An der Schwelle zu einem »neuen Völkerrecht«?

An der Schwelle zu einem »neuen Völkerrecht«?

von Manfred Mohr

Noch während des NATO-Luftkrieges gegen Jugoslawien wurde die Frage aufgeworfen, ob sich das internationale rechtliche System nicht nunmehr radikal geändert hätte. Würde es mit und nach diesem Krieg nicht zu einem »neuen Völkerrecht« kommen, das bestehende UN-System der Friedenssicherung nicht durch eine neuartige NATO-Doktrin ersetzt werden?
Auf diese und ähnliche Fragen sind unterschiedliche Antworten gegeben worden. Dies geschah überwiegend in Form von (Tages-)Medienkommentaren; zunehmend aber auch in juristischen und politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften.1 Eine Welle von Buchpublikationen ist im Anrollen. Der vorliegende Aufsatz zieht eine knapp gehaltene Zwischenbilanz.

Die Völkerrechtsordnung der Gegenwart hat sich seit 1945 auf der Grundlage der UN-Charta ausgeprägt. Ihre Prinzipien sind in der »Friendly Relations« -Deklaration von 1970 formuliert und authentisch interpretiert worden. Davor und danach ist dieses Rechtssystem in unzähligen Instrumenten – vom Vertrags- bis zum »soft law«-Charakter – näher ausgestaltet worden. Für Europa hat eine Regionalisierung auf der Basis dieser universellen Grundlagen stattgefunden.

Das Völkerrecht der Gegenwart existiert als Rechtsordnung, mit gewissen »konstitutionellen« und hierarchischen Strukturen, von denen nicht so ohne weiteres abgewichen werden kann. Es gibt zwingendes Recht (ius cogens), mit der Konsequenz, dass entgegenstehendes »einfaches« Recht nichtig ist. Hierzu rechnen vor allem jene in der 1970er Deklaration fixierten Völkerrechtsprinzipien – vom Gewaltverbot über die souveräne Gleichheit bis zum Prinzip der Vertragstreue. Dabei gilt der Grundsatz, dass diese Prinzipien als »Kette« wirken und nicht gegeneinander »ausgespielt« werden dürfen.

Neben reziproken haben sich Verpflichtungsstrukturen erga omnes (bezogen auf die Gemeinschaft der Normpartner) und entsprechender möglicher (Allgemein-)Betroffenheit herausgebildet. Beispielbereiche sind die Menschenrechte oder das Abrüstungsrecht, in gewisser Weise auch das Recht der Friedenssicherung oder das humanitäre Völkerrecht.

Entscheidend ist nicht – wie man in der aktuellen Kosovo-/Jugoslawien-Diskussion manchmal den Eindruck hat –, dass derartige besondere Strukturen und Konstruktionen existieren, sondern welchen normativen Gehalt man ihnen unterlegt. Und der muss zwischen den Staaten, bei ius cogens sogar von der internationalen Staatengemeinschaft als Ganzes, vereinbart werden.

Völkerrecht ist und bleibt Vereinbarungs- oder Konsensrecht; Formen (Quellen) sind das Vertrags- und das Gewohnheitsrecht. Über ihre generelle Akzeptanz haben auch »allgemeine Rechtsprinzipien« Eingang in die geltende Völkerrechtsordnung gefunden. Zu nennen sind hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Geeignetheit.

Alle drei können und sind zur Beurteilung des NATO-Luftkrieges gegen Jugoslawien herangezogen worden – überwiegend mit negativem Ergebnis. Dies geschah in Verbindung mit oder unabhängig von anderen rechtlichen Maßstäben. Für das offiziell von der NATO und der Bundesregierung erklärte Ziel der Abwendung bzw. Verhinderung einer humanitären Katastrophe waren die Luftoperationen von Anfang an ungeeignet. Sie waren in Anbetracht möglicher anderer (politischer, ökonomischer, ggf. auch militärischer) Sanktionierungs- und Druckmöglichkeiten auch nicht erforderlich.

Die »humanitäre Katastrophe« ist mit Beginn des NATO-Luftkrieges erst richtig ausgelöst worden – das Szenario war für alle »professionellen« politisch-militärischen PlanerInnen absolut vorhersehbar. In einem »Integrated Appeal« der – wohl über jede ideologische Einseitigkeit erhabenen – internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (v. 7.4.1999) heißt es: „Since 24 March, the impact in humanitarian terms has been devastating.“ Die deutsche IALANA hat mit einer Zusammenstellung von Lageberichten des Auswärtigen Amtes dokumentiert, für wie wenig bedrohlich die Lage im Kosovo noch bis ins Frühjahr 1999 hinein angesehen wurde.2 Im Kern wurde der Luftkrieg zum Erhalt der Glaubwürdigkeit der NATO begonnen und geführt. Das wird etwa in einem vom US-amerikanischen Außenministerium herausgegebenen »Fact sheet« (U.S. and NATO Objectives and Interests in Kosovo, v. 26.3.1999) eindeutig herausgestellt. Hieraus lässt sich aber keinerlei Legitimierung ableiten – im Gegenteil.

Und in jedem Fall waren Krieg und Kriegsführung unverhältnismäßig. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt beispielsweise – nach konkreter Aufzählung der angerichteten umfangreichen Schäden – auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Sie appelliert an die NATO, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu respektieren.3

Der Bezug auf allgemeine, in die internationale Rechtsordnung »transportierte« (Rechts-) Prinzipien muss aber auch begründet sein. Es muss sich tatsächlich um solche Grundsätze handeln, nicht aber um irgendwelche verschwommenen, dogmatischen Konstrukte wie den »Gemeinwohlzweck«, gekoppelt mit einem angeblichen Vorrang des Zwecks vor dem (versagt habenden) Mittel (hier: UN-System und Sicherheitsrat). Überzeugen kann auch nicht der Verweis auf allgemeine (letztlich naturrechtliche) Höherrangigkeit (Radbruch).4 Das alles hat mit der Realität der Völkerrechtsordnung der Gegenwart wenig zu tun.

Das UN-System der Friedenssicherung

Es ist grundlegender Bestandteil jener Ordnung. Eckpunkte sind das umfassende Gewaltverbot und das Prinzip der friedlichen Streitbeilegung. Im Rahmen des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen bedürfen militärische Zwangsmaßnahmen der Anordnung oder zumindest der Autorisierung des UN-Sicherheitsrates. Kommt dies nicht zustande, fällt man zurück auf die Nothilfe-Ebene des Rechts auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff. Will und kann man die bestehende Völkerrechtsordnung nicht verlassen, muss man sich genau in diesem Rahmen bewegen.

Das System, in Gestalt des Agierens des UN-Sicherheitsrates, ist auch im Kosovo-Kontext operativ geworden. Es wurden Resolutionen – bis hin zur Verhängung eines Waffenembargos – gefasst (1160, 1199, 1203, 1239). Der Sicherheitsrat machte den Kosovo-Fall zu seiner eigenen Angelegenheit, womit ein Ausschluss der Kompetenz anderer (Regional-) Organisationen signalisiert wird; ab Res. 1239 erscheint sogar die Formel: „… remain actively seized…“.

Der Rat hat damit Handlungsfähigkeit bewiesen und ist durchaus seiner »primären Verantwortung« für die Wahrung des Weltfriedens gerecht geworden. Im engeren, eigentlichen Sinne (des Art. 24 UN-Charta) bedeutet diese Formel, dass dem Sicherheitsrat innerhalb des UN-Systems, gegenüber anderen UN-Organen, eine solche Hauptverantwortung (und entsprechende Primärkompetenz) zukommt, unbeschadet etwa des Uniting for Peace-Verfahrens, demzufolge sich ausnahmsweise auch die UN-Generalversammlung mit Maßnahmen der Friedenswahrung befassen kann. Hieran anknüpfend kann man ein Bekenntnis zu dieser Formel wie sie (bereits ab Nr. 1203) in den Kosovo-Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, aber auch in dem Neuen Strategischen Konzept der NATO (para. 15) enthalten ist als ein Bekenntnis zum UN-Friedenssicherungssystem insgesamt lesen (und nicht – nur – als Hintertürchen für die Annahme irgendwelcher Sekundär-Kompetenzen).

Durchbrochen und verlassen wurde dieses System durch den NATO-Luftkrieg. Der Krieg wurde vom Sicherheitsrat auch nicht – was z.T. noch als äußerste Möglichkeit angesehen wird5 – implizit bzw. nachträglich (post facto) autorisiert. In Res. 1239 v. 14.5.1999 deutet sich sogar eine Kritik des NATO-Vorgehens an ( 5: „… the humanitarian situation will continue to deteriorate in the absence of a political solution…“).

Immerhin gab es einen Resolutionsentwurf der – gestützt auf Kapitel VII und VIII (zu den Regionalorganisationen) der UN-Charta – die NATO-Aktionen verurteilt und deren Beendigung fordert. Aus seinem Scheitern (mit 3 zu 12 Stimmen) kann wohl nicht auf eine Akzeptanz dieser Aktionen durch die internationale Gemeinschaft geschlossen werden. Immerhin haben, wie Indien in der Debatte betonte, mit China, Russland und Indien 50% jener Gemeinschaft der NATO die Unterstützung versagt.

Eine Rückführung in das UN-System erfolgte mit Res. 1244 v. 10.6.1999, die aber keinerlei auch nur indirekten Hinweis auf die NATO-Luftoperation enthält. Es wird lediglich die Nichteinhaltung der früheren Sicherheitsratsresolutionen zum Kosovo bedauert. Eine Autorisierung (für die UN-Mitgliedsstaaten und die relevanten internationalen Organisationen) wurde im Hinblick auf die im Kosovo zu stationierenden internationalen Sicherheitskräfte gegeben. Im Unterschied zur Autorisierungsentscheidung im (zweiten) Golfkrieg, mit der die Vereinten Nationen alles aus der Hand gegeben hatten, erfolgt hier eine gewisse organisatorische Einbindung (vorläufige Zeitbeschränkung; Berichterstattung). Insoweit ist es unzutreffend, wenn US-Verteidigungsminister Cohen behauptet, es gäbe keinerlei UN-Kontrolle.6

Unter dem Strich hat das UN-System der Friedenssicherung, der UN-Sicherheitsrat, seine Unverzichtbarkeit demonstriert, und zwar in der Gestalt wie es gegenwärtig existiert, d.h. einschließlich des Veto-Prinzips, mit seiner (immer noch relevanten) Konsenswahrungsfunktion. Das hat – nach einer „holprigen (bumpy) Periode“ (Kofi Annan) – schließlich auch die NATO erkannt. Der UN-Generalsekretär war es auch, der noch während des NATO-Krieges einen eindringlichen offiziellen Friedensappell sowohl an die NATO als auch an die jugoslawische Seite richtete.7

Frieden und Menschenrechte

Auch diese Relation ist völkerrechtlich klar fixiert und bedarf aufgrund des Kosovo-Geschehens keiner grundlegenden Korrektur oder Veränderung. Der Einführung des Menschenrechtsthemas in das UN- und Völkerrechtssystem liegt die Erkenntnis eines elementaren Zusammenhangs zugrunde – der möglichen Friedensgefährdung durch schwere, systematische Menschenrechtsverletzungen. Es bedarf gar keiner Auslegung der UN-Charta, nach der neben den Frieden gleich-(oder gar höher-)rangig die Menschenrechte gesetzt werden. Vielmehr besteht von Anfang an zwischen beiden Zielen oder Rechtsgütern eine Verbindung, die sich im Zuge der Entwicklung des Völkerrechtssystems immer weiter ausgeprägt hat und in dem Satz gipfelt: Menschenrechte sind keine innere Angelegenheit mehr.

Die Möglichkeit der gewaltsamen Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzungssituation setzt (allerdings) voraus, dass eine unmittelbar friedensbedrohende Dimension erreicht wurde. Dann aber kommt die Entscheidungs- und Handlungskompetenz des UN-Sicherheitsrates ins Spiel. Sie ist gerade hier unerlässlich, um eine klare, autoritative Position der internationalen Gemeinschaft zu markieren und Missbrauch auszuschließen.

Vor diesem Hintergrund hat sich – zumindest begrifflich – eine gewisse Entwicklung in der Praxis des UN-Sicherheitsrates und damit der Staaten- und Völkerrechtspraxis vollzogen: Als friedensgefährdend und (folglich) kompetenzbegründend führt der Sicherheitsrat zunehmend auch Fälle menschlicher Tragödien, menschlichen Leids oder humanitärerer Not- und Katastrophenlagen an. Dahinter verbergen sich letztlich komplexe Zustände schwerer Menschenrechtsverletzungen, häufig gekoppelt mit Verletzungen des humanitären Völkerrechts, mit Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen.

Begonnen hat dieser Prozess mit der berühmten Resolution 688 (1991) zur »Kurdenfrage«. Hier wird die Friedensgefährdung noch über die Gefahr massiver Flüchtlingsströme sowie die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung entwickelt. Die Somalia-Resolution 794 (1992) nimmt als Einstieg dagegen nur noch die »menschliche Tragödie«. Auch die Kosovo-Resolutionen (1199, 1203, 1244) stellen für die Kompetenzbegründung des Sicherheitsrates (nach Kap. VII der UN-Charta) auf die drohende humanitäre Katastrophe, die ernste humanitäre Situation ab, da und soweit hierdurch eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gegeben ist. Gerade diese Verbindung oder Feststellung ist in NATO-Äußerungen nicht regelmäßig vorhanden. Was herausgestellt wird, sind häufig nur Leid und Not sowie das Erfordernis, dass man (irgend-)etwas dagegen tun müsse. Eine durchgängige Betonung der Friedensgefährdung hätte vielleicht auch mit größerem Nachdruck die Kompetenzfrage aufgeworfen und zu entsprechenden Schlussfolgerungen bzw. Begründungsversuchen führen müssen.

Oft ist nur generell von „Notstandsmaßnahmen“, dem „Schutz von Leib und Leben“, als entsprechenden „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ die Rede. Soweit es sich hier um Rechtfertigungsversuche für Militäraktionen wie die NATO-»Luftschläge« handelt, greifen diese aber im modernen Völkerrecht mit seinem umfassenden, gerade auch gegen Missbrauch gerichteten Gewaltverbot nicht mehr.

Etwas anderes galt im klassischen Vor-UN-Völkerrecht: Hier hatte die Doktrin der humanitären Intervention – der Befugnis für (zivilisierte) Staaten zu Militäraktionen zum Schutz eigener StaatsbürgerInnen im Ausland, bis hin zur Entsendung von Kriegsschiffen und militärischer Besetzung – ihren festen Platz. Heute kann, sollte und müsste dieses schon terminologisch fragwürdige Konzept ebensowenig wiederbelebt werden wie die spätscholastisch begründete »Bellum-Iustum-Lehre«.8 Weder allgemeine Werte-Konzepte (zur Abgrenzung von einem bloßen Interessenimpetus) sind angebracht oder erforderlich, noch das Betonen eines Extremfalls der alles außer Kraft setzt.9

Selbstbestimmungsrecht, Souveränität, Staatenverantwortlichkeit

Beim Selbstbestimmungsrecht handelt es sich ebenfalls um ein grundlegendes Prinzip oder Recht der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung. Verankert in der UN-Charta war es die Basis für den Dekolonialisierungsprozess und ist, auch darüber hinaus, das rechtliche Fundament jedweder Staatlichkeit wie der einzelnen Menschenrechte. Selbstbestimmungsrecht und souveräne Gleichheit bildeten ebenso den Ausgangspunkt für in der Tat neuartige Konzepte wie das von der »Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung« oder von der »Neuen Internationalen Informationsordnung«, die dann aber mangels universellen Konsenses (rechtlich) nicht zum Tragen kamen.10

Das Selbstbestimmungsrecht ist als so grundlegend angesehen worden, dass man hieraus – im Wege der Analogie – ein Selbstverteidigungsrecht des gewaltsam (von einer fremden oder der eigenen Regierung) unterdrückten Volkes abgeleitet hat. Dieses dogmatische Konzept (mit der Vorstellung einer »Dauer-Aggression«) ist besonders nachdrücklich von der »östlichen« Völkerrechtslehre vertreten worden.11 Es fanden und finden sich hierzu aber auch VertreterInnen der »westlichen Schule«.12

Im humanitären Völkerrecht gibt es einen Reflex in Gestalt der Behandlung des Befreiungskampfes der Völker als internationalen Konflikt (Art. 1 Abs. 4, I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen).

Das alles hat aber auf den Kosovo-Fall keine Anwendung gefunden. Man ging – zuletzt in Res. 1244 – stets von der Souveränität und territorialen Integrität Jugoslawiens aus. Den KosovarInnen (Kosovo-AlbanerInnen) wird weder eine Volks-Qualität noch das Recht auf (gewaltsame) Abtrennung zugestanden. Man bewegt sich letztlich im Bereich des Minderheitenschutzes oder bestenfalls einer gewissen föderalen Selbstbestimmung. Die Sicherheitsratsresolutionen (1160, 1199, 1244) sprechen von „substantial autonomy“ und „meaningful self-administration“. Die Konstruktion des Selbstverteidigungsrechts eines Volkes deutet allerdings (weiterhin) eine Potenz des modernen Völkerrechts an, wie man – einschließlich kollektiver Selbstverteidigung – gegen Regime vorgehen könnte die Völkermord begehen oder unterstützen.13

Zur Steuerung des Friedens-, Autonomie- und Verwaltungsprozesses ist eine UN-Missions-Struktur (UNMIK) mit weitreichenden Kompetenzen und Aufgaben eingesetzt worden. Unter Vermeidung der in Rambouillet angelegten militärischen Okkupation (durch die NATO) läuft das Ganze (dennoch) auf ein de-facto-Protektorat der UNO hinaus.

Die Etablierung eines sochen Regimes war sicherlich nur durch und über die UNO möglich. Unbeschadet der seitens Jugoslawien vorliegenden Zustimmung trägt das Vorgehen der UNO Züge der Sanktionierung, der Staatenverantwortlichkeit. Es hat aber – im Unterschied zum NATO-Luftkrieg – nicht den Charakter von Bestrafung oder etwa einer militärischen Repressalie. Beides ist nach gegenwärtigem Völkerrecht und seinem Friedens- und Souveränitätsverständnis ausgeschlossen.

Hiermit schwer zu vereinbaren ist auch der verkündete Politikgrundsatz, demzufolge Aufbauhilfe für Jugoslawien von einem Sturz Milosevics abhängig gemacht wird.14 Auch für das Institut der Staatenverantwortlichkeit, selbst im Hinblick auf schwerwiegende Rechtsfolgen für internationale Verbrechen, gilt, dass nach gegenwärtigem Völkerrecht nicht alles zulässig ist, eine gewisse Verfahrenseinbindung existiert. So bedürfen eben militärische Zwangsmaßnahmen gegen systematische Menschenrechtsverletzungen der Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat (der seinerseits an das Völkerrecht gebunden ist) und ist beispielsweise präventive Gewaltanwendung verboten.

Das humanitäre Völkerrecht

Gerade wenn es sich (angeblich) um Militäraktionen zur Menschenrechtsdurchsetzung handelt, sind die Regeln dieses in den Haager und Genfer Abkommen fixierten Rechts peinlich genau zu beachten.15 Es gilt uneingeschränkt, ohne jede Unterscheidung hinsichtlich Art und Ursprung des bewaffneten Konflikts. Selbst wenn man die Fragwürdigkeit des NATO-Luftkrieges nach geltendem UN-Friedensrecht außer Acht lässt, liegt hier ein entscheidender juristischer (und damit politisch neutraler) Kritikansatz.

Obwohl vorgeblich kein Krieg gegen Jugoslawien und dessen Volk, ist er dennoch bewusst gegen das Land geführt worden.16 Die Schäden und Opferzahlen im zivilen Bereich sind enorm. Bei der mit Stolz verkündeten Fehlerquote von 0,7%17 sind die betreffenden zivilen Ziele systematisch festgelegt und angegriffen worden. Das ist im 100. bzw. 50. Jahr der Annahme der ersten Haager bzw. der Genfer Abkommen von 1949 ungeheuerlich.

Man hat(te) den Eindruck, als wären die Grundregeln der Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen, des Verbots von Angriffen die Terror verbreiten sollen, der Nichtbeschädigung von medizinischen und kulturellen Einrichtungen, der Nichtbehinderung von Hilfsaktionen u.a.m. außer Kraft gesetzt worden. Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur Golfkriegführung. Damals sind immerhin, nach dem verheerenden Angriff auf den Zivilbunker in Bagdad, alle vergleichbaren Einrichtungen von den Ziellisten der US Air Force gestrichen worden.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)18 wie auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte haben sehr kritisch auf die großen zivilen Verluste hingewiesen und an die diesbezüglichen völkerrechtlichen Verpflichtungen der NATO-Staaten erinnert. Die Hochkommissarin hat z.B. die Angriffe auf Radio- und TV-Stationen ebenfalls als ernste Beeinträchtigungen des Rechts auf Informationsfreiheit gekennzeichnet.19

Schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts stellen Kriegsverbrechen dar. Sie können, neben Menschlichkeitsverbrechen, vor dem Haager Jugoslawien-Tribunal (ICTY) zur Anklage gebracht werden. Gleiches gilt in noch umfassenderer Weise nach dem Statut des zu schaffenden Internationalen Strafgerichtshofes, der auch für Aggressionsverbrechen zuständig werden soll. Anklage gegen Milosevic ist bereits vor dem ICTY – noch während des Luftkrieges – erhoben worden. Gemäß den Nürnberger Prinzipien und den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit könnte er sich nicht auf Immunität als Staatsoberhaupt berufen.

Informationen über humanitäre Völkerrechtsverletzungen auf Seiten der NATO sind dem ICTY zugeleitet worden. Diese Frage wird auch bei den gerade anlaufenden »privaten« Tribunalaktivitäten (in USA und Europa) und in dem anhängenden (Hauptsache-)Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eine große Rolle spielen, der auf Klage Jugoslawiens gegen etliche NATO-Staaten tätig geworden ist. Schon jetzt hat der IGH seine große Betroffenheit über die Gewaltanwendung in Jugoslawien erklärt, die sehr ernste Völkerrechtsfragen aufwirft und an die Verpflichtungen nach UN-Charta und Völkerrecht, einschließlich humanitärem Völkerrecht, erinnert.

Fazit

Kosovo-Konflikt und NATO-Krieg haben nicht zu einem neuen Völkerrecht geführt. Das bestehende Völkerrecht behält seine Gültigkeit und dient weiter als Maßstab für die Bewertung staatlichen, in Sonderheit militärischen Handelns. Besonders augenfällig wird dies anhand des tief verwurzelten humanitären Völkerrechts.

Der NATO-Luftkrieg war ein Übertretungs- und kein Präzedenzfall.20 Aus gutem Grund enthält das moderne Völkerrecht Regeln über Zulässigkeit und Verfahren militärischer Gewaltanwendung. Sie sind Ausdruck des erreichten zivilisatorischen Entwicklungsstandes und binden auch die NATO. Diese bekennt sich, in ihrem Gründungsvertrag und auch im Neuen Strategischen Konzept, zu solchen Grundsätzen wie dem der friedlichen Streitbeilegung. Ihre praktische Politik – »Friedensverhandlungen« unter permanenter Bombardierungsdrohung und der Luftkrieg selbst – läuft dem jedoch zuwider. Sie hat zu einer Verschärfung des Konflikts, weiteren unschuldigen Opfern, unermesslichen Schäden und der Verzögerung einer Konfliktlösung geführt.

Das alles ist jedoch kein Grund, die NATO oder ihren Gegenspieler Milosevic aus dem Völkerrecht zu entlassen. Es enthält ausreichende normative und prozeduale Rahmenbedingungen für die Bewältigung von Extremsituationen. Hierzu muss weder auf eigene Faust Krieg geführt, noch ein Katalog von Regeln für die »humanitäre Intervention« aufgestellt werden. Die Völkerrechtsordnung hat sich trotz Kalten Krieges und verkündeter »neuer Weltordnungen«, trotz krasser Interventions- und Verletzungsfälle (Grenada, Libyen usw.) gefestigt. Auch jetzt besteht kein Anlass, sie in Frage zu stellen, sondern die Notwendigkeit, sie zu stärken und weiterzuentwickeln.

Anmerkungen

1) Vgl. z.B. Simma, B., NATO, the UN and the Use of Force: Legal Aspects, in : European Journal of International Law, 10(1999)1, S. 1-23; Cassese, A., Ex iniura ius oritur: Are We Moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community?, in: ebenda, S. 23-31; Ronzitti, N., Raids aerei contro la Repubblica federale di Iugoslavia e Carta delle Nazioni Unite, in: Rivista Di Diritto Internazionale, 82(1999)2, S. 476-482; Köck, H.F., Legalität der Anwendung militärischer Gewalt. Betrachtungen zum Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und seinen Grenzen, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, 54(1999)2, S. 133-160; Rodman, P.W., The Fallout from Kosovo, in: Foreign Affairs, 78(1999)4, S. 45-51; Hintersteiniger, M., Der Kosovo-Konflikt und die Rennaissance der Bellum Iustum-Doktrin, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung, 1999/2, S. 24-42.

2) Vgl. (z.B.) IALANA-Presseinformation v. 22.4.1999: »Bundesregierung täuschte Parlament und Öffentlichkeit«.

3) Vgl. Report by the High Commissioner for Human Rights on the Situation of Human Rights in Kosovo, 31.5.1999, S. 12.

4) Vgl. (so) Köck, Anm. 1, S. 141, 154 bzw. 157f.

5) So zumindest die US-amerikanische Auffassung, vgl. Frowein, J.A., Der Schutz des Menschen ist zentral. Der Krieg im Kosovo und die völkerrechtliche Regelung der Gewaltanwendung, in: Neue Zürcher Zeitung, 17./18.7.1999; vgl. (so) auch Simma, Anm. 1, S. 10f.

6) (Vgl.) Defense Secretary Cohen Testifies on Lessons of Kosovo, 20.7.1999, S. 6.

7) Vgl. Schreiben v. 9.4.1999, S/1999/402.

8) Vgl. (einen solchen Versuch bei) Hintersteiniger, Anm. 1.

9) Vgl. (s.o.) nach einer ansonsten klaren und ausgewogenen Darstellung (»plötzlich«) Frowein, Anm. 5.

10) In Anbetracht vielfach beschworener Globalisierungsgefahren wäre es zumindest theoretisch einmal reizvoll, diese Konzepte und die betreffenden Prinzipien und Dokumente (erneut) zu analysieren und auf »Aktualität« zu überprüfen.

11) Vgl. Völkerrecht, Berlin 1988, S. 87.

12) Vgl. (auch schon in Anwendung auf die Kosovo-Situation) Fastenrath, U., Es wird ein Präzedenzfall geschaffen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.1998; (bejahend) Köck, Anm. 1, S. 153.

13) Ein Beispielfall aus der jüngeren Geschichte ist das militärische Eingreifen Vietnams zum Sturz des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha.

14) Vgl. z.B. die Rede Clintons (»Wir haben im Kosovo das Richtige getan“), 11.6.1999, S. 4.

15) Vgl. ähnlich (überzeugend) auch Frowein, Anm. 5.

16) Vgl. etwa Cohen, Anm. 6, S. 3: „… to generate sufficient concerns about future damage to… his (Milosevic's) country…“.

17) Vgl. die Angaben von US-Luftwaffengeneral Ch. Wald (99,3% Treffergenauigkeit der eingesetzten Bomben und Raketen), Kosova-Info-Line, 10.5.1999, S.2.

18) Vgl. z.B. das IKRK- Statement v. 23.4.1999 (»The Balkan conflict and respect for International Humanitarian Law«), unter der Überschrift »Civilian victims of airstrikes«; Statement des IKRK-Präsidenten C. Sommaruga v. 6.4.1999 (»Humanitarian Issues Working Group of the Peace Implementation Council«).

19) Vgl. Anm. 3, S.7.

20) Als Einzel-(und kein Präzedenz-)Fall – des Handelns außerhalb des Rechts (aufgrund einer „Notlage“) sieht ihn auch Simma, Anm. 1, S. 22; Cassese, Anm. 1, S. 27ff., erkennt hier jedoch „nascend trends“ einer künftigen Völkerrechtsentwicklung und stellt einen entsprechenden Katalog von „Bedingungen“ auf.

Prof. Dr. Manfred Mohr, Berlin, ist Völkerrechtler und Mitglied des deutschen Vorstandes und des Academic Council der IALANA.

Information Warfare an der Grenze?

Information Warfare an der Grenze?

von Ingo Ruhmann

Wenn sich der Pulverdampf gelegt hat ist es Zeit für die Analyse, zugleich aber auch für die Verklärung von Erfolg und Misserfolg. Oft genug ist zwischen beiden nur schwer eine Trennlinie zu erkennen. Seit die Medienwirkung von Konflikten sich von der psychologischen Kriegführung abgesetzt hat und – runderneuert unter der für viele neue und technikgestützte Operationen genutzten Sammelbezeichnung »Information Warfare« – ihren Weg in militärische Operationshandbücher gefunden hat, gehört auch die mediale Nachbereitung von Kriegen in die Kategorie der Aufräumoperationen.
Während sich die Öffentlichkeit wieder weitgehend anderen Themen zugewandt hat, mühen sich die Militärexperten zu erklären, aus welchen Gründen der Kosovo-Krieg zwar durch einen Luftkrieg entschieden wurde, dieser zugleich aber die Grenzen überlegener Luftstreitkräfte mehr als deutlich vor Augen führte. Im Folgenden wird untersucht, welchen Stellenwert die zur Begründung für neue Rüstungsanstrengungen gern angeführte technologische, heute also meist informationstechnische Überlegenheit in diesem Konflikt hatte. Dabei geht es um Information Warfare zunächst in einem generellen Sinne, wobei militärischen Planungsszenarien der Kosovo-Krieg in seinem Ablauf gegenüber gestellt wird. Daran schließt sich eine Betrachtung der Einsätze von High Tech-Waffen an. Ebenso wird aber auch versucht, nach den Elementen von Information Warfare im engeren Sinne im Kosovo-Krieg zu fahnden, also nach dem Einsatz von Informationstechnik zur Erreichung militärischer Dominanz. Zentral ist bei dieser Betrachtung die Technik als Ausgangspunkt, politische und ethische Betrachtungsebenen stehen dahinter zurück.

Bevor der Versuch unternommen werden kann, die Rolle von High Tech und Information Warfare im Kosovo-Krieg zu beleuchten, sollte zur Vermeidung von Missverständnissen in Erinnerung gerufen werden, wie sich NATO-, vor allem aber US-Militärs den Ablauf eines solchen Konflikts unter Information Warfare-Prinzipien vorstellen:1 Begonnen würde mit einer massiven Aufstockung der Aufklärungskapazitäten für die operative Planung und um die Einheiten zur elektronischen Kampfführung operativ und technisch auf den erforderlichen Stand zu bringen. Folgen würde darauf die Einwirkung auf das Bild des Gegners von sich selbst, in den Medien allgemein und durch technisch abgestützte psychologische Kriegführung in Form von Eingriffen in Computernetze und Datenbanken. Die ersten konventionellen Kampfhandlungen bestünden aus der umfassenden Zerstörung der gegnerischen Luftabwehr, der sich dann eine Zerstörung strategischer und schließlich taktischer Ziele anschlösse. Reorganisationsversuche des Gegners wären durch das dauerhafte Niederhalten der Kommunikationsinfrastruktur im Ansatz zu verhindern. Am Ende derartiger Szenarien steht ein völlig desorganisierter Gegner, der aufgibt.

Analysiert man den Kosovo-Krieg entsprechend solcher Planungs-Blaupausen, so lässt sich leicht erkennen, dass der Ablauf der alliierten Kampfhandlungen diesen Vorgaben in einigem Umfang folgte. Nach dem Einlenken Milosevics ist aber – trotz oder gerade wegen teilweise deutlicher Kritik aus den Reihen der Militärs während des Kriegsverlaufs – die Bereitschaft der Akteure stark gesunken, sich mit dem Einsatz von Information Warfare-Elementen auseinanderzusetzen.

Doch auch ohne offizielle Analysen lassen sich mehrere auffallende Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit festhalten:

  • Zu keinem Zeitpunkt des Konflikts gelang es alliierten Luftstreitkräften, die jugoslawische Luftabwehr außer Gefecht zu setzen und damit die Vorbedingung für weitere auf Luftüberlegenheit beruhende Operationen zu erfüllen. Statt dessen wurden allein die B 1-Bomber im gesamten Verlauf der Kampfhandlungen mit über 30 Raketen beschossen.2 Ob die Entscheidung bewusst getroffen wurde, das integrierte Luftverteidigungssystem Jugoslawiens nicht zu zerstören3 oder ob die NATO mit den eingesetzten Mitteln dazu nicht in der Lage war, ist nicht auszumachen.
  • Die Unterdrückung der verbliebenen Luftabwehr wurde u.a. dadurch behindert, dass es an Electronic Warfare-Spezialisten mangelte4, die durch Restrukturierungen im Zuge der Entwicklung von Information Warfare in zentralen Einheiten zusammengelegt worden waren. Die Anpassung von Electronic Warfare-Systemen an neue Frequenzen dauerte deutlich länger als vor einigen Jahren.5 Eine Reihe spezialisierter Flugzeuge wurde zu Aufgaben genutzt, die nicht der Ausrüstung entsprachen: Flugzeuge zur Koordinierung von Bodentruppen und zur Luftraumüberwachung wurden zur Koordination der Luftoperationen eingesetzt.6 Da die Luftraumüberwachung auch durch die NATO-AWACS geleistet wurde, ist dies – trotz der höheren Anforderungen im dicht belegten Luftraum über der Adria – ein Indiz für Defizite bei der militärischen Luftraumüberwachung und der Koordination der Operationen. Auch dies ein eklatanter Widerspruch zu den Anforderungen von Information Warfare-Szenarien.
  • Die Zerstörungen am jugoslawischen Kommunikationsnetz erwiesen sich als nicht ausreichend, um die jugoslawische Kommando- und Kontrollstruktur aufzubrechen, was wiederum den Zielen eines Information Warfare widerspricht. Zwar lässt sich darüber streiten, ob die auf jugoslawischer Seite zur Vertreibung der KosovarInnen eingesetzten paramilitärischen Einheiten überhaupt in eine Kommandostruktur eingebunden waren, doch ist die halbwegs koordinierte Operationsfähigkeit der regulären jugoslawischen Verbände nicht mit den Zielen eines Information Warfare in Einklang zu bringen.
  • Selbst bei der in der Luftkriegführung nicht gerade neu erfundenen Zerstörung strategischer Ziele wurde durch mangelnde Aufklärung und vor allem durch die Erfordernis, außerhalb der Reichweite der Luftabwehr zu operieren, das Ziel einer »unblutigen« Kriegführung verfehlt. Statt dessen wurden Brücken beschossen, die gerade von Zügen und Bussen passiert wurden. Die Opfer derartiger Attacken führten unter dem Blickwinkel des Information Warfare zu einem Mediendebakel für die Alliierten, das noch durch den Beschuss von Botschaften und Krankenhäusern verstärkt wurde.
  • Die Überprüfung der alliierten Erfolgsmeldungen erwies sich für die NATO als wenig schmeichelhaft. Statt Panzern wurden von der »intelligenten« Munition oftmals Panzerattrappen getroffen, in denen Öfen eine Infrarotsignatur erzeugten. Das Problem aus der Sicht von Information Warfare ist dabei nicht die Treffgenauigkeit der Waffen, sondern das offensichtliche Defizit bei der Zielaufklärung.

Zusammengefasst bedeutet dies: Luftabwehr und Kommandonetz der jugoslawischen Armee blieben operationsfähig, die Unterdrückung der Luftabwehr durch Electronic Warfare erwies sich als so schwierig, dass sich Operationen in niedriger Höhe verboten. Die Folge war eine verminderte Treffergenauigkeit, die wiederum mediale Misserfolge produzierte. Im Vergleich zu allen Elementen der Information Warfare-Doktrin lassen sich also gravierende Defizite ausmachen.

Bei diesen Ergebnissen verwundert nicht, dass gerade Militärexperten Belgrad zum Sieger der ersten Kriegsphase erklärten.7 Nach zwei Monaten Krieg wurden zunächst Gründe für die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit gesucht.8 Angeführt wurde, dass die gut ausgebildete jugoslawische Armee den optimalen Nutzen aus ihren Fähigkeiten gezogen hatte. Am Ende waren dann US-Militärs mit dem Vorwurf schnell bei der Hand, dies sei „coalition warfare at its worst“9 gewesen, nur sei der Kosovo-Krieg als Fehler nicht groß genug gewesen, um daraus zu lernen. Diese auf die NATO-Alliierten gemünzten Schuldzuweisungen können kaum kaschieren, dass die Hauptprobleme keineswegs in der mangelnden Ausrüstung der europäischen Verbündeten lagen, sondern darin, dass das zentrale Konzept des informationstechnisch gestützten Krieges diesmal nicht so recht aufging. Zeigen lässt sich dies im Kleinen wie im Großen, also bei der gern bestaunten Waffenwirkung sogenannter Präzisionswaffen ebenso wie bei der eingehenden Betrachtung von Kernpunkten der Information Warfare-Operationen. Fraglich bleibt nur, ob hier die begrenzten Einsatzmöglichkeiten von Information Warfare sichtbar wurden, oder ob die Kampfhandlungen unter weitgehendem Verzicht auf Information Warfare-Elemente durchgeführt wurden.

Glaubenssätze: Präzision
und High Tech

Von Beginn an wurde der Kosovo-Krieg unter der zentralen Prämisse geführt, Bombardements mit Präzisionswaffen könnten einen militärischen Erfolg herbeiführen. Abgewichen wurde davon nicht als den Kommentatoren dämmerte, dass Kriege weder gewonnen werden wenn eine Seite den Ablauf ihrer Operationen ankündigt, noch dadurch dass die Technik Wunderdinge vollbringt; abgewichen davon wurde auch dann nicht als klar wurde, dass militärische Operationen gegen die Zivilbevölkerung nicht durch Luftschläge zu unterbinden sind.

Abgesehen von allen anderen Zumutungen erweist sich immer wieder der Glaube an die Möglichkeiten von mehr oder minder »intelligenten« Präzisionswaffen als Motor unverwüstlicher Erwartungen an »unblutige« und schnelle militärische Erfolge. Und ebenso wie Militärs nicht müde werden, die technischen Vorzüge ihrer Waffen zu preisen, so findet sich am anderen Ende des Spektrums derselbe Glauben an die Leistungsfähigkeit dieser Waffensysteme.

Vergessen wird dabei leider, dass der Terminus »Präzisionsbombardement« schon im Zweiten Weltkrieg regelmäßig zur Verharmlosung massiver Luftangriffe genutzt wurde. Präzise waren zu jener Zeit allenfalls Schläge wie das alliierte Bombardement der Gestapo-Zentrale in Kopenhagen. Steuerung per Video, GPS-Navigationssets und Lenkung der Bomben per Laserstrahl haben heute die Gefahr für die Piloten vermindert, aber die Wirkung und Genauigkeit von Bomben keineswegs ins Grenzenlose gesteigert oder die Gesetze der Physik aufgehoben.

Zum Glauben an die technischen Möglichkeiten und dessen Erzeugung gehört auch, alte Technik als neue Errungenschaft zu verkaufen. Im Vietnamkrieg wurden z.B. erstmals lasergesteuerte Bomben und videogelenkte Raketen eingesetzt; im Golfkrieg wurden sie zum Medienereignis. Auch im Kosovo-Krieg blieb unhinterfragt, was mittlerweile 30 Jahre alte Technik zum Ausweis von High Tech-Kriegen macht.

Die Suche nach technologischen Neuerungen im Kosovo-Krieg bleibt dagegen weitgehend ergebnislos. Auch die zum Kurzschluss des jugoslawischen Elektrizitätsnetzes genutzten Graphitfäden aus den Forschungslabors für nicht-lethale Waffensysteme wurden bereits im Golfkrieg eingesetzt. Von dort stammt auch die Erfahrung, dass zu kurze Fäden nicht mehr zu entfernen sind und zu unkontrollierbaren Zerstörungen der elektrischen Anlagen führen.10 Deshalb wurden diesmal längere Fäden eingesetzt, das war das Neue. Über den Einsatz nichtnuklearer EMP-Waffen wurde allenfalls spekuliert.11 So ging die Demonstration von High Tech-Waffen nicht über bekannte Technik hinaus.

Statt einer Analyse mutierten Waffentypen zum Gegenstand einer Auseinandersetzung vor allem um moralische Legitimation. Der Einsatz von Splitterbomben durch alliierte Bomber wurde zum Synonym moralischer Verwerflichkeit. Dem wurde entgegengehalten, Präzisionswaffen würden in solchem Umfang eingesetzt, dass die Arsenale fast leer seien. Die damit beabsichtigte Implikation einer präzisen Kriegführung ohne unschuldige Opfer wiederum wurde mit jedem Angriff auf Busse und Botschaften konterkariert. Doch blieb die technische Art und Weise der Kriegführung täglich neuer Anlass der Debatte. Damit argumentierten beide Seiten zwar auf derselben irrealen Ebene eines technisch vorgeblich möglichen unblutigen Krieges. Mit dieser Debatte waren die eigentlich wichtigen Fragen nach Ursachen und Zielen des Krieges, den eingesetzten Mitteln und den Perspektiven jenseits militärischer Operationen erfolgreich in den Hintergrund gedrängt – zumindest dies ein Erfolg an der medialen Front von Information Warfare.

Aus dem Blickfeld:
Information Warfare-Operationen

Im Golfkrieg wurde noch die Falschmeldung verbreitet, die Alliierten hätten mit Hilfe eingeschmuggelter Computerviren Zugang zur irakischen Luftabwehr gefunden. Derartige Meldungen sind ideale Werkzeuge der Information Warfare, weil sie den Gegner verunsichern und für die Medienberichterstattung eine hohe technologische Überlegenheit suggerieren. Im Kosovo-Krieg kam dagegen nur vereinzelt und aus unspezifizierten alliierten Quellen die Behauptung, die Computer der jugoslawischen Luftabwehr wären manipuliert worden. Statt dessen erklärte die NATO schon zu Beginn des Konflikts, dass ihr e-mail-Server Ziel von 2.000 Störmails pro Tag sei, die von Jugoslawien aus versandt würden. Damit wurde nun die NATO nicht mehr Ausgangspunkt, sondern Ziel von Information Warfare-Operationen.

Im Gegensatz zu »intelligenten« Mitteln zur Ausschaltung gegnerischer Medien – wie etwa die drei 1997 über Bosnien eingesetzten fliegenden Stör- und Radiosender EC 130-E »Commando Solo«, die regionale Radioprogramme durch Eigenproduktionen überlagern – bombardierte die NATO das Sendezentrum des jugoslawischen Fernsehens und wurde dessen Satellitenübertragung ausgesetzt, was auch dem Letzten die Rolle der Medien als Instrument der Kriegsparteien verdeutlichte. Als Indiz für eine alliierte Überlegenheit waren diese Aktionen jedoch untauglich.

Fazit

Zusammenfassend lassen sich einige Widersprüchlichkeiten aufklären, andere neu festhalten:

  • Schon eine kurze Analyse der Information Warfare-Elemente im Kosovo-Krieg liefert Hinweise darauf, dass dieser kaum vorbereitet und mangelhaft koordiniert wurde. Dies verweist ein ums andere Mal auf Versäumnisse der politischen Konfliktprävention.
  • Für Information Warfare im engeren Sinne bedeutsam ist die Erkenntnis, dass der Kosovo-Krieg zwar den Versuch einer Integration von Elementen in die herkömmliche Kriegführung erkennen lässt, dies jedoch wenig erfolgreich war. Wesentliche Teile sind nicht als Information Warfare zu klassifizieren oder laufen dem sogar prinzipiell zuwider. Hinzu kommt, dass zum einen erstmals die NATO und die USA in einem ernsthaften Sinn Ziel von Information Warfare-Operationen wurden, zum anderen einem möglichen Gegner Anhaltspunkte dafür geliefert wurden, wie eine relativ erfolgreiche Reaktion auf Prinzipien von Information Warfare-Operationen aussehen könnte. Damit lassen sich einige der Widersprüchlichkeiten erklären. Dies müsste zusammengenommen die Auseinandersetzung um die Tragfähigkeit der Ideen und Konzepte von Information Warfare herausfordern. Solange sich eine solche öffentliche Debatte aber weitgehend auf Waffentechnik beschränkt, behalten die Experten recht, die diesen Krieg für zu klein halten, um daraus Lehren zu ziehen.
  • Vor allem aber zeigte auch der Kosovo-Krieg, dass sich die Faszination der Öffentlichkeit von High Tech-Waffen unabhängig von deren Effektivität auch weiterhin dazu nutzen lässt, ein medial positiv konnotiertes Bild einer Kriegführung zu transportieren. Indem auch die Gegner nur auf derselben Ebene diskutieren, verstärken sie die Wirkung dieses Themas. Diese Debatte entlastet schließlich von deutlich unangenehmeren Fragen.

Anmerkungen

1) vgl. auch: Ute Bernhardt, Ingo Ruhmann: Der digitale Feldherrnhügel. Military Systems: Informationstechnik für Führung und Kontrolle. in: Wissenschaft und Frieden, Heft 1/97, Dossier Nr. 24, S. 1-16

2) A Pilot's Best Friend; in: AW&ST, 31.5.99,S. 25

3) Robert Wall: Airspace Control Challenges Allies; in: AW&ST, 26.4.99,S. 30-31, S. 31

4) David Fulghum: NATO Unprepared for Electronic Combat; in: AW&ST, 10.5.99, S. 35-36

5) Electronic Atrophy; in: AW&ST, 7.6.99, S. 23

6) Robert Wall: E-2Cs Become Battle Managers With Reduce EW Role; in: AW&ST, 10.5.99, S. 38; ders.: New ABCCC Tactics Used in NATO Air Strikes; in: AW&ST, 26.4.99, S. 32

7) Paul Mann: Belgrad Called Victor in War's First Phase; in: AW&ST, 26.6.99, S. 28-30

8) John D. Morrocco: Kosovo Conflict Highlights Limits of Airpower and Capability Gaps; in: AW&ST, 17.5.99, S. 31-32

9) David Fulghum: Lessons Learned may be Flawed; in: AW&ST, 14.6.99, S. 64

10) David A. Fulghum: Electronic Bombs Darken Belgrade; in: AW&ST, 10.5.99, S, 35-36

11) David A. Fulghum: Microwave Weapons Await a Future War; in: AW&ST, 7.6.99, S, 30-31

Ingo Ruhmann ist Mitglied im Vorstand des FIfF e.V.

Im Namen der Menschenrechte

Im Namen der Menschenrechte

Zur psychologischen Kriegsführung

von Bernd Röhrle

Angesichts der verheerenden humanitären, wirtschaftlichen und politischen Folgen des Kosovokonfliktes stellt sich die Frage, warum sich die Öffentlichkeit so zurückhaltend während des offen und jetzt noch verdeckt geführten Krieges verhält. Demonstrationen gab es ansatzweise, sie sind aber gemessen an frühen Tagen der Friedensbewegung fast unbedeutend. Meinungsumfragen zeugten in den alten Bundesländern sogar von einer mehrheitlichen Akzeptanz des Krieges. Nach der weitgehenden Beendigung der Kampfhandlungen ist von einer öffentlichen Kritik an der bisherigen und derzeitigen Politik insbesondere der am Konflikt beteiligten NATO-Mächte nichts mehr zu spüren. Vielmehr verbreitet sich eine Atmosphäre der nachträglichen Rechtfertigung. Selbst KritikerInnen des Krieges drängen sich angesichts der in den Medien transportierten Greueltaten Zweifel an der eigenen Haltung auf.

Die Gründe für die mangelnde öffentliche Kritik während und nach dem (noch nicht beendeten) Krieg im Kosovo sind zweifelsohne vielfältig. Die veränderten historischen Bedingungen einer Partizipation ehemaliger VertreterInnen der Friedensbewegung an der Macht ist mit Sicherheit genauso ursächlich wie der Mangel an Kenntnissen zu den komplizierten politisch-historischen und auch soziologisch-ethnologischen Hintergründen des Konfliktes. Aus Sicht der Psychologie aber sind es auch einige zentrale Mechanismen der psychologischen Kriegsführung, denen die Öffentlichkeit auch nach Beendigung der Kampfhandlungen ausgesetzt ist und die zu dieser eher zögerlichen kritischen Haltung der Öffentlichkeit führt. Im Ergebnis ist es den politischen MachthaberInnen gelungen, diesen Krieg moralisch, rational und politisch zu rechtfertigen, obgleich nicht in Zweifel gezogen werden kann, dass er völkerrechts- und aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland auch grundgesetzwidrig ist. Um diese Akzeptanz zu erreichen, hat man sich im Wesentlichen folgende psychologisch wirksamen Rechtfertigungsmuster zu Nutzen gemacht:

  • Krieg als Deus ex Machina für einen komplizierten Konflikt,
  • Personalisierung eines Krieges auf dem Hintergrund einer mehrheitlich bestimmten Wahrheit,
  • entlastende Interpunktion eines Konfliktes,
  • Moralisierung der Unmoral.

Krieg als Deus ex Machina für einen komplizierten Konflikt

Mit der bekannten Waffenschau aus dem Krieg der Sterne wurde vorgegaukelt, dass eine technisch und quantitativ übermächtige Allianz den Konflikt in Kürze lösen würde. Die gesetzten politischen und humanitären Ziele sollten durch einen hochmodernen Angriffskrieg und eine logistisch einwandfreie Versorgung der Flüchtlinge relativ reibungslos erreicht werden. Diese sattsam bekannte Strategie knüpft am Wunsch von Menschen an, auch politische und soziale Probleme auf einfache Weise mit technischen und organisatorischen Hilfsmitteln ohne größere Nebenfolgen (»Kollateralschäden«) zu lösen.

Gleichzeitig wird man entlastet, da eine persönliche Verantwortung für die Kriegsführung allenfalls in den Händen der vielleicht sogar nicht einmal gewählten PolitikerInnen und im Ermessen der Militärs liegt. Beide sind mit dem notwendigen Sachverstand ausgerüstet, den man selbst nie erbringen könnte. Man verfügt über technische Mittel, welche die „bizarre Idee auftauchen“ lassen, „man könne Krieg führen, ohne dass Tote zu beklagen wären“ (Enzensberger, 1999, S. 28). Nach den Kampfhandlungen wird im gleichen Tenor der technisch einwandfrei funktionierende Wiederaufbau zerstörter Landesteile vorgeführt: Das Technische Hilfswerk baut Häuser in kürzester Zeit auf, die zerstörten Wasserwerke sind durch modernste mobile Wasseraufbereitungsanlagen kompensierbar usw.. Es mögen also neben der Verführung zum Glauben an einen Deus ex Machina zur Lösung eines komplizierten Konfliktes auch noch autoritäre Einstellungen durch eine solche Propaganda berührt worden sein.

Personalisierung eines Krieges auf dem Hintergrund einer mehrheitlich bestimmten Wahrheit

Der Öffentlichkeit wurde erklärt, es handele sich um einen Krieg zwischen einer »Staatengemeinschaft« (NATO) und einer einzelnen Person (Milosevic). Auch die Lösung der Folgeprobleme wurde mit dem Verhalten, nämlich dem Rücktritt, dieses einen Mannes in Verbindung gebracht. Damit wurde zweierlei nahegelegt: Zunächst wurde vermittelt, dass sich so viele Staaten nicht irren konnten und können. Nicht auf der Grundlage eines klaren Werturteils, dem alle folgen können, wurde Wahrheit gesucht, sondern im Konsens von Gruppen, die sich selbst den Stempel der moralischen Größe geben. Diese Haltung wurde zusätzlich durch öffentliche Verlautbarungen von zahlreichen, vor allem eher links-liberal orientierten MeinungsführerInnen verstärkt. Sie intensivierten über Mechanismen der Autoritätsgläubigkeit solche konsensualen Wahrheitsauffassungen. Zum Zweiten führt man bei einer Konfrontation mit einem Mann auch keinen Krieg gegen die SerbInnen, sondern nur gegen einen bösen Diktator, den manche sogar (völlig unsachgemäß) mit Hitler verglichen, andere psychologisierend als psychisch deformierten Sohn suizidierter Eltern. Man kennt dies in der Sozialpsychologie als „negative Punkte sammeln“, um sich selbst aufzuwerten und mögliche negative Handlungen entschuldbarer zu machen oder gar von gemachten Fehlern abzulenken; ein Mechanismus, den nicht nur Mailer (1999) im Zusammenhang mit dem Impeachmentverfahren von Clinton entsprechend beschrieben hat. Damit wurden die Ursachen dieses Konfliktes auf die moralische Verfassung eines einzigen Mannes verkürzt. Man ist damit zugleich auch vor dem Vorwurf geschützt, man habe antiserbische Vorurteile. Gleichsam einem Erzieher, der zu einem letzten und probaten Mittel greift, treten die Verantwortlichen auf, nach dem Motto: Wer nicht hören will, muss fühlen. In neuerer Zeit wird so die Doppelstrategie von Krieg bzw. Entzug von Nachkriegshilfen und politischen Verhandlungsbemühungen der öffentlichen Meinung angeboten. Dies nährt ein besonderes Bedürfnis nach Einfachheit, das man auch schon bei bekannten Formen der Vergangenheitsbewältigung hinreichend gestillt hat. Personen sind vorstellbar und man kann sie für alles verantwortlich machen, auch für unterlassene wirtschaftliche Hilfeleistungen und unterschlagenen kulturellen Austausch; ein typischer Fall von Sündenbockdynamik.

Eine andere Art der Personalisierung des Konfliktes ist darin zu erkennen, dass das ganze Volk der SerbInnen, wenn nicht für den Krieg, so doch für seine Ursachen verantwortlich gemacht wird und wie ein ungehöriges Kind zur Räson gebracht werden soll. Eine solche Haltung zeigt sich z.B., wenn der Lyriker Durs Grünbein (Spiegel 1999, 12. April) schreibt: „Man muss keine Idealist sein, um einzusehen, dass die Bombe ein Erziehungsmittel sein kann, wie wir aus Deutschland wissen. Dort wurde einer sagenhaft starrsinnigen Bevölkerung vor einem halben Jahrhundert der Nationalismus wie ein fauler Zahn gezogen.“ Oder wenn z.B. in einem regionalen Blatt die Frage gestellt wird: „Die Serben umerziehen?“ und die Antwort lautet: „Die Serben müssen Abschied nehmen von ihren nationalen Legenden, ihren Kosovo-Mythen und ihrem aus Unterdrückungsängsten entstandenen Größenwahn“ (Schwäbisches Tagblatt 1999, 115, S. 2), so zeigt sich deutlich eine Personalisierung des Konflikts auf einen Volkskörper, die von einer ethnischen Vorurteilshaltung zeugt, die andere peinlichst zu vermeiden trachten. Diese nährt sich aus der gut untersuchten Tendenz zur Herstellung sozialer Identität: Wir sind die nicht Größenwahnsinnigen, wir haben keine Legenden, die sich gegen Außenfeinde richten, wir sind nicht nationalistisch, wir sind demokratisch usw. Dabei ist immer mit der Möglichkeit zu rechnen, dass Innen-Außendifferenzierungen vorgenommen werden, die zu vereinfachten Kontrasten und auch zu einer Verzerrung der Wahrnehmung in Hinsicht auf eigene negative Eigenschaften führen können (als gäbe es z.B. keine eigenen Nationalismen).

Interpunktion eines Konflikts

Wie in der schlechten Geschichte eines Ehekrieges wird die Interpunktion des Kosovokonfliktes so gestaltet, dass nicht der Blick auf die Komplexität der Interaktionszusammenhänge zwischen vielen Nationen, Völkern, Interessengruppen, auch in einer historischen Dimension, gelenkt wird. Vielmehr richtet sich der Blick auf Ursachen wie die Vertreibung, Unterdrückung und gar Tötung von Kosovo-AlbanerInnen, für die es zu Zeiten der kriegerischen Auseinandersetzungen keine klaren Beweise gab. Diese Strategie knüpft ebenfalls an einem menschlichen Bedürfnis an, nämlich möglichst einfache und zugleich schuldmindernde Attributionen für komplexe Abläufe zu suchen. Solche Abläufe haben die Eigenschaft, dass die daran Beteiligten die Interpunktionen für die Entstehung möglicher Konflikte relativ willkürlich setzen können und dies in der Regel immer zu Ungunsten des Gegners tun. Wir kennen dies aus der Analyse von Ehekonflikten, bei denen meist in unfruchtbarer Weise die jeweiligen Schuldzuweisungen zu einer Konfliktverschärfung und zu einer Abnahme von Kompromissbereitschaft führen. Es kommt noch ein besonderes Moment hinzu, wie es ebenfalls im Kontext von Beziehungskonflikten beobachtbar ist: Die Bezugspersonen von KonfliktpartnerInnen teilen sich in Lager und verschärfen in der Regel die schon vorhandene Konfliktdynamik. Dies hat damit zu tun, dass Unsicherheiten in Hinsicht auf mögliche Interpunktionen wiederum durch konsensualen Druck gemindert werden.

Moralisierung der Unmoral

Außenminister Fischer hat versucht das moralische Dilemma dieses Krieges auf den Punkt zu bringen: Wer was tut wird schuldig; wer nichts tut wird möglicherweise noch schuldiger. Mit humanitären Begründungen wird Inhumanität gerechtfertigt und dies scheinbar sogar auf einem nach der Psychologie Kohlbergs (1996) benannten postkonventionellen Niveau: Es wird Leben gerettet, obgleich es gegen gesellschaftlich normative Beschlüsse verstößt (Völkerrecht, Grundgesetz). Man handelt also nicht nur moralisch im Sinne der Menschenrechte, sondern sogar auf einer besonders hohen humanistischen bzw. moralphilosophischen Ebene, die Václav Havel in einem Essay mit dem Titel »Das Kosovo und das Ende des Nationalstaates« als ein „höheres Recht“ bezeichnet, das seine „tiefsten Wurzeln außerhalb der wahrnehmbaren Welt“ besäße. Dafür sei Verantwortung und auch das Risiko eigener Verluste zu tragen, so die Ansicht von Kommunitaristen wie Michael Walzer. Spaemann (1999) beschreibt diesen Krieg im Namen der Menschenrechte mit dem Satz: „Nicht Menschen, Werte sollen verteidigt werden“ (S. 153). Dieses Angebot ist sicher das am meisten entlastende, das sich sogar MeinungsführerInnen zu eigen gemacht haben, denen man dies nie zugetraut hätte. Unabhängig von der Frage, ob dieses Angebot eine bewusste oder auch nicht beabsichtigte Täuschung darstellt – in jedem Fall hilft es die Gewissensprobleme sowohl bei den TäterInnen als auch bei jenen abzumildern, die sich zu keinen Protesten hinreißen ließen. Im Effekt ist dies vielleicht das was Ross (DIE ZEIT 25/99, S.13) als die Maßlosigkeit eines aus moralischen Gründen geführten Krieges bezeichnet und was andere als die Entpolitisierung eines Konflikts interpretiert haben.

Bei genauer Betrachtung war die Entscheidung, einen auch Menschenleben fordernden Angriffskrieg zu führen, sowohl konventionell als auch postkonventionell unmoralisch. Postkonventionelle moralische Urteile im Sinne von Kohlberg (1996) wollen Menschenleben um jeden Preis erhalten. Diese Motivation war und ist nicht erkennbar und zwar aus mehreren Gründen: Es liegt zunächst eine »Unangemessenheit« der Mittel vor. Nehmen wir im Sinne einer Metapher an, die Leserin/der Leser würde Zeuge eines Amoklaufes in einer sehr belebten Gegend, einige Menschen seien schon zum Opfer gefallen. Nun wären die Leserin/der Leser und andere bewaffnet und würden versuchen, den Amokläufer durch Menschenleben gefährdende Gewalttaten an weiteren Bluttaten zu hindern. Der Täter aber verschanzt sich und ist für Sie unerreichbar. Er kann darüber hinaus ungehindert weitere Menschen töten. Die Leserin/der Leser versucht ihre/seine Deckung zu zerstören und gefährdet dabei weitere Menschenleben (ähnliche Beispiele bringt Reinhard Merkel; ZEIT Nr. 20/99, S. 10). Akzeptiert man den Vergleich dieses Beispiels mit dem Kosovo-Krieg, so muss man zum Schluss kommen, dass die Intervention bei unterstellter guter Absicht (es gibt viele mögliche schlechte Absichten), an den Folgen gemessen, nicht rational und vorteilhaft war. Die gewählte Metapher geht dabei von der Prämisse aus, dass tatsächlich Menschenleben von diesem vermeintlichen Amokläufer genommen werden und keine anderen Mittel zu Verfügung stehen, ihn daran zu hindern (z.B. ihn zu umstellen, ihn zu bedrohen, wenn er weitere Untaten begeht und ihn aus sicherem Abstand auszuhungern). Falls es sich nur um einen Verdacht handelt und eigentlich der besagte Täter die Persönlichkeitsrechte der Menschen bedroht, also z.B. ihre Freiheit beraubt (nehmen wir an, dies entspräche den Tatsachen), dann sind die eingesetzten Mittel in jedem Fall unverhältnismäßig.

Nun kann eine Handlung aber unangemessen und doch von hoher moralischer Qualität sein, wenn sie die Bewahrung des Lebens als einem Wert an sich im Auge hat. Gilt dies für den Militäreinsatz im Kosovo-Krieg? Die Antwort bei Kohlberg würde lauten: Nein, denn sie retten kein einziges Menschenleben und nehmen weiteren, ja Unbeteiligten, das höchste Gut. Selbst wenn der Konflikt so angelegt gewesen wäre, dass mehr Menschenleben gerettet geworden wären als »kollateral« genommen wurden – ein Konflikt, der so nicht bestand – ist der Wert einer solchen Nothilfe höchst zweifelhaft. Die extremste (pazifistische) Position gegen eine solche »Nothilfe« besteht in der Auffassung, wonach es den Wert des Lebens an sich in einem nicht quantifizierbaren Sinne zu schützen gilt. Weniger radikal ist das Argument, dass es keine Gewissheit zur Frage geben haben kann, ob im Falle eines »Nothilfekrieges« entsprechende Kosten-Nutzen-Erwägungen überhaupt herzustellen gewesen sind. Sowohl technisch als auch durch die Unvorhersehbarkeit der gegnerischen Aktionen bedingt, war ein entsprechend günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht planbar. Die Notwendigkeit der genauen Vorhersage eines solchen Kosten-Nutzen-Effektes gilt nicht für Situationen ohne Planungsmöglichkeiten, also etwa auch für Situationen, die Notwehrcharakter auch für Dritte haben. Eine solche Situation war und ist aber im Kosovokrieg nicht auszumachen. Allein schon die militärische Logistik belegt den Planungscharakter der Intervention. Wenn die Planung einer Nothilfe sogar die Möglichkeit einer Verschärfung der Notlagen derjenigen bedeutet, denen man helfen möchte, so ist unabhängig von der Interpunktion möglicher Schuldzuweisungen die Zerstörung jedes einzelnen Lebens in der Verantwortung der sog. HelferInnen (vgl. hierzu auch Reinhard Merkel: ZEIT Nr. 20/99, S. 10). Völlig eindeutig ist die Verwerflichkeit der Angreifenden, wenn sie scheinbar das Leben als schützenswertes Gut nutzen, um solche Dinge wie die Glaubwürdigkeit zu behalten oder Besitzstandswahrungen zu pflegen. In Nachrichtensendungen wurde sogar vom wirtschaftlichen Niedergang Serbiens berichtet, der im Anschluss an den Krieg Wirtschaftswachstum und neue Absatzmärkte versprechen würde. Hier wird der Krieg als eine notwendige Operation verkauft, die sich für die Gesundung der Wirtschaft als notwendig und nützlich erweist (eine weitere, gleichsam medikalisierte Form der Personalisierung des Konflikts). Bei einem Konflikt zwischen Menschenleben und anderen Werten, wie Wohlstand oder auch Freiheit (die man möglicherweise den Kosovo-AlbanerInnen nimmt), ist das moralische Urteil eindeutig: Menschenleben vor allem. Und: Es zählt jedes einzelne Leben.

Bleibt noch das Argument der Einmaligkeit oder, was noch schlimmer wäre, der Erstmaligkeit der Handlung, die für die Zukunft eine moralische Weltordnung im Zuge der Globalisierung herzustellen vermag, die solche Konflikte wie im Kosovo nicht mehr zulässt. Als grundsätzliches Gegenargument hierzu kann man die Auffassung der Moralpsychologin Gilligan (1984) anführen, wonach ein (friedliches) Zusammenleben grundsätzlich nicht durch Gewalt hergestellt werden kann. Diese moralische Orientierung der Interdependenz nährt sich aus den sozialpsychologischen Einsichten und Erkenntnissen zu den Regeln sozialer Interaktionen. Weniger radikal aber ist das Argument, dass diese Rechtfertigung nicht glaubwürdig ist. Die Frage, warum gerade in Serbien diese Intervention stattfindet und nicht in der Türkei, ist oft gestellt worden. Die Frage, warum man dann nicht gleichzeitig in anderen Gebieten der Welt entsprechend eingreift, ist bislang nicht beantwortet worden. Vieles spricht dafür, dass moralische Argumente instrumentell genutzt werden. Dies ist die verwerflichste Form der Amoralität. Wer schützt uns vor solchen Mechanismen, wenn zukünftig die Souveränität von Staaten keinen sicheren Raum mehr bietet?

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die NATO im Kosovokrieg zutiefst unmoralisch gehandelt hat. Umgekehrt haben alle, die sich gegen diesen Krieg gewehrt haben, moralisch gehandelt, weil sie nur Schaden abwehren wollten und dabei keinen verursacht haben, selbst wenn Milosevic und die Mitverantwortlichen Menschenleben nahmen. Die letzte Phase des Krieges, die über die wirtschaftlichen Versprechungen gelenkte Erpressung des serbischen Volkes, ihre Führung zum Rücktritt zu zwingen, ist auch nicht unbedingt ein Beleg überzeugender moralischer Standards oder gar eines durch hohe Werte bestimmten Demokratieverständnisses, auf das die beteiligten NATO-Staaten so stolz sind. Vor allem aber können solche Interventionen völlig kontraproduktiv sein. Bei Kindern sagt man, sie würden sich unter vergleichbaren Bedingungen nur scheinbar anpassen, die gewünschten Werthaltungen aber keineswegs internalisieren und vielmehr das erpresserische Verhalten der ErzieherInnen modellhaft erlernen. Es ist ein Glück, dass das serbische Volk kein schwer erziehbares Kind ist.

Es kann nicht Anliegen einer friedenspsychologischen Interpretation des Kosovo-Krieges sein, ihn auf psychologische Kategorien zu reduzieren. Jedoch wäre es auch unangemessen, die Beteiligung der geschilderten psychologischen Prozesse und Mechanismen auszuschließen. Vielleicht sind sie bedeutsamer als man annimmt, unabhängig von der Frage, ob sie aus propagandistischen Zwecken heraus bewusst hergestellt wurden oder auf schrecklichen Irrtümern beruhen. BürgerInnen, die sich wie auch immer in ihrem Denken zu Vereinfachungen und falschem moralischem Denken haben verleiten lassen, sollten schleunigst umdenken. PolitikerInnen und Militärs noch schneller.

Literatur:

Gilligan, C. (1984): Die andere Stimme, München,. Piper.

Kohlberg, L. (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M., Suhrkamp.

Enzensberger, H. M. (1999): Ein seltsamer Krieg. zehn Auffälligkeiten, in F. Schirrmacher (Hrsg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg, S. 28-33, Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt.

Mailer, N. (1999): Das kalte, weite Herz, in F. Schirrmacher (Hrsg.), a.a.O., S. 234-239

Spaemann, R. (1999): Werte oder Menschen? Wie der Krieg die Begriffe verwirrt, in F. Schirrmacher (Hrsg.), a.a.O., S. 150-155

Dr. Bernd Röhrle ist Professor am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg

Über die Freisetzung krimineller Energien im Krieg

Über die Freisetzung krimineller Energien im Krieg

Erfahrungen der »Lobby für Menschenrechte« im Kosovo

von Monika Gerstendörfer

Massenvertreibungen, Vergewaltigungen, Mord. Kriegsbilder, die um die Welt gehen, eingesetzt als Mahnung oder als Propaganda, je nach Standort. Ist die sexualisierte Gewalt eine Folge der Freisetzung krimineller Energien Einzelner oder von Gruppen, handelt es sich um eine Verrohung im Krieg oder sind Vergewaltigungen und Folter Teil militärischer Strategie? Zeigt die Gewaltspirale im Kosovo-Krieg eine für Europa neue Dimension der Folter von Frauen und Kindern: Verschleppung und Zwangsprostitution?

Ausgangspunkt 1

Es ist Krieg in Europa. Die NATO bombardiert Serbien, um das Regime Milosevic und die Vertreibung der Kosovo-Bevölkerung zu stoppen.

Im März 1999 werden zwei US-Soldaten von den Serben gefangen genommen. Für Medien und Regierungsvertreter sind es »Die Kriegsopfer«. Die Lobby für Menschenrechte reagiert auf die ersten gefangenen westlichen Soldaten mit einer Pressemitteilung. Das öffentliche Schweigen über den Krieg gegen Frauen soll damit gebrochen werden, denn die tatsächlichen Kriegsopfer sind in der Zivilbevölkerung zu finden; auf beiden Seiten. Dies ist ein längst bekanntes Phänomen. Seit dem 2. Weltkrieg hat sich das Verhältnis der getöteten ZivilistInnen zu den getöteten Soldaten umgekehrt. Im Koreakrieg betrug es fünf zu eins und im Vietnamkrieg bereits dreizehn zu eins. Die Tendenz ist weiter steigend (vgl. Gerstendörfer 1995), aber das ist weder in Politik noch Medien jemals zum wirklichen Thema geworden. Auch dieses Mal nicht.

Fakten

In der Welt der High Tech-Kriegsführung sind Vergewaltigungen und andere Formen der Folter zu einer Kriegsstrategie geworden. Frauen beider(!) Seiten und zunehmend auch Kinder sind betroffen. Die Zivilbevölkerung erfüllt im modernen Krieg eine Funktion, sie ist die Zielscheibe der Aggression. Der Preis für sie ist hoch, aber wie für Nullsummenspiele (vgl. Watzlawick 1991) charakteristisch: Der Gewinn für die Strategen ist ebenfalls entsprechend hoch. Nicht nur die Börsenkurse stiegen…

Das klassische Nullsummenspiel der Menschheit, der Krieg, bekommt und bekam so noch mehr »Stoff« und Einsatzbereitschaft; noch mehr Eskalationsmöglichkeiten: Je mehr Angehörige der Soldaten auf der einen Seite gemartert und gemordet werden, desto höher die Wut und die Motivation der Soldaten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, auf der anderen Seite. Die Bilder und Kommentare in der Mediengesellschaft forcieren und unterfüttern das. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und es ist ein »Beweisstück« von hoher Effektivität, verknüpft es doch Kognitionen mit Emotionen, Tatsachen (stattgefundene Greuel) mit unmittelbaren Gefühlen (Angst, Wut, Trauer), es schafft Verwirrungen und Verirrungen, die mit Sicherheit keine guten Ratgeber für die Lösung des Problems sind.

Auf diese Weise beschleunigt man sehr konkret nicht nur die Gewaltspirale im unmittelbar stattfindenden Krieg, man schafft durch Bilder auch Ein-Drücke, die sich in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaften geradezu einbrennen. Die Tatsache, dass der Status des Soldaten zunehmend sicherer für das Überleben im Krieg geworden ist, wird jedoch verschleiert und verleugnet. Die Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern im Krieg erfüllen eine bloße Funktion, indem sie als Beweismittel für die Grausamkeiten der jeweiligen Gegenseite via Bild, Text und Ton weltweit dargestellt und als solche völlig einseitig angeführt werden. Es ist vor diesem Hintergrund nicht von ungefähr, dass die Sendezentralen von Radio und Fernsehen wichtige »Zielobjekte« im Krieg sind. Beide Seiten wollen jeweils Recht behalten und ihre Sicht auf die Lage als die einzig zulässige Wahrheit senden. Auch dieser Kampf zwischen den Medien und der Politik ist ein Nullsummenspiel, das nichts anderes bewirkt als weitere Eskalation. Wer die meisten intakten Mediensender besitzt, besitzt die »Wahrheit«.

Sprache als Waffe

Die bloße Funktion der zivilen Kriegsopfer zeigte sich im Kosovo-Krieg besonders eindrücklich durch die verwendete Sprache: »Kollateralschäden« waren das. Die Zerbombung von Gebäuden wie Krankenhäusern und anderen lebenswichtigen Einrichtungen und der Tod von Menschen waren ein Preis, der angeblich gezahlt werden musste. Diese kollateralen Schäden wurden von den Verantwortlichen mit Bedauern (zumindest in den Medien) zur Kenntnis genommen. Wo gehobelt wird, fallen Späne… Aber die unpolitische und/oder entpolitisierte Bevölkerung sollte nicht einmal kollateral über solches nachdenken. Das Versprechen und Beteuern, noch zielsicherere und bessere Waffen zu entwickeln, steht! Es beruhigt(e) viele. Leider! Die WeltbürgerInnen in ihrer Funktion als SteuerzahlerInnen dürfen sicher sein, dass sie hierzu auch in Zukunft ihren Beitrag leisten werden, denn das erklärte Ziel ist, den Krieg als »humanitären« zu führen. (So zynisch kann Sprache sein!)

Ausgangspunkt 2

Im April erreicht die »Lobby« via e-mail die Nachricht einer/s Informanten/in vor Ort. Sie/er spricht die Gefahr von Frauenhandel und Zwangsprostitution an. »Gestrandete« Frauen und Mädchen, die ohne Perspektive in Makedonien säßen, seien akut gefährdet. Außerdem erreicht uns die Information, dass Pädokriminelle ihre »Hilfe« über e-mail und andere Kanäle anböten (z.B. Postings wie „würde drei stramme Jungs aufnehmen“ etc.) und dass HelferInnen vor Ort vollkommen schockiert über solche Angebote seien. Die »Lobby« stellt eine Anfrage an die verantwortlichen Ministerien und einige Bundestagsabgeordnete. Die Information wird auch im e-mail-Netz verteilt und auf die Homepage gestellt. Aus den Antworten der Ministerien ergibt sich, dass sie darüber nicht Bescheid wissen; manche teilen jedoch mit, dass sie sich der Sache annehmen möchten. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Petra Bläss, stellt eine Anfrage an die Bundesregierung (schriftliche Fragen für den Monat April). Die UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge, Sadako Ogata, bestätigt die Befürchtungen der Lobby zur drohenden Sklaverei:

„Mr President, I also wish to share with the Council my deep concerns with respect to the protection and security of refugees. Human traffickers are a serious threat, especially in Albania. They have already started smuggling refugees across the Adriatic into Italy and the European Union. Young women, often forced into prostitution, and children are frequent victims, particularly when they are hosted in families, and are thus more vulnerable to these threats. This phenomenon will increase if it is not adressed more forcefully and immediately. There is also a very real risk of forced recruitment of refugees by the Kosovo Liberation Army. I strongly urge governments to discourage this practise.“ (United Nations, New York, 5/5/99, Briefing by Mrs. Sadako Ogata, United Nations High Commissioner for Refugees, to the Security Council)

Im Mai bestätigt auch das Auswärtige Amt die Verschleppungen; sogar die von Kindern. Bestätigung auch durch Recherchen vor Ort der Welt am Sonntag, u.a. durch die Befragungen von Klosterfrauen (vgl. Welt am Sonntag 2.5.99). Szenen wie im Film sind danach vor Ort abgelaufen. Schwarze Limousinen standen sogar vor den Klosterpforten, um nach jungen Frauen Ausschau zu halten, die dort Zuflucht gesucht hatten.

Fakten

Aus der Folterforschung ist bekannt, dass es kaum eine perfektere Methode gibt, einen Menschen zu demütigen, zutiefst zu verletzen und sogar zu vernichten, als die Anwendung von sexualisierter Gewalt (vgl. u.a. Millet 1993, Oelemann 1999).

Dies gilt jedoch nicht nur für einzelne Menschen auf der individuellen Ebene. Die sogenannte Schändung von Frauen und/oder Kindern ist schon im antiken Griechenland als wirkungsvolle Strategie zur Demütigung des Gegners bekannt (vgl. Doblhofer 1994). Die tiefe Verletzung und Vernichtung eines Volkes durch die »ethnischen Säuberungen«, durch die Vergewaltigungen und Zwangsschwängerungen der Frauen des Gegners ist während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien das erste Mal in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gelangt.

Aber die Entwicklung in diesem Bereich ging und geht sehr schnell weiter. Die modernen Formen der Sklaverei wie »Frauenhandel«, »Zwangsprostitution«, Herstellung und Verbreitung von »Live-Hardcore-Pornos« u.v.m. werden nicht nur im Frieden, sondern bevorzugt im Kriegs- oder Nachkriegsgebiet initiiert. Dort kommt man am leichtesten an »Frischfleisch« heran. Dabei kann es sich um elternlose Kinder handeln oder um junge Frauen, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind in einer katastrophalen Situation ohne jede Aussicht auf Schutz, Erfüllung von Grundbedürfnissen oder gar eine Zukunftsperspektive. Dieses Phänomen ist den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bekannt. Sie versuchen seit Jahren darauf aufmerksam zu machen. Aber die Politik und andere Verantwortliche reagieren darauf nicht und lassen den Dingen ihren Lauf. Dies führt dazu, dass die Folterbranche (Frauenhändler, Kinderpornoproduzenten etc.) sowohl im Cyberspace als auch im »real life« weiter boomt. Die Wechselwirkungen zwischen informationstechnologischen Möglichkeiten, Tatenlosigkeit der Politik angesichts zunehmender Menschenrechtsverletzungen (u.a. durch eklatante Gesetzeslücken und weltweite Unkoordiniertheit bei der Ermittlung), Entwicklungsstand des organisierten Verbrechens und wirtschaftlicher Möglichkeiten sind fatal: Die Ismen, die Ungleichheiten zwischen Menschen (Rass-Ismus, Sex-Ismus, Adult-Ismus) werden so noch krasser und erhalten vor allem neue und destruktive Qualitäten. Dies gilt für Friedenszeiten: So ist es durchaus nicht von ungefähr, dass NormalbürgerInnen schon bei der Nennung bestimmter Länder oder Nationalitäten vor allem an »Sextourismus« (Philippinen, Thailand usw.) oder an Kriegsverbrecher (Serbien) denken und nicht an die Kultur, die Landschaft oder die Menschen dieses Landes. Dies gilt aber auch für die Zeiten des Krieges, hier in verschärfter Form: Denn wenn die Profiteure der modernen Sklaverei ungestraft Überlebende eines Krieges für ihre verbrecherischen Absichten in Kriegsgebieten suchen können und dürfen und die Protagonisten des »humanitären« Krieges dem nichts entgegenzusetzen haben, dann ist das nicht nur eine unterlassene Hilfeleistung, es stellt die propagierte Absicht, Völkermord stoppen zu wollen, in massiver Weise in Frage.

»Beweise« statt Handeln

Das Wissen um voraussichtliche Menschenrechtsverletzungen – wie z.B. Sklaverei und Verschleppung – in einem Kriegsgebiet und die Informationen aus Kanälen, die nicht genannt werden sollen oder dürfen, führte nicht nur im Kosovo-Krieg zu einem Phänomen, das auch aus zivilen Gerichtssälen im Bereich der sexualisierten Gewalt bekannt ist: In dubio pro reo, die Opfer müssen beweisen oder als Beweismittel fungieren. Im Falle der Informationen über die drohende Versklavung von Frauen und Minderjährigen während des Kosovo-Krieges waren es die HelferInnen bzw. die NGOs, die in Beweislastnöte gebracht wurden. Beispielsweise fragten JournalistInnen immer wieder nach der Sicherheit der Informationsquellen oder deren Enttarnung. Es war und ist schwierig, klarzumachen, dass es bei der oder nach Vorlage von solchen »Beweisen« zu spät ist und deshalb darum geht, vorab zu handeln. Sicherlich sind gefolterte Leichen und nachweislich verschleppte Frauen und Kinder »Beweise«. Aus menschenrechtlicher Sicht muss jedoch vorher gehandelt werden. Erfahrungen im zunehmend verkommerzialisierten Gewaltbereich und das Wissen, dass das, was lukrativ und machbar ist, auch gemacht werden wird, erfordern präventive Maßnahmen und nicht die Jagd auf Bilder von Leichen, Interviews mit vergewaltigten Frauen o.Ä.

Mit anderen Worten: Die Wahrheit liegt nicht irgendwo zwischen dem Bild eines gefangenen US-Soldaten und dem Wissen von NGOs um die mit Sicherheit stattfindenden Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern. Vielmehr liegen die Fakten, was die tatsächlichen Kriegsopfer angeht, jenseits der traditionellen Wahrheitsforschung und Kriegsphilosophie und das Wichtigste dabei ist, rechtzeitig zu handeln anstatt abzuwarten bis das Geschehene in Bild oder Ton für die Opfer Vergangenheit ist.

Ausgangspunkt 3

Am 25. Mai erreicht die »Lobby« frühmorgens eine dpa-Meldung aus New York: „Alarmierende Berichte über Sexualverbrechen serbischer Soldaten“. Die UNFPA, das Bevölkerungsprogramm der Vereinten Nationen, hat eine Untersuchung veröffentlicht und bezeichnet die Lage als alarmierend. Die schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich. Sie sind nun gewissermaßen bewiesen. Für die betroffenen Opfer ist es jedoch zu spät. Selbst von drohenden Verbrennungen am lebendigen Leib wird hier berichtet. Wieder einmal muss festgestellt werden, dass die relativ frühzeitigen Warnungen nicht ernst genommen wurden, dass die Chance auf eine minimale Prävention verspielt wurde indem die Forderungen der NGOs nach verstärkter Präventivdiplomatie genauso ignoriert wurden wie die Forderungen nach Stärkung der UN.

Da von Anfang an von einem »humanitären Krieg« gesprochen worden war, geht nun die Angst vor Umkehr der Logik um: Was macht eine Menschenrechtsorganisation, wenn sich Verantwortliche vor die Kamera stellen und behaupten, dass weiter gebombt werden muss, damit Frauen nicht vergewaltigt werden? Bekämen Menschenrechtsorganisationen eine Chance der Aufklärung in den Medien, Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Krieg und Entmenschlichung und der Notwendigkeit einer präventiven Politik? Sicher nicht! Dafür beginnt jetzt die Arbeit von Organisationen wie Medica Mondiale. Deren Ärztinnen und Psychologinnen dürfen ab nun die Traumata der Kriegsopfer aufarbeiten helfen; mit geringem Spendenvolumen, da sie keine Spenden-Abos haben wie die großen, traditionellen Hilfsorganisationen.

Fakten

Zu den traumatisierten Frauen gehören keineswegs nur die Frauen aus dem Kosovo, dazu gehören auch Frauen, deren Männer im Krieg sexualisierte Gewalt ausgeübt haben und die in nicht wenigen Fällen später gegen ihre eigenen Partnerinnen gewalttätig werden. Das sind Erkenntnisse von NGOs, die aus vergangenen Kriegen gewonnen wurden. Damit wird deutlich, dass der Krieg für die Frauen noch lange nicht vorbei ist und man nicht so einfach in »Gute« und »Böse«, in Angegriffene und Angreifende einteilen kann. Außerdem wird deutlich, dass es eine Kontinuität zwischen Krieg und Frieden gibt. Es sind nicht zwei so grundsätzlich verschiedene Welten; jedenfalls nicht für die weibliche und minderjährige Zivilbevölkerung.

Die Verhaltensmuster, die stattgefundene Entmenschlichung, die kriminellen Energien sind nicht »vom Himmel gefallen«. Der Krieg zeigt lediglich mit brutaler Deutlichkeit, wohin lebensfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen, wie sie im Frieden gelebt und erlebt werden, führen können. Es gibt einen roten Faden zwischen der alltäglichen Männergewalt gegen Frauen und dem Handeln im Krieg, zwischen den neuen Möglichkeiten von Informationstechnologie, modernen Formen der Sklaverei und Erscheinungen wie Frauen- und Kinderhandel mitten im Krieg.

No future oder politische Lobby-Arbeit

Wie sieht es mit der Zukunft politischer Lobby-Arbeit und der Arbeit der Hilfsorganisationen aus? Macht sie überhaupt Sinn und welchen Erfolg kann sie haben? Sicherlich hat es Fortschritte gegeben. Das frühere Motto »Es ist halt Krieg und da müssen die Frauen mit Vergewaltigungen rechnen« gilt nicht mehr so unbedingt und mit seinem ganzen lakonisch formulierten Zynismus. Immerhin spricht man nicht mehr von »Schändungen«, sondern von Vergewaltigungen und diese sind mittlerweile auch eindeutig zu Verbrechen erklärt worden. Vergewaltigende Männer gelten nun als Verbrecher, denen zumindest potenziell das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag droht. Aber dieser Wandel des Männerbildes (vom kriegerischen, triebgesteuerten Tier zum Vergewaltiger und verantwortlichen Verbrecher), des Frauenbildes (von der Geschändeten zum traumatisierten Verbrechensopfer) und der Tat selbst (von der Schändung zur Menschenrechtsverletzung) haben Politik und Öffentlichkeit, die Kriege unter bestimmten Bedingungen für notwendig und humanitär halten, nicht in ihren Grundfesten erschüttern können.

Vor diesem Hintergrund bleibt die Arbeit von Hilfsorganisationen während und nach dem Krieg nichts anderes als eine Art »Sicherheitsgurtpolitik« (vgl. Hagemann-White 1992). Auch dieser Begriff mit den dahinterstehenden Gedanken stammt aus dem Frieden. Da „niemand vor einer Karambolage sicher sein kann“ (ebd.), muss halt ein Gurt angelegt werden. Da es nun einmal Männer gibt, die ihre Partnerinnen misshandeln, muss es eben Frauenhäuser und Notrufe geben. Die berechtigte Frage hierzu lautet, ob wir es uns mit der Gewalt eigentlich einrichten wollen, denn die Ursache und die Bedingungen, unter denen solches zustande kommt, werden hierdurch keineswegs bekämpft (ebd.); vielmehr kann dieses »Spiel« immer so weiter gehen.

Diese berechtigte und wichtige Frage lässt sich übertragen, denn in den Kriegen des späteren 20. Jahrhunderts ist es selbstverständlich geworden, dass Hilfsorganisationen der UN und NGOs vor Ort den Opfern helfen. Das darf auch nicht aufhören, sondern muss weit besser finanziert werden. Aber eine Lösung ist es nicht. Man versucht Schäden zu begrenzen oder fängt das Schlimmste auf. Es ist eben ein Sicherheitsgurt; dessen muss man sich bewusst sein oder werden.

Kriminelle Energien im Krieg?

»Rape is a war crime«, so hieß der Titel einer im Juni schnell einberufenen, internationalen Konferenz des International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) in Wien, zu der u.a. auch die EU-Kommissarin Anita Gradin eingeladen war, die sich große Verdienste bei der Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erworben hat. Zu einer solchen Konferenz erscheinen Militärs, VerteidigungsministerInnen und andere Verantwortliche nie. Das ist aus psychologischer und menschenrechtlicher Sicht bezeichnend und interessant. In Fernseh-Talkshows, Nachrichten und anderen wichtigen Medien-Ereignissen, in denen es um weitere Kriegsstrategien, Einschätzungen der gegenwärtigen Lage o.ä. geht, sieht man dafür keine Frauen. Das ist auch bezeichnend, ja, selbstverständlich und ebenso interessant. Vor dem entwickelten Hintergrund stellen sich jedoch die konkreteren Fragen: Sind Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Folter lediglich (Kriegs-)Verbrechen? Wenn ja, wem nützt diese Sicht und wem nicht?

Wenn nämlich Vergewaltigungen nicht nur Verbrechen, sondern vor allem eine bewusst geplante und vorsätzliche Kriegsstrategie sind, dann ist die potenzielle Strafbarkeit einzelner, krimineller Akte im Krieg kurzsichtig, wenn nicht sogar sinnlos (i.S.v. reiner Symptom-Behandlung), da das nächste Mal, im nächsten Krieg, genau dasselbe geschehen wird. Dann ist auch die Entwicklung von der »Schändung« zum Kriegsverbrechen (rape is a war crime) nicht nur reduktionistisch, sondern ein Akt von gefährlicher Augenwischerei. Dann wird das Nullsummenspiel auch beim nächsten Mal nach dem gleichen Muster anlaufen: Der Gurt wird angelegt, UN-Organisationen und NGOs werden vor Ort sein und helfen, es wird sich aber nichts Grundlegendes ändern. Das ist der Punkt. Die Gewaltspirale wird so nicht unterbrochen. Das Einzige, was sich dann geändert hat, sind die Vokabeln und Bezeichnungen.

Nicht im System einrichten

Hier haben Menschenrechtsorganisationen und andere NGOs eigentlich eine zentrale Aufgabe. Sie müssen dieses Spiel und seine Mechanismen offen benennen und zur Diskussion stellen. Sie müssen der Stachel im Fleisch der Politik sein, die erfahrungsgemäß sonst immer so weitermachen wird. Sie müssen das System und seine Mechanismen entlarven. Sie dürfen sich nicht in dem System einrichten, sondern sie müssen ihre Rolle, ihre Funktionen, ihre Ziele immer wieder neu überdenken. Um dies am Beispiel zu konkretisieren: das oberste Ziel jedweder Organisation, die sich mit der Abschaffung von Ismen, den Ungleichheiten zwischen Menschen, beschäftigt, müsste eigentlich die Selbstauflösung sein.

Noch konkreter: Das Ziel eines Frauenministeriums muss die Abschaffung dieses Ministeriums sein. Denn wenn das Ziel – hier die Abschaffung des Sex-Ismus – erreicht ist, benötigt man es nicht mehr. Das oberste Ziel der Lobby für Menschenrechte ist die Selbstauflösung. Die Bekämpfung und Abschaffung der Ungleichheiten zwischen den Menschen ist lediglich der Weg. Wenn die Lobby nicht mehr notwendig ist, ist der Weg zu Ende und das Ziel erreicht. Es darf durchaus bezweifelt werden, ob alle NGOs diese Sicht haben.

Damit ist nun nicht nur die Politik im Kreuzfeuer der Diskussion, alle sind gefragt und zur Verantwortung zu ziehen.

Literatur:

Doblhofer, G. (1994): Vergewaltigung in der Antike, Teubner, Stuttgart.

Gerstendörfer, M. (1995): Menschenrechtsverletzungen an Frauen im Krieg: Frauen als militärisches Kalkül, in: Fraueninhaftierung und Gewalt, Loccumer Protokolle 62/93, Rehburg-Loccum, S. 97-127.

Hagemann-White, C.(1992): Strategien gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis, Centaurus, Pfaffenweiler.

Millet, K.(1993): Entmenschlicht – Versuch über die Folter, Junius, Hamburg.

Oelemann, B. (1999): Präventionsrat Basel, 17.6.99 »Gewaltprävention und Jugendarbeit«, Vortrag.

Watzlawick, P.(1991): Vom Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen, Piper, München, 5. Aufl.

Monika Gerstendörfer, Diplom-Psychologin, Lobby für Menschenrechte e.V.

Zerbombte Hoffnungen

Zerbombte Hoffnungen

Kriegseindrücke einer Belgrader Grünen

von Branka Jovanovic

Wie erlebte die politische Opposition in Jugoslawien den Krieg? Was ging in den Menschen vor, die zum Teil seit Jahren gegen das Regime Milosevic politisch aktiv waren und deren Heimat jetzt von der NATO zerbombt wurde? Branka Jovanovic, Mitbegründerin der jugoslawischen Grünen schildert ihre ganz persönlichen Eindrücke – als Grüne mit besonderem Bezug auf die Umweltschäden, sie schildert ihre Initiativen und Gesprächsversuche in Richtung alter politischer FreundInnen im »Westen« und ihre tiefe Enttäuschung.

Seit Jahren hören die BürgerInnen Jugoslawiens den Vorwurf, sie hätten durch ihre Wahl eine Politik hingenommen und gefördert, die das ehemalige Jugoslawien zerschlagen und das neue zu Recht isoliert habe. Auch während der brutalen Zerstörung Jugoslawiens durch die NATO hieß es, die BürgerInnen hätten den Genozid gegen AlbanerInnen unterstützt, indem sie die Regierung nicht abgesetzt hätten, die den Genozid verübte.

Eine solche Deutung perpetuiert zunächst alle Irrtümer in der Rezeption der Jahrzehnte dauernden Krise unseres Landes. Dadurch schafft sie die Voraussetzungen für alle möglichen Fehleinschätzungen bezüglich der Tragfähigkeit von Lösungsmodellen für die Krise auf dem Balkan; sie idealisiert die politischen Kreise anderer Teile des ehemaligen Jugoslawiens sowie jener Länder, die die Rolle der Friedensvermittler übernommen haben und sie entledigt sich jeder Verantwortung für die fortdauernde Tragödie.

Man stellt nie die Frage warum gerade die SerbInnen, die 50 Jahre in dem gleichen System mit anderen jugoslawischen Völkern gelebt haben, von diesen so verschieden sein sollen. Sind die Wünsche, Visionen, Interessen der anderen so unterschiedlich gewesen, dass nur sie sich gegen den Hauptstrom der Entwicklung im Osten stellten, um eine eigene Rolle in der Geschichte zu gestalten? Woran liegt das Missverständnis zwischen den SerbInnen und der Welt? Wer trägt zu dieser erschreckenden Distanz bei? Nur die »isolationsbedürftigen« SerbInnen?

Das Nicht-Hinterfragen machte es möglich, alle BürgerInnen der BR Jugoslawien kollektiv so schwer zu strafen, dass sie auf Jahrzehnte hinaus keine Chance mehr auf eine moderne wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung haben. Der bosnische Politiker Haris Silajdzic fasste dies neulich in einem Interview für den Sender B92 so zusammen: „Haben die Bürger Jugoslawiens denn gehofft, dass sie unbestraft bleiben, nachdem sie das Regime gewählt haben, das uns so viel Zerstörung gebracht hat?“ Seit wann ist Rache eigentlich ein Bestandteil des internationalen Rechts?

Ich spüre oft maßlose Verbitterung und noch tiefere Lustlosigkeit, irgend etwas zu erklären, mich auszuweisen, zu rechtfertigen, beim kleinsten Treffen den Vorwürfen vorauszueilen: »Ich bin doch nicht regierungstreu! Ich bin doch die Opposition! Selbstverständlich verurteile ich die Verbrechen der politischen Führung unseres Landes! Ich bin für das Haager Tribunal! Natürlich bin ich keine Anhängerin der Verschwörungstheorie, wenn ich Sie frage, ob Sie auch zu unserem Unglück heftig beigetragen haben!«

Erschüttert

Als die erste Sirene über Belgrad heulte, wollte ich es zunächst nicht glauben. Als ich endlich verstand, dass die Sirene tatsächlich einen Angriff ankündigte, fühlte ich mich völlig vernichtet. Alles was ich gelernt habe – ich habe Philosophie studiert – oder was ich mir von der Welt erträumt habe und ich war bei den Belgrader Grünen seit der Gründung der Grünen Partei war auf einmal wertlos.

Ich dachte an meine Winterreisen mit Münchner FriedensfreundInnen in die Berge, bei denen MuslimInnen und SerbInnen zusammenlebten. Ich dachte an das zehnjährige Wettrennen mit der Zeit, als jede Zelle in mir vor Angst bebte, dass unsere Idee des gemeinsamen Lebens doch nicht siegen werde. Jetzt fühlte ich mich nicht nur als Mensch, sondern auch als politisches Wesen, als Weltbürgerin erniedrigt. Wir waren gnadenlos der Vernichtung ausgesetzt. Anders als der Tod ist die Vernichtung eine Tat, ein Verhältnis, die Weise, wie jemand mit uns kommuniziert. Wir lebten doch bisher schon sehr schwer mit dem Abbruch vieler Kommunikationsarten die einfach zur Würde des Menschen gehören. Mit der ersten Explosion waren auch die letzten Kommunikationsstränge abgebrochen. Deshalb werde ich gerade diese erste dumpfe Explosion nie vergessen und nie verzeihen. Sie beendete meinem politischen Optimismus, meine positiven Motive, meine Hoffnung auf grüne Utopie.

»Kollateralschaden« Umwelt

Verblüffend war, dass bereits am ersten Tag der Angriffe drei Gemeinden in der Nähe Belgrads bombardiert wurden, in denen sich Chemiewerke und ein Nuklearreaktor mit einem Atommülllager befinden: Pancevo, Baric und Vinca. Schon am 24.3.1999 um 8.40 Uhr traf man die Flugzeugfabrik Lola Utva in Pancevo. Es wurden Container mit chemischen Substanzen getroffen und in den Fluss Tamis flossen Natriumdioxid, Chromsäure, Salpetersäure, Fluorsäure, Chrom. Was, wenn die NATO die Petrochemie trifft? Das wäre das sichere Ende Pancevos und mehrerer Belgrader Viertel. Ich habe sofort alle Grünen die ich kannte benachrichtigt. Auch an Joseph Fischer sandte ich eine entsprechende e-mail. Die Hauptanklägerin des Haager Tribunals, Frau Luise Arbour, bat ich, die NATO präventiv zu warnen, weil solche Ziele das Leben Hunderttausender BürgerInnen bedrohen.

Doch die Bombardements gingen weiter. Es wurden am 12.4.1999 die Ölraffinerie, am 15.4.1999 die Düngemittelfabrik und am 18.4.1999 die Petrochemie in Pancevo getroffen sowie die Chemiewerke in Baric. Der Direktor der Petrochemie informierte sogar die NATO darüber, welche gefährliche Substanzen auf dem Werksgelände lagerten und dass man es nicht schaffe, alle abzutransportieren oder in die Donau zu leiten. Am darauffolgenden Tag bombardierte die NATO erneut alle drei Werke, obwohl sie bereits nach dem ersten Bombardement außer Betrieb gesetzt wurden und nicht mehr produktionsfähig waren.

In einem Bericht der Gemeinde Pancevo sind die chemischen Stoffe angegeben, die Tag für Tag in die Luft freigesetzt wurden oder den Boden und das Wasser verschmutzten: Man stößt auf verheerende Daten: „18.04.1999.At 01.10 am the second bombardment of DP »HIP Petrochemichals« occurred. Again the installations for VCM production were hit, also the installation for OVC-production. On that occasion the spheric reservoir with 1.200 tons of VMC was destroyed, and 6 train cisterns of 30 tons of VMC each. All VCM contents in the reservoir burned until 8 am, but the train cisterns burned until 3.30 pm…

According to the information of The Pancevo Institut for Health Protection dispatched at 12.63 hrs, the excessive VCM contentration between 6 am and 8 am was 0,53 mg/m3, which is 530.000 nanograms/m3, and the limit is 50,0 nanograms/m3, which is an excess of 10.600 times more than the values allowed.“

In einer anderen Publikation finde ich eine Liste der zerstörten Erdölraffinerien und Treibstofflager: Tausende Tonnen Erdöl wurden verbrannt oder sind ausgeflossen. Auf einem Photo sehe ich einen Bauern auf dem Feld unmittelbar hinter der brennenden Ölraffinerie in Pancevo arbeiten. Es ist eben die Frühlingszeit, Pflanzen keimen und blühen.

Genaue Daten zur Umweltzerstörung in Jugoslawien sind aber ein großes Problem. Die Behörden verschweigen exakte Daten und sie haben auch viele nicht, weil sie keine Messgeräte haben, die einem solchen Desaster gewachsen wären. Die Beschreibungen in den Veröffentlichungen wirken eher zufällig: Vinylchloridmonomer, Phosgen, Polychlorbiphenyle, Ethilendichloride, Chlor, Säuren aller Arten, Ammoniak, Blei, Cadmium, Dioxin, Quecksilber. Die häufigsten Atribute: hochgiftig, karzinogen.

Auch deutsche WissenschaftlerInnen, wie z.B. Prof. Knut Krusewitz, haben festgestellt, dass ein solcher »Umweltkrieg« gegen die Zusatzprotokolle der Genfer Konventionen aus dem Jahre 1977 verstößt und dass schwere Verletzungen dieser Konventionen ein Kriegsverbrechen darstellen.

Obwohl ich seit 1995 eng mit dem Haager Tribunal zusammen gearbeitet habe und in diesem Zusammenhang Frau Arbour mehrmals persönlich getroffen habe, erhielt ich von ihr auf meine Schreiben keine Antwort.

Die Wirkung
»moderner« Waffen

Mehrere Zehntausende Tonnen Explosivstoffe, die giftig und karzinogen sind, explodierten. Man vergleicht die Destruktionskraft gerne mit jener der Hiroshimabombe. Zunächst wurde von der dreifachen Zerstörungskraft gesprochen, dann von der fünffachen, Greenpeace spricht von der zwölffachen. Man spricht von der Destruktionskraft, aber nicht von der Chemie.

Hier nur zwei Beispiele: In den ersten vier Wochen des Krieges wurden ca. 600 Tomahawk-Raketen auf Ziele in der Bundesrepublik Jugoslawien abgefeuert. Die Reichweite der Tomahawks beträgt 1.600 km und eine Rakete trägt 500-950 kg Explosivstoff von großer Zerstörungskraft mit sich. Ein Kilogramm setzt bei der Explosion frei: 51-148 l Kohlendioxid (CO2), 160-288 l Kohlenmonoxid (CO), 60-200 g Kohlenstoff (C), 160-350 l Stickstoff (N2), 37-90 l Stickstoffmonoxid (NO), 47 l Schwefeldioxid (SO2), 83 l HCN-Säure, 62 l HCL-Säure, 56-224 l Wasserstoff (H2), 20 g Bleioxid (PbO).

Multipliziert man diese Mengen (500 kg x 600 Stück), gewinnt man Tausende Tonnen schädlicher Stoffe, die nicht nur Jugoslawien bedrohen. Außerdem entstehen große Schäden durch Brände, weil dabei organische Stoffe, Plastikmasse, Erdöl und Erdölprodukte verbrennen. Dadurch entstehen Kohlendioxide, Russ, Stickstoff, Schwefel, Oxide schwerer Metalle und krebsverursachende Radikale. Man spricht wenig von dem Inhalt des Staubes. Bedenkt man nur die Tatsache, wieviel Asbest im Bauwesen verwendet wurde, wird klar, was die Explosionen mit sich gebracht haben.

Sasa Kovacevic, ein junger Wirtschaftsexperte, informierte mich, als mehrere Umspannwerke in Belgrad getroffen wurden. 100 Tonnen Pyralen flossen in einen kleinen Fluss, der in die Sava mündet. In einem Belgrader Viertel brannte die ganze Umspanneinrichtung aus und ich sah eine riesige Wolke. In Kragujevac wurde eine kleinere Anlage getroffen und eine kleinere Pyralenmenge freigesetzt. Die UNEP-Kommission stellte schlimme Folgen fest. InsiderInnen, die die Arbeit verfolgten, sagten mir in einer verschwörerischen Art, dass manche Mitglieder der Kommission nicht die ganze Wahrheit veröffentlichen wollten. Von jugoslawischer Seite gab es parallele Untersuchungen, aber auch hier sind die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht und ich befürchte dass sie auch nie veröffentlicht werden. Nehmen wir also einen allgemeinen Text über die Wirkung Polychlorierter Biphenyle: „PCBs are toxic, and have been linked to a number of toxic responces, including the impairment of the immune responses in biota: human carcinogens and tumorigens, neurotoxicity and reproductive toxicity.“

Ein besonderes Kapitel ist in diesem Zusammenhang der Einsatz von Urangeschossen (Über die Folgen des Einsatzes von Urangeschossen siehe auch den Artikel von G. Mertens in dieser Ausgabe von W&F, S. 45, d. R.). Als die NATO den Einsatz von A10- Flugzeugen ankündigte, zu deren Standardausstattung die Munition mit dem abgereicherten Uran gehört, sandte ich verzweifelte Briefe an mir bekannte Adressen im Westen, eingeschlossen Joseph Fischer und Luise Arbour. Es kamen manche aufgebrachte Antworten: Ob ich denn wüsste, was mit den albanischen Flüchtlingen aus dem Kosovo passiere. Ich wusste es zum Teil aus den Berichten der CNN, BBC, Sky News. Und gleichzeitig war es war für mich sehr schwer festzustellen, was Wahrheit war und was zur Kriegspropaganda zählte, denn natürlich werden viele Berichte über Flüchtlinge auch unverschämt missbraucht. So antwortete ich, dass ich alle Verbrechen verurteile, dass das Haager Tribunal sofort reagieren sollte, dass alle Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Trotzdem wagte ich einige Fragen: Ob man glaubt den AlbanerInnen mit Urangeschossen zu helfen, wenn diese als feiner Todesstaub, je nach dem Willen der Winde, auch sie erreichen? Was wird aus der Umwelt, in die sie zurückkehren werden? Wer wird den krebskranken Kindern helfen – unter ihnen können auch albanische Kinder sein?

Es gab eine Diskussion im Internet und die Meinungen darüber, ob das abgereicherte Uran gefährlich ist oder nicht gingen weit auseinander. Die RussInnen sagten, ein halber Nuklearreaktor sei über Jugoslawien ausgeleert worden. Das Ministerium von Joseph Fischer beteuerte, es sei trotzdem nicht gefährlich. Jugoslawische WissenschaftlerInnen beruhigten uns mit der Behauptung, es gäbe keine erhöhte radioaktive Strahlung. Andere WissenschaftlerInnen wiederum beunruhigten uns mit den damit, dass das Uran verbrennen und in Form eines einzigen nicht messbaren, radioaktiven und hochgiftigen Staubkörnchens in unseren gestressten Zellen karzinogene Folgen verursachen könne. Ich selbst kenne einige Menschen, die nach der Bombardierung Bosniens mit solchen Geschossen an Krebs erkrankten. Ein Zufall?

Übrigens bekam ich auch auf diesen Brief weder von Joseph Fischer noch von Louise Arbour eine Antwort.

Bilder der Zerstörung

Nachdem mich ein Kollege aus Deutschland bat, einen kurzen Film über Belgrad zu drehen, besuchte ich zum ersten Mal die zerbombten Orte. Die Zerstörungen der großen Häuser sind erschreckend, auch architektonisch sehr wertvolle Bauten wurden gnadenlos in Asche verwandelt. Da war z.B. das Fernsehen. Siebzehn Techniker kamen hier ums Leben, als das Gebäude mitten in der Stadt getroffen wurde. Der NATO Sprecher sprach damals von einer Aktion gegen die Leute, die sich am Genozid durch ihre Arbeit beteiligten. Zählte er dazu auch die Gelähmten in dem Krankenhaus, das vernichtet wurde? Hat er je darüber nach gedacht, dass auch das Haager Tribunal die Todesstrafe nicht kennt?

Mehrere Tausend Betriebe in Jugoslawien wurden zerstört, beschädigt oder stillgelegt. Nur in der Stadt Nis sind es 23, in Novi Sad fünfzehn, darunter die bekanntesten Industriezentren.

Fast alle Brücken in Jugoslawien wurden zerstört, vier über die Donau, 49 insgesamt. Ich weiss nicht warum die Zerstörung einer Brücke so wehtut. Liegt es an ihren Symbolwerten, daran, dass Verbindendes zerstört wird?

In einem Krankenhaus filmte ich einen Jungen, dem eine Kassettenbombe beide Beine zerfetzt hat. Er ist 10 Jahre alt und kommt aus dem Kosovo. Sein Gesicht ist voll Wunden, auch der Körper. „Ich bin zu meinem Vater gegangen, der im Feld arbeitete. Ich weiss nicht, was ich getan habe. Sie ist explodiert.“ „Tut es weh?“, fragte die Krankenschwester. „Nur das Auge! Ich kann mit einem Auge nichts mehr sehen, weil es verletzt ist“, war die Antwort und er lächelte, kindlich unbesorgt um seine Beine. In einem anderen Zimmer lag eine ältere Frau. Auch sie das Opfer einer Kassettenbombe, die auf dem Markt in Nis explodierte. Unentwegt fragte sie nach ihrer schwangeren Schwiegertochter, die mit ihr zum Markt gegangen war: „Sie muss tot sein und niemand will mir das sagen. Sie lag unbeweglich neben mir. Sie ist gewiss tot.“ Wie viele ZivilistInnen wurden Opfer der Bomben? Man schätzt 5.000, doch die genaue Zahl ist bis heute nicht veröffentlicht.

Es ist sehr schwer die Zerstörungen meines Landes anzuschauen. Fabriken, Wohnblöcke, Brücken, Eisenbahnlinien, Kirchen, Denkmäler, Flughäfen, TV-Übertragungsanlagen, Krankenhäuser, Flüchtlingsheime, Kindergärten, Schulen, Bibliotheken, Naturschutzgebiete, Wasserwerke, Stromanlagen. Mich verfolgen die Bilder: Da hängen vom Wipfel eines Baumes Kleider, aus einem Paar alter Schuhe ist der Mensch einfach heraus katapultiert worden, sie liegen auf der Straße neben gerade gekauften Radieschen; da sitzt ein Mensch verloren in einem rieseigen Bombenkrater und hält sich am Kopf; da erzählt eine Mutter über ihre Tochter, eine der besten jungen Mathematikerinnen Jugoslawiens, die auf einer Brücke an einem Sonntag ums Leben kam; da hinkt ein Hund mit einem Bein; da sind die Leichen, Kinder deren tote Augen offen starren; da ist die Tigerin aus unserem Zoo, die während eines schweren Angriffes gegen Belgrad ihre Kleinen gefressen hat.

Und dann sind da die Texte und Karikaturen über die SerbInnen. In einer Karikatur der Chicago Tribune sind wir als Schweine in einer Klogrube dargestellt. In einer anderen als Monster. Von einem »Wissenschaftler« lese ich: „Serben sind militant und primitiv, sie sind eine Nation des Todes und der Nekrophilie, sie sind wilde Barbaren, Nachfolger der türkischen Bastarde. Unglücklich und tragisch ist die Nation, die sie zu Nachbarn hat“.

Ich denke an die Generation meiner Eltern. Sie haben sehr ehrlich gearbeitet und vieles aufgebaut. Jetzt wurde ihr Leben zunichte gemacht.

Ohne Perspektive

Durch die Bombardements wurden rund 500.000 Arbeitsplätze direkt vernichtet (wir hatten aber vorher schon mehr als 1 Million Arbeitslose und 1,2 Millionen RentnerInnen). Michel Chossudovsky, der außenpolitische Kommentator der Zeitschrift Le Monde Diplomatique schätzte den Schaden für die jugoslawische Wirtschaft auf 100 Milliarden Dollar.

Den Verlust an Lebenssubstanz, an Glück, an positiven Lebensplänen, ja, die Perspektivlosigkeit für Generationen kann man nicht berechnen. Was kostet es mich, wenn ich nicht mehr im Stande bin, ein Buch zu kaufen oder ins Theater zu gehen? Wer kann das berechnen? Die Jugend Jugoslawiens hat keine Perspektive. Es wird befürchtet, dass viele der gut ausgebildeten Menschen, der HochschulabsolventInnen versuchen werden, Jugoslawien zu verlassen, mit den entsprechend schlimmen Folgen für die Wirtschaft. Es droht der Kreislauf: Verarmung der Gesellschaft – langfristige politische Instabilität – weitere Verarmung. Schließlich will niemand in solchen Ländern investieren.

VerliererInnen

Zwei Monate nach Ende des Nato-Bombardements, am 12.8. 1999, sitze ich mit Amsterdamer Grünen und dem Bürgermeister der Stadt Pancevo zusammen. Wir besprechen Hilfsaktionen für die Bürger, deren Gesundheit schweren Schaden genommen hat. Doch wir finden keine Form der Hilfe. Hilfe darf nur den oppositionellen Gemeinden gegeben werden, Pancevo gehört dazu; die Betriebe aber, die die Sanierung vornehmen müssten, die wissenschaftlichen Institute, die die Vergiftung messen müssten und die Krankenhäuser, in denen es an vielen medizinischen Einrichtungen fehlt, sind staatlich und sie erfüllen dieses Kriterium nicht. Prinzipien! Die VerliererInnen sind wieder einmal die normalen BürgerInnen.

Branka Jovanovic lebt in Belgrad. Sie ist Mitbegründerin der Grünen Partei Serbiens.

Die Autopoiesis des Krieges

Die Autopoiesis des Krieges

von Jürgen Link

Deutschland ist im ersten Krieg seit Adolf Hitler »engagiert«, doch – abgesehen von den abendlichen Nachrichten – wirken Land und Volk so, als ob sie nicht im Krieg stünden. Liegt es an der sprachlichen Verschleierung des Krieges, an der neuen politischen Konstellation oder wo liegen die Ursachen dafür, dass dieser Krieg die deutsche Normalität kaum zu berühren scheint? Jürgen Link geht in seinem Beitrag, dessen erster Teil noch während des Krieges geschrieben wurde1, den Ursachen nach um in einem »Nachtrag« Schlussfolgerungen für eine Politik der Deeskalation zu ziehen.

Fast drei Monate Krieg und wir erlebten eine vollständige Abspaltung von der alltäglichen Lebenswirklichkeit der Bevölkerungen der kriegführenden Länder (abgesehen von den Balkanvölkern); wir erlebten die hundertprozentige Professionalisierung eines Krieges. Alles signalisierte, dass dieser Krieg von den zuständigen Profis so diskret geführt wurde, als ob unser aller Normalität nicht im Geringsten berührt wäre. Wir erfuhren nichts über die realen Tornado-Einsätze, gar nichts über die Technik der elektronischen High Tech-Waffen, wie das funktioniert usw. Wurde nach längst fest etablierten »Szenarien« gebombt oder wurden neue »Optionen« ad hoc »eingespeist« (auch solche Profiwörter)? Wer entschied darüber, wer verteilte die »Aufträge«? Was haben eigentlich genau unsere Tornados alles bombardiert und mit welchem »Erfolg«? Wie reagierten die deutschen Tornado-Piloten seelisch auf die nahezu ununterbrochene Tötung von ZivilistInnen, einschließlich von KosovoalbanerInnen, auf den Tod von Babys und Kindern, der durch die Lahmlegung der Elektrizität und des Trinkwassers »implementiert« wurde, auf die bisher größte ökologische Verheerung in Europa überhaupt? (…) Wir erfuhren schon gar nichts über die Beratungen der NATO-Stäbe, in denen über die Ziele und über die jeweils neuesten Eskalationsschritte entschieden wurde: Wer hatte vorgeschlagen, auch Chemiefabriken zu bombardieren? Gab es Widerspruch dagegen? Wozu werden überhaupt noch PolitikerInnen gefragt bzw. was entscheiden die »Militärs« alles in Eigenregie? In diesem Kontext von Spezialistentum spielen auch die »Implementierungen« und »Kollateralschäden« ihre kleine, durchaus unbedeutende Rolle: Sie signalisieren Profisprache und dass die Bundeswehr das schon macht, so wie die Steuerprofis die Steuerreform – dass also alles völlig normal läuft.

Die Apathie und das Schweigen der Bevölkerung sind also keine Resultate von »Verschleierung« (und natürlich auch nicht von Zustimmung aus Überzeugung), sondern von Arbeitsteilung, Spezialisierung, Professionalisierung – in der Sprache von Niklas Luhmann gesprochen: von »funktionaler Ausdifferenzierung«. Wir haben es mit dem ausstehenden Luhmann-Band »Der Krieg der Gesellschaft« zu tun: Dieser Krieg braucht keine Vermischung mit anderen sozialen Bereichen mehr, er ist auf keine Non-Stop-Begleitung an den Stammtischen mehr angewiesen und noch weniger auf Fähnchenschwenken. Es gibt keine kleinen Siegesfeiern in den Schulen mehr und keine patriotischen Ansprachen in den Betrieben. Solche Vermischungen von Krieg mit anderem, solche »Entdifferenzierungen«, wie es bei Luhmann heissen würde, überlassen wir den unterentwickelten »SerbInnen«. Wir haben mit diesem Krieg buchstäblich nichts zu tun, weil er ohne uns auskommt: Er braucht uns nicht, er »macht sich selber« – mit dem griechischen Fachwort: er folgt dem Gesetz seiner »Autopoiesis«.

Nach Luhmann ist ein Subsystem dann völlig »ausdifferenziert« und damit selbstgenügsam, d.h. »autopoietisch«, wenn es seine Bestandteile selber herstellt. Das gilt für diesen Krieg in höchstem Masse: Sicher sind die Waffen ursprünglich von der Wirtschaft produziert und vom Steuerzahler bezahlt worden – aber als Waffen und besonders als »intelligente« Waffen funktionieren sie nur im Einsatz, also im Krieg, und die wichtigsten, die absolut alles tragenden Instrumente dieses Krieges produzieren die Militärs inzwischen ganz allein und ganz autonom. Welches sind diese tragenden Instrumente? Es sind die Strategien, nach denen die taktischen Programme verfertigt und die Waffen dann eingesetzt werden. Wenn Clausewitz noch den Krieg als die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ definiert hatte, so gilt heute evidenterweise das Umgekehrte: Nicht Schröder, Fischer und Scharping geben der Bundeswehr irgendwelche »inputs« – ihnen bleibt lediglich die manchmal unangenehme Aufgabe, die »outputs« des Krieges zu kommentieren, notwendigerweise völlig unprofessionell und daher eigentlich überflüssigerweise. Wie der Krieg faktisch »funktioniert«, das ist einzig und allein seine eigene Sache, die Sache seiner »Autopoiesis«, das heißt konkret die der professionellen Militärs.

Die Eskalations-Strategie der NATO (d.h. die globalisierte »flexible response«2) ist also das Programm aller Programme dieses Krieges, jenes fundamentale Programm, das ihn auf eigene Beine stellt und ihn unabhängig macht von systemfremden Störungen wie etwa politischen oder gar ethischen. Die Logik dieser Eskalations-Strategie ist das
A und O dieses Krieges, das Spannendste und Interessanteste an ihm – gerade deshalb also das Unbekannteste, das niemand in Medien und Politik »interessiert«.

Was heißt demnach Eskalations-Strategie? Nichts anderes als die Verfügung über eine vollständige Stufenleiter von Waffensystemen und militärischen Reaktionsmöglichkeiten. Strukturell bestimmt ist dieser »Korb von Optionen« durch eine potenziell weltzerstörerische Vernichtungskapazität ihrer höchsten Reaktionsmöglichkeiten (Atomwaffen) und durch die totale Elektronisierung des gesamten Dispositivs (High Tech, smart weapons). Dabei soll die Schlacht, auf die früher der Krieg zielte, nach Möglichkeit dadurch präventiv entschieden, d.h. überflüssig werden, dass das Potenzial des Feindes bereits zuvor durch elektronische Steuerung aus der Luft in seiner Ausgangsstellung vernichtet wird (Air-Land-Battle).

Die Eskalations-Strategie mit monopolisierten High Tech-Waffen garantiert gegenüber technisch unterlegenen Feinden wie dem »Vietcong«, »Saddam« oder jetzt »Milosevic« (jedenfalls theoretisch) den Sieg – der Sieg ist ihr einprogrammiert, weil der Feind bei den höheren Eskalationsstufen »nicht mitziehen« kann.

Die Eskalations-Strategie schließt notwendig exterministische Konsequenzen ein. Unter Exterminismus sei die großflächige Vernichtung zivilisatorischer Grundstrukturen einschließlich der in sie eingebundenen Menschen durch den räumlich und zeitlich unvorstellbar dicht geballten Einsatz von High Tech-Waffen verstanden. Modellfälle sind Hiroshima und Nagasaki. Aber auch niedrigere Eskalationsstufen sind potentiell exterministisch, wie die Modellfälle Dresden und Vietnam (großflächige ökologische Vergiftung durch Agent Orange mit der zusätzlichen späteren Folgelast massenhafter Krebstode) beweisen. Dass der Balkankrieg 1999 nahezu von Beginn an exterministische Komponenten einbegriff, kann nur aus extrem apologetischer Sicht bestritten werden. Während im Golfkrieg noch stolz gemeldet wurde, dass die Sprengkraft der abgeworfenen Bomben schon nach wenigen Wochen die Gesamtsprengkraft des ganzen Zweiten Weltkriegs überschritten hatte, verschont man uns diesmal, offenbar weil es um »Europa« geht, mit solchen Rekordmeldungen. Bei diesen Komponenten geht es nicht um sogenannte »Kollateralschäden«, die als statistisch erwartbare »Unfälle« zwar ebenfalls einkalkuliert und insofern voll von der Eskalations-Strategie zu verantworten sind, dennoch aber nicht zu den direkt und primär einprogrammierten Zielen zählen. Vielmehr zählen hierzu die (vollständig beabsichtigten) Angriffe auf chemische Industriekomplexe (Raffinerien und andere Ölanlagen, elektrische Anlagen, Chemiefabriken, Trinkwassersysteme) und nicht zuletzt die ökologischen Langzeitschäden der Bomben selbst, mit denen noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ein Land so dicht »belegt« worden ist wie Jugoslawien. Wenn die Sprecher der NATO stolz die geringe Rate von »Kollateralschäden« betonen, sollte man fragen, was denn die weit über 90 Prozent »Treffer« anrichten: Als ob nicht (um die toten serbischen Soldaten zu übergehen) durch das Dauerbombardement, wie es noch kein Land bisher erfahren hat, zumindest eine ganze Generation von an Milosevic ja wohl unschuldigen Kindern nachhaltig und mit bleibenden psychischen Schäden traumatisiert würde (das gilt für serbische wie für kosovoalbanische Kinder, deren Trauma nicht dadurch geringer wird, dass die Explosionen offiziell zu ihrem Schutz erfolgen).

Der konkrete Eigenname der Autopoiesis des Krieges lautet in seiner eigenen Sprache »Glaubwürdigkeit«: Dieser Name steht für den unlöslichen Zusammenhang aller Stufen und Optionen der Eskalations-Strategie. Das Grundprinzip dieser »Glaubwürdigkeit« besteht im fundamentalen »Offenhalten aller Optionen«. Es darf also in der Eskalations-Strategie (im Gegensatz zur grundlegenden Alternative einer intelligenten Deeskalations-Strategie) aus Prinzip keine »Deckelung« der Eskalationsleiter geben: Niemals darf eine weitere Eskalation prinzipiell ausgeschlossen werden, und das gilt ganz explizit vor allem auch für die höchsten Eskalationsstufen, die ABC-Optionen. Mehr noch: zur »Glaubwürdigkeit« gehört ebenso, dass auch die unteren Stufen dem Feind nicht bekannt sein dürfen, weshalb die »Option« des atomaren Erstschlags vorbehalten werden muss.

Die »Glaubwürdigkeit« erzwingt von Zeit zu Zeit den tatsächlichen Krieg: Soll die Existenz der Eskalations-Strategie »im Normalfall« bereits durch Abschreckung (deterrence) wirken, so muss in jedem Fall eine einmal konkret ausgesprochene Drohung (wie gegen Milosevic) auch wahrgemacht werden – egal was die Folgen sind und egal was die Eskalationslogik dann noch an weiteren Schritten erzwingt.

Daraus folgt ferner logisch, dass ein einseitiger und gleichzeitg unbefristeter Bombenstopp der Eskalations-Strategie völlig widerspricht – weshalb Fischer auf dem Sonderparteitag der Grünen am
13. Mai in Bielefeld lediglich auf der »Befristung« unbedingt bestehen musste. Mit der »Befristung« blieb der Parteitag voll und ganz in der Eskalations-Strategie – durch Ablehnung der »Befristung« hätte er einen Strategiewechsel vollzogen und das breite Spektrum der Möglichkeiten einer Intelligenten Deeskalations-Strategie eröffnet. Das durfte nicht sein.

Konsequent zu Ende gedacht, folgt daraus weiter, dass das eigentliche und fundamentale Kriegsziel jedes Eskalationskriegs zirkelschlüssig in letzter Instanz nichts anderes sein kann als eben die Erhaltung und nach Möglichkeit Steigerung der »Glaubwürdigkeit« von Eskalationskriegen – die letzte Autopoiesis als Eskalation um den Willen der Eskalation. Deshalb die Kompromisslosigkeit bei der Forderung nach Besetzung des Kosovo durch Truppen der dominierenden NATO-Länder und Errichtung eines militärischen NATO-Protektorats: Ein Nachgeben in diesem Punkt würde zwar das vorgebliche Kriegsziel der Annulierung der Vertreibung erfüllen können, könnte die »Glaubwürdigkeit« von Eskalationskriegen aber möglicherweise schwächen. Daher wird ein Eskalationskrieg, der nicht »glatt läuft«, eher einfach »weiterschmoren« müssen als durch einen Kompromiss beendet zu werden – auch so reproduziert sich der Krieg aus sich selbst. Es versteht sich, dass auch die entsprechende Diplomatie kein System eigenen Rechts sein kann, sondern ebenfalls allein dem Imperativ der »Glaubwürdigkeit« folgen muss – diplomatia ancilla belli. Mehr noch: Selbst die von den USA und den G 7 beherrschten Instanzen der Weltwirtschaft wie IWF, WHO und Weltbank folgen direkt der Eskalationsstrategie, wie die wiederholten Verweigerungen bzw. dann Abschlagzahlungen von Krediten an Russland und der Eiertanz um die WHO-Mitgliedschaft Chinas in jeweils direkter Abhängigkeit von deren Zustimmung (im Falle Chinas »Tolerierung«) zum NATO-Konzept beweisen.

Schließlich gehört zur Eskalations-Strategie gegen einen technisch völlig unterlegenen Feind eine eigenartige strukturelle Komplementarität und Komplizenschaft: Was der unterlegenen Seite an Technik fehlt, muss sie durch traditionale Barbarei zu kompensieren suchen. Diese Barbarei liefert der High Tech-Seite die dringend benötigten Massaker-Bilder mit Verstümmelungen, mit denen sie die »Akzeptanz« für ihre eigenen High Tech-Massaker herstellt und aufrecht erhält. Umgekehrt braucht die technisch unterlegene Seite die High Tech-Massaker, um das eigene Volk in die »fanatische« Solidarität des kollektiven unschuldigen Opfers einbinden zu können. Das wird bereits durch die High Tech als solche erreicht: Auf der unterlegenen Seite ist evident, was auf der überlegenen niemand zu thematisieren wagt: die »Feigheit«, der totale Mangel an »Fairness« dieses Krieges. (…) Die High Tech-Massaker der einen Seite heizen also den »Fanatismus« der anderen an, der wiederum die »handgemachten« Massaker multipliziert und steigert, was wiederum die »Akzeptanz« (und Multiplikation sowie Steigerung) der High Tech-Massaker vorantreibt usw.: teuflische »Autopoiesis« des Eskalationskriegs. (…)

Vor dem 24. März handelte es sich auf der Seite »unseres« Gegners um eine Kombination aus klassischem Anti-Guerrilla-Krieg gegen die UCK und dem Versuch klammheimlicher ethnischer Säuberung. Nachdem die westliche Seite an diesem 24. März Eskalationsstufen »wählte«, gegen die der Zweite Weltkrieg (abgesehen von Hiroshima) verblasst, »musste« natürlich auch die Gegenseite das Eskalationsniveau qualitativ ändern. Es wird einmal zu den Hauptaufgaben künftiger HistorikerInnen gehören, nach Beweisen dafür zu suchen, ob diese qualitative Steigerung von einem (relativ gesehen) »low intensitiy anti-subversive warfare« in Kombination mit klammheimlicher ethnischer Säuberung zur großflächigen Massenvertreibung plus großflächicher ethnischer Säuberung bereits in den NATO-Szenarien simuliert worden war. Wenn nicht, würde es von mangelnder Intelligenz und Professionalität zeugen.3 Sicher ist jedenfalls so viel, dass die exterministische Bekriegung einer mutwillig selbst mit ausgelösten »humanitären Katastrophe« nichts anderes wäre als das Tüpfelchen auf dem i perfekter militärischer Autopoiesis.4 Natürlich bleiben die »handgemachten« Massaker und Vergewaltigungen und die ethnische Säuberung auf serbischer Seite in der alleinigen Verantwortung ihrer unmittelbaren Täter und ggf. ihrer Schreibtischtäter – zur Autopoiesis dieses Krieges gehört aber unbedingt auch der »Zugzwang«, in den die technisch unterlegene Seite versetzt wurde, zur »totalen Flüchtlingswaffe« zu greifen: Zwecks »Verstopfung« der Aufmarschgebiete für eine Panzeroffensive, vor allem in Albanien und Mazedonien, zwecks tief gestaffelter Totalverminung des Kosovo, zwecks Auslösung riesiger Organisationsprobleme für die NATO und schließlich zwecks Schaffung eines mächtigen Faustpfands für Verhandlungen. Da eine Erörterung von strategischen und taktischen Einzelheiten aber die »Akzeptanz« und die an ihr hängende reibungs- und diskussionslose Finanzierung des Krieges – also seine reibungslose Autopoiesis – gefährden könnte, erhielt das Volk anstelle all dieser vertrackten Eskalationslogiken bloß die Stichworte »Hitler« und »Auschwitz« geliefert.

Wenn das über die Eskalations-Strategie Gesagte in den Grundzügen zutrifft, dann erklärt sich daraus nun auch die eingangs erwähnte weitestgehende Abschottung des Systems Öffentlichkeit vom System Krieg. Wenn das reibungslose Funktionieren der Eskalationsmaschine auf der »Autopoiesis« des Krieges, d.h. auf der vollständigen Abkopplung seiner Eskalationslogik von anderen, etwa politischen, inklusive diplomatischen, wirtschaftlichen oder gar ethischen Logiken beruht, dann ist jede »Querkopplung« des Krieges an andere Systeme eine potenzielle Störung eben dieses Krieges. Die einzige notwendige Kopplung zwischen Krieg und Öffentlichkeit ist demnach die Beschaffung pauschaler Akzeptanz – je pauschaler um so besser. Hieraus erklärt sich zunächst das fundamentale Faktum, dass über die Eskalationsstrategie selbst im Allgemeinen und die jeweiligen konkreten Eskalationsschritte im Besonderen die Öffentlichkeit vollständig im Dunkeln gelassen wird. Ebenso natürlich über die grundlegende Alternative einer intelligenten Deeskalations-Strategie.

Wenn man Medien und Politik kritisieren will, so vor allem, insofern sie dieses Spiel sichtlich erleichtert mitspielen und sich also jede militärisch-technische Frage, gar Frage nach der Eskalationslogik, geradezu gierig verbieten.5 Statt dessen haben sich Medien und Politik fast ausschließlich aufs »Bilderzeigen« spezialisiert, und zwar vor allem auf das Zeigen der »handgemachten« Massaker bzw. des Flüchtlingselends. Mit solchen Bildern werden die eigenen Feindbilder (Milosevic und »die Serben als Vergewaltiger«) stabilisiert. Man muss Rudof Scharping immer wieder das (wenn auch womöglich doppelbödige) Kompliment machen, dass er dieses Spiel des Verzichts auf alles Militärische und die Beschränkung aufs reine Bilderzeigen zwecks Aufpumpens des Feindbilds so weit wie kein anderer getrieben hat. Scharping kann dabei trotz seines notorisch schlechten Informationsstands und seines konstitutiven Mangels an strategischer Intelligenz relativ »erfolgreich« agieren, weil er sich einfach auf die implizite Logik des »autopoietischen« Krieges verlassen kann: »Ich zeige euch Bilder von mit der Hand Massakrierten, womit ich euch beweise, dass meine Tornado-Massaker diesen Massakrierten helfen. Je mehr Bilder von Massakrierten ich euch zeige, um so mehr beweise ich euch, dass meine Tornados gegen das Massakrieren helfen«. Die Kurzformel des Arguments heißt: Je mehr Massakrierte, um so klarer handelt es sich um einen »Krieg für Menschenrechte«. Gäbe es die Möglichkeit des »Querdenkens« zwischen der völlig verselbstständigten, »autopoietischen« Eskalationslogik dieses Krieges und anderen Erfahrungsbereichen, so müsste die makabre Dummheit einer solchen »Logik« ihrem Publikum, dem »Volk«, laut in die Ohren schreien.6 Dennoch soll damit gerade nicht gesagt werden, dass solche »Informationspolitik« etwa diesem Kriege nicht angemessen wäre, dass sie ihn etwa »verschleiern« würde. Sie folgt im Gegenteil voll und ganz der Logik seiner Autopoiesis, welcher das Bewusstsein von Alternativlosigkeit als Grundlage massenhafter Akzeptanz entspricht. Was bei Scharping als Mangel an Intelligenz erscheinen kann – Die Reduktion aller komplizierten Balkanprobleme auf eine bloß zweiwertige Idioten-Alternative von »entweder Milosevic oder Tornado, entweder ethnische Säuberung oder Eskalations-Strategie« – das ist genau der verbleibende »output« dieses autopoietischen Krieges fürs Volk: Alternativlosigkeit zu eben seiner Autopoiesis.

Auch der Vietnamkrieg wurde im Prinzip bereits auf der Basis der Eskalations-Strategie geführt, konnte theoretisch also eigentlich gar nicht verloren werden: Hanoi wurde bombardiert wie Belgrad, Südvietnam wie der Kosovo. Der Dschungel sollte mit Agent Orange entlaubt werden, die südvietnamesische Bevölkerung wurde in Massen vertrieben und in Lagern konzentriert, damit sich der Vietcong nicht in ihr verstecken konnte und damit sie dem Kriege nicht »im Wege stand«. Der Vietcong sollte mit Bodentruppen vernichtet werden. Das führte aber zu eigenen Opfern. Die atomare »Option« wurde, als die Bombardements (wie offenbar jetzt auf dem Balkan) zum Sieg nicht ausreichten, ernsthaft erwogen und ernsthaft vorgeschlagen. Zu diesem letzten »Einsatz« kam es vermutlich aus folgenden zwei Gründen dann doch nicht mehr: Zum einen gab es damals noch die atomaren Risikofaktoren Sowjetunion und China; zum anderen brach die »Akzeptanz« bei der Bevölkerung daheim in den USA zusammen. Angeblich vor allem wegen der Toten der eigenen Seite, in Wirklichkeit weil die Eskalations-Strategie sich bei einem immer größeren Teil der US-Bevölkerung als exterministisch erwies. Es entstand im US-amerikanischen Volk über die Trauer um die eigenen Toten hinaus ein Mitgefühl für „die traurige einsame Erde“, wie Hölderlin einmal sagte, für ein »in die Steinzeit zurückgebombtes«, zerschundenes Land, dessen sichtbare Extermination von keinem Gerede über den Schutz der Freiheit der SüdvietnamesInnen mehr aufgewogen werden konnte. Das war natürlich nicht die Sicht der Militärs und ist es bis heute nicht.

Wie konnte dieser theoretisch auf sicheren Sieg programmierte Krieg also dennoch am Ende verloren gehen? Die Antwort erscheint aus der Sicht der Militärs eindeutig: Weil die »Autopoiesis« des Krieges nicht wirklich erreicht und erhalten werden konnte – weil sie je länger je mehr gestört wurde durch Vermischungen mit Politik, Ethik und Kultur – bis das Land von Teach-ins und Liedern gegen den Krieg und Kanada und Frankreich von Deserteuren wimmelten.

Daraus musste »die Lektion gelernt werden«: Wenn Bodentruppen, dann kurz und schmerzlos. Die Konsequenz daraus wiederum hieß Intensivierung der »Luftschläge«, also Steigerung des High Tech-Exterminismus. Das seinerseits implizierte einen nicht zu lange dauernden Luftkrieg, um das schließliche Eindringen seiner exterministischen Folgen ins Bewusstsein der Bevölkerung trotz der seither enorm verschärften Informationszensur zu vermeiden. Damit ist die Eskalations-Strategie nicht zuletzt auch als Krieg gegen die Uhr konstituiert, und zwar gleich mehrfach: Je länger der Krieg dauert, desto mehr sind auch alle Feindbilder dramatisiert, desto weniger erscheinen authentisch diplomatische Kompromisse noch akzeptabel. Und vor allem schreibt die Eskalationsstrategie der Diplomatie den folgenden fatalen kategorischen Imperativ vor: Stimme keinem Resultat zu, von dem jedes Menschenwesen spontan erkennen wird, dass es auch ohne den ganzen Krieg genauso gut oder besser hätte erreicht werden können. Denn das würde ja die »Glaubwürdigkeit« künftiger Eskalationskriege verkleinern.(…) Ein anderes Wort für Eskalations-Strategie ist daher zu recht Teufelsspirale: Kann es einen Ausweg aus ihr geben? Sicherlich nicht ohne »Entdifferenzierung« der Autopoiesis dieses Krieges. (…)

Nachtrag im August 1999

Bekanntlich hat die NATO die »heiße Phase« des Krieges schließlich doch noch rechtzeitig vor der 90-Tage-Hürde der US-Verfassung gewonnen. Dass es in der letzten Phase (seit Mitte Mai) tatsächlich in erster Linie um die »Glaubwürdigkeit« dieses und künftiger Eskalationskriege ging, wurde durch die sog. »G 8-Verhandlungen« in geradezu beängstigender Weise bewiesen.7 Wie ist es zu erklären, dass »den Russen«, die Fischer doch angeblich ins Boot holen wollte, nicht einmal eine symbolische Besatzungszone zugestanden wurde? Dass sie die »Demütigung« schlucken mussten, ihre (symbolischen) Einheiten verstreut auf die verschiedenen Besatzungszonen der »zuständigen« G 7-NATO-Weltmächte unter deren Kommando zu stellen? Dass von der UNO nicht einmal die Fahne übrig blieb?

All das macht nur Sinn, wenn man begreift, dass der »autopoietische« Luftkrieg schließlich auch noch beweisen musste, dass er im Stande war, die ominöse, zeitweilig auch innerhalb der NATO geforderte Bodenoffensive vollständig zu »ersparen« sowie einen Einmarsch und eine Besatzung durch schwere Panzertruppen zu gewährleisten, die keinen einzigen eigenen Toten kostete“.8 Der Preis für diesen weiteren »Sieg der Glaubwürdigkeit« war allerdings ebenfalls hoch: Er bestand erstens in der Tabuisierung einer öffentlichen Diskussion über die Frage, ob die aufgefundenen Leichen in den Massengräbern nicht größtenteils oder nahezu sämtlich noch leben könnten, wenn die NATO in Rambouillet nicht die Rolle der UNO und der OSZE usurpiert hätte, wenn sie die OSZE-Beobachter nicht aus dem Kosovo vertrieben hätte und wenn sie nicht auf die Tornado-Stufe eskaliert hätte.9 Jedenfalls stellte sich heraus, dass alle Massakrierten, soweit bisher Daten festgestellt und bekannt gemacht werden konnten, nach der Vertreibung der OSZE und nach dem 24. März massakriert wurden. Diese Tatsache wirft gebieterisch die Frage auf, ob die Bomben-Eskalation nicht als Beihilfe zum Massenmord analysiert werden müsste.

Entsprechend der autopoietischen Logik dieses Krieges kann eine solche Frage in den großen Medien natürlich nicht aufgeworfen werden – sie würde dort spontan abwehrend als »ekelhaft zynisch« diffamiert und von vornherein ausgeschlossen werden – würde doch durch ihre Zulassung das Kartenhaus des »gerechten Krieges für Menschenrechte« zusammenbrechen. Vielmehr funktioniert die Öffnung der Massengräber nach autopoietischer Kriegslogik weiterhin als »Beweis« für die »Richtigkeit« und den »hilfreichen Charakter« der Bombardements. 11.000 Tote in Massengräbern, die nach dem 24. März ermordet wurden, »beweisen« nach der Logik von Schröder, Fischer und Scharping sowie der Medien, dass hier erstmals in der Geschichte ein Krieg zur erfolgreichen Verteidigung der Menschenrechte geführt und gewonnen wurde. Nichts zeigt so sehr wie diese souveräne Missachtung der Chronologie die vollständige Spaltung zwischen der Autopoiesis des Krieges (bei dem es eben hauptsächlich um »Glaubwürdigkeit« und nicht um Menschenrechte ging) auf der einen und der Akzeptanzbeschaffung auf der anderen Seite, wobei »schreckliche Bilder« als solche – ganz abgesehen von der Chronologie, der Pragmatik der Eskalation – zur Legitimation genügen. Wer fragt da schon, ob diese Art Arbeitsteilung nicht ein erfolgreiches Eintreten für Menschenrechte ad absurdum führt?

Im Zusammenhang mit der Besatzung wurde dieses Argument dann noch ausgeweitet: Da so viele KosovoalbanerInnen massakriert worden seien, hätte diese Volksgruppe nun nur noch zur NATO Vertrauen, weshalb ein reines NATO-Militärprotektorat errichtet und folglich die UNO weitestgehend ausgeschaltet werden müsse. Auch das eine autopoietische Meisterleistung!

Zweitens erfahren wir nun, da der Kosovo von der NATO monopolisiert ist, nichts über den jeweiligen Anteil der NATO-Bomben und der serbischen Verbände an den Zerstörungen im Kosovo.

Drittens zahlt die NATO für ihre rein militärische »Glaubwürdigkeits«-Politik, die immer auch eine Großmächte-Politik ist, den Preis, z.B. von der UCK – aber sicher nicht nur von ihr – gegeneinander ausgespielt werden zu können: Schon gelten »die Deutschen« als die einzigen verlässlich-antiserbischen Besatzer, während Briten und besonders Franzosen als »eher proserbisch« ausposaunt werden. Wozu das führen wird, wenn in Kürze das gesamte Besatzungsregime unter deutschen Oberbefehl kommt, bleibt abzuwarten.

Viertens und vor allem gehört zur Logik der »Glaubwürdigkeit«, dass die Beschwichtigungsversuche der Tornado-Grünen vor dem Sonderparteitag, es handle sich auf dem Balkan ganz sicher um einen einzigartigen Sonderfall, der sich nie wiederholen werde, inzwischen nicht bloß verstummt sind, sondern ausdrücklich dementiert werden. So erklärte Angelika Beer nach ihrem enthusiastischen Front-Besuch bei den Panzertruppen der Bundeswehr Ende Juli wörtlich: „Wir werden dafür stehen, dass die Bundeswehr, wenn es zu Einsätzen kommen muss, adäquat ausgestattet und politisch unterstützt wird.“ (FAZ 30.7.1999) Dass jedes »Nie wieder« in der Tat der Eskalations-Strategie fundamental widersprechen würde, ist oben dargelegt worden.10

Ein Wort zur grundsätzlichen Alternative einer Intelligenten Deeskalations-Strategie. Dieses (vorläufige, zur Diskussion und Verbesserung vorgeschlagene) Konzept, das in Teilen der Friedensbewegung und der Grünen seit Jahren bekannt ist (und seinerzeit u.a. von Ludger Volmer unterzeichnet wurde11), kann hier nicht insgesamt dargestellt werden. Auf den Balkankonflikt bezogen sind folgende Alternativen zu nennen: Erstens gilt auf der Ebene internationaler Interventionen in regionale Konflikte die Regel, dass bloß kollektive Sicherheitssysteme (UNO und UNO-Regionalorganisationen wie die OSZE) überhaupt deeskalierend wirken können, während »wildwüchsige« Großmächte (wie die G 7) und einseitige Militärblöcke (wie die NATO) in aller Regel umgekehrt eine bereits bestehende Eskalation noch weiter verschärfen. Der Balkankonflikt hat diese Regel völlig bestätigt. Hätte Rambouillet im Rahmen der UNO und OSZE stattgefunden, so hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Wiedererrichtung der Autonomie des Kosovo und der Abzug der jugoslawischen Repressionskräfte unter internationaler Kontrolle erreicht werden können.12 Die OSZE-BeobachterInnen hätten durch Blauhelme verstärkt werden können. Es hätte auch dann weiter Reibereien, einschließlich bewaffneter, gegeben, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne 11.000 systematisch Massakrierte und ohne die weitgehende Zerstörung eines ganzen Landes. Zweitens hätte eine Konferenz der beteiligten Bevölkerungsgruppen auf dem Balkan im Rahmen von UNO und OSZE auch das Problem der vertriebenen SerbInnen der Krajina und des Kosovo einbeziehen und die Frage der Selbstbestimmung für die bosnisch-serbische Teilrepublik mit der der KosovoalbanerInnen verbinden können. So hätte sich der eskalationsträchtige Komplex des jugoslawischen nationalen Prestiges bei der Selbstbestimmung des Kosovo schrittweise durch Kompensationen entschärfen lassen – insbesondere hätten (nach den Optionen der Intelligenten Deeskalations-Strategie) die G 7- und NATO-Großmächte den kontrollierten Abzug der jugoslawischen Truppen aus dem Kosovo gegen den Abzug ihrer Interventionsflotten und Flugzeugträger aus der Adria aushandeln können.

Die Entmachtung der UNO durch die selbsternannte Welt-Junta »G 8« (im Wirtschaftsteil heißt sie weiter G 7) als Herzstück des sog. Fischerplans war das genaue und extreme Gegenteil einer solchen Deeskalations-Strategie – mit dem oben dargestellten Ergebnis des G 7-NATO-Militärprotektorats, das nichts anderes als ein Pulverfass weiterer Eskalationsrisiken darstellt. Die G 7-Junta, die sich ohne die geringste Legitimation außerhalb der UNO und gegen die UNO einfach auf der Basis ihres »Reichtums« zusammengetan hat, ist durch den »Fischer-Plan« nun zum ersten Mal halb offiziell an die Stelle des UN-Sicherheitsrats gesetzt worden: Ein völkerrechtlicher Putsch von epochaler Tragweite, der allein bereits seinen angeblichen Initiator zum verhängnisvollsten deutschen Außenminister seit 1945 machen könnte. Durch den Eskalationskrieg und durch diesen Putsch ist eine bis auf weiteres scheinbar ausweglose Lage entstanden. Dennoch bestände auch jetzt noch die Möglichkeit eines Wechsels zur Deeskalations-Strategie durch Einberufung einer Balkankonferenz unter Schirmherrschaft der UNO und der KSZE sowie ohne Diskriminierung der verschiedenen sich als serbisch verstehenden Bevölkerungsteile des Balkans. In eine solche Konferenz könnten alle oben genannten Initiativen auch jetzt noch eingebracht werden. Insbesondere könnten im Kontext einer solchen Konferenz auch andere Optionen der Intelligenten Deeskalations-Strategie realisiert werden, wie z.B. »Blauhelmesender« in den Konfliktregionen, in denen die jeweiligen Konfliktparteien paritätisch zu Wort kommen könnten. Dass bei einer solchen Orientierung u.a. auch das Regime Milosevic sehr bald friedlich abgelöst würde, ist mehr als wahrscheinlich – aber vielleicht liegt das ja gar nicht so sehr im Interesse der G 7 und der NATO…

Anmerkungen

1) Der 1. Teil dieses Textes wurde leicht gekürzt unter dem Titel »Der diskrete Krieg der Profis, der die Normalität nicht berührt« am 18.6.1999 in der FR veröffentlicht. Der vorliegende Text wurde gleichfalls leicht gekürzt.

2) Im »Neuen Strategischen Konzept der NATO« (s. FAZ 27.4.1999) wurde noch einmal eigens festgeklopft: Am alten Konzept von flexible response und deterrence wird nichts Wesentliches geändert – bloß wird jetzt in jedem Punkt hinzugesetzt: „einschließlich nicht unter Artikel 5 fallender Krisenreaktionseinsätze“ (d.h. sog. out-of-area-Einsätze wie des Balkankriegs).

3) Es sieht so aus, als ob Scharping, wie so oft ein bisschen naiv, durch eine seiner großartigen »Enthüllungen« Ende April unbewusst und ungewollt die Frage der strategischen Planung und der Chronologie auch für die NATO-Seite indirekt mit ausgeplaudert hätte: Er enthüllte (FAZ 22.4.1999) die Existenz eines serbischen strategischen Plans mit Namen »Operation Hufeisen«, der bereits vor dem 24. März existiert habe. Wollte er damit behaupten, dass Schubladen-Szenarien von Generalstäben als solche verbrecherisch seien? Welch unbewusstes Eingeständnis einer möglichen Wahrheit! Hatte er vergessen, dass die NATO bereits im Juni 1998 mit dem gleichen Eskalationskrieg gedroht hatte, den sie im März 1999 »implementierte« (Berliner Zeitung, 11.6.1998: „US-Präsident Clinton zum Militärschlag im Kosovo bereit“) – hatte die NATO damals keine Szenarien? Schon der Name »Operation Hufeisen« zeigt auf serbischer Seite die »klassische« Antiguerrilla-Strategie: schon immer nannten die entsprechenden Strategen so etwas »Umfassungs- und Vernichtungsoperation« – Milosevics Generäle konnten es beim Pentagon des Vietnamkriegs und bei den türkischen Generälen in Kurdistan, die dann in Jugoslawien an der Seite der Bundeswehr für die Menschenrechte mitbomben durften, abschreiben.

4) Immerhin erklärte Wesley Clark bereits zwei Tage nach dem 24. März, „that it was »entirely predictable« that Serbian terror and violence would intensify after the NATO bombing“ (nach: Stop U.S. Intervention. An interview with Noam Chomsky, in: Tikkun 3/14, S. 6) – sollte der General das nicht auch schon vor dem 24. März geahnt haben?

5) Eine ganz seltene Ausnahme rationaler Analyse der Eskalationslogik in der auflagenstarken Presse stellt der Beitrag von Lothar Rühl, früherer Staatssekretär von Scharpings Vorgänger Rühe, dar (FAZ 28.5.1999). Rühl befürwortet die Eskalationsstrategie als solche, kritisiert aber ihre konkrete Handhabung.

6) In der letzten Phase des Bombenkrieges hat auch Franziska Augstein diesen springenden Punkt in aller Deutlichkeit formuliert (FAZ 2.6.1999): Wenn die NATO in den Kosovo einrücken wird, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie findet keine Massengräber oder sie findet Massengräber. Im ersten (unwahrscheinlichen) Fall hätte sie nicht einmal eine nachträgliche Legitimation – im zweiten (wahrscheinlichen) stände ihre Strategie als total gescheitert da. Der zweite Fall ist dann eingetreten: die Konsequenz konnten aber nur einige wenige »Querdenker« ziehen, weil für die Medienwirkung nur die Symbolik der »Bilder«, nicht die Pragmatik und Chronologie der Abläufe und schon gar nicht die Frage des tatsächlichen Verhältnisses zwischen Toten und Geretteten zählt. So konnte dann später Michael Hanfeld in der gleichen Zeitung triumphierend und angeblich im Rechtgegen Franziska Augsteins Prognose schreiben: »Warum Scharping untertrieben hat« (29.6.1999) – weil ja angeblich jeder Massakrierte mehr auch nachträglich noch »beweist«, dass Scharpings Tornadobomben „gegen das Massakrieren geholfen haben“.

7) Und auch z.B. von der FAZ anerkannt: „Die NATO kann diesen Kriegsschauplatz nur als Sieger verlassen, weil sonst ihre Glaubwürdigkeit als Ordnungsfaktor und ihre Fähigkeit zu Stabilitätsprojekten in den Osten hinein (sic) in einem Maß beschädigt würde, das nicht nur für den Balkan gefährliche Folgen hätte.“ (23.4.1999)

8) Die Alternative »Luftkrieg pur mit Erzwingung des Panzertruppen-Einmarsches« vs »Luftkrieg in Kombination mit Panzeroffensive« war sicherlich die konkret wichtigste Entscheidung der NATO-Stäbe in diesem Krieg. Die Wahl der ersten »Option« bedeutete vor allem deshalb eine äußerst prekäre Wette, weil der Fall des Scheiterns künftigen Feinden der NATO mehr oder weniger klar signalisiert hätte, dass ein analoger Krieg nicht ohne Bodenoffensive (d.h. Panzeroffensive) zu gewinnen wäre. Gerade deshalb war eine nachträgliche, »zu späte« Bodenoffensive aber nicht bloß aus politischen, sondern auch aus militärischen Gründen der Autopoiesis, d.h. der maximalen Glaubwürdigkeit der Eskalationsstrategie, nach Möglichkeit zu vermeiden.

9) Immerhin gestand der britische General Rose in einem Leserbrief an die Times ein, dass die NATO ihre ursprünglichen humanitären Ziele (Verhinderung von Massakern und Massenvertreibungen) nicht erreicht und deshalb »unterwegs« ersatzweise ein neues humanitäres Ziel (Rückkehr der Flüchtlinge) an die Stelle gesetzt habe (FAZ 24.7.1999).

10) Rechtzeitig vor dem 24. März (nämlich am 16. März) hatte einer der Vorreiter der grünen Tornado-Linie, seit der Regierung Schröder-Fischer Beauftragter für Menschenrechte und humanitäre Katastrophen im AA, Poppe, vor immer mehr „humanitären Katastrophen in den kommenden Jahren“ schon einmal vorsorglich »gewarnt« (FAZ 16.3.1999).

11) Noch einmal abgedruckt im Sonderheft »Im Auge des Tornados« der Zeitschrift kultuRRevolution (Klartext-Verlag Essen) und des diss-journal (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung), S. 38-40. In diesem Sonderheft weitere Beiträge, u.a. zur Rolle der Medien und der Grünen, aus der Sicht der vorliegenden Analyse.

12) Diesen Bedingungen hatte die jugoslawische Regierung in Rambouillet sogar gegenüber der NATO bereits zugestimmt.

Dr. Jürgen Link ist Professor für Literaturwissenschaft und Diskurstheorie an der Universität Dortmund

Der Krieg für die NATO

Der Krieg für die NATO

von Michael Berndt und Werner Ruf

Es war Krieg in Europa: Die NATO führte einen Luftkrieg gegen Jugoslawien und auf dem Boden fand ein Bürgerkrieg zwischen diversen Einheiten der jugoslawischen Armee und Kosovo-AlbanerInnen statt. Die NATO begründete ihre Aggression mit den Zielen a) Jugoslawien zur Unterschrift unter das Rambouillet-Abkommen zu zwingen und b) eine »humanitäre Katastrophe« im Kosovo abzuwenden. Was sie zunächst erreichte, war das genaue Gegenteil: Sie machte das Rambouillet-Abkommen zur Makulatur und unter ihren Bomben eskalierte die Vertreibung der Kosovo-AlbanerInnen. Schließlich war der Luftkrieg der NATO auch kein chirurgischer Eingriff allein gegen die vorher bestimmten Ziele – diese wurden nicht einmal getroffen (vgl.: SZ 23.7.1999). Statt dessen nahmen mit der Erhöhung der Angriffsintensität die sogenannten Kollateralschäden zu, unter denen nicht nur die serbische Bevölkerung zu leiden hatte, sondern gerade auch diejenigen – die Kosovo-AlbanerInnen –, zu deren Schutz die NATO nach ihrer eigenen Begründung angetreten war. Diese Konsequenzen waren voraussehbar und sie wurden von einigen PlanerInnen auch vorausgesagt (vgl.: Nieth 1999: 8). Damit stellt sich die Frage nach anderen als den vorgegebenen Zielen

Wer die offizielle NATO-Argumentation betrachtet, kann den Eindruck gewinnen, als hätten diejenigen, die in der NATO über die Angriffe zu entscheiden hatten, tatsächlich gedacht, Milosevic würde nach der ersten Bombe zum Telefon greifen und sich zur Unterschrift unter den militärischen Teil des Rambouillet-Abkommens bereit erklären. Nun sitzen allerdings in den Planungs- und Entscheidungszentralen nicht nur pathologische Fälle, die von Unkenntnis und Irrationalismus geprägt sind, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Eskalationsdimension den EntscheiderInnen bekannt war und von ihnen hingenommen wurde. Damit öffnet sich ein Widerspruch zwischen offizieller Argumentation und den Hintergründen der Entscheidung. Dieser Widerspruch ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. Dabei werden wir versuchen unsere These zu belegen, dass es der NATO bzw. genauer den beteiligten Staaten, die Mitglied der NATO sind, bei ihrem Krieg gegen Jugoslawien nicht um den Kosovo ging; die Eskalationsdimensionen waren für die NATO zweitrangig bei ihrer Diskussion um und schließlich der Entscheidung für Luftangriffe ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates. Eine Diskussion, die im Frühjahr 1998 begann.

Wie man »Handlungszwänge« herstellt

Ende Februar/ Anfang März 1998 kam es im Kosovo im Vorfeld der für Ende März unter den Kosovo-AlbanerInnen angesetzten Wahlen, die der US-Vizeaußenminister Talbott als „nicht hilfreich“ für die Konfliktbearbeitung bezeichnete (SZ 18.3.1998), zu Unruhen bei denen es – auf beiden Seiten – mehrere Tote, gab (SZ 2.3.1998). Diese Unruhen waren der Auslöser für die Einberufung eines Treffens der Balkan-Kontaktgruppe (BRD, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland und USA) am 9.3.1998 in Bonn.

Im Umfeld dieses Treffens wurden letztlich die Weichen für die weitere Konfliktbearbeitung gestellt. So argumentierte Bundesaußenminister Kinkel, dass „die Zeit für normale diplomatische Bemühungen… abgelaufen (sei) (und, d. Verf.) Europa… nicht wie zu Beginn des Bosnien-Konflikts zu spät kommen (dürfe)“ (SZ 5.3.1998) und der US-Sondergesandte Gelbard erklärte, die USA seien auch zu einem militärischen Eingreifen bereit (ebd.). Schließlich wurde von der US-Außenministerin Albright perspektivisch „keine Option ausgeschlossen“ (SZ 9.3.1998). Dies führte dazu, dass Russland den Westen vor einer Intervention im Kosovo warnte (SZ 7./8.3.1998).

Das Ergebnis des Kontaktgruppentreffens war dann symptomatisch für alle weiteren Handlungen des Westens im Kosovo-Konflikt: Beide Seiten – die jugoslawische und die albanische – wurden zu Gesprächen aufgefordert, wobei gegen die eine Seite, nämlich die der jugoslawischen Regierung, diese Aufforderung mit einem Ultimatum und Sanktionen verbunden wurde. Auf albanischer Seite zielte die Gesprächsaufforderung auf die Rugova-»Regierung«, die aber gar nicht die Kontrolle über die gewalttätige Fraktion der AlbanerInnen – die UCK – hatte. So schafften sich die Kontaktgruppe im Ganzen und die westlichen Mitglieder der Kontaktgruppe, die auf ein schärferes Vorgehen gegen Jugoslawien drängten – zunächst Deutschland und die USA (siehe: SZ 9.3.1999) – im Besonderen, ihr eigenes Problem: Die Regie wurde der Akteurin übergeben, die auf albanischer Seite für Terroranschläge verantwortlich war, ohne sie zunächst allerdings in die Konfliktbearbeitung einzubinden.

Die zu dieser Zeit vom Westen noch so titulierte Terrororganisation UCK (vgl.: Küppers 1998) musste es nur durch Angriffe z.B. auf Polizeistationen schaffen, die jugoslawische Seite zu schärferen (Gegen-)Aktionen zu reizen, denn damit würde Jugoslawien gegen die Forderungen des Westens bzw. der Kontaktgruppe verstoßen. Sollte der Westen es ernst meinen damit, dass letztlich keine Option ausgeschlossen sei, so müsste er dann, wenn Jugoslawien seinen Forderungen nicht nachkam, die Maßnahmen weiter verschärfen.

Die Rechnung der UCK ging letztlich auf und so verstärkte sich im Mai 1998 die Diskussion über militärische Maßnahmen der NATO gegen Jugoslawien, die im Juni in die Diskussion über Luftschläge ohne UNO-Mandat mündete. Dabei waren die Positionen in der NATO allerdings nicht einheitlich. Während Großbritannien und die USA letztlich für Luftschläge auch ohne UNO-Mandat eintraten, wurde dies zunächst u.a. von Frankreich abgelehnt (IHT 18.6.1998). Die Position der Bundesregierung war gespalten, was die Süddeutsche Zeitung zur Überschrift „Kosovo bringt Rühe ins Kinkeln“ (SZ 24.6.1998) bewog. Während Bundesaußenminister Kinkel ein UN-Mandat zur Voraussetzung machte, argumentierte Bundesverteidigungsminister Rühe: „zum jetzigen Zeitpunkt wäre es falsch, sich in die eine oder andere Richtung (mit oder ohne UNO-Mandat, d. Verf.) festzulegen. Wir müssen zu flexiblem Handeln fähig sein. Denn wir wollen ja Druck ausüben.“ (Rühe 1998)

Allerdings wurde – und dies gilt es besonders hervorzuheben – von keinem NATO-Mitglied jemals der Versuch unternommen, ein entsprechendes Mandat des UN-Sicherheitsrats zur völkerrechtlichen Deckung von Luftangriffen zu erlangen. Dass eine solche Resolution „zwangsläufig dem Veto einiger ständiger Sicherheitsratsmitglieder, vor allem Russlands und Chinas, verfallen würde, ist zwar offensichtlich in Regierungskreisen dieser Mächte geäußert worden. Konkret getestet in einer Abstimmung des SR sind diese Absichten bislang nicht“ (Paech/ Stuby 1999: 39).

Mit der Diskussion über und letztlich der Vorbereitung von Luftschlägen auch ohne Mandat des Sicherheitsrates schaffte sich die NATO ihre eigenen Handlungszwänge in einem Konflikt bei dessen Bearbeitung eine Fraktion sozusagen Narrenfreiheit hatte, weil sie in die diplomatische Konfliktbearbeitung lange Zeit gar nicht eingebunden war, nämlich die UCK. Erst nach den NATO-Ratssitzungen vom 28.5.1998 (auf Außenministerebene) und 11.6.1998 (auf Verteidigungsministerebene), also nachdem die NATO mit der Vorbereitung militärischer Maßnahmen begonnen hatte, begann der Versuch der Einbindung der UCK, bis zum Winter 1998 aber ohne sichtbaren Erfolg für eine diplomatische Lösung. Dabei ist festzuhalten, dass zwar im Rahmen der Holbrooke-Verhandlungen vom Herbst 1998 die jugoslawische Seite sehr zäh war, sie aber schließlich immer die Vereinbarungen einhielt, zumindest solange, bis die UCK dagegen verstieß (siehe z.B.: Meyer 1999). Die Gewaltakte der UCK wurden einfach übersehen. Jede Aktion der jugoslawischen Seite diente demgegenüber aber als Grund für weitere Schritte in der Eskalationsspirale der NATO. Hier stellt sich die Frage, was die NATO und ihre Mitgliedstaaten bewog, über die scheinbare Paradoxie dieser Entwicklung hinwegzusehen (siehe dazu auch: Debiel 1999).

Ein Krieg wofür?

Die Weichen für die NATO-Luftangriffe gegen Jugoslawien wurden also schon im Sommer 1998 gestellt. Rambouillet war dann schließlich der krönende Abschluss, und genau hier setzt nun unsere These an. In dem Dossier der Zeit vom 12.5.1999 wurde unter der Überschrift „Wie Deutschland in den Krieg geriet“ (Hofmann 1999) der These gefolgt, dass Deutschland keine Möglichkeit hatte, im Rahmen der Rambouillet-Verhandlungen einen militärischen Konflikt abzuwenden, vor allem auch deshalb, weil sich die jugoslawische Seite unnachgiebig zeigte. Doch dieses Dossier kann auch ganz anders gelesen werden: Bei den Rambouillet-Verhandlungen ging es nicht um eine konstruktive Konfliktbearbeitung im Kosovo, sondern um Macht-Spielchen unter den westlichen Staaten. Wer hat den Vorsitz? Wer darf wo mitverhandeln? Wer stellt welchen Sonderbotschafter? Wer darf wann welche Ergebnisse präsentieren? usw. Um das Agieren der NATO und ihrer Mitgliedstaaten mit seinen Paradoxien bezüglich des Kosovo-Konflikts nachvollziehen und rational fassen zu können, muss somit der Fokus auf das Verhältnis der westlichen Staaten untereinander und in der NATO gerichtet werden, das Buro schon 1997 als kompetitiv-kooperativ bezeichnete (Buro 1997: 12, siehe auch: Berndt 1997: 65ff).

Nach den diversen Divergenzen im Rahmen der Veränderung der NATO zur »Neuen NATO«, die sich auf die Punkte neue Mitglieder, neue Militärstruktur und europäischer Pfeiler in der NATO bezogen, stand ab Winter 1997/1998 in der NATO der letzte Punkt noch aus: Das für den 50. Geburtstag für April 1999 angekündigte Neue Strategische Konzept. Mit diesem Konzept sollte letztlich allen bisherigen Veränderungen ein einheitlicher Rahmen gegeben werden. Wegen der Zentralität dieses Konzeptes für die künftigen Zuständigkeiten der NATO, wie gerade auch für das Verhältnis zwischen WEU, EU und NATO, war der letzte Schritt des Wandels der NATO mit erheblichem Konfliktstoff verbunden (vgl.: Nassauer 1999). Eine Reduzierung des Konfliktstoffs auf die Extrempositionen

  • NATO als zentrale Organisation zur Durchsetzung der Sicherheitsinteressen des Westens, wie sie von den USA vertreten wird, und
  • NATO als Verteidigungsbündnis mit einer parallelen und möglichst unabhängigen WEU als militärischem Arm der EU, wie sie von Frankreich vertreten wird,

wird der Komplexität der Divergenzen allerdings nicht gerecht. Denn auch die USA haben ein Interesse an einem militärisch starken Europa, allerdings unter ihrer Kontrolle und Frankreich hat ein Interesse an der Einbindung der USA zum Ausbalancieren der BRD.

Großbritannien vertrat bis Herbst 1998 offiziell eher die Position der USA. Dies änderte sich scheinbar auf dem französisch-britischen Gipfel von Saint Malo am 4.12.1998, unterstützte doch Großbritannien nun die Integration der WEU in die EU und den Ausbau einer westeuropäischen militärischen Handlungsfähigkeit (siehe: Blair/ Chirac/ Jospin 1998). Allerdings geschah dies nicht, um die NATO zurechtzustutzen und sich von den USA zu emanzipieren, sondern um „den Wert Europas als Juniorpartner der USA zu sichern“ (Dembinski 1999: 788). Demgegenüber lavierte Deutschland in seiner „bewährten“ Strategie (siehe: Berndt 1997) zwischen den Positionen Frankreichs, Großbritanniens und der USA, um seinen eigenen Einfluss und Handlungsspielraum auszuweiten.

Zwischen westeuropäischem Anspruch auf eine größere außenpolitische Rolle in den internationalen Beziehungen und dem US-Interesse, dies nur unter Aufsicht zuzulassen, zwischen dem hehren Anspruch einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU und deren Reduzierung auf militärische Handlungsfähigkeit, zwischen dem Anspruch der EU, die internationale Politik mit zu gestalten, und internen Rivalitäten darüber, wer die EU gestalten soll, blieb die ursachenorientierte Bearbeitung des Kosovo-Konflikts auf der Strecke. Vor dem Hintergrund divergierender Interessen und Ziele der westeuropäischen Regierungen hatten die USA die Möglichkeit, ihr Konzept für eine neue NATO(-Strategie) durch ihre Art der Bearbeitung des Kosovo-Konflikts voranzutreiben (vgl. auch: Pradetto 1999: 810). War erst einmal die militärische Maschinerie für die Luftangriffe angelaufen – mit Planungsauftrag im Juni, »activation on warning« im September und »activation order« im Oktober –, wollte keine der europäischen Regierungen mehr abspringen, da dies Folgen für die zukünftige Rolle im Bündnis gehabt hätte.

Fazit

Die Haltung der westeuropäischen Staaten gegenüber den verschiedenen Krisen, die zur Auflösung des ehemaligen Jugoslawien führten, war stets uneinheitlich, ja widersprüchlich. Gleiches trifft letztlich auch auf ihre die Haltung bezüglich der Entwicklung der NATO zur »Neuen NATO« zu (siehe: Berndt 1999a). NATO-Entwicklung und die Bearbeitung der Jugoslawienkonflikte stehen in enger Verbindung zueinander. So sind die Vorbereitung und schließlich die Durchführung des Krieges gegen Jugoslawien u. E. auch zu verstehen als Resultat interner Interessendivergenzen über die künftige Rolle der NATO. Damit folgte die Bearbeitung des Kosovo-Konflikts durch die NATO einer Logik, bei der es nicht um den Konfliktgegenstand ging.

Somit spricht vieles für die These, dass es bei der Bearbeitung des Kosovo-Konflikts – ganz im Sinne des neuen NATO-Konzepts – darum ging, zentrale Bestandteile des Völkerrechts und insbesondere die Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrats auszuhebeln und das Völkerrecht mit Hilfe des im Golfkrieg entwickelten Konzepts der »humanitären Intervention« in einen Baukasten zur Legitimation dieses und zukünftiger Kriege zu verwandeln (vgl. Berndt 1999b, Paech/ Stuby 1999, siehe auch schon Ruf 1994, insbes. 115-119 u. 186-189). Sollte das Ziel also gewesen sein, die UNO heraus zu halten, so kann einerseits die Rückführung des Konflikts in die Kompetenz des UN-Sicherheitsrates durch die Ahtissari-Tschernomyrdin-Vermittlung durchaus als (vorläufiger) Rückschlag betrachtet werden. Andererseits zeigt die Praxis der KFOR vor Ort aber, dass die NATO fest entschlossen ist das Handeln zu bestimmen.

Dass aber Konflikte dieser Art mit (robusten) »humanitären Interventionen« nicht lösbar sind, zeigt schon das Beispiel der SFOR, deren Ende nicht absehbar ist. Im Falle der KFOR dürfte die Bilanz noch deutlicher ausfallen. So bleibt die schwache Hoffnung, dass eine militärisch noch immer nicht (selbstständig) handlungsfähige EU/WEU daraus die Konsequenz zieht, statt einer militärischen Außen- und Sicherheitspolitik eine alternative zivile Außen- und Friedenspolitik zu entwickeln, die auf eine präventive und politische Konfliktlösung abzielt.

Literatur

Berndt, Michael (1997): Deutsche Militärpolitik in der »neuen Weltunordnung«. Zwischen nationalen Interessen und globalen Entwicklungen (Agenda Resultate: 5), Münster.

Berndt, Michael (1999a): Die NATO-Osterweiterung und ihre Bedeutung für Frieden und Sicherheit in Europa und den internationalen Beziehungen, in: Imbusch, Peter/ Zoll, Ralf (Hrsg.); Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung mit Quellen; Opladen (2., überarb. u. erw. Aufl.), S. 399-419.

Berndt, Michael (1999b): Rückkehr zum Faustrecht. Das neue strategische Konzept der NATO, in: Evangelische Kommentare (32:7), S.27-29.

Blair, Tony/ Chirac, Jacques/ Jospin, Lionel (1998): Französisch-Britischer Gipfel: Erklärung über die europäische Verteidigung. Saint-Malo, 4.12.1998 , in: Frankreich-Info, hrsg. Presse- und Informationsabteilung der französischen Botschaft (93) 8.12., S.1-2.

Buro, Andreas (1997): Militärgewalt und Globalisierungsprozess, in: Wissenschaft und Frieden (15:2), S.11-15.

Debiel, Tobias (1999): Katastrophe im Kosovo. Zehn Anmerkungen zu Massakern, Krieg und (De-)Eskalation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (44:5), S.539-547.

Dembinski, Matthias (1999): Verteidigungsbündnis ohne Feind, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (44:7), S.787-790.

Hofmann, Gunter (1999): Wie Deutschland in den Krieg geriet (Dossier), in: Die Zeit (54:20), 12.05., S.17-21.

Küppers, Bernhard (1998): Zufallsbegegnung mit der PLO des Balkans. Die USA spielen das Treffen Holbrookes mit Kämpfern der Kosovo-Befreiungsarmee herunter, in: SZ 26.6., S.8.

Meyer, Berthold (1999): Die westliche Staatenwelt im Strudel der Kosovo-Kriege, in: Schoch, Bruno/ Ratsch, Ulrich/ Mutz, Reinhard (Hrsg.), Friedensgutachten 1999; Münster/ Hamburg/ London, S. 60-69.

Nassauer, Otfried (1999): Neue NATO – Neue Strategie?, in: Wissenschaft und Frieden (17:2), S.24-28.

Nieth, Jürgen (1999): Humanität oder Macht? Mit welchem Ziel bombt die NATO?, in: Wissenschaft und Frieden (17:2), S.7-12.

Paech, Norman/ Stuby, Gerhard (1999): Recht oder Gewalt? Unterwegs zu einer neuen Weltordnung, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/1999, Der NATO-Krieg. Hintergründe und Alternativen, Hamburg, S. 36-47.

Pradetto, August (1999): Zurück zu den Interessen. Das Strategische Konzept der NATO und die Lehren des Krieges, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (44:7), S.805-815.

Ruf, Werner (1994): Die neue Welt-UN-Ordnung – Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der »Dritten Welt«, Münster.

Rühe, Volker (1998): Ein Manöver irgendwo außerhalb des Kosovo reicht nicht (Interview), in: SZ vom 19.6., S.9.

Dr. Michael Berndt und Prof. Dr. Werner Ruf, Fachgebiet Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik, arbeiten am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Gesamthochschule Kassel

Die Balkanpolitik Deutschlands

Die Balkanpolitik Deutschlands

von Ulrich Cremer

Die deutsche Balkanpolitik der letzten zehn Jahre traf nicht immer auf die Zustimmung der westlichen Verbündeten. Sie wurde trotzdem exekutiert und heizte nach Auffasung nicht weniger ExpertInnen die Konflikte an. Ulrich Cremer untersucht ihre Hintergründe und Interessen. Er schlägt den Bogen von der deutschen Balkanpolitik vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg über die »Anerkennungspolitik« Genschers bis hin zum Kriegseinsatz 1999.

Die Zeremonien für die deutsche Vereinigung waren kaum vorüber, als das größer gewordene Deutschland erste außenpolitische Akzente auf dem Balkan setzte. Während andere Mächte eine Gesamtlösung für das zerfallende Jugoslawien bevorzugten, setzte Deutschland seine Bündnispartner mit seiner eigenmächtigen Anerkennungspolitik unter Druck. Trotz anders lautender zeitlicher Absprachen erkannte die Regierung Kohl/Genscher am 19. Dezember 1991 Slowenien und Kroatien diplomatisch an. Damit hatte Deutschland seinen europäischen Hegemonieanspruch deutlich angemeldet und es dabei sogar auf eine Kraftprobe mit den USA ankommen lassen. Der damalige US-Außenminister Christopher wurde in einem Interview im Juni 1993 deutlich: „Es wurden beim gesamten Anerkennungsprozess und vor allem bei der zu schnellen Anerkennung schwere Fehler gemacht und die Deutschen tragen eine besondere Verantwortung dafür, dass sie die EG zu dieser Anerkennung überredet haben… Viele ernstzunehmende Fachleute sind der Meinung, dass die Probleme, denen wir heute gegenüberstehen, aus der Anerkennung Kroatiens und später Bosniens abzuleiten sind.“1 Bekanntermaßen heizte die deutsche Anerkennungspolitik das Kriegsgeschehen, insbesondere den Bosnienkrieg, an. Angesichts des offensichtlichen Fiaskos seiner Balkanpolitik trat Genscher im Juli 1992 vom Amt des Bundesaußenministers zurück.

Bereits damals war man sich (mit Ausnahme der PDS und einiger »AbweichlerInnen« in anderen Parteien) in der deutschen Balkanpolitik im Prinzip einig. Vielleicht, dass es einigen nicht schnell genug ging. Der damalige Sprecher der Grünen, Ludger Volmer, forderte im Sommer 1991 die Bundesregierung auf, „das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch praktisch anzuerkennen… Den Slowenen und Kroaten muss der staatliche Zusammenhang ermöglicht werden, den sie selbst wünschen.“2 Am 14.11.91 brachten CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Antrag im Bundestag ein, in dem „die Bemühungen der Bundesregierung… die Voraussetzungen für eine völkerrechtliche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens… durch die EG und ihre Mitgliedsstaaten zu schaffen“ 3gewürdigt wurden. Zwar kritisierten die früheren Oppositionsparteien SPD und Grüne/Bündnis 90 die Einsätze der Bundeswehr in Bosnien mehrere Jahre lang. Aber seit Dezember 1995, als es um die Stationierung von Bundeswehr-Soldaten nach dem Dayton-Abkommen ging, waren diese methodischen Differenzen im Wesentlichen ausgeräumt, auch wenn die grüne Partei erst im Oktober 1998 mit der Zustimmung zum Koalitionsvertrag ihren Widerstand aufgab.

Kontinuität von 1914 bis 1991?

Viele BeobachterInnen entdeckten in der deutschen Anerkennungspolitik eine Rückkehr zur Balkanpolitik des Deutschen Reiches. Die politischen Koalitionen von damals (mit Kroatien und Slowenien gegen Serbien) und die Mitteleuropa-Konzepte der deutschen Eliten schienen fröhliche Wiederkehr zu feiern.

Zur Erinnerung: Mitteleuropa sollte gemäß dem FDP-Stiftungsnamensgeber Friedrich Naumann ein Zusammenschluss Deutschlands (als Führungsmacht) mit Österreich-Ungarn samt der diversen Balkanländer sein. Entsprechend lasen sich die deutschen Kriegsziele im 1.Weltkrieg: „Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und evtl. Italien, Norwegen und Schweden. Dieser Verband, … unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.“4 Störenfried war auch damals – Serbien: „Das serbische Gebiet kann nicht als feindliches Kastell innerhalb des mitteleuropäischen Schützengrabenverbandes geduldet werden … Als Volk haben die Serben dasselbe Recht zu existieren, wie jedes andere, aber das Recht auf berufsmäßige Friedensstörung darf von den Anwohnern nicht gewährt werden.“5

Die Niederlage Deutschlands im 1.Weltkrieg setzte dem »mitteleuropäischen Schützengrabenverband« erst einmal ein Ende. Der deutsche Faschismus griff das Mitteleuropa-Konzept wieder auf und entwickelte es zu einem Lebensraumkonzept für das deutsche Volk weiter. Auch das endete bekanntlich im Desaster.

Mitte der 90er Jahre schienen wichtige Politiker die alten Pläne wieder aufgreifen zu wollen. Genschers Nachfolger im Außenamt, Klaus Kinkel, fabulierte: „… nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potenzial entspricht.“6 Der aktuelle deutsche Außenminister Fischer brachte es 1994 so auf den Punkt: „Bekommt Deutschland jetzt, nachdem es friedlich und zivil geworden ist und mit dem Ende des Kalten Krieges seine Einheit im internationalen Einvernehmen zurückerhalten hat, all das, was ihm Europa, ja die Welt, in zwei großen Kriegen erfolgreich verwehrt hat, nämlich eine Art »sanfter Hegemonie« über Europa, Ergebnis seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Lage und nicht mehr seines militärstrategischen Potenzials? Dies ist die eigentliche Herausforderung an die deutsche Politik nach der Wiedervereinigung.“7

Die deutschen Interessen auf dem Balkan in den 90er Jahren

Auch wenn Fischer bei seinem Amtsantritt viel von der Kontinuität in der deutschen Außenpolitik redete, ist die Frage, ob der historische Bogen von 1914 bis heute wirklich so einfach gespannt werden kann. Karl Kaiser und Joachim Krause, wissenschaftliche Vordenker des deutschen außenpolitischen Thinktanks Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP), behaupten schlichtweg: „Die Interessen Deutschlands auf dem Balkan haben heute nichts mehr mit den traditionellen, geopolitisch definierten Interessen des deutschen Kaiserreichs nach Otto von Bismarck oder des Dritten Reiches gemein…“8 Sie sehen drei Interessenfelder: „… erstens das Interesse an der Wiederherstellung internationaler Autorität und ordnungspolitischer Strukturen sowie der ihnen zugrundeliegenden Prinzipien des Völkerrechts; zweitens das Interesse an der Verhinderung einer Eskalation dortiger Konflikte und ihrer Ausdehnung auf Allianzpartner, auf das Verhältnis zu Russland oder auf den Nahen Osten; drittens das Interesse an der Vermeidung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und innenpolitischer Instabilitäten auf dem Balkan.“9

Im Auswärtigen Amt wird die deutsche Interessenlage auf dem Balkan im April 1999 noch etwas weiter gefasst:
„Unsere Interessen in Südosteuropa sind weitgehend gleichgerichtet mit denen unserer Partner. Sie manifestieren sich vor allem in folgenden Bereichen:

  • Eindämmung gewaltsamer ethnischer Konflikte als Voraussetzung für nachhaltige Stabilität in Gesamteuropa
  • Verhinderung von Armuts-, Kriegs- und Bürgerkriegsmigration
  • Verwurzelung von Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechten als Ziel wertegeleiteter Außenpolitik
  • Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen mit stabilem Wirtschaftswachstum zum Abbau des Wohlstandsgefälles in Europa
  • Wirtschaftsinteressen (ausbaufähige Absatzmärkte, Investitionsstandorte)
  • Zusammenarbeit und Glaubwürdigkeit internationaler Organisationen, in denen wir eine aktive Rolle spielen (EU, NATO, OSZE, VN).“10

In der Tat gibt es in vielen Aspekten eine politische Übereinstimmung mit Partnerländern in Hinblick auf den Balkan. Die US-Regierung identifizierte „drei gewichtige Interessen im Kosovokonflikt: eine humanitäre Katastrophe abzuwenden; Stabilität in einem wichtigen Teil Europas zu bewahren und die Glaubwürdigkeit der NATO zu erhalten.“11

Wie der NATO-Krieg gezeigt hat, sieht auch Deutschland den Einsatz militärischer Mittel (neben anderen) als eine Möglichkeit vor, um eigene Interessen durchzusetzen. Dabei verstieß der Krieg kurzfristig durchaus gegen einzelne Interessen (z.B. führten die NATO-Luftangriffe genau zu der Kriegsmigration, die verhindert werden sollte). Die Stationierung der NATO-Bodentruppen im Kosovo hat jedoch inzwischen zur Rückkehr der albanischen Flüchtlinge geführt; insofern hat der Kriegseinsatz insgesamt gesehen das deutsche Interesse an der Verhinderung von Migrationsströmen nach Deutschland vorerst bedient. Die seit Juni erfolgenden serbischen Flüchtlingsströme aus dem Kosovo tangieren das deutsche Gebiet nicht, können also in Kauf genommen werden.

Dennoch: Es wird deutlich, dass einzelne Interessen durchaus auch einmal in Widerspruch zu einander geraten können. Dann müssen Prioritäten gesetzt werden und da steht die Glaubwürdigkeit der NATO unangefochten auf Platz 1. Zwar nennt das Auswärtige Amt neben der NATO noch andere internationale Organisationen wie EU, OSZE und VN, aber in der Praxis wird von Deutschland seit Jahren das NATO-Konzept der ineinandergreifenden Institutionen unterstützt, in dem die NATO die wichtigste Organisation ist. Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien hat gerade gezeigt, dass die NATO sich der UNO überordnet. Dem entspricht das im April in Washington im Konsens aller NATO-Regierungen verabschiedete Neue Strategische Konzept, in dem die NATO ihr Sicherheitsumfeld, den euro-atlantischen Raum, gestaltet, während die nachgeordneten Organisationen VN, OSZE, EU und WEU „ausgeprägte Beiträge“ leisten.12 Insofern ist es nur konsequent, wenn in erster Linie die Glaubwürdigkeit der NATO gewahrt werden muss – auch wenn das auf Kosten anderer internationaler Organisationen (wie der UNO) geht. Das war ein zentrales Motiv der NATO-Staaten für die Führung des Krieges. Es ging um einen ersten Probelauf der neuen NATO-Strategie.

Nach der Beendigung des Krieges wird häufig behauptet, die UNO wäre nun wieder ins Geschäft gekommen, wie es ja auch der deutsche Fischer-Plan vom April 1999 vorgesehen habe. Die Glaubwürdigkeit der UNO wurde allerdings bislang nicht wiederhergestellt, denn das würde ja wiederum die Entmachtung der NATO erfordern. Im Gegenteil: Im Fischer-Plan und auch später in der Realität wurde der UNO neben der NATO auch noch die G 8 vorgeordnet. Die UNO rutschte also auf Platz 3 ab. Nicht sie, sondern die NATO spielt auf dem Balkan die zentrale Rolle. Die NATO stellt das Gros der schwer bewaffneten Überwachungstruppen und befehligt sie. Unter ihr darf die UN-Zivilverwaltung dienen.

Ganz gerade heraus weist das Auswärtige Amt auf die deutschen Wirtschaftsinteressen hin. Allerdings lässt sich kaum behaupten, dass Ex-Jugoslawien für Deutschland wirtschaftlich besonders wichtig wäre. Das Außenhandelsvolumen für die Region betrug 1998 gerade 25 Mrd. DM 13 (= 1,4% des deutschen Außenhandels). Davon entfielen allein auf Slowenien 8,2 Mrd. DM14 (=0,5%). Der deutsche Außenhandel mit der BR Jugoslawien belief sich gerade auf 1,7 Mrd. DM (0,1%). Für strategische Rohstoffe oder Energiequellen muss man sich nicht in der Region engagieren. Chrom kann man z.B. in Südafrika billiger kaufen.

Auch die Abhängigkeit einzelner Staaten der Region von Deutschland hält sich in Grenzen. Albanien wickelte z.B. 1997 lediglich 4,6% seiner Importe und 4,0% seiner Exporte mit Deutschland ab.15 Bei Kroatien liegen die Prozentsätze mit 20,2% bzw. 18,9% für Deutschland etwa auf gleichem Niveau wie für Italien.16 Nur für Slowenien ist Deutschland deutlich der Haupthandelspartner (20,7% der Importe und 29,4% der Exporte mit Deutschland).17 Eine einseitige Abhängigkeit von Deutschland existiert somit nicht, andere EU-Länder sind für die Balkanländer ebenfalls von großer Bedeutung.

Als geostrategisches Motiv für den NATO-Krieg gegen Jugoslawien wird gelegentlich die beabsichtigte Trassenführung von Erdöl-Pipelines durch jugoslawisches Gebiet bzw. Jugoslawien als Transitland angeführt. Auch dieses wäre ein gemeinschaftliches westliches Interesse, schließlich sind an der Ausbeutung des Erdöls im Kaukasus nicht nur US-Firmen, sondern auch westeuropäische Konzerne beteiligt. Da aber die Verkehrsinfrastruktur Jugoslawiens (Donaubrücken, Erdölpipelines) gezielt in Schutt und Asche gelegt wurde, kann auch dieser Aspekt so bedeutsam nicht gewesen sein. Zwar wird die Donau weiterhin durch Serbien fließen, aber Eisenbahnverbindungen, Straßen oder Erdöl- und Erdgaspipelines kann man auch um Jugoslawien herumführen.

Billige Arbeitskräfte fände die deutsche Industrie auch in anderen Ländern Osteuropas, sodass allein dafür das Engagement auch nicht lohnte. Im Grunde könnte Deutschland die Region genauso wie verschiedene afrikanische Länder einfach ignorieren, wenn es nicht zahlreiche ArbeitsimmigrantInnen aus Ex-Jugoslawien und dadurch bedingt vielfältige menschliche Bande gäbe und wenn sich nicht die Deutsche Mark als Zahlungsmittel im Balkanraum etabliert hätte. Das sehen auch die bereits erwähnten Kaiser und Krause ähnlich: „Die deutschen Interessen werden zudem durch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der jahrelangen Kriege berührt. Zwar war Jugoslawien kein so bedeutender Industriestandort für deutsche Unternehmen, dass von massiven Verlusten für die Volkswirtschaft der Bundesrepublik gesprochen werden könnte, jedoch zählt das Interesse an der Vermeidung von indirekten Folgen. Deutschland musste mehr als 320.000 Flüchtlinge aufnehmen… Zudem kann nie ausgeschlossen werden, dass Deutschland … auch zum Austragungsort für bewaffnete Streitigkeiten zwischen verschiedenen Nationalitäten des ehemaligen Jugoslawien wird.“18 Dominierendes Motiv wäre demnach die Flüchtlingsabwehr. Das bestätigt Bundeskanzler Schröder, wenn er im Zusammenhang mit dem Stabilitätspakt betont: „Was wir hier tun, dient auch unserem eigenen Interesse… Andernfalls würden die Menschen als Flüchtlinge nach Deutschland kommen.“19

Das Interesse am „Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen“ wird natürlich von allen westlichen Mächten geteilt. So betont der Staatssekretär im US-Außenministerium Pickering das Ziel „Umgestaltung der Region von wirtschaftlicher Abhängigkeit zu nachhaltiger Entwicklung durch den Aufbau von für Investoren attraktiven Volkswirtschaften.“20 Im Stabilitätspakt wird in diesem Zusammenhang die „Förderung der Privatwirtschaft“ und „Deregulierung“ verlangt21, die Staaten der Region sollen das „politische und wirtschaftliche System des Westens übernehmen.“ 22 Auch im Rambouillet-Abkommen war in Kapitel 4a betont worden: „The economy of Kosovo shall function in accordance with free market principles.“

Besondere ökonomische Interessen Deutschlands, aber auch der anderen westlichen Industriemächte in der Region, existieren sind also nicht. Der Balkan ist wie viele andere Weltregionen wirtschaftlich einfach uninteressant. Auch andere autonome deutsche Interessen sind in der Region nicht zu erkennen. Deutschland hat auf dem Balkan genauso viel oder wenig verloren wie die anderen westlichen Industrieländer. Das ist auch der Grund, warum die internationalen Finanzspritzen im Rahmen des Stabilitätspakts sich eher bescheiden ausnehmen und in ihrer Größenordnung mit dem Marshall-Plan wenig gemein haben.

Deutschland –
zum Mitbomben gezwungen?

Vielfach wird die deutsche Beteiligung am NATO-Angriffskrieg nicht so sehr auf eigenes Wollen zurückgeführt, sondern man sieht die deutsche Regierung eher als Opfer von Sachzwängen, der US-Regierung oder wem auch immer. Symptomatisch ist das ZEIT-Dossier vom 12.5.99 mit dem Titel: »Wie Deutschland in den Krieg geriet.« Darin wird ernsthaft behauptet: „Deutschland war gutwillig, überfordert, am Ende machtlos.“ Als im Oktober 1998 die US-Regierung Unterstützung für die Androhung von NATO-Luftangriffen ohne UN-Mandat hätte haben wollen, wären Schröder und Fischer gerade „fünfzehn Minuten“ geblieben, „um über eine Frage von Krieg und Frieden zu entscheiden.“ Die – laut ZEIT – rot-grünen Lehrlinge machten mit und sagten ja. Einige Tage später unterstützte der Bundestag mit riesengroßer Mehrheit den Völkerrechtsbruch, mit fast allen Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen.

L. Volmer (mittlerweile Staatssekretär) sieht die deutsche Rolle im Kosovo-Konflikt etwas aktiver, aber den Krieg gewissermaßen als Sachzwang. Gegen den Widerstand der US-Regierung hätte die deutsche Bundesregierung im Januar 1999 den Rambouillet-Verhandlungsprozess durchgesetzt, dabei aus taktischen Gründen die Führung den Franzosen und Briten überlassen: „Aus praktischen und diplomatischen Gründen wurde … darauf verzichtet, diese Initiative als deutsche und Grüne/Bündnis 90 herauszustellen.“ Es hätte jedoch einen Deal gegeben: Die USA „waren nur unter der Bedingung bereit, ihren Ansatz direkter Luftschläge zugunsten des Verhandlungsansatzes aufzugeben, wenn… die anderen westlichen Verhandlungspartner … bekräftigten, dass »act ord« weiterhin Gültigkeit behielte und sofort angewendet werden könne, wenn der Verhandlungsprozess scheitern sollte. Dieses Zugeständnis mussten wir machen, um überhaupt den Rambouillet-Prozess in Gang zu bringen. Der Preis war nun zu zahlen.“23

Warum Deutschland auch bei Kriegen mit von der Partie sein sollte, hat übrigens der frühere Verteidigungsminister Rühe bereits am 26.11.1992 in seinen Verteidigungspolitischen Richtlinien klar gemacht: „Wenn … der Frieden gefährdet ist, muss Deutschland auf Anforderung der Völkergemeinschaft auch militärische Solidarbeiträge leisten können. Qualität und Quantität der Beiträge bestimmen den politischen Handlungsspielraum Deutschlands und das Gewicht, mit dem die deutschen Interessen international zur Geltung gebracht werden können.“24 Die Forderung des Magdeburger Bundestagswahlprogramms der Grünen, diese Richtlinien „sofort außer Kraft zu setzen“25, fand übrigens keinen Eingang in den Koalitionsvertrag.

Anmerkungen

1) Zitiert nach: Die Welt, 18.03.1993: US-Außenminister kritisiert Bonn – Christopher wirft der Bundesregierung Fehler in der Jugoslawienpolitik vor.

2) Ludger Volmer: Rede zur Kundgebung der demokratischen Bewegung für ein freies Slowenien und Kroatien in Bonn-Bad Godesberg, 06.07.1991.

3) Deutscher Bundestag, Drucksache 12/1591, 14.11.1991.

4) Wolf Dieter Gudopp: Auf dem Weg in den Dritten Weltkrieg? Verein Wissenschaft und Sozialismus e.V., Frankfurt a.M. 1993, S. 21.

5) Ebenda S. 177f.

6) Klaus Kinkel: Verantwortung, Realismus, Zukunftssicherung. In: FAZ vom 19.03.1993.

7) Joschka Fischer: Risiko Deutschland, Köln 1994, S. 212.

8) Karl Kaiser/Joachim Krause: Deutsche Politik gegenüber dem Balkan. In: dies.: Deutschlands neue Außenpolitik, Bd. 3, Interessen und Strategien, München 1996, S. 177.

9) Ebenda S. 177f.

10) Zum Stabilätspakt für Südosteuropa, Homepage Auswärtiges Amt://www.auswaertiges-amt.de/6_archiv/inf-kos/hintergr/stabdt.htm

11) Fact Sheet des US-Außenministeriums vom 26.03.99. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/99, S. 631.

12) Das strategische Konzept des Bündnisses. In Stichworte zur Sicherheitspolitik (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) April 1999, Ziffer 12 und 14, S. 82.

13) Vergl. BDI schlägt Balkan-Freihandelszone vor. In: Wirtschaftswoche vom 24.06.99.

14) Vergl. Unternehmer kappen beziehungen zum Balkan. In Wirtshaftswoche vom 11.04.99.

15) Vergl Fischer Weltalmanach 1999, Frankfurt a. M. 1998, S. 55.

16) Ebenda S. 453.

17) Ebenda S. 668.

18) Karl Kaiser/Joachim Krause, s. Fußnote 8, S. 179.

19) FAZ vom 31.07.1999.

20) Thomas R. Pickering: Südosteuropa: Eine Herausforderung für die transatlantische Gemeinschaft. In: Stichwort zur Sicherheitspolitik (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) Mai 1999, S. 11.

21) Stabilitätspakt für Südosteuropa. In: Stichworte zur Sicherheitspolitik (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) Juni 1999, S. 36ff.

22) Wer rasch gibt, gibt doppelt. In: FAZ 29.07.99

23) Ludger Volmer: Krieg in Jugoslawien Hintergründe einer Grünen Entscheidung, Papier vom 26.03.1999.

24) Siehe Blätter für deutsche und internationale Politik 9/93, S. 1144.

25) Bündnis 90/Die Grünen: Programm zur Bundestagswahl 98, S. 147.

Ulrich Cremer war Initiator der grünen Anti-Kriegs-Initiative und bis Februar 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei Bündnis 90/Die Grünen.

Die Waffen des Krieges

Die Waffen des Krieges

von Tobias Pflüger

Konnte die NATO mit den eingesetzten Waffen und der Art der Kriegführung gegen Jugoslawien das erklärte Kriegsziel erreichen, eine »humanitäre Katastrophe« – die Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kososvo – zu verhindern?. Der Verlauf des Krieges belegt das Gegenteil: ein explosionsartiges Ansteigen der Flüchtlingsströme, ein Vielfaches an Elend.
Tobias Pflüger geht der Frage nach, ob sich aus der Art der NATO-Kriegführung und den eingesetzten Kriegswaffen herauslesen lässt, dass die offiziellen Kriegsziele nicht die wirklichen sein konnten.

Die NATO hat im 79-tägigen Krieg gegen Jugoslawien anfangs 350 und gegen Ende fast 1.200 Flugzeuge eingesetzt. Sie flogen zusammen ca. 35.000 Einsätze. An den Bombardements beteiligten sich folgende vierzehn NATO-Staaten (in Klammern immer die Anzahl der Flugzeuge/Hubschrauber): USA (724), Belgien (10), Dänemark (9), Deutschland (15), Frankreich (86), Großbritannien (38), Italien (39), Kanada (18), Niederlande (22), Norwegen (6), Portugal (3), Spanien (8), Türkei (11) und Ungarn (51). Dazu kamen 4 NATO-AWACS. Die restlichen fünf NATO-Staaten, darunter die Neumitglieder Polen und Tschechien, schickten keine Flugzeuge.

Die Flugzeuge starteten von Flugbasen in Italien, Bosnien, Albanien, Mazedonien, Deutschland, Ungarn, den USA und von Flugzeugträgern im Mittelmeer. Die USA hatten u.a. auch zwei Kreuzer, drei Zerstörer, eine Fregatte und zwei U-Boote im Einsatz. Deutschland beteiligte sich am Angriff auf Jugoslawien mit 8 sogenannten ECR (Electronic Combat Reconnaissance)-Tornados aus Landsberg/Lech in Oberbayern, 6 Recce (Reconnaissance, also Aufklärungs)-Tornados aus Jagel/Schleswig-Holstein und einer Transall, ebenfalls aus Landsberg. Die ECR-Tornados hatten die Aufgabe die Flugabwehr Jugoslawiens auszuschalten. „Sie sollen die Bresche in die gegnerische Luftabwehr schlagen, durch die andere Kampfflugzeuge schlüpfen und ihr Ziel erreichen können“, hieß ihr offizieller Auftrag, Ziel ist: „Die gegnerische Flugabwehr lokalisieren, identifizieren, und zerstören (neutralisieren).“ Bewaffnet waren die Tornados mit den HARM-Raketen (High-Speed-Anti-Radiation-Missile). Die HARM-Rakete folgt dem Radarstrahl und lenkt sich so quasi selbstständig ins Ziel. Wenn das gegnerische Radar abgeschaltet wird, fliegt die Rakete weiter, so landete eine HARM-Rakete der NATO in Sofia. Die ECR-Tornados wurden innerhalb der NATO aufgrund ihrer „Pfadfinder-Rolle im Bosnien-Einsatz“ gelobt. Damit hatte Deutschland einen quantitativ sehr kleinen Anteil am Bombardement Jugoslawiens, militärisch gesehen war die Ausschaltung der Flugabwehr jedoch eminent wichtig.

Von deutschem Boden ging der Krieg aus: Von Spangdahlem in der Eifel, von dort starteten 13 F 117 Nighthawk-Tarnkappenbomber und vier F 16-Kampfflugzeuge der USA; von Brüggen/Elmpt bei Mönchengladbach, hier starteten sechs britische Tornados; von der Airbase in Frankfurt (dem „Brückenkopf für Kampfeinsätze“, SPIEGEL 06.05.1999), hier starteten KC10-Flugzeuge, die die bombenabwerfenden F 15, F 16, B 52 und Tornados in der Luft betankten.

Die abgeworfenen Bomben

Die NATO-Flieger warfen insgesamt ca. 20.000 Bomben über dem gesamten Jugoslawien ab. Offiziell zählte die Mehrzahl der NATO-Bomben zu den Präzisionswaffen, doch darunter waren auch 1.100 Streubomben. Nach einer AP-Meldung vom 23.06.1999 enthielten die meisten dieser Streubomben „je 202 Sprengkörper“.

Die Streubomben sollen »großflächige Ziele« treffen. Als militärische Ziele gelten vor allem gepanzerte Fahrzeuge und feindliche Infanterie. Die Streubombe CBU 87 wirkt z. B. folgendermaßen: Die 202 einzelnen Explosivkörper bzw. Bombletten der CBU 87 zerplatzen beim Aufschlag in bis zu 300 messerscharfe Splitter, die mit hoher Geschwindigkeit in ein Umfeld von ca. 150 Metern geschleudert werden. Die Explosivkörper werden in einem Wirkungskreis von 200 mal 400 Metern verstreut. In den mit Inhalt 450 kg schweren Behältern befindet sich neben den Explosivkörpern (der sogenannten Submunition) ein Geschoss, das Metall von bis zu 12 cm durchschlagen kann und mit seiner Füllung die Umgegend der Abwurfstelle in Brand setzt. Streubomben werden häufig für Flächenbombardements genutzt.

Britische Tornados warfen eine unbekannte Anzahl Streubomben des Typs BL 755 ab. Die ca. 280 kg schwere Streubombe BL 755 gehört zur Normalbewaffnung der Tornados. Auch deutsche Tornados haben diese Streubomben, setzten sie aber gegen Jugoslawien nicht ein. In einer Beschreibung dieses Bombentyps heißt es: „Die Streubombe BL 755 wird vom Flugzeug aus abgeworfen und gegen Panzer und Fahrzeuge sowohl in der Bereitstellung als auch in der Entfaltung eingesetzt. Sie besteht aus sieben Fächern mit je sieben Trichtern, in denen jeweils drei Kleinbomben (also 147 Bombletten, TP) enthalten sind, der Sicherheits-, Schärf- und Funktionseinheit (SAFU) und zwei Kartuschen für den pneumatischen Ausstoß der Kleinbomben.“ (vgl. Handbuch Ausrüstung der Bundeswehr).

Nach Angaben des Pentagon explodieren ca. fünf Prozent der Explosivkörper der Streubomben nicht. So lagen nach der Einstellung der Bombardierung nach US-Angaben noch ca. 11.000 nicht explodierte Bombletten in Jugoslawien herum. Wieviele des britischen Typs dazu kamen ist unbekannt. Hinzu kommt, dass Militärexperten die Angaben des Pentagon von nur 5 % Fehlzündungen bezweifeln und mit einer Fehlquote von bis zu 20 Prozent rechnen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schreibt am 24.06.1999, dass von bis zu 20.000 scharfen Kleinbomben ausgegangen werden müsse, „die genaue Zahl kennt niemand, doch wird in der NATO auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auf dem früheren Kriegsschauplatz bis zu 30.000 nicht explodierte Splitterbomben der NATO liegen könnten.“

Diese Kleinbomben, die ungefähr die Größe einer Sprudelflasche haben und zumeist leuchtend gelb oder grün bestrichen sind, sind erfahrungsgemäß vor allem für Kinder gefährlich. So berichtete die UN-Menschenrechtsbeauftragte, Mary Robinson, dass sie selbst in Nis Kinder mit noch scharfen Kleinbomben spielen sah. Nach Angaben der UNO sind nach dem Ende des Golfkriegs durch herumliegende Splitterbomben im Irak „mindestens 2.600 Zivilisten, zumeist Kinder“ getötet worden. Human Rights Watch warnte denn auch schon während des Bombardements: „Ebenso wie Tretminen töten nicht explodierte Splitterbomben noch Jahre nach dem Ende eines Krieges Zivilisten.“ In der FAZ heißt es zum selben Thema am 24.06.99: „Im Gegensatz zu den von den Serben gelegten Landminen, ist es der NATO unmöglich zu sagen, an welchen Stellen heute nicht explodierte Splitterbomben liegen. … Die NATO weiss jedoch, dass die Bomben vorwiegend über dem Nordwesten und Südwesten des Kosovo abgeworfen wurden.“ In einem Augenzeugenbericht, der per e-mail bei der Informationsstelle Militarisierung eingegangen ist, wird beschrieben, dass Streubomben überall in der Stadt Nis zu finden gewesen seien, „die Bomben lagen verstreut von der Majakowski Straße, über die Branka Miljkovica Straße und den ganzen Boulevard Lenjina, bis zur Vojvode Misica Straße. Ein Wohnstreifen von über 3 km Länge ohne irgendwelche Militärobjekte in der Nähe. Erstaunlicherweise bleiben die meisten Bomben unaktiviert. Vor einem Haus gibt es einen ungemähten Rasen mit großen Gras, dort werden verbliebene nicht explodierte Bomben vermutet, aber keiner traut sich dort in das Gras hineinzugehen um nachzusehen.“

Der Einsatz von Streubomben ist im übrigen seit 1949 durch die Genfer Konvention verboten, 1970 gab es dazu ein präzisierendes Zusatzprotokoll. 1980 wurden Streubomben in die UNO-Konvention der sogenannten »inhumanen Waffen« aufgenommen. Der Einsatz von Streubomben ist völkerrechtswidrig. Die westlichen Staaten kritisierten genau mit dieser Begründung in den 80er Jahren den Einsatz von Streubomben in Afghanistan durch sowjetische Truppen.

In der Adria vor der italienischen Küste fanden während des Krieges Fischer ca. 200 Streubomben in ihren Netzen. Die Besatzung eines Schiffes wurde durch die Explosion eines Sprengsatzes einer Streubombe verletzt. Das Pentagon musste zugeben, dass am Krieg beteiligte Flugzeuge nicht benutzte Streubomben wegen der Gefahr beim Landen der Flugzeuge über der Adria massenweise abwarfen. Die Regierung Italiens beschwerte sich darüber, dass sie nicht informiert wurde, einigte sich dann aber mit der US-Regierung auf »feste Abwurfregionen«.

Die Wirkung von Streubomben ist tatsächlich vergleichbar der von Großminen. Häufig werden sie deshalb auch als Minen bezeichnet. So hieß es beim Tod der ersten beiden KFOR-Soldaten zunächst, sie seien durch eine Minenexplosion getötet worden – tatsächlich starben sie beim Räumen von Explosivkörpern aus NATO-Streubomben.

Graphitbomben, Urangeschosse und andere Waffentypen

Zu den erstmals eingesetzten weiterentwickelten Kriegswaffen der NATO zählten die sogenannten Graphitbomben. Die Sprengsätze explodierten nach Angaben von Augenzeugen in größerer Höhe über Elektrizitätswerken. Bei den Explosionen wurden Wolken mit vielen kleinen Graphitteilchen freigesetzt, die auf die elektrischen Anlagen und Stromleitungen niedergingen. Der NATO-Sprecher triumphierte, die NATO sitze jetzt am Strom-Schalthebel Jugoslawiens und damit werde das Militär substanziell getroffen. Tatsächlich getroffen wurde vor allem die Zivilbevölkerung:

  • Große Mengen von Lebensmitteln, die tiefgekühlt waren, wurden vernichtet; in Krankenhäusern musste ein Großteil der PatientInnen entlassen werden;
  • wegen fehlender Notstromaggregate konnten Operationen nicht durchgeführt werden;
  • PatientInnen, die auf überlebensnotwendige elektrische Geräte angewiesen waren, trugen langfristige Schäden davon oder starben.

Von der NATO wurden auch Geschosse mit abgereichertem Uran 238, sogenannte DU (Depleted Uranium)-Geschosse, eingesetzt. Der Sprecher der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) Jens-Peter Steffen wies darauf hin, dass das abgereicherte Uran zwar nur eine schwache Alpha-Strahlung von geringer Reichweite besitzt, dass es sich jedoch nach einem Treffer in Uranoxidpulver verwandelt. Wenn derartige Uran-Partikel eingeatmet würden oder über Wunden in die Blutbahn gelangten, wirke die Strahlung direkt auf die Zellen. Die DU-Geschosse wurden von den A 10-Flugzeugen (den sogenannten »Warzenschweinen«) der USA eingesetzt, die niedrig fliegend Flächenbombardements vornahmen.

Die NATO-Staaten haben zum Großteil die Konvention zur Ächtung von biologischen und chemischen Waffen unterzeichnet. In der neuen NATO-Strategie vom 24. April 1999 wird explizit festgeschrieben, dass chemische und biologische Waffen von der NATO nicht mehr eingesetzt würden. Doch die NATO bombardierte und zerstörte in Jugoslawien auch Chemiewerke, gefährliche Chemikalien wie Phosgen und Dioxin traten aus. Messstationen in Nordgriechenland haben einen 15-fachen Dioxin-Gehalt im Vergleich zur Zeit vor dem Krieg festgestellt. In der unmittelbaren Nähe der Erdölraffinerie von Pancevo wurde eine Überschreitung der erlaubten Werte um das 7.000-fache festgestellt. Auf der Donau gab es vorübergehend Ölteppiche kilometerlangen Ausmaßes. Der WWF sieht dadurch die Naturlandschaft des Donaudeltas und das Trinkwasser vieler Menschen gefährdet. Längerfristige ökologische Folgen sind also absehbar. Indirekt setzte die NATO so quasi biologische und chemische Waffen ein.

»Intelligente« Kriegswaffen

Der Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien war auch wieder Testfeld für »Präzisionswaffen«. Doch dieser Name bedeutet nicht, dass diese auch immer tatsächlich treffen. „So gut unsere Waffen im Vergleich zu früher sind, sie sind alles andere als perfekt“, so der Militärexperte Glenn Buchan von der einflussreichen Rand Cooperation in Kalifornien. Er meint, dass es immer Grenzen der technischen Zuverlässigkeit und bei den Entscheidungsmöglichkeiten der Menschen gäbe, das zeigten die Videoaufnahmen vom Beschuss eines Personenzuges; erst in allerletzter Minute sei der Zug ins Blickfeld des Piloten gekommen, die Bombe sei jedoch längst auf dem Weg zum Ziel gewesen. Für diese Effekte prägte die NATO das Wort »Kollateralschäden«. Der neueste Typ der sogenannten Präzisionswaffen sind satellitengesteuerte Bomben: »Joint Direct Attack Munition«. Die JDAM werden per Lasermarkierung über das Satellitennavigationssystem GPS (Global Position System) ins anvisierte Ziel gesteuert. Trotzdem sind sie relativ »billig«, das Stück kostet »nur« 20.000 Dollar. Während des Krieges forderten die Generäle eine Erhöhung der Produktionsquote dieser Waffen.

Insgesamt zeigte die USA, dass sie im Bereich der elektronischen Kampfführung, der schnelleren Datenverarbeitung und der digitalen Navigation von Kriegswaffen weiter aufgerüstet hat.

Die Strategie der NATO

Der Einsatz neuer Kriegswaffentypen entspricht dem Militärkonzept der USA, Joint Vision 2010, erstmals aufgelegt 1996 und seither weiter entwickelt. Darin wird eine Modernisierung und Effektivierung der US-Streitkräfte insbesondere mit Informations- und Kommunikationstechnik angeordnet. Mehr Zielgenauigkeit, größere Trefferquoten, potenzierte Zerstörungskraft, größere Tödlichkeit („lethality“) heißt das Ziel. Weiter soll die Zusammenarbeit der verschiedenen Teilstreitkräfte (Navy, Army, Air Force, Marines und US-Küstenwache) verbessert werden. Das US-Militär soll durch Managing-Strategien wie Effizienzsteigerung, Kosteneinsparungen, Rationalisierungen, Optimierungen, Vernetzung und Konzentration auf Kernbereiche auf Vordermann gebracht werden. Kleine Einheiten sollen mehr Verantwortung übernehmen und das Massenheer zunehmend der Vergangenheit angehören.

Der Krieg gegen Jugoslawien ist für Teile dieses Konzeptes eine Bewährungsprobe gewesen (v.a. neue – digitale – Art der Kriegführung). Andere Teile der US-Militärstrategie sind überhaupt nicht zum Tragen gekommen, wie etwa der »Kampf verbundener Kräfte«.

An diesem Punkt entzündete sich Kritik von Militärstrategen. Leighton Smith, ein pensionierter Admiral, meint: „Dies war die absolut schlechteste Art, Krieg zu führen.“ Der größte Fehler sei gewesen, Bodenkrieg von Anfang an auszuschließen. Mike O`Hanlon von der Washingtoner Denkfabrik Brooking sieht das ähnlich: „Im militärischen Sinne funktionierte dieser Krieg nicht.“ Sein Kollege Richard Haas ergänzt: „Wenn man Kosovo für seine Einwohner sichern wollte, darf man nicht Belgrad bombardieren, sondern muss die Truppen auf den Kosovo konzentrieren.“

Die Verabschiedung der neuen NATO-Strategie erfolgte mitten im Krieg am 24. April 1999. Zu den Grundaussagen der neuen NATO-Strategie gehört die sogenannte »Selbstmandatierung« (die NATO gibt sich selbst ein Mandat für Militäreinsätze und nicht z.B. die UNO), mehr Interventionismus und der Ausbau kleinerer kampforientierterer Militäreinheiten. In diesen Punkten sind sich alle NATO-Staaten, insbesondere die neuen Kernstaaten USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, einig. Offen ist lediglich der Aktionsradius der NATO. Die US-Regierung will keine regionale Zuständigkeitsbeschränkung für die NATO, die französische Regierung will die Interessensphären einzelner NATO-Staaten definiert sehen und Deutschland sieht sich nach Aussagen von Rudolf Scharping zuständig „für die Sicherheit in und um Europa.“ Welchen Aktionsradius die NATO bekommen wird, bleibt auch nach dem Krieg gegen Jugoslawien offen.

Fazit

Die NATO setzte Kriegswaffen ein, mit denen die politische Führung in Belgrad nicht getroffen werden konnte und die auch im Einsatz gegen die jugoslawischen Truppen im Kosovo nicht sehr erfolgreich waren. Staatssekretär Walter Kolbow wunderte sich über die intakte jugoslawische Armee die aus dem Kosovo abzog (vgl. dpa-Meldung vom 14.06.99), die Times schreibt, dass lediglich 13 jugoslawische Panzer im Kosovo zerstört worden seien und das jugoslawische Militär beschreibt, wie es mit Panzer-Attrappen die NATO narrte. Die NATO musste zugegeben, dass aus 5.000 bis 6.000 Metern Höhe oft unklar ist, was getroffen wurde, aufgrund der »Heimatfront« aber Druck zu Erfolgsmeldungen bestand.

Mit dieser Art der Kriegsführung konnte die NATO eine »humanitäre Katastrophe« nicht verhindern, sie wurde eher angeheizt. Vesna Pesic, Oppositionsvertreterin in Jugoslawien, erklärt: „Es gab einen schon vor dem Krieg bekannten Plan, wonach die jugoslawische Armee das Kosovo angreifen würde, sobald die NATO Jugoslawien angreift. Das war kein Geheimnis.“ (vgl. Die Woche 16.07.1999). Heute geben auch NATO-Kreise dies indirekt zu. Der ehemalige UNPROFOR-Kommandeur Michael Rose meint in einem Leserbrief an die Times zum Kosovo, dass es nicht möglich sei, eine Bevölkerung aus 15.000 Fuß Höhe zu beschützen.

Wenn die vorgegebenen »humanitären Ziele« wegfallen, so bleibt, dass die NATO Krieg führte um der eigenen Glaubwürdigkeit willen, als Teiltest der neuen NATO-Strategie, als Machtdemonstration, zur Stärkung der eigenen Position gegenüber UNO und OSZE sowie gegenüber Nicht-NATO-Staaten wie Russland und China.

Tobias Pflüger ist Redaktionsmitglied von
W & F und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Nur eine zivile Politik kann den Frieden in Kosovo schaffen

Nur eine zivile Politik kann den Frieden in Kosovo schaffen

Memorandum der IALANA

von IALANA

Die Behauptung, »der Westen« habe sich über Jahre hinweg um eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts ernsthaft, aber erfolglos bemüht, deshalb bleibe jetzt nur noch der militärische Angriff der NATO als einzig realistische Option, eine »humanitäre Katastrophe« zu verhindern, ist falsch.

  1. Bereits der in diesen Tagen mehrfach öffentlich erhobene Vorwurf des Vizepräsidenten der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und CDU-Bundestagsabgeordneten Willy Wimmer (von 1988 bis 1992 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium), die Regierungen wichtiger NATO-Staaten wie Großbritannien und USA hätten bewusst in den letzten Jahren auf ein militärisches Eingreifen der NATO im Kosovo hingearbeitet und eine nichtmilitärische Konfliktlösung letztlich hintertrieben, muss alle, die dem NATO-Angriff das Wort reden, aufrütteln und bedarf einer sorgfältigen Prüfung.
  2. Das Ausmaß der Entrechtung der albanischen Bevölkerung und die Brisanz der Situation in Kosovo ist im Westen seit vielen Jahren bekannt. Trotzdem wurde der Kosovo-Konflikt im Dayton-Abkommen ausgeklammert. Die gewaltfreie Politik der Kosovo-Albaner erfuhr über Jahre hinweg vom Westen keine wirksame Unterstützung im Sinne vorbeugender Konfliktbearbeitung. Die westlichen Regierungen versagten so denjenigen die hinreichende Unterstützung, die – wie der Kosovo-Politiker Rugova und seine Anhänger – über viele Jahre ohne Gewalt mit zivilen Mitteln um eine politische Kompromisslösung rangen, und überließen sie lange Zeit der politischen Willkür Belgrads.
  3. Die Politik der Regierungen des Westens bei der Verteidigung von Menschenrechten war und ist in hohem Maße unglaubwürdig. Double standards sind an der Tagesordnung, was nicht nur ein Vergleich mit dem Verhalten gegenüber der menschenrechtswidrigen Politik der – vom Westen zudem noch mit Waffen belieferten – Türkei in der Kurdenfrage zeigt. Diese unglaubwürdige und widersprüchliche Politik des Westens hat ganz wesentlich dazu beigetragen, den Einsatz für die Verteidigung von Menschenrechten im Kosovo zu diskreditieren. Einige Beispiele:
    • Einerseits wurde das Vorgehen der Angehörigen der serbischen Armee und Sonderpolizeieinheiten im Kosovo – zu Recht – als menschenrechtswidrig verurteilt. Andererseits lehnten es die Regierungen der NATO-Staaten ab, die Angehörigen der serbischen Armee und Sonderpolizeieinheiten aufzufordern, zu desertieren und so dazu beizutragen, dem serbischen Regime das für seine menschenrechtsfeindliche Politik im Kosovo erforderliche Repressionspersonal zu entziehen.
    • Sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Staaten wurde desertierten serbischen Bürgern die Anerkennung als politische Flüchtlinge mit dem »Argument« verweigert, wer aus der serbischen Armee oder den serbischen Sonderpolizeieinheiten desertiere und deshalb bestraft werde, werde nicht politisch verfolgt; denn Deserteure würden in jedem Land der Welt (zu Recht) bestraft.
    • Einerseits wurde und wird das serbische Regime beschuldigt, ethnische Säuberungen durchzuführen und gegen die Bevölkerung des Kosovo Völkermord zu begehen, vor dem man sie militärisch schützen müsse. Andererseits wurde über Jahre hinweg bis heute von den hiesigen Asylbehörden die Annahme einer sog. Gruppenverfolgung von Kosovo-Albanern u.a. mit dem Argument abgelehnt, es gebe kein – für eine Asylanerkennung erforderliches – staatliches Verfolgungsprogramm Serbiens gegen die Bewohner des Kosovo. Abgelehnte Asylbewerber wurden sogar bis vor kurzem auf der Grundlage des mit dem Milosevic-Regime im Jahre 1996 abgeschlossenen sog. Rückführungsabkommen nach Serbien abgeschoben.
  4. Das Waffenembargo gegenüber den Konfliktparteien im Kosovo ist nicht eingehalten und hinreichend überwacht, sondern sogar – offenkundig nicht nur durch Staaten des ehemaligen Ostblocks, sondern gerade auch vom Westen – gebrochen worden. Die terroristischen Aktionen der albanischen Untergrundarmee UCK – »organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische« im Sinne von Art. 87a Abs. 4 des Grundgesetzes – wären nicht möglich ohne die Waffenlieferungen aus den USA und anderen Staaten. Die Terroraktionen der UCK einerseits und die brutalen Gegenschläge des undemokratischen und korrupten Milosevic-Regimes andererseits konnten so erst zur Eskalation der Gewalt im Kosovo in den letzten Monaten führen.
  5. Das von dem US-Vermittler Richard Holbrooke im Oktober l998 ausgehandelte Abkommen mit Jugoslawien ist – auch vom Westen – nur unzureichend umgesetzt und implementiert worden.
    • Es ist unterlassen worden, die OSZE-Beobachtermission personell ausreichend auszustatten. Statt der vereinbarten – ohnehin zu geringen – 2.000 OSZE-Beobachter sind nur etwa 1.200 geschickt worden.
    • Es ist unterlassen worden, vor Ort im Kosovo ausreichend starke internationale Polizeikräfte und UN-Blauhelme deeskalierender Art unter der Hoheit des UN-Sicherheitsrates und mit Zustimmung der Konfliktparteien als »Puffer« zwischen Serben und Kosovo-Albanern zu stationieren, um den Waffenstillstand zu sichern.
    • Es ist unterlassen worden, ein ziviles »Entfeindungsprogramm« zu entwickeln, das auf Kooperation vor allem auch mit den reformwilligen Kräften in Serbien und im Kosovo setzt.
  6. Der Abschluss des in Rambouillet ausgehandelten »Friedensabkommens« ist bislang letztlich ausschließlich deshalb nicht zustande gekommen, weil die NATO und ihre Mitgliedsstaaten darauf bestanden haben und bestehen, dass NATO-Verbände unter NATO-Kommando, nicht aber die UNO mit einem starken »Blauhelm-Kontingent«, die Einhaltung des Abkommens überwachen. Eine solche Politik trug letztlich erpresserische Züge und hätte auch die Rechtswirksamkeit eines solchen – unter Kriegsandrohung zustandegekommenen – Abkommens in Frage gestellt. Es war absehbar, dass nicht nur das Milosevic-Regime, sondern auch die serbische demokratische Opposition und die große Mehrheit der serbischen Bevölkerung ein solches »NATO-Protektorat« ablehnen würden.
  7. Es ist nicht die Schuld der UN-Organisation, dass sie bisher zu schwach war, um für eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts sorgen zu können. Vielmehr hatten und haben gerade wichtige NATO-Staaten kein Interesse an einer »UN-Lösung« im Kosovo und überhaupt an einer funktionierenden und starken UNO mit entsprechenden Kompetenzen. Es war und ist – wie auch die Debatten um die neue NATO-Strategie zeigen – offenkundiges Ziel, die NATO zu einer Interventionsallianz aufzubauen und zu etablieren. Auch am Beispiel des Kosovo hat sich gezeigt: Sofern die UNO dabei nicht dabei willfährig mitwirkt oder gar stört, wird sie als uneffektiv diskreditiert, an der Wahrnehmung ihrer Aufgaben gehindert und »weggedrückt«.
    • Es ist symptomatisch, dass die USA mit fast 2 Milliarden DM UN-Beiträgen in Rückstand sind, so dass die UNO schon aus finanziellen Gründen kaum Handlungsfähigkeit gewinnen kann.
    • Fast alle NATO-Staaten – mit den USA an der Spitze – haben sich bislang geweigert, dem UN-Sicherheitsrat für eine Überwachung eines Kosovo-Friedensabkommens gemäß Kap. VI der UN-Charta »UN-Blauhelme« oder auch notfalls gemäß Art. 43 der UN-Charta Truppenkontingente für Zwangsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen.
    • Die Regierungen der USA, Frankreichs und Großbritanniens und alle sie unterstützenden Regierungen sind unglaubwürdig, wenn sie einerseits die UNO als »handlungsunfähig« kritisieren, weil die russische Regierung im UN-Sicherheitsrat von ihrem Vetorecht gegen eine Ermächtigung der NATO zu militärischen Zwangsmaßnahmen gegen Serbien Gebrauch gemacht hat, während sie andererseits zugleich selbst nicht bereit sind, die UN-Entscheidungsstrukturen zu reformieren, insbesondere auf ihr Vetorecht im UN-Sicherheitsrat zu verzichten.

Der militärische Angriff gegen Jugoslawien verstößt in eklatanter Weise gegen die UN-Charta und geltendes Völker- und Verfassungsrecht

Auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. März 1999 (Az.: 2 BvE 5/99), die sich inhaltlich ausdrücklich nicht mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Bundeswehrbeteiligung an den NATO-Militäraktionen gegen Jugoslawien befasst, muss festgestellt werden:

  1. Der Bundeswehreinsatz im Krieg gegen Jugoslawien verläßt die Grenzen, die das »Out-of-area-Urteil« des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 gezogen hat. Nach dieser Entscheidung bietet Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes eine verfassungsrechtliche Grundlage lediglich für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im »Rahmen und nach den Regeln« eines Systems kollektiver Sicherheit stattfinden. Die Regeln der UN-Charta und der NATO-Vertrag, der die NATO-Staaten ausdrücklich auf eine strikte Beachtung der UN-Charta und des geltenden Völkerrechts verpflichtet, gestatten keinen völkerrechtswidrigen Angriff.
  2. Dem völkerrechtlichen Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta unterfällt »jede« Art der Anwendung militärischer Waffengewalt.
    • Es gibt kein Völkergewohnheitsrecht zur einzelstaatlichen »humanitären Intervention«, da es dazu jedenfalls an der erforderlichen übereinstimmenden Rechtsüberzeugung in der Staatengemeinschaft mangelt. Das »Recht zur humanitären Intervention« steht nach geltendem Völkerrecht nur den Organen der UN zu.
    • Der UN-Sicherheitsrat hat weder eine eigene militärische Zwangsmaßnahme nach Art. 42 UN-Charta beschlossen, noch dazu einzelne NATO-Staaten (Art. 42, 48 UN- Charta) oder die NATO als Regionalorganisation (Art. 53 UN-Charta) ermächtigt.
    • Der Ausnahmefall des Art. 51 UN-Charta, der die Notwehr und Nothilfe zugunsten eines angegriffenen Staates rechtfertigt, liegt evidentermaßen nicht vor, denn keiner der NATO-Staaten ist militärisch angegriffen worden; kein angegriffener Staat hat um Nothilfe gebeten.
  3. Die Teilnahme der Bundeswehr an dem militärischen Angriff auf Jugoslawien stellt zudem einen schwerwiegenden Bruch des der deutschen Wiedervereinigung zugrundeliegenden 2+4-Vertrages dar. Nach dessen Art. 2 ist es zwingendes geltendes Recht, dass das vereinte Deutschland „keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“
  4. Das deutsche Soldatengesetz verbietet in seinem 10 Abs. 4 jedem militärischen Vorgesetzten, völkerrechtswidrige Befehle zu geben.
  5. Die Entscheidung der Bundesregierung, deutsche Soldaten im Rahmen der NATO in den Krieg zu schicken, setzt die Soldaten und ihre Vorgesetzten auch erheblichen strafrechtlichen Risiken aus. Denn wer an einem völkerrechtswidrigen Krieg aktiv teilnimmt und dabei Menschen tötet, handelt völkerrechtswidrig und kann sich nicht auf einen strafausschließenden Rechtfertigungsgrund berufen.
  6. Der NATO-Angriff hat zudem auch prekäre Folgen für die Sicherheitslage der NATOStaaten: Wenn Russland dem angegriffenen Staat Jugoslawien militärischen Beistand leisten würde, könnte es sich unter Umständen auf das Nothilferecht des Art. 51 UNCharta berufen.

Entgegen den Behauptungen der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten gibt es durchaus Alternativen zu den völkerrechtswidrigen Bombenangriffen auf Jugoslawien.

  1. Das Bombardement der NATO muss sofort beendet werden. Es ist den Menschen, die unmittelbar darunter zu leiden haben, keine Stunde länger zuzumuten, darauf zu warten, ob die NATO oder das Milosevic-Regime den »längeren Atem« hat. Die NATO darf nicht länger die Luftwaffe der UCK sein; das Milosevic-Regime darf nicht länger die Menschen in seinem Herrschaftsbereich für seine verfehlte Politik als Geiseln nehmen.
  2. Offenkundig finden die Kontrahenten ohne das Einschalten Dritter bisher nicht einmal zueinem Waffenstillstand. Deshalb muss UN-Generalsekretär Kofi Annan schnellstmöglich eine Vermittlungsinitiative ergreifen und zunächst einen sofortigen Waffenstillstand aushandeln. Bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben nach der UNCharta darf er weder von einer Regierung noch von einer Autorität außerhalb der UNO Weisungen erbitten oder entgegennehmen (Art. 100 Abs. 1 UN-Charta). Eines förmlichen Auftrages des UN-Sicherheitsrates bedarf er für eine solche Vermittlungs- und Friedensmission im Kosovokrieg nicht. Nach Art. 100 Abs. 2 der UN-Charta sind alle Mitgliedsstaaten der UN verpflichtet, den ausschließlich internationalen Charakter der Verantwortung des UN-Generalsekretärs zu achten und nicht zu versuchen, ihn bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zu beeinflussen.
  3. Unter seinem Vorsitz sollten die Verhandlungen über eine friedliche Zukunft des Kosovo (z.B. am UN-Sitz in Genf) unverzüglich wieder aufgenommen werden. Dabei muss der zentrale Fehler der bisherigen Rambouillet-Verhandlungen vermieden werden, nämlich ein Abkommen durch die Androhung eines militärischen NATO-Angriffs erreichen zu wollen und ein »NATO-Protektorat« im Kosovo oder gar in ganz Jugoslawien anzustreben.
  4. Erstes Ziel dieser Friedensverhandlungen unter der »Schirmherrschaft« von Kofi Annan sollte es sein,
    • die fast erreichte Übereinkunft über die zivilen Bestandteile des »Rambouillet- Paketes« festzuschreiben,
    • die Entsendung eines ausreichend starken, im Kosovo zu stationierenden »UN-Blauhelm-Kontingents« (mit mindestens 30.000 bis 50.000 Angehörigen) unter UN-Hoheit mit Zustimmung der Konfliktparteien zur Durchsetzung und Überwachung eines Waffenstillstandes zu erreichen,
    • wirksame Maßnahmen zur Überwachung und Durchsetzung eines Waffenembargos zu vereinbaren.
  5. Die vielfältigen Verwerfungen und Spannungen auf dem Balkan bedürfen einer weiten politischen Perspektive zu ihrer Lösung. Die nationalistischen Rivalitäten gilt es aufzulösen zugunsten einer kooperativen Haltung zur Entwicklung der ganzen Region. Die Menschen aller Gruppierungen und Völker müssen dadurch begreifen, dass sie gegeneinander nur verlieren werden, aber im Miteinander über ethnische Grenzen hinweg alle gewinnen können. Dazu bedarf es der Unterstützung aus ganz Europa und darüber hinaus.
  6. Die Perspektive besteht in der baldmöglichsten Einleitung einer »Balkan-Kooperation«, die als Ziel eine Verbindung mit der EU ermöglicht. Daran können sich alle Staaten und Völker beteiligen, die kooperationsbereit sind und auf gewaltsame Konfliktaustragung verzichten. Hierüber ist mit den Gesellschaften, also den BürgerInnen in Serbien, Montenegro, im Kosovo und den anderen Balkanstaaten ein offener und öffentlicher Dialog in den vielfältigsten Formen zu entwickeln, der nicht von den Herrschenden unterbunden werden kann. Die Menschen selbst müssen ihr Interesse an einer solchen Perspektive begreifen und deshalb für Frieden und Versöhnung eintreten. Das wäre gleichzeitig ein großer Schritt in Richtung Demokratisierung und zunehmender gegenseitiger Toleranz. Beide sind wesentliche Schlüssel zur Befriedung des Balkans.
  7. Aus dem Ausland, aus den vielen Staaten Europas muss die Botschaft von oben und unten kommen: Wir sind an der Seite derer, die auf Gewalt verzichten, ihren Geschwisterkampf beenden und sich zur Kooperation zusammenfinden. Diese Botschaft muss ganz ausdrücklich die serbische Bevölkerung einschließen und ansprechen. Dies hätte eine enorme sozialpsychische Bedeutung, um das Trauma, Serbien müsste sich gegen die ganze Welt verteidigen, überwinden zu können. In diesem Zusammenhang sollte auch die baldmöglichste Rückkehr der Jugoslawischen Föderation in die OSZE auf die Tagesordnung gesetzt werden.
  8. Das politische Instrument, um eine solche Kooperation in Gang zu setzen, könnte eine institutionalisierte Dauerkonferenz sein, wie sie im Ost-West-Konflikt in der Form der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit« (KSZE, heute OSZE) recht erfolgreich praktiziert wurde. Diese »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit auf dem Balkan« hätte die Aufgabe, die Fundamente für eine gemeinsame Entwicklung zu erarbeiten, die mit einem »Balkan-Marshall-Plan« verwirklicht werden sollte. An diesem Vorhaben können sich alle europäischen Staaten beteiligen, die auf Gewalt gegeneinander verzichten. Dort ginge es nicht mehr um den scheinbar ethnischen Konflikt zwischen kosovo-albanischer, serbischer Bevölkerung usw., sondern um den Dialog zwischen kooperationsbereiten Kräften auf dem Balkan.
  9. Von der EU sollten Konsultationsgespräche über eine solche Balkanzusammenarbeit, erforderliche Vorbereitungsschritte und Verfahren eingeleitet, aber auch die Bereitschaft zur materiellen Unterstützung eines solchen Vorhabens signalisiert werden. Westpolitiker werden nach den erforderlichen Finanzmitteln fragen. Doch eine solche Politik ist weit billiger als die militärische NATO-Intervention, die täglich 500 Mio. $ kostet (FAZ vom 30.03.1999). Sie ist für alle, einschließlich der EU-Staaten, viel zukunftsträchtiger und kann Fundamente für eine stabile Entwicklung auf dem Balkan legen.
  10. Im Sinne einer zivilen Konfliktbearbeitung können ferner die folgenden Instrumente wirksam sein:
    • Waffenrückkauf-Programme,
    • Anhörungen und Vermittlungsbemühungen auf den verschiedenen Ebenen,
    • Gewaltfreiheitspakte auch in lokalen Bereichen,
    • Bildung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen (nach dem südafrikanischen Modell).

Zu klären ist auch der Umgang mit Kriegsverbrechen, die wohl auf allen Seiten verübt worden sind.

Es gilt die Bedingungen für den Prozess der Konfliktbearbeitung günstig zu gestalten, während die Lösungen von den Kontrahenten selbst erarbeitet und vereinbart werden müssen.

  1. Die Entfaltung einer Perspektive für zukünftige Entwicklung und Vertrauensbildung gehören zusammen. Darum ist es wichtig, dass nach Erreichung eines Waffenstillstandes auf vielen Ebenen (Kirchen, Gewerkschaften, Berufsverbände, Wissenschaft, Medizin, Wirtschaft usw.) Serien von Zusammenkünften organisiert werden, in welchen Erwartungen und Möglichkeiten der Entfaltung von Zusammenarbeit erörtert werden. Ganz in diesem Sinne sind alle Kräfte und Gruppierungen, die sich für eine friedliche, zivile Lösung einsetzen, zu unterstützen. Dies kann durch die Bereitstellung finanzieller Mittel erfolgen, durch Einladungen ins Ausland, um den Gruppen ein internationales Forum zu geben, durch Bereitschaft der Medien, die gewaltfreie Arbeit bekannt zu machen, durch die Ausrichtung von Regionalkonferenzen, auf denen sich Friedens- und Anti-Kriegsgruppen, Gruppen aus verschiedenen Staaten der Region besprechen und Zusammenarbeit vereinbaren können usw. Dabei muss die eigenständige Arbeit solcher Gruppen respektiert und Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden.
  2. Um eine solche Entwicklung zu ermöglichen, muss nach Erreichung eines Waffenstillstandes der aktuelle Konflikt um den Status des Kosovo entschärft werden, ehe er später unter der neuen Perspektive überprüft und geregelt werden kann. Es erscheint daher sinnvoll, zunächst eine vorläufige, möglichst großzügige Autonomie-Regelung zu vereinbaren, die in bestimmten Intervallen entsprechend den gemachten Erfahrungen und der neuen Entwicklung im Rahmen der KSZE für Südost-Europa zu überprüfen ist. In diesem Zusammenhang sollte der serbischen Seite die Aufhebung der verhängten Sanktionen zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Aussicht gestellt werden.
  3. Die humanitäre Hilfe, die die kosovo-albanische und serbische Bevölkerung gegenwärtig benötigt, ist nicht nur unter dem Aspekt der Linderung von Not zu begreifen, sondern auch als ein Signal an die Menschen dort, dass die europäische Politik nun ein neues Verhältnis zu den Balkanstaaten sucht, das nicht mehr auf Militäraktionen und geopolitischen lnteressenskalkülen wie in der langen Vergangenheit beruht, sondern auf der Einsicht, dass die europäische Zusammenarbeit allen Menschen und Völkern in diesem Kontinent zu dienen hat. Das ist freilich eine große Herausforderung für alle EuropäerInnen.

Vorstand der deutschen IALANA (Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen, Sektion BR Deutschland der IALANA)