US-Truppen auf dem Balkan, hieß es, hätte historisch „nachgeholt“ werden müssen. Einer der Teilnehmer an diesem Treffen in Bratislava, der CDU-Abgeordnete Willy Wimmer, machte die Gedanken der US-Think-Tanks öffentlich: „Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ist geführt worden, um eine strategische Fehlentscheidung von General Dwight Eisenhower zu revidieren“, meinte der konservative Kriegsgegner im Februar 2007.11

Trepca

Die westliche Militärmission in Kosovo folgt freilich auch wirtschaftlichem Kalkül. Wertvolle Metalle wie Gold, Silber, Zink und Blei sowie Braunkohle werden teilweise seit Jahrtausenden aus der Erde geholt. Noch in den 1980er Jahren bildeten die Trepca-Minen, zwischen dem serbischen und albanischen Siedlungsgebiet im Norden gelegen, das Kernstück der kosovarischen Ökonomie.

Am Morgen des 15. August 2000 stürmten 3000 KFOR-Soldaten in französischen, britischen, italienischen und pakistanischen Uniformen, unterstützt von Kampfhubschraubern, die Anlagen des größten kosovarischen Industriekomplexes. Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft, Novak Bjelic, wurde von NATO-Truppen verhaftet und per UNMIK-Dekret ins serbische Kernland abgeschoben. Die rund um Kosovska Mitrovica gelegene Bergbaumine war damit militärisch geschlossen worden.

Begründet wurde die massive Gewaltanwendung der KFOR offiziell mit der Überschreitung von ökologischen Grenzwerten, die beim Abbau von Blei und anderen Rohstoffen in die Atmosphäre getreten sind. Niemals zuvor in der europäischen Geschichte war indes ein Fall bekannt geworden, wo Luft- und Bodentruppen zur Einhaltung des ökologischen Gleichgewichts in den Kampf gezogen wären. Auch im Kosovo darf getrost davon ausgegangen werden, dass das ökologische Argument nur vorgeschoben wurde. In Wahrheit ging es um die einzige wertvolle Ressource des Landes; zu deren Erschließung war noch unter Slobodan Milosevic das Kombinat in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden. Auch ein ausländischer Investor, der griechische Konzern Mytilinos, war bald als Minderheitsaktionär gefunden, er hatte 50 Millionen US-Dollar in das Werk investiert.12 Der Staat blieb Mehrheitseigentümer. Dies war den internationalen Verwaltern der UNMIK unter Führung des früheren »Médecins sans frontières«-Mannes Bernard Kouchner ein Dorn im Auge. Und deshalb schickte der UNMIK-Chef die KFOR-Soldaten, um sich wirtschaftlich zu holen, was die NATO im Krieg gegen Jugoslawien gewonnen zu haben glaubte.

„Das Problem von Trepca ist, dass es einerseits eine große Anzahl von Kreditgebern gibt und andererseits ökologische Probleme. Aber die Mine hat wirtschaftliches Potential“13, fasste der oberste Ökonom des Kosovo, der Brite Paul Acda, die Lage von Trepca Ende Dezember 2006 zusammen. Produziert wird fast nichts. Ein eigens installierter Gerichtshof soll die zukünftigen Eigentumsverhältnisse der Mine klären. Der Vorgang verläuft vollständig intransparent. Den gesamten Wert der kosovarischen Bodenschätze – inklusive Braunkohlelager – bezifferte die Weltbank im Jahr 2005 mit 13,5 Mrd. Euro; die Vorkommen von Blei, Zink, Nickel, Kupfer und Bauxit in Trepca werden mit 5 Mrd. Euro veranschlagt.14 Schätzungen gehen davon aus, dass es für die profitable Inbetriebnahme der Trepca-Minen 150 bis 200 Mio. Euro an Investitionen bedürfte. Woher soviel Kapital in unsicheren Zeiten kommen soll, weiß auch zehn Jahre nach dem NATO-Krieg niemand zu sagen.

Kämpfen oder wegsehen

Die Trepca-Minen waren der KFOR einen Einsatz wert. Auch an anderer Stelle, am Schnittpunkt zwischen albanischem und serbischem Siedlungsgebiet in der geteilten Stadt Kosovska Mitrovica, warfen sich zu Beginn der Besatzungszeit Soldaten der Westallianz ins Zeug. Die Rede ist von einem Einsatz französischer Soldaten im Februar 2000, der mutmaßlich der serbischen Minderheit zumindest nördlich des Flusses Ibar das Überleben gesichert hat. Hier war es am 13. Februar 2000 zu einem Zwischenfall gekommen, als Heckenschützen eine französische Patrouille beschossen und dabei zwei KFOR-Soldaten schwer verwundeten. Das Feuer war aus einem serbischen Wohnblock gekommen, was für US-amerikanische oder deutsche Soldaten möglicherweise Beweis genug für eine serbische Täterschaft gewesen wäre. Ein direkter Angriff auf Mitglieder der serbischen Gemeinde durch die KFOR hätte der Auftakt zu einer allgemeinen Vertreibung sein können. Diesmal war es anders. An diesem 13. Februar erwiderten französische Scharfschützen unmittelbar das Feuer und töteten einen der Provokateure, den UCK-Mann Avni Hardinaj. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass sich ein UCK-Trupp in das serbische Wohnhaus geschlichen und dort die BewohnerInnen vertrieben hatte, um einen serbischen Überfall auf die KFOR fingieren zu können. Die Aktion verfehlte ihr Ziel.

Weggesehen haben vor allem deutsche Soldaten, als im März 2004 pogromartige Ausschreitungen gegen serbische Siedlungsenklaven und Klöster eine Vertreibungswelle in Gang setzte, bei der 19 Menschen ums Leben kamen und mehrere Dörfer zerstört wurden. Dem Aufstand des Mobs gingen wohl koordinierte Massenkundgebungen voraus, die sich gegen die UNMIK wandten. Weil dieser nicht beizukommen war, entlud sich die Wut der Albaner gegen die ethnischen Minderheiten; schlimmer: es gibt massive Anhaltspunkte dafür, dass der ethnische Hass bewusst geschürt worden ist.

Am 16. Februar 2004 verhaftete die UNMIK-Polizei mehrere Offiziere des Kosovo-Schutzkorps, darunter den ranghöchsten Brigadegeneral Selim Krasniqi, wegen des Verdachts, während des anti-serbischen Aufstandes in den Jahren 1998 und 1999 zahlreiche Belgrad loyal gesinnte Albaner liquidiert zu haben. Die Verhaftung von Krasniqi ließ die Situation explodieren. Anschläge gegen UNMIK-Einrichtungen nahmen zu, die Forderung nach Freilassung des UCK-Helden wurde allerorts erhoben.15 Die Stimmung war aufgeheizt. In dieser Situation gingen mehrere Zehntausend Kosovo-Albaner am 16. März 2004 in insgesamt über 20 Städten erneut auf die Straße und warfen der UNO neoliberales Gehabe vor. Mitten in diese Massenkundgebungen hinein meldete ein Sprecher der UNMIK-Polizei, dass nahe Mitrovica drei albanische Kinder in den Fluss Ibar gefallen wären, und forderte einen Hubschrauber für deren Suche an.16 Der staatliche TV-Sender RTK verbreitete die Meldung, drei albanische Kinder seien von Serben in den Fluss Ibar getrieben worden und dort ertrunken.17 Das – niemals bestätigte – Gerücht, die drei Kinder seien von Serben im Fluss ertränkt worden, löste eine Menschenhatz auf alles Serbische sowie vor allem auch gegen Roma und Ashkali aus. Im ganzen Kosovo rückten vor Wut entbrannte Massen allem Nicht-Albanischen zu Leibe. Mindestens 50.000 Albaner beteiligten sich an Pogromen überall im Land.

Die in KFOR-Uniformen steckenden NATO-Soldaten sahen dem hasserfüllten Treiben tatenlos zu. Im deutschen Sektor von Prizren verwüstete der Mob Dörfer, Kirchen und ein uraltes Kloster. Aber auch unter den Augen der französischen Trikolore brannte z.B. das serbische Dorf Svinjare vollständig nieder. Und noch eine Funktion erfüllten diese Märztage des Jahres 2004. Die bis dahin geltende Philosophie die Staatlichkeit des Kosovo betreffend, nach der erst gewisse demokratische und wirtschaftliche Standards zu erfüllen seien, bevor der Status der Provinz diskutiert wird, war mit einem Mal obsolet geworden. „Die blutigen Ausschreitungen gegen Serben und andere Minderheiten im März 2004 haben die internationale Gemeinschaft zu einem Umdenken veranlasst“, vermeldete die Neue Zürcher Zeitung, „so gesehen haben die Kosovo-Albaner mit Gewaltandrohung erreicht, was sie wollten.“18

Atlantisches Kosova

Vier Monate nach der Unabhängigkeitserklärung Kosovas hat das Parlament in Prishtina am 15. Juni 2008 eine Verfassung verabschiedet, die sich als Durchschrift des Plans von Martti Ahtisaari liest. Dieser war zwar 2007 vor der UNO gescheitert, bildet aber dennoch die Grundlage für die »überwachte Unabhängigkeit« des jüngsten europäischen Staates. Die darin festgehaltene Oberherrschaft der UN- und EU-Verwalter19 macht aus dem Land ein Kolonialgebiet. Die Orientierung auf die NATO wird bereits im Vorspann der Verfassung deutlich, wenn von der Absicht die Rede ist, „den Staat Kosova vollständig am euro-atlantischen Integrationsprozess teilnehmen zu lassen.“

Anmerkungen

1) Schon am 30. August 1995 hatten NATO-Bomber im bosnischen Bürgerkrieg auf der bosnisch-muslimischen Seite in die Kämpfe eingegriffen.

2) UN-Resolution 1244 (1999) bzw. 1345 (2001).

3) zit. in The Guardian 02.08.1999

4) Hannes Hofbauer (2001): Balkankrieg. Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens. Wien, S.22.

5) Hannes Hofbauer (2008): Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus. Wien, S.124f.

6) zit. in: Helmut Kramer/Vedran Dzihic (2006): Die Kosovo-Bilanz. Wien, S.28.

7) Karen Talbot: Former Yugoslavia: The Name of the Game is Oil, in: People‘s Weekly World Mai 2001.

8) The Independent 29.04.2001.

9) Gespräch mit Albin Kurti am 18.12.2006 in Prishtine.

10) Le Monde 26.11.2005.

11) zit. in: Andrej Grubacic (ZNet Commentaries) am 19.02.2007.

12) Gespräch mit Ljubisa Maravic am 11.07.2008 in Kosovska Mitrovica.

13) Gespräch mit Paul Acda am 18.12.2006 in Prishtine.

14) UNMIK Media Monitorings 18.01.2005.

15) Neue Zürcher Zeitung 18.03.2004.

16) vgl. Bernard Chiari/Agilolf Keßelring (Hg.) (2006): Kosovo. Wegweiser zur Geschichte. Paderborn, S.106.

17) Neue Zürcher Zeitung 14.05.2004.

18) Neue Zürcher Zeitung 19.07.2006.

19) Comprehensive Proposal for the Kosovo Status Settlement (UN S/2007/168).

Von Hannes Hofbauer ist jüngst im Wiener Promedia Verlag der Band »Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus« erschienen.

LEX Yugoslavia

LEX Yugoslavia

Die Weiterentwicklung des Völkerrechts hin zu Beliebigkeit

von Alexander Neu

Der Degenerierungsprozess des UNO-Völkerrechts lässt sich an keinem Beispiel so gut illustrieren wie dem Umgang des Westens mit dem Staat Jugoslawien bzw. Serbien. Im Folgenden soll die Problematik der Hierarchieverkehrung der beiden Völkerrechtsnormen, der staatlichen Souveränität und des externen Selbstbestimmungsrechts, anhand der jugoslawischen Tragödie – hier begrenzt auf das Kosovo-Problem1 – nachgezeichnet und deren Konsequenzen für das Völkerrecht skizziert werden.

Am 17. Februar 2008 proklamierte das Parlament der serbischen Provinz Kosovo unilateral die Unabhängigkeit von Serbien. Mit der illegalen Unabhängigkeitserklärung und der Unterstützung durch eine US-geführte Koalition der Anerkennungswilligen wurde auf dem Territorium des souveränen Staates Serbien gegen dessen dezidierten Willen schließlich ein nahezu ethnisch homogenisiertes weiteres Staatsgebilde auf der Grundlage terroristischer Gewaltanwendung (UCK) herbeigezwungen und in Folge dessen der Staat Serbien geteilt. Serbien sah und sieht sich außer Stande, diesem illegalen Schritt durch Ausübung seiner Hoheitsgewalt zwecks Verteidigung seiner territorialen Integrität und Souveränität entgegenzutreten, da die US-geführte NATO auf diesem Gebiet Serbiens seit 1999 militärisch präsent ist. Zwar verfügt die NATO über ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates in Form der UNO-Sicherheitsratsresolution (1244) zur Stabilisierung der Sicherheitslage – jedoch nicht zur militärischen Absicherung einer illegalen Sezession2. Darüber hinaus sind nicht allein die Existenz einer UNO-Sicherheitsresolution, sondern auch die Hintergründe ihres Zustandekommens und ihre Rechtskonformität mit der UNO-Charta bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Resolution von Bedeutung.

Die Sicherheitsratsresolution 1244 dient(e) – neben der Beendigung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der NATO gegen die damalige BR Jugoslawien und der Beendigung der durch den NATO-Angriffskrieg erst beginnenden massenhaften Flucht und Vertreibung von Zivilisten – dazu, der NATO-Aggression nachträglich den Anschein von Legalität zu verleihen. Hierzu wurde die NATO zynischerweise nach Beendigung ihres Luftkrieges vom Aggressor zur offiziellen und »unparteiischen Friedenskraft« (K-FOR) in diesem Teil Serbiens durch den UNO-Sicherheitsrat geadelt, woraus die NATO wiederum eine Scheinlegalität für ihre vorangegangene Aggression ableitete. Die Alternative zu der UNO-Sicherheitsratsresolution, die ein UNO-NATO-Protektorat etablierte, wäre indes ein reines NATO-Protektorat gewesen. Genau diesen Entwicklungsweg aber wollten Russland, China und Serbien verhindern, in dem sie die UNO in der Rolle als internationalen Verantwortungsträger zur Lösung des Konflikts sehen wollten, um eine von der NATO forcierte Sezession zu verhindern.

Auch stellt sich die Frage, ob die UNO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und somit als intergouvernementale Organisation zwecks Regelung zwischenstaatlicher Aspekte überhaupt das Recht hat, sich in dieser besonderen Qualität in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Mitgliedsstaates einzumischen – hier ein UNO-NATO-Protektorat zu errichten? Die UNO-Charta (Art. 2 Abs. 7) jedenfalls räumt dieses Recht nicht ein und von einem gewohnheitsrechtlichen Prozess kann auch keine Rede sein. Dennoch befürworteten, wie bereits ausgeführt, Serbien, Russland und China diese Option, da sie das geringere Übel darstellte. So konnten Russland und China zumindest auf diese Weise in der UNO-Sicherheitsratsresolution 1244 unzweideutig die territoriale Integrität und Souveränität Serbiens verbindlich festschreiben, in dem das „Bekenntnis aller Mitgliedstaaten zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien“ bekräftigt wurde. Das Kosovo selbst sollte „substantielle Autonomie innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien genießen, […]“.

Völkerrechtlicher Nihilismus

Deutschland und der größte Teil des Westens, jedoch lange nicht die viel zitierte »Internationale Gemeinschaft«, anerkannten die illegale Unabhängigkeitserklärung diplomatisch und verstoßen damit ihrerseits gegen verbindliche internationale Rechtsnormen (UNO-Charta – insbesondere Art. 2 Abs. 1, 2 & 4), UNO Beschlüsse (UNO-Sicherheitsratsresolution 1244 & UNO-Generalversammlungsresolution 2625/XXV) sowie internationale Prinzipien (Helsinki Schlussakte).

Das Nichteingreifen, dass heißt die nicht vollzogene Null-und-Nichtigkeitserklärung dieser illegalen Proklamation, seitens der UNO-Mission im Kosovo (UNMIK) sowie der K-FOR, lässt keinen anderen Schluss zu, als dass die im Rahmen der Resolution beauftragen Institutionen (UNMIK und K-FOR) ihren Auftrag nicht erfüllen wollen. Dieser Unwille darf nicht überraschen, denn faktisch hat die UNMIK seit Beginn ihrer Mission die strukturell-administrativen Voraussetzungen für die Unabhängigkeit des Kosovo geschaffen: Die Ablösung und das Verbot jugoslawischer bzw. serbischer hoheitlicher Staatssymbole sowie die Einführung kosovarischer hoheitlicher Symbole wie KFZ-Kennzeichen, die Ersetzung der Landeswährung durch die DM bzw. den Euro, eine Grenzabfertigung mit Zollerhebung und eigenen KFZ-Versicherungskarten zwischen der serbischen Provinz und Serbien sowie darüber hinaus sogar neue nichtjugoslawische bzw. nichtserbische Identitätsdokumente mit ausschließlicher Gültigkeit schaffen unterschiedliche Rechtsräume und Verwaltungsstrukturen. Dies jedoch widerspricht dem Verständnis einer einheitlichen Rechtsordnung als konstitutivem Element eines souveränen Territorialstaates. Die seit der Unabhängigkeitserklärung gemachten Aktivitäten und Entscheidungen der UNMIK und der K-FOR laufen in ihrer immanenten Logik auf die Übertragung der UNMIK-Kompetenzen an die Kosovo-Behörden und der militärischen Absicherung der Unabhängigkeit hinaus.3 Der hierdurch stattfindende massive Bruch des Völkerrechts seitens der Kosovo-Albaner als auch seitens der UNMIK und der K-FOR entziehen der UNO-Resolution 1244 in wesentlichen Teilen die Geschäftsgrundlage.

Interessant ist hierbei das völkerrechtsnegierende Gebahren der UNO selbst: Die UNMIK nimmt ihr eigenes Mandat, definiert in der UNO-Sicherheitsratsresolution 1244, nicht nur nicht ernst, sondern unterläuft dieses sogar aktiv. Das auf den ersten Blick seltsam anmutende Verhalten ist mit der personellen Zusammensetzung der UNMIK-Verwaltung zu erklären. Die entscheidenden Schlüsselpositionen sind in den Händen westlicher bzw. prowestlicher Vertreter, die zwar den UNO-Hut tragen, faktisch jedoch die Interessen ihrer Entsendestaaten verfolgen. So wurde der Posten des UNMIK-Chefs immer an einen zuverlässigen Westeuropäer und der Stellvertreterposten an einen US-Amerikaner herangetragen.

Der UNO-Sicherheitsrat wiederum, der die Selbstverständlichkeit der uneingeschränkten Implementierung der eigenen Resolution ebenso selbstverständlich mit Nachdruck gegenüber der UNMIK einfordern müsste, wird hierbei durch die drei westlichen Sicherheitsratsmitglieder – Frankreich, Großbritannien und den USA – blockiert. Hierdurch wird die Sicherheitsratsresolution 1244 von einem Teil des Sicherheitsrates, obschon von ihm verabschiedet, nur noch im Bereich der NATO-dominierten Sicherheitspräsenz und der Rechte der Kosovo-Albaner, nicht mehr aber, was die souveränen Rechte Serbiens betrifft, unterstützt. Dies praktizierten die drei westlichen UNO-Sicherheitsratsmitglieder zwar auch schon vor der Unabhängigkeitserklärung, jedoch versuchten sie bis 2007 zumindest mit Lippenbekenntnissen ihre Resolutionstreue zu suggerieren, also die staatliche Souveränität Serbiens nicht offen in Frage zu stellen.

Auch der von allen Seiten unter erheblichen Druck geratene UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und somit unmittelbarer Vorgesetzter des UNMIK-Chefs Joachim Rücker taucht buchstäblich ab und weigert sich, entsprechende Maßnahmen zur Respektierung der UNO-Sicherheitsratsresolution anzuweisen.

Obschon die UNMIK und ihre Zentrale in New York sich in völkerrechtlich höchst fragwürdiger Weise weitestgehend aus dem Fenster gelehnt haben, um den Wünschen der westlichen Unterstützung für die Kosovo-albanischen Sezessionisten entgegenzukommen, soll und will die UNMIK abgelöst werden und die UNO ihre Kompetenzen über Kosovo gegen den Willen Russlands einbüßen.

Denn die zuvor von Russland und China im UNO-Sicherheitsrat deutlich formulierte Ablehnung des so genannten Ahtisaari-Plans, der die Unabhängigkeit vermeintlich völkerrechtskonform und die Eigenstaatlichkeit des Kosovo in wesentlichen Details festlegen sollte, demonstriert, dass Russland und China der ordnungspolitischen Selbstgerechtigkeit des Westens immer noch qua Institution UNO Steine in den Weg legen können.

Gemäß der Devise, wenn möglich mit, wenn nötig ohne die UNO versucht der Westen, seine machtordnungspolitischen Vorstellungen auf dem Balkan nun jenseits der UNO und somit jenseits der russischen und chinesischen Veto-Möglichkeit zum wiederholten Male zu lösen: Das Kosovo wird auf völkerrechtswidrige Weise kurzerhand zu einer exklusiven euro-atlantischen Angelegenheit erklärt. Hierzu installiert man gegenwärtig die so genannte Europäische Rechtsstaatsmission »EULEX«, die die UNMIK sukzessive ablösen soll. Auch wurde eine so genannte Steuerungsgruppe eingerichtet, die die Umsetzung des gerade nicht vom UNO-Sicherheitsrates legitimierten Ahtisaari-Plans überwachen und befördern soll.

Ausnahmen und Präzedenzfälle

Diese vom Westen in Kooperation mit den Sezessionisten abgestimmte Zerschlagung des zunächst jugoslawischen, dann serbischen Staates wird als unausweichlicher und alternativloser Akt des Selbstbestimmungsrechts erklärt. Zugleich wird der Fall Kosovo als sui generis deklariert, woraus sich ein Ausnahmefall ableiten soll, was im Umkehrschluss bedeutet, dass er keine Präzedenzfallwirkung entfalten könne. Dieses sui-generis-Konstrukt ignoriert bewusst den Umstand, dass jeder Fall eines Versuchs der Erlangung des externen Selbstbestimmungsrechts einer Volksgruppe eine Einzigartigkeit hinsichtlich der historischen, kulturellen, politischen und ethnischen Motive darstellt. Gerade aus diesem Grunde existieren Rechtsnormen, die ungeachtet dieser individuellen Spezifika eine übergeordnete und allgemeingültige Regelung festlegen, um machtpolitische Willkür und Chaos zu verhindern. Die Entscheidung, ob es sich nun um einen Fall sui generis handelt oder ob sich vielmehr daraus ein Präzedenzfall entfalten könnte, ist folglich keine rechtliche, sondern eine machtpolitische, die zwischen dem Westen und die um die staatliche Unabhängigkeit kämpfenden Akteure, wie den Kurden, den Abchasen, den Südosseten, den Armeniern, den Serben in Bosnien-Hercegovina oder im Kosovo, den Basken, den Korsen oder den Palästinensern etc., ausgefochten werden wird.

Selbstbestimmungsrecht und Selbstbestimmungsrecht

Der Begriff bzw. die Rechtsnorm des Selbstbestimmungsrechts muss auf zwei Ebenen, der rechtlichen und der machtpolitischen, geklärt werden: Im Völkerrecht wird zwischen internem Selbstbestimmungsrecht (Autonomie innerhalb eines Gesamtstaates, sprich: föderale Staatsstrukturen) und externem Selbstbestimmungsrecht (vollständige Sezession hin zur Eigenstaatlichkeit) unterschieden. Das interne Selbstbestimmungsrecht stellt einen Kompromiss zwischen Eigenstaatlichkeit und der Notwendigkeit internationaler Stabilität in Form einer territorialen Besitzstandsgarantie für Staaten dar, in der nationale/kulturelle Eigenständigkeiten gepflegt werden können. Nur wenn das interne Selbstbestimmungsrecht vorenthalten und dies durch massive Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung flankiert wird, kann das interne Selbstbestimmungsrecht ausnahmsweise zu einer Art Notwehr- und Sezessionsrecht mutieren, d.h. die Gestalt des externen Selbstbestimmungsrechts annehmen. Hieraus ergibt sich automatisch die Frage, wer und unter welchen konkreten Bedingungen diese abstrakt rechtliche Formulierung in konkrete politische Handlungsentscheidungen umsetzen bzw. umgesetzt werden darf. Die Völkerrechtsliteratur liefert hierzu keine eindeutigen Hinweise. Dieses Rechtsvakuum führt somit auf die zweite, die machtpolitische Ebene der internationalen Politik, die wiederum am Fall Jugoslawien illustriert werden soll: Der jugoslawische Staat war in ausgesprochen hohem Maße föderalisiert – manche behaupten sogar überföderalisiert. Selbst die serbische Provinz Kosovo verfügte bis 1989/90 über ein hohes Maß an Autonomierechten innerhalb Serbiens und Jugoslawiens. Dies genügte jedoch den sich Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre im Aufwind befindlichen nationalistisch-sezessionistischen und prowestlichen Kräften nicht. Sie wollten nichts weniger als die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen jugoslawischen Teilrepublik bzw. der serbischen Provinz Kosovo und deren Integration in die euro-atlantischen Strukturen. Die pro-jugoslawistischen Kräfte standen im ganzen Land und in Europa zunehmend auf verlorenem Posten. Unterstützung erhielten hingegen die nationalistisch-sezessionistischen Kräfte als so genannte Demokraten und Freiheitskämpfer durch den Westen, zuvörderst von Deutschland und später auch seitens der USA – bis hin zur militärischen Aggression 1999. Der US-dominierte Westen begleitete die Atomisierung Jugoslawiens aus ideologischen und geostrategischen Gründen: Jugoslawien war kein westlicher Staat oder Verbündeter. Es handelte sich um einen sozialistischen Staat mit dem Anspruch eines »Dritten Weges« zwischen Ost und West und nahm in der Gruppe der Blockfreien Staaten eine führende Rolle ein. Damit entzog sich Jugoslawien der östlichen wie der westlichen Macht- und Einflusssphäre und konnte auf diese Weise seine staatliche Souveränität auch faktisch praktizieren. Hinzu kam, dass Jugoslawien eine geographische Schlüsselposition in Südosteuropa besaß und trotz aller ökonomischen Schwierigkeiten im Vergleich zu den Anrainerstaaten eine wirtschaftliche und militärische Regionalmacht in Südosteuropa darstellte.

Der euro-atlantische Block konnte den Atomisierungsprozess Jugoslawiens und schließlich Serbiens ohne große internationale Widerstände mitforcieren, da es keine potenten Gegenkräfte gab und gibt, die ihn daran hindern konnten/können, internationale Rechtsnormen nach Gutdünken zu missbrauchen. Weder verfügte Jugoslawien bzw. verfügt Serbien über ausreichende Widerstandskräfte, noch existiert derweil eine bipolare, geschweige denn einer multipolare Weltordnung, die den euro-atlantischen Club »überzeugen« könnte, getroffene Vereinbarungen, Prinzipien und Rechtsnormen verbindlich zu respektieren. Und erst recht existiert keine effektiv übergeordnete globale Autoritäts- und Durchsetzungsinstanz, die alle Staaten zwingen könnte, sich einer Art internationaler Rechtsstaatlichkeit zu unterwerfen. Die UNO soll zwar dieses Gremium als Träger des globalen Gewaltmonopols darstellen, wird aber durch die Mitgliedsstaaten lediglich zu einem nominalen Träger des Gewaltmonopols reduziert. Die derzeitige Funktion der UNO erschöpft sich unter den seit Ende des Kalten Krieges gegebenen globalen Machtverhältnissen darin, als Instrument des Westens dessen ordnungspolitischen und geostrategischen Vorstellungen ein völkerrechtlich konformes Deckmäntelchen zu geben. Dies zeigt sich nicht allein im Falle Jugoslawiens bzw. Serbiens – ein Blick nach Afghanistan und in den Irak indiziert ihre weitere Indienststellung. Die UNO nimmt hierdurch substanziellen, vielleicht sogar irreparablen Schaden, da der stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen die Rückkehr zum anarchischen Staatensystem auf besonders perfide Weise bedeutet.

Diese Selbstermächtigung des US-geführten euro-atlantischen Clubs wird über die Jugoslawien bzw. Kosovo-Frage hinaus das Völkerrecht nachhaltig verändern.

Die westlichen Hegemonialmächte entscheiden auf absehbare Zeit darüber, wer als Sezessionist/Terrorist dämonisiert oder als Freiheitskämpfer heroisiert und gegebenenfalls unterstützt wird. Das bedeutet für die Zukunft, dass die völkerrechtlichen Normen von staatlicher Souveränität und externem Selbstbestimmungsrecht mit der Schaffung des LEX Yugoslavia als Präzedenzfall von eben jenen Hegemonialmächten flexibel praktiziert werden: Den Kurden der Türkei wird das externe Selbstbestimmungsrecht auch künftig verweigert, während den Kurden des Irak dieses faktisch zugestanden wird. Denn die Türkei ist ein treuer Verbündeter des Westens und sie ist militärisch eine Mittelmacht. Daher wird sie nicht daran gehindert, ihre Hoheitsgewalt, d.h. die Niederschlagung gewaltsamen und politischen Widerstandes auf ihrem Staatsgebiet auszuüben – bisweilen sogar jenseits ihres Staatsgebietes. Die Türkei kann sich das leisten, solange sie prowestlich orientiert bleibt. Was die Kurden der Türkei, die bosnischen Serben oder die Serben des Kosovo von den Kosovo-Albanern und den irakischen Kurden unterscheidet, ist schlichtweg, dass sie politisch auf der falschen Seite stehen. Das Völkerrecht wird ihnen nicht helfen können, da es angesichts der internationalen Machtkonfiguration evidenterweise Weise impotent ist. Helfen kann ihnen nur ihr selbstbestimmungsrechtliches Durchhaltevermögen in Verbindung mit sich international wandelnden Kräfteverhältnissen. Umgekehrt kann der Westen mit LEX Yugoslavia allen multinationalen Staaten, die sich dem Westen gegenüber nicht wohl verhalten, die Instrumente zeigen: Latent oder manifest ethnische Spannungen in diesen Staaten bei Bedarf zu befördern.

Anmerkungen

1) Die Aufarbeitung der völker- und verfassungsrechtlichen Problematik des gesamtjugoslawischen Sezessionsprozesses ist zu finden in: Alexander S. Neu (2005): Die Zukunft des Kosovo, in: Osteuropa 9/2005.

2) Gegen diese neue, mandatsfremde Funktion klagt die Bundestagsfraktion DIE LINKE vor dem Bundesverfassungsgericht.

3)KFOR-Mandat bleibt mit Abzug der UN-Mission aus Kosovo unverändert – Appathurai“, http://de.rian.ru/safety/20080514/107368003.html

Dr. Alexander Neu ist Politologe, Referent für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion »Die Linke« und freier Journalist. Seit 2006 in der W&F Redaktion.

Der Kosovo-Krieg und die atomare Frage

Der Kosovo-Krieg und die atomare Frage

Betrachtungen aus russischer Sicht

von Alla Yarochinskaya

Im letzten Jahrzehnt wurde der Terminus der zukunftsfähigen, stabilen Entwicklung (sustainable development) bei WissenschaftlerInnen und PolitologInnen sehr modern. Seit der UN-Konferenz zu Fragen der Umwelt 1992 in Rio de Janeiro wurden zu diesem Thema Tausende Dissertationen geschrieben, Millionen Vorträge gehalten, aber ein Mehr an »Stabilität« kam dabei nicht heraus. Es ist eher umgekehrt: Den Planeten erschüttern soziale und ökologische Katastrophen, lokale und regionale Kriege hören nicht auf und Tausende von Rüstungsbetrieben und Millionen von WissenschaftlerInnen arbeiten an der Schaffung immer effektiverer Vernichtungswaffen, darunter auch an Massenvernichtungswaffen.

In das 21. Jahrhundert geht die Menschheit mit der Last der ungelösten Probleme des atomaren Wettrüstens. Ungeachtet der fast dreißigjährigen Existenz des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, im Rahmen dessen auch die atomare Abrüstung voran getrieben werden sollte, gibt es heute auf der Welt mehr Atommächte als vor der Unterzeichnung. Indien und Pakistan haben sich selbst zu atomaren Staaten erklärt. Ein öffentliches Geheimnis sind die Atomwaffen Israels. Bekannt ist, dass vierzig Länder sich an der Schaffung von Atombomben versuchen und weitere zwanzig in der Lage sind, sie zu produzieren. Schließlich ist auch die vollständige Stagnation bezüglich der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen augenscheinlich, die die bilateralen russisch-amerikanischen Verträge betrifft. Das russische Parlament (die Duma) hat den START-2-Vertrag bis heute nicht ratifiziert, der vom russischen und US-Präsidenten schon 1993 unterzeichnet, vom US-amerikanischen Parlament Anfang 1996 ratifiziert wurde. Er sah vor, die atomaren Waffenarsenale beider Länder bis zum Jahr 2007 auf je 3.500 Einheiten zu reduzieren.

Diese Verzögerung bei der Ratifizierung des START-2-Vertrages erlaubt es ihrerseits nicht, weiter bei der atomaren Abrüstung voranzuschreiten. Daraus ergeben sich auch Probleme für die offiziellen Verhandlungen zur Unterzeichnung des nächsten Vertrages – START-3, nach dem das Niveau der Atomwaffen bis auf 1.500 Einheiten reduziert werden könnte. Dies würde seinerseits die Möglichkeit bringen, dass sich auch die anderen Atommächte dem Prozess der atomaren Abrüstung anschließen könnten.

So befindet sich die gesamte Menschheit statt in einer stabilen zukunftsfähigen Entwicklung in einer »stabilen« atomaren Falle. In Russland stellt man in einer solchen Situation zwei ewige Fragen: »Wer ist schuld?« und »Was tun?«

Auf die erste Frage scheint die Antwort augenscheinlich zu sein. Schuld ist die russische Duma, deren kommunistische Mehrheit schon über mehrere Jahre START-2 nicht ratifiziert. Warum aber hat das russische Parlament bisher immer noch nicht ein für die ganze Welt so wichtiges Dokument ratifiziert? Natürlich, Russland ist wirtschaftlich zu schwach und hat kein Geld um die Maßnahmen zu finanzieren. Aber dies ist nicht der Hauptgrund für die Nichtratifizierung des Vertrages. Die Hauptursache liegt darin begründet, dass nach dem Zerfall der UdSSR eine völlig neue geopolitische Situation für die gesamte Welt und auch für Russland entstand: Das Kräftegleichgewicht zwischen der UdSSR und den USA war zerstört. Eine der Supermächte hatte sich aufgelöst und das internationale Gewicht verschob sich krass in nur eine Richtung, jene der USA, mit allen sich daraus ergebenden Folgen. Ich werde nicht auf alle Folgen (politisch, ideologisch, wirtschaftlich, militärisch und sozial) eingehen, sondern mich nur auf die atomaren beschränken.

1991 haben Präsident Bush (im September) und M. Gorbatschow (im Oktober) die Erklärung abgegeben, dass ihre Länder die Atomwaffen von den Territorien nichtatomwaffenbesitzender Staaten abziehen werden. Russland hat dies getan, hat seine Atomwaffen aus den osteuropäischen Ländern, den ehemaligen Verbündeten im Warschauer Vertrag, sowie aus Kasachstan und der Ukraine abgezogen. Die Welt hat diesen Schritt begrüßt. Aber in der allgemeinen Euphorie hat die westliche Welt »nicht bemerkt«, dass Hunderte von Atombomben auf den Territorien von sieben westeuropäischen NATO-Ländern verblieben.

Dies ist der erste Grund, warum sich die russischen Abgeordneten – und nicht nur die Kommunisten – mit der Ratifizierung von START-2-Vertrages Zeit lassen. (Hier ist noch nicht einmal die Rede davon, dass die Stationierung von US-Atomwaffen auf den Territorien nichtatomwaffenbesitzender Länder eine Vergewaltigung des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen darstellt.)

Ein zweiter Grund ist die treuwidrige Erweiterung des atomaren militärisch-politischen Blockes der NATO nach Osten. Warum treuwidrig? Deshalb, weil zu der Zeit als Gorbatschow das kommunistische Imperium zerschlug (Fall der Berliner Mauer, Wegfall des militärisch-politischen Blocks der Warschauer Vertragsstaaten, Liquidierung des RGW, Rückzug der Atomwaffen auf das russische Territorium usw.) die westlichen StaatschefInnen und US-Präsident Bush ihm versprachen, dass die NATO nicht nur nicht nach Osten ausgeweitet, sondern der Block möglicherweise auch seine militärisch-politische Natur und sein Antlitz ändern wird. Es scheint leider so, dass viele der westlichen PolitikerInnen ihr Gedächtnis verloren haben. Kaum zerfiel die UdSSR, »vergaßen« sie ihre Versprechen, dementierten sie gar. Vor kurzem ist in der Washington Post ein Artikel des ehemaligen Botschafters der USA in Moskau John Matlock veröffentlicht worden, der Zeuge dieser lange zurückliegenden Verhandlungen zwischen Gorbatschow, Bush und anderen führenden westlichen PolitikerInnen war. In diesem Artikel bestätigt Matlock die schnell »vergessenen« Versprechen der Führer des Westens und der USA (Gorbatschows Fehler bestand darin, dass er ihnen zu sehr vertraute und vergaß, die Versprechungen in schriftliche Verpflichtungen und Garantien zu formulieren).

Der dritte Grund ist die nicht grundlose Befürchtung, dass die NATO mit der Erweiterung ihres Territoriums auch Atomwaffen auf dem Territorium der neuen Mitgliedsstaaten stationieren wird. In Russland wird der militärisch-atomare NATO-Block keineswegs mit Frieden und Gerechtigkeit assoziiert. Ich denke, dies ist verständlich. Man braucht sich nur an die Reaktion der westlichen Welt und insbesondere der USA zu erinnern, als der sowjetische Führer Chruschtschow seine Atomwaffen an die Ufer des Landes schickte (die Kuba-Krise im Jahre 1962). Das war die blanke Hysterie! Warum kann dann heute jemand daran glauben, das russische Parlament wäre froh wenn die NATO mit Atomwaffen an ihre Grenzen rückt? Folgte man einer ähnlichen Logik so müsste möglicherweise auch Russland seine Atomwaffen z. B. nach Weißrussland oder Tadschikistan, ja vielleicht sogar nach Kuba schicken.

Uns sagt man: die NATO wird ihre Atomwaffen nicht auf dem Territorium der neuen Mitgliedsstaaten stationieren. Ist das wirklich so? Nun, erstens erinnern wir uns, wie man uns schon einmal versprochen hat, die NATO werde sich überhaupt nicht erweitern. Zum Zweiten gibt es Dutzende Dokumente darüber, dass die NATO gar nicht die Absicht hat, sich von den Atomwaffen in Europa zu verabschieden – das Gegenteil ist der Fall. Ich will hier nur einige von ihnen anführen: In der im September 1994 veröffentlichten Rundschau »Atomprogramm der USA« wird der Schluss gezogen, die Atomwaffen der USA würden in Europa „als Ausdruck unserer Verbundenheit zum Bündnis“ (dem Nordatlantischen – d. Autorin) erhalten bleiben. Im Februar 1995 sagte Verteidigungsminister William Perry in seinem Jahresbericht an den Präsidenten und den Kongress der USA: „Ein sehr progressiver Aspekt der amerikanischen Atomwaffen liegt darin begründet, dass dies irgendwie ein internationaler atomarer Kurs ist.“ Anfang 1995 erklärte der Vorsitzende des Vereinigten Komitees der Stabschefs, General John Shalikashwili, im Kongress dass die Bomben in Europa „zum Schutz unserer Bündnispartner“ bleiben werden.

Im Sommer 1995 schlugen Perry und Shalikashwili bei ihrer Rundreise durch die beitrittswilligen Staaten deren Regierungschefs vor, ihre Position in der Frage einer möglichen Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu überdenken. Ende September desselben Jahres erklärte der NATO-Generalsekretär Willi Claas, die Atomwaffen müssten „nicht unbedingt“ auf dem Territorium der Länder Osteuropas „stationiert werden“, es gehe vielmehr momentan darum, auf deren Gebiet eine neue atomare Infrastruktur zu schaffen. Nun sage mir jemand, wozu überhaupt eine atomare Infrastruktur schaffen, wenn nicht für die Stationierung von Atomwaffen?

Nach einer der letzten Erklärungen der US-Außenministerin Madeleine Allbright können „die neuen Mitglieder der NATO dieselben Rechte“ haben wie die alten. Bedeutet dies etwa, dass auf den Territorien der neuen NATO-Mitgliedsländer eine eben solche Stationierung von Atomwaffenarsenalen möglich ist wie sie bereits in den »alten« Mitgliedsländern der NATO besteht?

Verstehen die PolitikerInnen, dass Atomraketen oder -bomben, wo auch immer sie stationiert sind, für sich allein schon ein Ziel für andere Atomraketen darstellen? Und will dann wirklich jemand annehmen, solche Maßnahmen könnten die Sicherheit in Mittel- und Osteuropa stärken und zur Ratifizierung des START-2-Vertrages beitragen?

Nach dem Beginn des NATO-Jugoslawien-Krieges, der Krise der UNO und dem endgültigen Zusammenbruch der Weltarchitektur, wie sie in ihrer internationalen Rechtsordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden war, sind die Probleme für die atomare Abrüstung noch größer geworden. Ich will keineswegs als Verteidigerin von Milosevic auftreten. Mein prinzipieller Standpunkt zum NATO-Jugoslawien-Krieg besteht darin, dass es wohl etwas zu einfach ist, alles Geschehene nur mit den gegenseitigen Beziehungen zwischen dem »bösen« Milosevic und der »guten« NATO oder umgekehrt zu erklären. Das Problem der NATO-Bombardements geht weit über den Rahmen des Balkankrieges hinaus und hat globale Ausgangswerte, deren Wesen in dem (nicht erfolglosen) Versuch besteht, den Zusammenbruch einer Supermacht auszunutzen und die geopolitische Weltkarte zugunsten der stärkeren Supermacht und des mächtigeren Militärblocks zu verändern. Die westeuropäischen Länder treten im vorliegenden Fall in der Rolle kleiner Gehilfen der USA auf. (Obwohl – es scheint in letzter Zeit so, als ob sich die Elite dieser Länder dieser Tatsache bewusst wird und versucht, das Westeuropäische Militärbündnis zu aktivieren, welches schon begraben schien.)

Die Folgen der NATO-Bombardements tragen gleichfalls globalen Charakter: Erstmals in der ganzen Geschichte des Bestehens der UNO, die durch die Menschheit als Werkzeug des Friedens und nicht des Krieges geschaffen wurde, hat einer der vielen Militärblöcke ohne UN-Beschluss einen souveränen, unabhängigen Staat angegriffen. Damit wurde zugleich ein gefährlicher Präzedensfall der Vorherrschaft der Stärke über das internationale Recht geschaffen. Die UNO wurde erniedrigt, die internationale Rechtsordnung faktisch zerstört. Die NATO-Bombardements haben die Tür auch für andere Staaten aufgestoßen: Warum sollen andere Länder nicht dürfen was die NATO darf? Und schon werden wir ZeugInnen von Bombardements zwischen Indien und Pakistan – zwei Atommächten!

Uns sagt man, die NATO habe die AlbanerInnen vor den ethnischen Säuberungen geschützt. Aber ein solcher Schutz erinnert an eine klassische Anekdote: Man hackt den Kopf ab, damit der Zahn nicht mehr weh tut. Man darf nicht die Rechte einer Nation schützen und dabei Menschen, darunter auch Kinder, einer anderen Nation töten. Und: Wenn sich Milosevic für die ethnischen Säuberungen verantworten soll, so sollte sich die NATO im gleichen Maße für die zerbombten (mit wohlgemeinten Absichten sind die Straßen in die Hölle gepflastert) Zivilobjekte, Hospitäler, die Botschaft eines weiteren souveränen Staates, für den Tod absolut unschuldiger BürgerInnen, für die kolossalen ökologischen Schäden und den Schaden an der Gesundheit der Bevölkerung aufgrund der Anwendung verbotener Bomben mit Uranfüllungen in diesem Krieg verantworten. (Die grauenvollen Folgen der Anwendung ähnlicher US-Bomben im Krieg gegen den Irak wurden durch eine Gruppe von WissenschaftlerInnen unter Leitung von Rosalie Bertell aus Kanada erforscht.)

Das Kosovo wurde genutzt zur Erprobung der Effektivität der eigenen Waffen für den Militärblock (…) Die Krönung des Zynismus ist es, wenn mitten im Krieg der Nordatlantikpakt eine neue Konzeption beschließt (während der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der NATO-Gründung), deren Quintessenz darin besteht, dass sich die NATO selbst das universelle Recht einräumt, die Entscheidung über ein beliebiges Land zu fällen, das ihr aus irgendeinem Grunde nicht gefällt. Ist dies nicht dieselbe Politik, der die russische Gesellschaft früher so sehr entgegenstrebte? Und muss man sich dann wundern, dass diese Politik heute in Russland nicht angenommen wird?

Eigentlich wurden die Bombardements der NATO in Jugoslawien zu jenem letzten Tropfen, der den Topf nicht nur im russischen Parlament, sondern auch in der russischen Gesellschaft zum Überlaufen brachte: Die Duma braucht sich mit der Ratifizierung des START-2-Vertrages nicht zu beeilen solange die NATO und die USA bestehende internationale Vereinbarungen zur Lösung von Konflikten brechen. (Ich will hier die Frage des Preises der Atomwaffen für das »arme« Russland nicht beleuchten. Nur eine augenfällige Tatsache möchte ich anführen: Der gesamte Haushalt des Landes beträgt 20 Milliarden Dollar, in den USA beträgt allein der Verteidungshaushalt 400 Milliarden.)

Dass die USA nach dem »Recht des Stärkeren« handeln, davon zeugen auch die Ereignisse der letzten Monate um den ABM-Vertrag von 1972. Das Parlament der USA hat beschlossen, Geld zur Verfügung zu stellen um innerhalb von drei Jahren die Möglichkeit zur Stationierung einer neuen Raketenabwehrtechnologie zu schaffen. Dies bedeutet, dass die USA praktisch einseitig einen grundlegenden bilateralen Vertrag kündigen, der für den Stopp des atomaren Wettrüstens von elementarer Bedeutung war. Auch dies ist einer der Gründe der Nichtratifizierung des START-2-Vertrages durch Russland.

Hinzu kommt, dass der NATO-Jugoslawien-Krieg nicht nur die Prozesse der realen Abrüstung und der realen Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen bremst, sondern auch jene Staaten provoziert schneller voranzuschreiten, die heimlich ihre atomaren Pläne ausarbeiten. (…)

Was soll und kann der vernünftige und friedliebende Teil der Menschheit in der nunmehr entstandenen Situation tun? Kann er überhaupt irgendwie auf die sich vollziehenden Metamorphosen Einfluss nehmen? Er kann – und dies vor allem über die Nichtregierungsorganisationen einer jeden zivilen Gesellschaft.

Man sollte mit dem Rückzug des UN-Generalsekretärs Koffi Annan beginnen, der von sich aus nichts getan hat um dem Protest gegen die NATO-Bombardements ohne UN-Beschluss Ausdruck zu verleihen. Dann müsste in allen Parlamenten der Welt und in der UNO selbst eine tiefschürfende Diskussion darüber geführt werden, wo wir uns am Ende des 20. Jahrhunderts befinden. Es muss ein wissenschaftlicher Plan zur tiefgreifenden Reorganisation der UNO geschaffen werden, der die neuen geopolitischen Realitäten nach dem Zerfall der UdSSR und des Kommunismus, nach der totalen Globalisierung und der damit einhergehenden Verarmung eines Großteils der Weltbevölkerung sowie die drohende globale ökologische Katastrofe berücksichtigt. Die UNO darf sich nicht nur der einen »goldenen Milliarde« der Weltbevölkerung zuwenden, sie muss sich der gesamten Weltbevölkerung zuwenden.

Dafür ist es notwendig, dass die UNO wieder das einzige internationale Organ wird, das Beschlüsse zur Lösung von Konflikten fällen darf und dass die Lösung von Konflikten durch militärische Bestrafung jeglicher Völker und Nationen zukünftig ausgeschlossen wird.

Wenn wir ehrlich zu uns selbst und den zukünftigen Generationen sein wollen, so müssen wir aufhören, mit Worten über einen stabilen Frieden und eine stabile Entwicklung herum zu jonglieren. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass es diese eigentlich nicht gibt und dass die reichen Individuen und Nationen auch keinerlei Veränderungen wollen. Im Gegenteil, sie wollen eigentlich alles so belassen wie es ist, denn wer über den Reichtum regiert, regiert über die Welt. Diese Wahrheit ist so alt wie die Menschheit. Doch jeder vernünftige Mensch, der sein Gewissen noch nicht verloren hat, sollte danach streben, diese Welt zu verbessern.

Dr. phil. Alla Yarochinskaya, Vorstandsmitglied von INES und Mitglied des Beirates des Russischen Präsidenten.
Übersetzung: André Lindemann

Lehren aus dem Kosovo-Krieg

Lehren aus dem Kosovo-Krieg

von Andreas Buro

Hätte der Krieg gegen Jugoslawien und im Kosovo vermieden werden können, wenn die NATO-Staaten eine präventive, zivile Politik der rechtzeitigen Konfliktbearbeitung betrieben hätten und wenn es ihnen nicht darum gegangen wäre, den »Schurkenstaat Jugoslawien« abzustrafen? Welche Lehren ziehen diejenigen aus dem Krieg, die sich in ihrem politischen Verhalten an der Überwindung von Kriegen und Militär orientieren? Andreas Buro stellt in 12 Thesen nebst Anmerkungen seine »Lehren aus dem Kosovo-Krieg« zur Diskussion.

  1. Drohpolitik mit militärisch überlegenen Kapazitäten ist einer eigenen Logik unterworfen, die dazu führt, dass Friedens- und Menschenrechtsziele dabei verloren gehen. Der Krieg als Mittel der Politik wird zu ihrem Bestimmungsfaktor.

Militärisch gestützte Außenpolitik, die sich, wie im Falle der NATO bzw. der USA auf höchst überlegene Potenziale stützen kann, ist ständig in Versuchung ihre politischen Forderungen bei der Bearbeitung von Konflikten mit militärischen Drohungen zu unterstützen. Dies trifft auch im Fall Kosovo zu. Die USA erklärten bereits im Mai 1996, sie seien notfalls zu einem militärischen Eingreifen bereit, wenn dem Kosovo nicht eine weitreichende Autonomie eingeräumt würde.1 Diese Drohung wurde ab 1998 verstärkt und durch konkrete Interventionsvorbereitungen der NATO unterstrichen. Ergebnisoffene Verhandlungen in Rambouillet und Paris waren so nicht mehr möglich. Mit dem NATO-Ultimatum war die militärische Eskalation vorprogrammiert wenn Belgrad nicht einlenken würde. Aufgrund des Sezessionskrieges der UCK war jedoch der Spielraum Belgrads sehr begrenzt, wollte es nicht eine Sezession des Kosovo riskieren.

Als Belgrad auch nach Beginn der Bombardierungen nicht einlenkte und statt dessen die brutalen Luftangriffe mit einer brutalen Vertreibungsstrategie beantwortete, änderte sich das politische Ziel der NATO. Nun ging es darum, Belgrad in die Knie zu zwingen, koste es was es wolle. Da die Möglichkeiten des Kampfes gegen militärische Ziele begrenzt war, wurde die zivile Infrastruktur Jugoslawiens mit entsprechenden »Kollateralschäden« zerstört. Das erklärte Ziel, die Vertreibung zu verhindern, wurde aufgegeben zugunsten der Stärkedemonstration der NATO.

  1. Im Kosovo-Krieg demonstrierte die NATO die von ihr usurpierte Rolle als »Ordnungsmacht« der Region. Weil die NATO diese Rolle beansprucht, werden von den mächtigen NATO-Mitgliedsstaaten die UN und die OSZE schwach gehalten und ihnen die notwendigen Mittel zur Erfüllung ihrer Funktionen vorenthalten.

Die im Kosovo-Konflikt gezeigte militär-gestützte Interventionspolitik der NATO entspricht der Rolle, die sich die NATO seit 1989 zunehmend angeeignet hat: »Ordnungsmacht« zu sein für eine sehr weitgefasste Region, »out-of-area« des NATO-Vertragsgebietes. Dabei wurde die Rolle der UN-Regionalorganisation OSZE als der Plattform für eine Gesamteuropäische Friedensordnung, wie sie noch in der Pariser Erklärung von 1990 vorgesehen war, marginalisiert, an einem Konsens der OSZE-Länder wird nicht mehr gearbeitet. Gleichzeitig baut die USA ihren dominierenden Einfluss auf die Region aus, auch gegenüber den europäischen NATO-Partnern. Die NATO-Osterweiterung und die systematische Ausgrenzung Russlands aus dem Machtkartell sind in diesem Zusammenhang zu sehen.

Diese Entwicklung der letzten 10 Jahre bedeutet aber auch, dass die Möglichkeiten ziviler Konfliktbearbeitung systematisch reduziert wurden, da die hierfür erforderlichen Normen, Verfahren und Institutionen systematisch vernachlässigt und nicht zielgerichtet ausgebaut wurden. Das Versagen der OSZE und der UN – gerade in den Balkan-Konflikten dieser Zeit – ist also Folge der gewollten Schwächung dieser Institutionen und der mit ihnen verbundenen Optionen der zivilen Konflikbearbeitung. Zivile Konfliktbearbeitung würde unter viel egalitäreren Bedingungen erfolgen und damit nicht der militärischen Hierarchisierung und US- und NATO-Dominanz unterliegen.

  1. Die Bereitschaft zu einer präventiven zivilen Friedenspolitik und der Aufbau entsprechender Instrumente, Verfahren, Normen, Strategien und Potenziale sind dringend zu entwickeln. Dies ist auch aus Gründen der Sicherung von Menschenrechten geboten, denn im Kriegsfall werden die Menschenrechte am schwersten verletzt.

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien wurde auf dem Hintergrund eines antagonistischen, historisch weitreichenden Konfliktes zwischen SerbInnen und KosovarInnen um die Sezession oder Nicht-Sezession des Kosovo von Serbien geführt. Hier lag also ein Konflikttyp vor, der gegenwärtig in vielen Staaten der Welt zu finden ist. Beide Seiten waren mit rassistisch-nationalistischen Grundhaltungen bereit, ihr jeweiliges Interesse mit Gewalt durchzusetzen. Allerdings haben die KosovarInnen in der Zeit von 1990 bis zum Auftreten der UCK ab 1995 weitgehend gewaltfrei für ihr Ziel gekämpft. In diesen 6 Jahren wurde von Friedensbewegung, Wissenschaft und politischer Seite immer wieder auf die Explosivität des Konfliktes um den Kosovo hingewiesen. Eine systematische präventive Politik der Konfliktverhütung wurde von westlicher Seite in dieser Zeit jedoch nicht nachdrücklich betrieben. Erst mit der militärischen Eskalation des Konflikts, seit dem Auftreten der UCK und der sich verschärfenden Verfeindung zwischen den Volksgruppen trat die NATO auf den Plan und zwar sogleich mit militärischer Drohung gegenüber Belgrad.

  1. Die Begründung des Krieges durch die NATO als einer »humanitären und menschenrechtlichen Intervention« – letztlich als eines gerechten Krieges – ist ein ideologisches Legitimationskonstrukt um die Unterstützung für den Krieg in den NATO-Gesellschaften zu sichern. Die wirklichen Interessen und Gründe für die Intervention sollten damit ausgeblendet und der öffentlichen Kritik entzogen werden.

Die Legitimation des NATO-Interventionskrieges mit humanitären Gründen und als Einsatz zur Verteidigung der Menschenrechte ist nicht glaubhaft. Die Argumente seien nur stichwortartig genannt:

  • Die fehlende Präventionspolitik macht humanitäre Sorge unglaubwürdig.
  • Die brutale rassistisch-nationalistische Kriegs- und Vertreibungspolitik Belgrads unter Milosevic war seit dem Bosnien-Krieg allgemein bekannt. Es war deshalb gut vorhersehbar, mit welcher Strategie, nämlich der brutalen Vertreibung der KosovarInnen, Belgrad auf den brutalen technologischen Krieg der NATO antworten würde. NATO-Oberbefehlshaber Clark bestätigte ausdrücklich, dass die Tragödie der Flüchtlinge „völlig vorhersehbar“ gewesen sei.2 Trotzdem wurde die Bombardierung angeordnet, Vertreibung und Mord in Kauf nehmend. Die Kriegsopfer überstiegen bei weitem die Opfer des vorhergegangenen Sezessionskrieges.
  • Der Bombenkrieg der NATO führte nicht nur zu Opfern unter der serbischen Zivilbevölkerung. Er zerstörte auch systematisch wichtige Teile der zivilen Infrastruktur in Jugoslawien und damit Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Insgesamt kann dieser Krieg nicht als kleineres Übel ausgegegeben werden.
  • Der Krieg zerstört alle bis dahin noch vorhandenen sozialen Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen. Auf lange Zeit wird kein innerer Frieden mehr möglich sein.
  • Führende NATO-Staaten waren vorher im Bosnien-Krieg selbst in die Vertreibung von über 200.000 SerbInnen aus der Krajina unter ähnlich grausamen Bedingungen einbezogen gewesen, hatten also »ethnische Säuberung« unterstützt. Im Irak wird nach wie vor der dortige Konflikt besonders durch die USA und Großbritannien ohne Rücksicht auf Menschenrechte fortgeführt, von anderen Weltregionen ganz zu schweigen. Wieso sollten die NATO-Staaten plötzlich zu Kämpfern für die Menschenrechte mutiert sein und dafür schwere Belastungen auf sich nehmen?
  • An dem NATO-Interventionskrieg beteiligte sich auch der NATO-Partner Türkei, der im eigenen Lande seit vielen Jahren in brutalster Weise die kurdische Minderheit verfolgt, obwohl diese schon seit geraumer Zeit dem Separatismus abgeschworen und politische Friedenslösungen angeboten hat.
  1. Die Demokratisierung und die Sicherung von Menschenrechten sind auf das engste mit der Erhaltung einer pluralen Öffentlichkeit verbunden. Die angeblich humanitär motivierte Kriegführung der NATO-Staaten bedurfte jedoch zur Sicherung ihrer Glaubwürdigkeit einer hoch manipulierten Öffentlichkeit und trug damit zur Entmündigung der BürgerInnen bei. Es entstand ein spiegelbildlicher Prozess der Entdemokratiserung hier wie auch in Serbien, wo der Krieg zur Unterdrückung der Opposition genutzt wurde.

Die Kosovo-Intervention der NATO ist wie im Golf-Krieg mit einem großen medialen Aufgebot begleitet worden. Dabei stand den Inhalten nach, aber auch nach der verwendeten Begrifflichkeit, die Legitimation des Krieges ganz im Vordergrund. Kritische Sichtweisen wurden insbesondere in den großen Medien und im Fernsehen weitgehend ausgeblendet: So die Tatsache des durch die UCK angeheizten Sezessionskrieges ebenso wie auch die Inkaufnahme der Vertreibung der KosovarInnen durch Belgrad, ausgelöst durch die NATO-Bombenangriffe. Die Ermordung von KosovarInnen wurde mit den KZs der Nazis in Verbindung gebracht, während die Ermordung von SerbInnen durch NATO-Bomben als »Kollateralschaden« verharmlost wurde. Die KritikerInnen des NATO-Interventionskrieges wurden diffamiert indem sie in die Nähe der serbischen Barbarei gerückt wurden.

  1. Vermittlung zur Deeskalation und Überwindung von Konflikten kann weder durch Bombendrohung noch durch Parteinahme für eine rassistisch-nationalistische Seite erreicht werden. Erforderlich ist eine Vermittlung zur für beide Seiten vorteilhaften Kooperation und Versöhnung. Durch die Parteinahme zugunsten militanter, rassistisch-nationalistischer KosovarInnen hat die NATO selbst ihre Möglichkeiten zur Erreichung einer angemessenen Autonomie für den Kosovo verspielt, einer wichtigen Voraussetzung für Stabilität und Kooperation auf dem Balkan.

Die Forderung der NATO-Staaten an Belgrad, dem Kosovo wieder einen weitgehenden Autonomiestatus innerhalb Serbiens zu gewähren, traf auf die Befürchtungen in Belgrad, die Autonomie würde zur Vorstufe für eine Unabhängigkeit des Kosovo werden. Gleichzeitig befürchteten die KosovarInnen, dass sie damit ihr Ziel der Unabhängigkeit aufgeben und bei geänderter internationaler Konstellation auch wieder der Repression durch Belgrad unterworfen werden würden. Diese Konstellation bedurfte also einer Strategie der Vertrauensbildung, der Einbettung von Lösungen in größere internationale Zusammenhänge und Institutionen, der Zurückdrängung rassistisch-nationalistischer Einstellungen auf beiden Seiten und einer nach beiden Seiten offenen und verständnisvollen Vermittlung. Die NATO-Staaten haben sich jedoch de facto auf die Seite der UCK – nicht der KosovarInnen mit ihrem gewählten Präsidenten Rugova – gestellt und frühzeitig Belgrad mit militärischen Sanktionen bedroht. In Rambouillet und Paris machten sie die UCK »hoffähig«. Die erklärte Strategie der UCK, die allein zu schwach war um die Unabhängigkeit des Kosovo gegenüber Belgrad durchzusetzen, bestand darin, den militärischen Konflikt zu eskalieren und die NATO auf ihre Seite gegen Belgrad zu ziehen. Das ist ihr in der Tat gelungen.

  1. Die Rückkehr westlicher Politik hin zur Einschaltung des UN-Sicherheitsrates war eine sinnvolle Wendung und könnte andeutungsweise als eine Infragestellung der NATO-Selbstmandatierung verstanden werden; wäre da nicht die neue NATO-Doktrin, verabschiedet zum 50. Gründungstag, in der eben dieser Selbstmandatierungsanspruch weiter festgeschrieben wurde und wäre da nicht der Kosovo, in dem weiter danach gehandelt wird. Eine öffentliche Änderung dieser Haltung und damit eine deutliche Bereitschaft der NATO, die UN-Satzung einzuhalten, ist dringend geboten.

Die Selbstmandatierung der NATO und die Umgehung des zuständigen UN-Sicherheitsrats wurden damit gerechtfertigt, Menschenrechte müssten notfalls auch gegen die Souveränitätsansprüche der Staaten durchgesetzt werden. In diesem Zusammenhang wurde von der Notwendigkeit eines neuen internationalen Rechts gesprochen. In der Tat ein wichtiger Problemkomplex, werden doch die meisten Menschenrechtsverletzungen durch Staaten begangen. Durch den Rechtsbruch der NATO entsteht nun aber nicht neues Recht, sondern nur ein Faustrecht der Stärkeren. Es wird das Gewaltverbot der Vereinten Nationen beschädigt wenn Staaten oder Staatenbündnisse zur Durchsetzung ihrer Ziele militärische Gewalt im eigenen Ermessen einsetzen.

Eine begrenzte de facto-Revision dieser schädlichen Haltung hat sich durch die Bemühungen nicht zuletzt der deutschen Bundesregierung ergeben, den Forderungen der UN-Vetomächte Russland und China zu entsprechen und vor einer Beendigung der Kampfhandlungen eine Resolution des Sicherheitsrates zu dem Konflikt zu verabschieden. Trotzdem wurde der Fall nicht wirklich an die UN übergeben. Die NATO behielt ihre Funktion als »Ordnungsmacht der Region« bei und bemühte sich im Kosovo um die Ausgrenzung Russlands und seines Truppenkontingents.

  1. Die Selbstmandatierung der NATO droht zu einer Ausweitung der globalen Aufrüstung bis hin zu einer Weiterverbreitung von Atomwaffen zu führen. Niemand, außer der Rüstungsindustrie und den Rüstungsexporteuren (USA und Deutschland sind mittlerweile die beiden größten Rüstungsexporteure der Welt), kann daran Interesse haben, zumal damit der Militarisierung internationaler Politik enormer Vorschub geleistet wird. Auch aus dieser Sicht ist diesem Rechtsbruch auf allen Ebenen entgegen zu treten und eine Rücknahme der neuen NATO-Doktrin zu fordern.

Vielen UN-Mitgliedsstaaten signalisieren die Selbstmandatierung der NATO und die Missachtung der UN-Satzung, dass die mächtigsten und reichsten Industrieländer ihre Gewaltmittel nach ihren Interessen einzusetzen gedenken und sich damit nicht mehr an wichtige Teile des internationalen Rechts gebunden fühlen. Die offiziellen Nuklearmächte hatten schon in den vergangenen Jahren nicht die Bedingungen des nuklearen Sperrvertrages eingehalten und auf ihre eigenen Kernwaffen verzichtet.

Das Verhalten der NATO-Staaten könnte andere Regionalstaaten zur Nachahmung reizen. Potente Staaten könnten darüber nachdenken, ob angesichts dieser Machtpolitik nicht einzig der Besitz von Atomwaffen sie vor einer Intervention schützt.

  1. Eine Vielzahl von Interessen sind mit dem Krieg gegen Jugoslawien verbunden. Sie sind insgesamt wahrscheinlich weit folgenreicher als die öffentliche humanitäre Interventionsbegründung. Die politische Diskussion muss sich deshalb stärker als bisher auf die klandestinen Kriegsinteressen konzentrieren um zu einer eigenen Beurteilung der Vorgänge und Strategien zu gelangen.

Kriege bündeln eine Vielzahl von Interessen, die sich während des Kriegsverlaufs verändern können. Hier stichwortartig einige der Interessen, die immer wieder in Diskussionen aufgetaucht sind:

  • Exemplarische und abschreckende Demonstration der Bereitschaft und Fähigkeit der NATO, »Schurkenstaaten« (Pentagon-Jargon) durch Luftkrieg auf die Knie zwingen zu können, ohne eigene nennenswerte Personenverluste der NATO.
  • Erprobung neuer Waffensysteme in der Praxis (z.B. der Einsatz von Cluster-Bomben, die Tausende als Minen wirkende Explosionskörper verstreuen).
  • Spezifische Interessen des Militärs oder der verschiedenen militärischen Gattungen im Ringen um die Zuweisung von Mitteln für Zukunftsprojekte der Aufrüstung.
  • Förderung der militärischen Kooperation und qualitativen Aufrüstung in EU-Europa zur Stärkung der europäischen NATO-Säule.
  • Ausgrenzung Russlands aus den entscheidenden Machtzusammenhängen und Degradierung als Weltmacht.
  • Förderung einer weiteren NATO-Osterweiterung durch Ost- und Südosteuropäische Staaten, die hoffen, so auf die Siegerseite zu gelangen. Damit verbunden wäre eine weitere Isolierung Russlands.
  • Geostrategische Interessen wie die Sicherung eines durchgehenden Zugangs zum ölreichen Kaspischen Meer durch die Zerschlagung des Milosevic-Regimes und die Einbindung Rest-Jugoslawiens in die westliche Einflusszone.
  • Ein spezifisches Teil-Ziel der US-Politik dürfte gewesen sein, Außenpolitik deutlich auf die Ebene von Militärpolitik zu heben, dadurch die Führungsrolle der USA zu stärken und den europäischen NATO-Staaten ihre weitgehende Abhängigkeit von den US-Militärpotenzialen vor Augen zu führen.
  • Einige – bereits von der Kohl-Regierung angepeilte – spezifisch deutsche Ziele wurden mit diesem Krieg erreicht: Abbau der Begrenzungen für Militäreinsätze, Stärkung der Position der Bundeswehr innerhalb der NATO, die Stärkung Deutschlands als Hegemonialmacht in der EU.
  1. Die Genfer Abkommen zur Einhegung des Krieges sind sicherlich bedeutungsvoll, laufen aber den tatsächlichen Kriegsverläufen mit ihrer ständigen Modernisierung von Waffen und Strategien hinterher. Die Einführung eines effizienten, unabhängigen Völkerstrafrechts, das sowohl die Kriegsverbrechen der Starken und der Schwachen richtet, ist eine dringende Aufgabe. Selbst wenn es nicht gelänge, alle Verantwortlichen tatsächlich zu bestrafen, hätte es doch die wichtige Funktion eines Tribunals auf dem die Verbrechen verhandelt würden. Eine Instrumentalisierung solcher Strafgerichtsbarkeit im Sinne politisch-selektiver Anklagen durch die stärksten Mächte würde eine solche Instanz allerdings diskreditieren und muss verhindert werden.

Während des Krieges wurde, sicher zu Recht, Jugoslawiens Präsident Milosevic vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagt. Viele haben dies begrüßt, die Anklage jedoch auch als einen einseitigen Akt des Westens im Rahmen psychologischer Kriegsführung verstanden. Milosevic war im Rahmen der NATO-Propaganda die Personifizierung des Bösen. Nun wurde der Böse angeklagt. Aber warum wurde nicht auch Anklage erhoben gegen den kroatischen Präsidenten Tudjman? Warum nicht gegen die US-amerikanischen und deutschen Verantwortlichen, die an der Vertreibung der Krajina-SerbInnen eine Mitschuld haben? Warum nicht gegen jene, die für den Einsatz der Clusterbomben der NATO verantwortlich sind und damit für den Tod vieler ZivilistInnen? Die Liste kann fortgesetzt werden.

  1. Eine eigenständige EU-Außen- und Sicherheitspolitik ist nicht möglich wenn sie auf der militärischen Ebene angesiedelt ist. Da hilft auch keine EU/WEU-Aufrüstung, wie sie jetzt vorgesehen ist. Entscheidend für eine europäische Friedens- und Stabilitätspolitik ist der Ausbau einer Gesamteuropäischen Friedensordnung, welche nicht mehr die NATO als Ordnungsmacht hat, sondern alle Staaten der OSZE-Region einbezieht, die Möglichkeiten der OSZE ausbaut und sie zum Zentrum einer vielfältigen zivilen Konfliktbearbeitung macht.

Die europäischen NATO-Staaten haben ihre militärische Unterlegenheit gegenüber der NATO-Führungsmacht USA im Kosovo-Konflikt deutlich erfahren. Wie es aussieht, haben sie daraus die Schlussfolgerung gezogen, die EU als Militärmacht stärker auszubauen unter besonderer Berücksichtigung einer eigenständigen EU-Militärinterventionsfähigkeit. Dem entspricht die Berufung des bisherigen NATO-Generalsekretär Solana zum »Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP).

Die westeuropäischen Regierungen missachten damit andere wichtige Erkenntnisse aus dem Balkankrieg: Sie haben z.B. ein Stück »Mitbestimmung« (gegenüber der absoluten Dominanz der USA) nur dadurch wiedergewinnen können, dass sie unter maßgeblicher Beteiligung der deutschen Regierung eine politische Initiative zur Beendigung des Krieges ergriffen haben. In diesem Prozess wurden die Vereinten Nationen wieder einbezogen, China als Veto-Macht berücksichtigt und Russland als Einflussmacht der Region aufgewertet. Es war eine politische Initiative, die zu einer Beendigung des Krieges führte und die damit auch erreichte, dass es nicht zu dem militärisch bereits angedachten (verlustreichen) Bodenkrieg kam.

  1. Mit dem Stabilitätspakt ist ein wichtiges Instrument ziviler Konflikbearbeitung geschaffen worden, an dem ganz Europa lernen kann, seine Konflikte in moderner Weise, nämlich ohne militärische Mittel, zu bearbeiten. Jetzt kommt es darauf an diesen Ansatz positiv und kreativ, aber auch kritisch zu begleiten. Arbeitsweisen und Methoden ziviler Konfliktbearbeitung auf allen Akteursebenen können dort entwickelt werden. Bei dieser Arbeit darf es keine Ausgrenzung nach »guten« und »bösen« Völkern geben. Alle Balkan-Staaten und -Völker, also auch das serbische Volk, müssen sich unter der Voraussetzung beteiligen können, dass sie sich verpflichten, auf Gewalt bei der Regelung ihrer Konflikte im Inneren wie im Äußeren zu verzichten. PartnerInnen in diesem Prozess dürfen nicht allein die Regierungen sein. Wichtig ist, auch die Gesellschaften angemessen einzubeziehen. So könnte in Südosteuropa wieder Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft einziehen und EU-Europa sich von einer verhängnisvollen Einbindung in eine Militär gestützte Außen- und Sicherheitspolitik befreien.

Am 10.6.99 verabschiedeten auf Vorschlag der EU unter deutscher Präsidentschaft 28 Staaten und internationale Organisationen einen »Stabilitätspakt für Südosteuropa«, in dem es u.a. heißt: „Der Stabilitätspakt zielt darauf ab, Staaten in Südosteuropa bei ihrem Bemühungen um die Förderung des Friedens, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte sowie des wirtschaftlichen Wohlstandes zu stärken, um Stabilität in der ganzen Region zu erreichen.“ Ein »Regionaltisch Südosteuropa« soll als Lenkungsorgan fungieren und »Arbeitstische« für verschiedene Themen bilden. Dies ist ein im Prinzip guter Ansatz, den übrigens die Friedensbewegung in Deutschland zusammen mit anderen Begleitmaßnahmen seit Jahren gefordert hat. Eine präventive Politik dieser Art hätte den Krieg vermeiden können und wäre weit billiger sowie entwicklungs- und stabilitätsträchtiger gewesen.

Wichtig ist jetzt, dass den Gesellschaften auf dem Balkan nicht ein westlicher Plan übergestülpt wird, sondern es ein Verfahren gibt, dass ihre Beteiligung auf allen Ebenen ermöglicht. Sensibilität der Geldgeber ist also gefragt. Höchst problematisch ist bereits, dass die Beteiligung Jugoslawiens von einem Sturz des Milosevic-Regimes abhängig gemacht wird. Damit ist nicht nur ein zentrales Land ausgeschlossen, damit verbunden ist auch eine Demütigung der serbischen Gesellschaft. Eine demokratische Entwicklung wird dadurch sicher erschwert. Richtig wäre es, die Teilnahme an inhaltliche Bedingungen zu knüpfen, wie z.B. den Verzicht auf Gewaltanwendung bei der Bearbeitung von Konflikten, und die serbische Gesellschaft unter diesen Bedingungen wie alle anderen zur Teilnahme einzuladen.

Anmerkungen

1) Pradetto, August: Konfliktmanagement durch militärische Intervention? Dilemmata westlicher Kosovo-Politik, Studien für internationale Politik, Heft 1/98, Hamburg.

2) Le Monde diplomatique, Juli 1999, S. 2

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Besuch beim »Feind«

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Während des Krieges in Jugoslawien

von Horst Bethge

Während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien besuchte eine Gruppe von GewerkschaftskollegInnen aus der IG Metall, der IG Medien, der GEW und dem Chemiekreis vom 24.- 28. Mai auf eigene Kosten Novi Sad, Belgrad, Kragujevac, Nis und Aleksinac. Sie wollten sich vor Ort ein Bild von der Situation machen, von dem Leben der Bevölkerung, vor allem der GewerkschaftskollegInnen, von den Schäden durch Bombardements und den Opfern. »Dialog von unten statt Bomben von oben« hieß das Motto der Reise, in deren Mittelpunkt das Gespräch mit ArbeiterInnen und Angestellten zerstörter Betriebe, mit GewerkschafterInnen, LehrerInnen, WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und JournalistInnen, mit VertreterInnen von Menschenrechts- und Friedensgruppen, der Grünen und anderer Parteien und natürlich auch mit ganz normalen PassantInnen stand.

Umstritten war diese Reise. „Du willst wirklich zum Feind fahren?“… „Du kannst dich doch dort nicht frei bewegen und keine offenen Gespräche führen!“… „Du wirst dort nur missbraucht!“ So oder ähnlich reagierten viele KollegInnen wenn sie von unserer Reiseabsicht hörten. Der GEW-Landesvorstand Hamburg gab per Beschluss der Erwartung Ausdruck, dass „den serbischen Gesprächspartnern die Haltung der GEW gegenüber der offiziellen serbischen Vertreibungspolitik im Kosovo nachdrücklich deutlich gemacht wird.“ Einige von uns hatten schon in den Zeiten des Kalten Krieges das Gespräch über die Grenzen hinaus gesucht und wir wollten uns auch diesmal selbst ein Bild von der Situation vor Ort machen, erfahren, was die KollegInnen auf der anderen Seite im Krieg erleben und denken.

Und dann saßen wir bei diesen KollegInnen. Wir führten unsere Gespräche bei Kerzenschein, wenn gerade ein Kraftwerk getroffen worden war, verabschiedeten hastig den ehemaligen Bildungsminister, weil er zu seinem Enkel heim eilte, der bei Luftalarm allein zu Hause geblieben war, schliefen nachts nicht, weil wir beim Heulen der NATO-Flugzeuge und dem Krachen der Missiles Angst hatten, zuckten mitten im Gespräch zusammen, wenn wieder eine Rakete in der Nähe einschlug, verließen bei Luftalarm mit den ArbeiterInnen der Zastava-Autofabrik eilig das Werk, sahen die hell erleuchtete AWACS am Himmel, konnten Fabrikgelände nicht betreten, weil sie voller Kassetten-Splitter-Bombenblindgängern steckten und tappten mit Taschenlampen durchs völlig dunkle Hotel. Sirenengeheul erhielt für uns eine neue Bedeutung: Jisella und Mirella nennen es die Kinder in Kragujevac (Jisell = Anfang vom Wahnsinn = Luftalarm, Mir = Frieden = Entwarnung).

In Nis hörten wir von der Bergarbeiterstadt Aleksinac, in der NATO-Rakten 36 Häuser ganz zerstört und 17 EinwohnerInnen getötet hatten. Spontan entschlossen wir uns, den Umweg in Kauf zu nehmen. Allein in der Dujan-Trivunac-Straße waren 120 Wohnungen nicht mehr bewohnbar. Zögerlich und stockend erzählten uns die AnwohnerInnen von dem Angriff, zeigten uns die an die Laternenpfähle geklebten Todesanzeigen. Wie im Süden üblich, mit Foto, Alter und Nachruf. Immer wieder dasselbe Todesdatum. Ganze Familien sind darunter. Hinzutretende Jugendliche sagten nur kurz: „NATO, NATO, NATO!“

Die Kinder von Aleksinac

Trotz Zeitdrucks sahen wir uns noch das Kellertheater an. Vor acht Jahren war Oliveira Osmanovic nach Deutschland geflohen und drei Tage vor dem Angriff wegen des Osterfestes zurückgekehrt, um mit ihrer Familie Ostern zu feiern. Jetzt erklärte sie uns: „Jugendliche und örtliche Künstler spielen jeden Dienstag und Donnerstag in diesem Luftschutzkeller für die Kinder, um sie mit improvisierten und clownesken Szenen wenigstens stundenweise zum Lachen zu bringen. Das Theater heißt »Smeschko« = Lächeln.“

Später erfuhren wir vom Vorsitzenden der Lehrergewerkschaft, Jagow Bulatovic, dass bis zum 18.05.99 rund 200 Grund- und 60 Mittelschulen, 40 Kindertagesstätten, 15 Fakultäten und 60 Studierenden- und Schülerheime zerstört wurden. Die Gewerkschaft dränge deshalb SchulpsychologInnen und SozialarbeiterInnen, damit sie mit den Kindern die Folgen des Krieges aufarbeiten, auch mit künstlerischen Mitteln.

Überall in diesem eilig hergerichteten Luftschutzkeller, ein ganz normaler, etwas feuchter Hochhauskeller, lagen Luftmatratzen, Decken und Kinderschlafsäcke auf der Erde. Denn bei Fliegeralarm sind alle Kinder in den Kellern. Die Initiative ging hier vom örtlichen Roten Kreuz aus und so erfuhren wir fast nebenbei, dass seit Beginn des Krieges alle Kontakte zum _eutschen Roten Kreuz abgerissen sind. Nur GriechInnen und ÖsterreicherInnen haben nach dem Bombardements Geld und Hilfsgüter geschickt. Spontan spendeten wir dem Kellertheater 1000 Mark.

Als wir einige Tage später abends auf dem Flughafen wieder in Hamburg eintreffen, sagte ein uns abholender Kollege: „Eben habe ich aus dem Internet erfahren, dass sie Aleksinac wieder bombardiert haben. Wieder ein Wohnviertel. Es hat Tote gegeben.“ Uns fallen Namen ein: Jana, Miodrag, Oliveira. Sind sie noch einmal davongekommen?

Vom Leben im Sandwich

Im heutigen Jugowlawien gibt es rund 200 politische Gruppen und Parteien und 30 Ethnien. Die parteipolitische Vielfalt ist breiter als bei uns: Von Neokommunisten über Neue Grüne, der sich jetzt spaltenden Liberalen Partei Djindic' bis hin zu den Royalisten des Vuc Drascovic und den faschistischen Nationalisten der Radikalen Partei Vojslav Seseljs. Milosevic' Partei hat im Lande nicht die absolute Mehrheit (einige sprachen von etwa 27 %). Er regiert mit einem Allparteienkabinett. Die Städte Novi Sad, Belgrad, Nis, Kragujevac, die wir besuchten, werden seit den letzten Kommunalwahlen von Oppositionsbündnissen regiert. Dazu kommen viele soziale, Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die den Menschenrechts- und Friedensgruppen in der BRD vergleichbar sind.

Mit VertreterInnen vieler dieser Parteien, Gruppen und verschiedener Gewerkschaften haben wir gesprochen. Ausnahmslos alle unsere GesprächspartnerInnen verurteilten das NATO-Bombardement und bezeichneten es als absolut kontraproduktiv für eine demokratische Entwicklung. Stichworte aus meinen Aufzeichnungen dazu: „Konflikte müssen mit einem Dialog enden, warum hat man ihn nicht gleich nach 1991 begonnen?“ …“ Die Seminare und Begegnungen, die wir seitdem gemacht haben, auch in Kroatien, im Kosovo, auch gemeinsam mit Albanern und Kroaten, zeigen, dass es lange dauert, um zu einem wirklichen Dialog zu kommen. Die verschiedenen Nationalismen schaukeln sich gegenseitig hoch. Aber das Bombardement bringt auf keinen Fall die Demokratie, jetzt sind alle Leute zusammengeschweißt“ … „Wirtschaftsembargo und Krieg fördern den Schwarzmarkt und die Korruption. Kriegsrecht fördert die bei uns herrschende sanfte Diktatur“ … „Der Krieg stärkt autokratische Strukturen, wie sie Milosevic förderte.“ … „Das NATO-Bombardement hat keinem einzigen Albaner geholfen. Aus Bosnien wissen wir, wie schwer es ist, Flüchtlinge in zerstörten Gebieten wieder anzusiedeln.“ … „Wir wollen eine von uns selbst entwickelte Demokratie und keine amerikanische Erzwingungsdemokratie.“ … „Der Westen hat nie ernsthaft unsere demokratische Opposition unterstützt. Weder als vor zwei Jahren Tausende auf den Straßen demonstrierten, noch den gewaltfreien Widerstand der Kosovaren unter Rugova, der immerhin 8 Jahre andauerte.“ … „Wir verstehen vor allem die Deutschen nicht. Ihr wisst doch, dass wir zu Europa gehören. Ihr kennt uns und unser Land.“ ï „Unsere Kultur ist viel älter als die amerikanische. Hier gab es schon Klöster als Amerika erst entdeckt wurde.“

Vertreter von Menschenrechtsgruppen sprachen von der »soften Diktatur« im alten Jugoslawien, in der die Lage der Menschenrechte nie besonders gut war, aber auch nicht so schlecht wie in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Sie berichten von Vertreibungen durch serbische Tschetniks und albanische UCK und sie weisen daraufhin, dass bei derselben Verfassungs- und Gesetzeslage das multiethnische Zusammenleben in der Vojvodina u.a. deshalb besser klappte, weil dieser Landesteil wirtschaftlich florierend und ohne große Arbeitslosigkeit war.

Immer wieder das Fazit: Der Westen hat die Opposition sich selbst überlassen. Der Elektronikprofessor, der in Bochum studiert hat, und der Belgrader Soziologe fragten denn auch: „Warum werden wir seit einigen Jahren nicht mehr zu wissenschaftlichen Kongressen eingeladen? Warum kommt kein Fachkollege zu uns? Warum behandelt Ihr uns wie Aussätzige, nur weil wir in Serbien leben?“ Wir konnten es ihnen nicht beantworten aber wir verstanden etwas besser, was damit gemeint war, wenn man uns sagte: „Wir leben im Sandwich – zwischen zwei arroganten Mächten. Der NATO am Himmel und Milosevic am Boden.“ Wir verstanden den Professor, der formulierte:„To cut connections with people, it is absolut stupid.“ und den Kollegen der forderte, „das Bombardement muss schnell aufhören, damit wir wieder eine öffentliche Debatte hin bekommen.“

Bei serbischen Gewerkschaften

Wir sprachen mit GewerkschafterInnen der verschiedenen Ebenen und Gewerkschaften (Jugoslawische Gewerkschaftskonföderation, Serbischer Gewerkschaftsbund, Gewerkschaften der Vojvodina, der Ortskartelle von Novi Sad, Nis und Kragujevac, Betriebs- und Abteilungsgewerkschaften sowie verschiedener unabhängiger Gewerkschaften, z.B. Nezavistnos und der Bildungsarbeitergewerkschaft). Alle Gespräche waren sehr offen und freimütig, teilweise spontan von uns verabredet. Sie wurden auf Deutsch, Englisch und Serbokroatisch geführt, übersetzt von unserem eigenen Dolmetscher oder den BegleiterInnen des Jugoslawischen Gewerkschaftsbundes (von denen einer bis zu seinem Vorruhestand bei der Zentralstelle für ausländische ArbeitnehmerInnen beim DGB-Bundesvorstand in Düsseldorf beschäftigt war).

Zu den jugoslawischen Gewerkschaften ist allgemein zu sagen, dass sie erhebliche Rechte, vor allem auf betrieblicher Ebene, haben und wahrnehmen (Mitentscheidung über Investitionen und Gewinnausschüttung, Tradition des spezifischen jugoslawischen Betriebssyndikalismus). Wer irgendeine, auch betriebliche Funktion in der Gewerkschaft hat, muss seine evtl. Mitgliedschaft in einer politischen Partei ruhen lassen bzw. darf während seiner Amtszeit nicht in eine Partei eintreten. Seit Oktober 1998 gibt es zugespitzte Auseinandersetzungen um Sozial- und Lohnfragen zwischen Gewerkschaften und Regierung. Für den 02. Mai war ein Generalstreik vorbereitet, der auf Grund der NATO-Bombardements zurückgestellt wurde.

Alle GesprächspartnerInnen betonten, dass das NATO-Bombardement die ArbeitnehmerInnen in eine hoffnungslose Lage gebracht habe: Es wurden nahezu 600.000 Arbeitsplätze vernichtet. Die Metallarbeitergewerkschaft legte uns eine Liste mit 30 bis zum 14.04 schwer beschädigten oder zerstörten Betrieben vor. Unter den Betrieben sind Batteriefabriken, das Wasserpumpenwerk, eine Kühlschrankfabrik und ein Heizlüfterwerk. Alleine in den Metallbetrieben wurden 75.470 Arbeitsplätze zerstört, davon direkt betroffen sind 301.700 Familienangehörige. Wer wegen Ausbombung seines Werkes arbeitslos wurde, erhielt DM 10.- monatlich als staatliche Arbeitslosenunterstützung. Staatliche Großbetriebe gaben aus den Betriebssozialkassen pro Beschäftigten DM 3o.- dazu. Damit ist eine große Massenarmut vorprogrammiert. Am bedrückendsten aber war, dass die Kolleginnen und Kollegen für sich keine Zukunft sehen. Immer wieder die Frage: „Wer soll denn den Aufbau der Betriebe finanzieren?“

Dazu kam das Bedauern, dass die Kontakte zu ausländischen KollegInnen abgerissen sind, dass die internationalen Gewerkschaftsbünde die Mitgliedschaft der serbischen Gewerkschaften suspendiert haben oder ruhen lassen, dass in Briefwechseln der westeuropäischen Gewerkschaften fast Wort getreu NATO-Positionen übernommen und für den NATO-Angriff argumentiert wurde. Die KollegInnen erinnerten an die interessanten Diskussionen in der Vergangenheit, als es um den jugoslawischen »Dritten Weg« und ihre direkte Betriebsdemokratie ging und sie kritisierten, dass die westeuropäischen Gerwerkschaften heute nicht stärker differenzieren, wenn es um die verschiedenen politischen Kräfte in Jugoslawien geht.

Eine Differenzierung, die aber dringend erforderlich ist, wie unsere Gespräche gezeigt haben. Wir konnten selbst unsere Route und GesprächspartnerInnen bestimmen, ungehindert diskutieren und alle KollegInnen waren offen für alle gewerkschaftlichen und politischen Fragen und Diskussionen. Niemand leugnete große ethnische Probleme, alle sahen große Probleme auf Grund der Flüchtlingsströme. Verständlich, dass sie dabei aber auch auf die großen Flüchtlingsströme nach Serbien hinwiesen, immerhin rund 600 000 Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien. Bei einigen GesprächspartnerInnen ging die Bereitschaft über ethnische Säuberungen und Vertreibungen zu diskutieren allerdings sofort zurück, wenn wir pauschalisierten und z. B. von »serbischen Vertreibungen« redeten. Nicht selten hörten wir dann: „Entschuldige, ich bin auch Serbe und vertreibe niemanden!“

In allen Betrieben und Einrichtungen, die wir besuchten, arbeiteten KollegInnen verschiedener Ethnien bis heute zusammen. Vielleicht lag es auch daran, dass wir viele Beispielen für gelungene und misslungene Integration verschiedener Ethnien erfuhren. Durchweg erlebten wir eine kritische Position zu den »Radikalen«, den fanatischen NationalistInnen auf albanischer, serbischer und kroatischer Seite, die mögliche Lösungen torpedierten und immer wieder für neue Zuspitzungen sorgten.

Auffallend auch die kritische Distanz zur Parteipolitik. Begriffe, wie »Politiker« oder »politisch« standen immer wieder synonym für korrupt, machtbesessen, zuerst die eigene Seilschaft, Familie, Region fördernd.

Fazit

Wir waren ZeugInnen eines hochmodernen Krieges und haben die Folgen für den »Normalbürger« im Lager des Gegners gesehen. Folgen, wie in anderen Kriegen auch: Tod, Verwundungen, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

Wir haben erlebt, wie Sprache verharmlosen und technische Lösungen suggerieren kann. Ein Krankenhaus, das viermal bombardiert wurde, eine Schule auf die dreimal Bomben fielen – »Kollateralschäden«. DialysepatientInnen, deren Geräte wegen Stromausfall nicht mehr funktionierten, Frischoperierte, die nach Bombardierungen in Privatwohungen verlegt werden mussten – »Kollateralschäden«. Splitterbomben auf einem Marktplatz und zerstörte Fabriken, die wegen Blingängern nicht mehr betreten werden konnten – »Kollateralschäden«.

Wir haben erfahren, wie Nachrichten gefiltert wurden und die NATO ihren Monopolanspruch zur Nachrichtenübermittlung durchzusetzen versuchte. Deshalb das Unterbinden der Verbreitung serbischer Positionen durch die systematische Zerstörung des serbischen Fernsehens, deshalb der Ausschluss dieses Fernsehens aus der Europa-Satelliten-Kette und der Versuch die Serben aus dem Internet auszuschalten. Und wir erlebten Zensur direkt. Ein deutscher Korrespondent auf unserer Pressekonferenz in Belgrad: „Ich mache natürlich einen Bericht über Sie. Aber ob er gebracht wird, weiß ich nicht. In 4o Jahren Berufserfahrung – und ich war Korrespondent auf mehreren Kriegsschauplätzen – hab ich noch nie eine so große Zensur der Heimatredaktionen erlebt wie jetzt.“

Wir wollten auch Pristina besuchen. Wir haben auf Grund der verstärkten NATO-Bombardements dann doch darauf verzichtet. Doch auch so erfuhren wir von der wachsenden Entvölkerung des Kosovo, einer Entvölkerung durch Vertreibung und Flucht (vor serbischen und albanischen Milizen und den Bomben der NATO). Ein ungeheures Anwachsen der Flüchtlingsbewegung, zu deren Verhinderung angeblich der Krieg begonnen wurde. Hätte es noch eines zusätzlichen Beweises bedurft, dass Krieg keine Probleme löst, hier wurde er geliefert.

Was in der Propaganda als »humanitäre Intervention« verkauft wurde – für uns stellte es sich in allen Bereichen als eine humanitäre Katastrophe für die Betroffenen dar – für SerbInnen und KosovarInnen. Die Bomben haben nicht Milosevic getroffen, sondern SerbInnen, UngarInnen, MazedonierInnen, AlbanerInnen, Roma und Sinti usw. – eben die ganz normale Bevölkerung Jugoslawiens. Jetzt geht es um den Wiederaufbau und da darf Jugoslawien nicht ausgeklammert werden – wie es allen voran die Bundesregierung fordert. Die Ausklammerung Jugoslawiens aus Wiederaufbauprogrammen würde erneut in erster Linie die einfachen Menschen treffen. Diese werden hungern und frieren, wenn es keine Hilfe gibt, nicht die Regierung Milosevic.

Die Herrschenden haben versucht die Begriffe von Solidarität, Humanität und Internationalismus im Interesse einer Kriegspolitik umzuwerten, sie für ihren Interventionismus zu instrumentalisieren. Jetzt wird sich zeigen, was wirkliche Solidarität ist, in der humanitären Hilfe für alle Opfer dieses Krieges, ungeachtet ihrer Nationalität.

Horst Bethge ist Mitglied im geschäftsführenden Ausschuss der GEW Hamburg und aktiv in der Koordination der Internationalen PädagogInnen-Friedensgruppen sowie Bildungspolitischer Sprecher der PDS

Umwelt: Langfristig kriegsbeschädigt

Umwelt: Langfristig kriegsbeschädigt

von Gina Mertens

Auch wenn es zur Zeit noch schwierig ist, genaue Untersuchungen und zuverlässige Messwerte zu erhalten, so lässt sich dennoch feststellen, dass in Jugoslawien als Folge der NATO-Bombardments schwerwiegende Schäden mit langfristigen Folgen für die menschliche Gesundheit – gerade auch für nachfolgende Generationen – und die natürliche Umwelt entstanden sind. Zu diesem Schluss kommt auch das Umweltbundesamt in einem internen Bericht1 an das Umweltministerium. Eine Veröffentlichung dieses Berichtes hätte wohl zur Folge gehabt, dass das Argument der »Humanitären Intervention« – welch Orwellscher Euphemismus! – noch stärker in Frage gestellt worden wäre. Mehr und mehr wird jetzt deutlich, dass die NATO einen Umweltkrieg geführt und damit klar gegen die Genfer Konvention verstoßen hat, in der es u.a. heißt: „Bei der Kriegsführung ist darauf zu achten, dass die natürliche Umwelt vor ausgedehnten, lang anhaltenden und schweren Schäden geschützt wird. Dieser Schutz schließt das Verbot der Anwendung von Methoden oder Mitteln der Kriegsführung ein, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, dass sie derartige Schäden der natürlichen Umwelt verursachen und dadurch Gesundheit oder Überleben der Bevölkerung gefährden.“2 Hierfür werden sich NATO-Militärs und PolitikerInnen zu verantworten haben – Den Haag ist wohl vielen eine Reise wert.

Was ist in Jugoslawien konkret passiert? Welche Schäden sind wo und wodurch zu erwarten? Kurz-, mittel- und langfristige Schäden sind durch die Freisetzung unterschiedlicher Substanzgruppen entstanden:

Schäden durch Uran 238

Uran ist ein natürlich vorkommendes Schwermetall mit einer extrem hohen Dichte von 19,1 g/cm. Aufgrund dieser Eigenschaft eignet es sich waffentechnisch gesehen besonders gut, um Panzerungen aus Stahl zu durchdringen. Beim Auftreffen und Zersplittern solcher Urangeschosse kommt es zu einer Feinverteilung von Uranpartikeln, die sich dann selbst entzünden. Das getroffene Zielobjekt geht in Flammen auf und es entsteht giftiges Uranoxid. Dieses wird vom Menschen direkt durch die Mundschleimhaut, die Lunge oder über offene Wunden in den Körper aufgenommen. Dosisabhängig findet man bei solchen PatientInnen Symptome und Schweregrade einer Schwermetallvergiftung. Insbesondere sind dieses Nierenschäden, Nervenlähmungen, Schädigungen des Herzens, des Verdauungstraktes, der Kapillaren u.v.a.

Abgesehen von dieser sogenannten. chemotoxischen Wirkung wirkt Uran radiotoxisch, d.h. der Organismus wird zusätzlich durch Strahleneinwirkung geschädigt. Uran ist ein Alpha-Strahler mit sehr geringer Reichweite. Es wird in menschlichen Knochen wie Kalzium eingelagert. Durch Bestrahlung des Blut bildenden Knochenmarks können Leukämien, Anämien sowie Knochentumore entstehen. Uran wirkt embryoschädigend, da es die Plazentaschranke passieren kann. Fehlgeburten, Missbildungen und kindliche Tumorerkrankungen sind mögliche Folgen.3

Urangeschosse wurden erstmals 1991 im Golfkrieg eingesetzt. Das sogenannte Golfkriegssyndrom bei ehemaligen Soldaten wird damit assoziiert.4 Der Einsatz dieser Geschosse in Jugoslawien ist von mehreren NATO-Offiziellen bestätigt worden.5 Das jugoslawische Außenministerium berichtete über den Einsatz von Urangeschossen in der Region von Prizren am 30.3.1999 sowie in Bujanovic am 18.4.1999.6

Anders als im ursprünglichen Naturzustand, als Erz in und unter der Erde, liegt der Uranstaub frei an der Luft und wird immer wieder neu aufgewirbelt. Je nach Windverhältnissen kann er auch über Hunderte von Kilometern verteilt werden. Uranstaub kennt keine Grenzen. Im April wurden in Makedonien vom National Institute for Health Protection (NIHP) bis zu achtfach erhöhte Radioaktivitätswerte (Alpha-Strahlung) in der Luft gemessen.7

Uran hat eine Halbwertzeit von 4,5 Milliarden Jahren. Es strahlt also unendlich weit in die Zukunft und kann immer wieder neu von Menschen aufgenommen werden – ein Verbrechen an gegenwärtigen und nachfolgenden Generationen. Die UN-Menschenrechtskommission sieht dies ähnlich und beschäftigt sich seit Jahren in einem Unterausschuss mit der Ächtung dieser Munition.8

Zum Einsatz von Urangeschossen wäscht unser Verteidigungsministerium die Hände in Unschuld. In einem Antwortschreiben an die IPPNW vom 5.5.1999 heißt es: „Dem Bundesministerium der Verteidigung ist bekannt, dass sich Munition mit abgereichertem Uran im Bestand von alliierten Streitkräften befindet.“ Und etwas weiter: „Die Bundeswehr besitzt keine Munition, die abgereichertes Uran enthält. Es ist davon auszugehen, dass diejenigen Bündnispartner, die über solche Munition verfügen, diese im Rahmen der Verteidigung im Bündnis auch einsetzen. Es ist dem Bundesministerium der Verteidigung nicht bekannt, ob solche Munition im Rahmen der Lufteinsätze gegen die Bundesrepublik Jugoslawien verwendet wird.“ Ja hat denn das BMVg überhaupt danach gefragt oder hat es sich verhalten wie die berühmten drei Affen: Nichts hören, sehen und sprechen? Bloß keine Verantwortung. Es gab Abgeordnete, die fragten und keine Antwort erhielten.9 Wer bei einer Gewalttat einfach weg schaut und nichts dagegen unternimmt, trägt Mitschuld. Erst recht bei einer gemeinsamen Tat, die hier auch noch fälschlicherweise mit »Verteidigung des Bündnisses« umschrieben wird. Der Dreh, wir waren's nicht, das war doch die NATO, ist reichlich verdreht und auch keineswegs neu: Unter der Tarnkappe »NATO-Soldat« durften deutsche Soldaten auch in der Vergangenheit schon das, was sie als Deutsche gerade nicht dürfen, nämlich den Umgang mit Atomwaffen üben. Es wird so getan, als gäbe es eine eigenständige NATO-Staatsangehörigkeit! Die schlimme Schlussfolgerung dieser verqueren Logik ist, dass im NATO-Bündnis alles an Waffensystemen, wie furchtbar auch immer, eingesetzt werden kann, was mindestens ein Bündnispartner erlaubt. Ebenso beunruhigend ist die Tatsache, dass gewählte PolitikerInnen den Kriegseinsatz beschlossen haben, aber danach keine ausreichenden Informationen mehr erhalten (oder sich nicht darum bemüht haben).

Die UN-Kommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, hat der NATO angedroht, dass auch sie für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden kann.10 Wohl nicht mehr als ein kleiner Hoffnungsschimmer!

Schäden durch Bombardierung von Industriekomplexen

Im gesamten jugoslawischen Staatsgebiet sind gezielt Industrieanlagen, darunter Chemiewerke, Erdölraffinerien, Düngemittelfabriken, Treibstofflager und Kraftwerke, bombardiert worden. In der vertraulichen Studie des Umweltbundesamtes11 heißt es: „Es ist davon auszugehen, dass durch die Zerstörung dieser Anlagen die darin befindlichen Stoffe zu großen Teilen in die Umwelt gelangt sind.“ Man wusste also was man tat. Bei der Bombardierung von o. g. Industrieanlagen ist mit einer Unzahl freiwerdender Giftstoffe zu rechnen – angefangen von Giftgasen wie z.B. Chlorgas oder Vinylchlorid bis hin zu Dioxinen, Schwermetallen und Öl –, die Boden, Grund- und Oberflächenwasser und Luft belasten und schwere Folgen für die menschliche Gesundheit haben:

  • Beispiel Chlorgas: Verätzung der Schleimhäute, Atemnot und Tod durch qualvolles Ersticken;
  • Beispiel Ethylenchlorid: Hautausschläge, Leber- und Nierenschäden, zentrale Depression, krebserzeugende Wirkung;
  • Beispiel Dioxine: dosisabhängig Leberschäden (bis hin zum Tod im Leberkoma), Chlorakne, Krebs, Infertilität und schwere Missbildungen in den nachfolgenden Generationen, insbesondere Anenzephalie (Geburt ohne Gehirn, nicht lebensfähig), Anophtalmie (Augenlosigkeit), Lippen- Kiefer- Gaumenspalte, Phokomelie (Gliedmaßenmissbildung), Siamesische Zwillinge, Spina bifida (Rückenmarkdefekt). Insbesondere ist hier das als Seveso-Gift bekannt gewordenen 2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo-p-Dioxin (TCDD) zu nennen, welches auch Bestandteil vom im Vietnamkrieg angewandten Agent Orange war.

Da diese giftigen Substanzen sowohl in der Luft als auch im Grund- und Oberflächenwasser sowie im Boden freigesetzt werden ist mit einer lang anhaltenden Vergiftung und Verseuchung ganzer Ökosysteme einschließlich der Lebewesen zu rechnen.

Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen des Regional Environmental Center for Central and Eastern Europe (REC) kommt zu dem Schluss, dass die Umwelt im gesamten Staatsgebiet Jugoslawiens betroffen ist.12 Aber auch die Anrainerstaaten sind geschädigt. In Bulgarien ging z.B. vom 23.-26.5.1999 saurer Regen nieder als Folge der Brände in Jugoslawien. In die Donau wurde laut BBC News vom 19.4.1999 Ethylenchlorid abgelassen um Explosionen zu verhindern. Ebenso wurden Ölteppiche auf der Donau gesichtet.13

In der Monitor-Sendung vom 20.5.1999 berichtete Prof. Spyridon-Rapsomanikis (Universität Thessaloniki, Umweltchemiker) über eigene Messungen in Griechenland, bei denen bis zu fünfzehnfach erhöhte Werte in der Luft für Dioxine, Furane, PCB und andere Schadstoffe festgestellt wurden, die auf brennende Fabrikanlagen in Jugoslawien zurückzuführen sind. Man kann z.Z. nur spekulieren wie katastrophal die Werte dort vor Ort waren und sind.

Chemische Waffen sind aus guten Grunde geächtet. Die Produktion chemischer Waffen nahmen die USA in Libyen und dem Irak zum Anlass für Bombardements. Aber gibt es für die Betroffenen eigentlich einen Unterschied, ob sie direkt durch Chemiewaffeneinsatz sterben oder schwer geschädigt werden oder indirekt durch freigesetzte Gifte in Folge der Bombardierung von Industrieanlagen? Werden die verantwortlichen PolitikerInnen einmal die Stirn haben, einem Kind mit schweren Fehlbildungen und seinen Eltern ins Gesicht zu sagen: Tut mir leid, aber Du bist nun mal ein Kollateralschaden einer humanitären Intervention? Das ist kaum zu erwarten – von Kollateralschäden spricht in der Regel nur, wer fernab vom Elend und ohne persönliche Betroffenheit versucht die Folgen seines Handelns zu verschleiern.

Zusätzliche Schäden
der Ökosysteme

Auch der »ganz normale« Krieg hinterlässt schwere Schäden für das Ökosystem in Jugoslawien:

  • Die weitere Bodennutzung wird unabhängig von der chemischen Belastung auch durch Militärschrott wie ausgebrannte Panzer, Flugzeuge, Minen, Splitterbomben und Blindgänger erschwert. Durch die Bombardierungen wurden Krater aufgeworfen, die zur Bodenerosion beitragen.
  • Bedingt durch die Bombardierung von Energieunternehmen, Raffinerien, Treibstofflagern und die Zerstörung der Verkehrswege sind Energie und Treibstoff absolute Mangelware. Die Zerstörung der Heizkraftwerke trägt zusätzlich dazu bei, dass im kommenden Winter damit gerechnet werden muss, dass unzählige Wohnungen nicht ausreichend beheizt werden können. Abgesehen von den direkten Auswirkungen auf die Gesundheit wird dies vermutlich gerade in ländlichen Gebieten zu verstärkter Abholzung führen.
  • Problematisch sind auch die Folgen der Flüchtlingslager für das Grund- und Oberflächenwasser, bedingt durch unzureichende Klärmöglichkeiten für Abwässer und eine – zumindest zeitweilige – Müllentsorgung in die Umwelt.14

An diesen drei Punkten wird deutlich, dass auch zur Vermeidung weiterer großer Umweltschäden eine schnelle Wiederaufbauhilfe für ganz Jugoslawien dringend notwendig ist.

Weitere Folgen für die Zivilgesellschaft

Abgesehen von den direkten toxischen Auswirkungen der o.a. Substanzen wie Missbildungen usw. haben diese auch andere verheerende Folgen. So berichtete mir eine jugoslawische Ärztin über eine Zunahme von Schwangerschaftsabbrüchen aus der berechtigten Furcht vor Missbildungen, mit all den seelischen Belastungen, die ein solcher Eingriff mit sich bringt.

Die Angst vor den Spätfolgen trifft eine Gesellschaft, die durch eine hohe Arbeitslosigkeit – in Folge der Bombardierung ziviler Arbeitsplätze, wie z.B. der totalen Zerstörung der Autofabrik Jugol-Cars, in einigen Regionen über achtzig Prozent – destabilisiert ist. Mangelnde Zukunftsaussichten tragen dazu bei, dass der Konsum von Beruhigungsmitteln drastisch angestiegen ist, dass die Gefahr von Abhängigkeitserkrankungen wächst.

Die Co-Präsidentin der internationalen IPPNW, Dr. Mary Wynne Ashford, gewann Mitte Mai in Gesprächen mit russischen PolitikerInnen und KollegInnen den Eindruck, dass durch die Bombardements die horizontale Atomwaffenproliferation weiter vorangetrieben wurde.15 Hintergrund ist die offene Frage, ob die NATO Jugoslawien auch dann bombardiert hätte, wenn dieses im Besitz von Atomwaffen gewesen wäre. Die fatale Konsequenz könnte für viele Länder sein, die Atomwaffenentwicklung voranzutreiben, um sich sicherer zu fühlen. Weltweit erschwert das aber nicht nur weitere Abrüstungsbemühungen, es bringt vor allem die Gefahr noch größerer Konflikte mit unübersehbaren Schäden mit sich.

Fazit

Die ethnischen Vertreibungen und die vielfältigen Übergriffe auf die albanische Bevölkerung durch das serbische Regime sind schärfstens zu verurteilen. Die europäischen Staaten wären gut beraten gewesen, wenn sie sich schon vor zehn Jahren politisch und ökonomisch engagiert hätten um den Menschenrechten in dieser Region zur Geltung zu verhelfen. Kriege lösen die Probleme nicht, das haben die Vertreibungen in Kroatien, Bosnien, dem Kosovo gezeigt, die jeweils in und nach den Kriegen explodierten. Das zeigt auch die aktuelle Entwicklung im Kosovo. Kriege sind nur eine Stufe in einer Eskalationsspirale, die zu weiterem Desaster führt; sie wirken destabilisierend, sie zerstören die natürlichen Lebensgrundlagen. In Kriegen werden die Milliarden ausgegeben, die dringend für zivile Konfliktbearbeitung und Sicherheitsstrukturen gebraucht würden.

Anmerkungen

1) Umweltbundesamt, Erste Einschätzungen zu den ökologischen Auswirkungen des Krieges in Jugoslawien. Unveröffentlichtes Manuskript vom 5.5.1999

2) Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, Kapitel III, Art. 55, Abs.1

3) U. Gottstein, Gesundheitsschäden durch abgereichertes Uran“ im Irak? Hessisches Ärzteblatt, 56 JG (1995), S. 237-239

4) U. Gottstein, a.a.O. Siehe auch D. Fahey, Case Narrative. Depleted Uranium (DU) Exposures. Sept. 2nd, 1998. Swords to Plowshares, inc./ National Gulf War Resource Center, Ic. / Military Toxics Project, Inc.

5) U.a. von Major General Charles Wald, U.S. Verteidigungsministerium, in einem Interview mit ABC News am 4.Mai 1999

6) Bundesrepublik Jugoslawien, Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheitn, AID Memoire über die Verwendung von unmenschlichen Waffen bei der Aggression gegen die BR Jugoslawien. Belgrad, 15.5.1999. Faxkopie liegt in der IPPNW-Geschäftsstelle, Berlin.

7) The Regional Environmental Center for Central and Eastern Europe. Assessment of the Environmental Impact of Military Activities During the Yugoslavia Conflict. Preliminary Findings. Report prepared for: European Commission DG-XI- Environment, Nuclear Safety and Civil Protection. Juni 1999. Seiten 29-30

8) (UN-Menschenrechtskommission, Resolutionen 1996/16, 1997/36)

9) Z.B. Heidi Lippmann in der Bundestagsfragestunde vom 21.4.99 oder Annelie Buntenbach.

10) taz vom 6.5.1999, S. 2

11) Umweltbundesamt, a.a.O., S.2

12) Regional Environmental Center for Central and Eastern Europe,a.a.O.

13) U.a. in der Monitor-Sendung vom 20.05.1999, Bericht der Biologin Dragana Tar

14) Regional Environmental Center for Central and Eastern Europe, a.a.O., S. 23ff

15) Mary Wynne Ashford, Gastbeitrag in der FR vom 29.05.1999

Dr. med. Regina Mertens ist Vorstandsmitglied der IPPNW, Sektion Deutschland