Willkommen in der Bewegung

Willkommen in der Bewegung

von Mani Stenner

Die Gruppen und Organisationen der Friedensbewegung hatten sich vor dem Krieg auf eine kontinuierliche Lobbyarbeit gegenüber Rot-Grün eingerichtet, um den Koalitionsvertrag („Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“) mit Leben zu erfüllen. »Friedensfachkräfte« als Bestandteil vieler Maßnahmen zivilen Eingreifens bei Krisen und Konflikten sollten ausgebildet, die Friedensforschung zur Früherkennung künftiger Krisenherde gestärkt und Politik wie Gesellschaft für ein konstruktives vorbeugendes Konfliktmanagement fit gemacht werden.

Es galt, die Wehrstrukturkommission in ihrer Arbeit kritisch zu begleiten (oder gar mit zu besetzen), Rüstungsexporte einzudämmen, Stimmung gegen die Fortführung der Beschaffungspläne aus der Kohl-Ära zu machen und die Regierungsparteien an ihre frühere Skepsis gegen die Umstrukturierung der Bundeswehr für »out-of-area«-Einsätze zu erinnern. Weg mit dem Kommando Spezialkräfte – her mit dem Zivilen Friedensdienst, weg mit der Wehrpflicht – her mit Friedensuniversitäten. Das sollte doch wohl in einer Legislaturperiode zu schaffen sein, oder?

Druck wollten wir Außenminister Fischer machen, um die politische Lösung der Kurdenfrage noch während der deutschen EU-Präsidentschaft auf die europäische Tagesordnung zu setzen. Hoffnung setzten wir in die massive Unterstützung der NGO-Projekte für Wiederaufbau und die Förderung ziviler, demokratischer Strukturen in den Republiken des ehemaligen Jugoslawien.

Jetzt ist die sich langsam wieder formierende Anti-Kriegs-Bewegung zunächst zurückgeworfen auf Protest statt Gestaltung, sie muss sich auf die Aufarbeitung der massiven politischen Kollateralschäden des Krieges vorbereiten. Die Zäsur durch den Krieg – Johannes Rau sprach von einer möglichen »Zeitenwende« – gibt der darauf schlecht vorbereiteten Bewegung auch die Rolle der fast alleinigen Opposition in dieser Frage. Und das wird länger so bleiben.

Rot-Grün wird seine friedenspolitische Unschuld nicht wiedergewinnen. Man hat sich auf Krieg als Mittel der Politik festgelegt, richtet sich darin ein und überhöht seine Haltung moralisch-ideologisch. Deutschlands „opportunistischte Partei“ (die taz über die Grünen) nennt das Doppelstrategie. Der NATO-Vertrag der die Selbstmandatierung für Kriegseinsätze als ständigen Ausnahmefall vorsieht ist unterschrieben, die nächsten Eskalationen in der Balkanregion durch den Kosovo-Krieg sind wahrscheinlicher geworden und weitere Konflikte an den Grenzen Russlands sind absehbar.

Die Skepsis gegen diesen Krieg reicht weit in die Gesellschaft hinein. Zu offensichtlich hat die NATO ihre propagierten Ziele des Schutzes von Menschen und der Beendigung von Vertreibung ins Gegenteil verkehrt. Die ideologische Aufrüstung, die Verteufelung Milosevics („Stalin und Hitler in einer Person“) und des gesamten serbischen Volkes kann vom Scheitern des militärischen Weges – und seinen katastrophalen Folgen für die Menschen des Kosovo, den Opfern und der massiven Zerstörung der zivilen Infrastruktur in Jugoslawien – nicht mehr ablenken. Die platte Diffamierung der innenpolitischen Kritiker („Fünfte Kolonne Belgrads“) kann die Erbarmungslosigkeit einer Politik nicht verdecken, die »humanitär« bombt, sich aber die in den Lagern in Albanien, Mazedonien und Montenegro unter erbärmlichen Umständen lebenden Flüchtlinge schlicht vom Hals halten will.

Selten wurden die Argumente der Friedensbewegung so massiv und schnell bestätigt wie diesmal. Dennoch drückt sich die Skepsis in der Gesellschaft nicht in starkem Protest auf der Straße aus, keine weißen Tücher hängen aus den Fenstern, nach wochenlangen Bombardements ist der Krieg nicht einmal mehr Hauptthema in Gesprächen, in der Berichterstattung der Zeitungen ist er auf die hinteren Seiten gerückt.

War zu Beginn des Krieges bei vielen die Ratlosigkeit – bezüglich der Alternativen zu dem von den ehemaligen Weggefährten in den Regierungsparteien gerechtfertigten Angriffskrieg – lähmend, waren die Argumente der aktiven Friedensgruppen zu wenig bekannt, so müssen die KriegsgegnerInnen jetzt auch gegen Resignation und die Gewöhnung an den Krieg argumentieren.

In Zeiten einer »Großen Koalition« kann aber auch die Einsicht wachsen, dass die Gesellschaft die Diskussion um Krieg und Frieden nicht der Regierung und den ParlamentarierInnen überlassen darf. Aufgeben gilt nicht – das gilt auch für die KriegsgegnerInnen in der SPD und gerade auch für die in Bielefeld unterlegenen Grünen.

Willkommen in der Bewegung!

Mani Stenner ist Sprecher des Netzwerks Friedenskooperative, Bonn

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

Ja, es ist ein Ärgernis, dass sich Diktatoren und Menschenrechtsverletzer hinter dem Gebot der Nichteinmischung verschanzen. Die Begrenzung innerstaatlicher Souveränität durch internationale Strukturbildung ist längerfristig ein vernünftiges Projekt. Dazu gehören die Stärkung der Vereinten Nationen und der OSZE wie der Ausbau internationale Gerichtsbarkeit. Auf der Grundlage größtmöglicher Legitimation – und das heißt auch ungeteilter Moral – kann über Einmischungen geredet werden. Auch über peacekeeping-Einsätze, wenn Völkermord droht. Sonst nicht.

Der für Kriegsfragen zuständige Minister in Bonn hat in diesen Tagen ausgeführt, wie sehr es ihn damals betroffen gemacht habe, dass man nicht habe helfen können, 1980 beim Arbeiteraufstand in Danzig und Stettin. Oder 1968 beim Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in Prag. Dies sei nunmehr anders geworden. Man könne den betroffenen Menschen helfen. Wie wir sehen, schließt diese »Hilfe« Angriffskriege ein. Was für eine Nothilfe, die das Elend der Hilfebedürftigen vervielfacht!

Mir fallen andere Beispiele ein: Was war mit Hilfe 1973 beim Militärputsch in Chile? Hat man nicht die Putschgeneräle und Henker von Montevideo bis Santiago in den siebziger Jahren nicht nur gewähren lassen, sondern sie erst an die Macht gebracht? Man habe »Fehler« gemacht, hat die US-Außenministerin eingeräumt. Würde heute eine vom Volk gewählte Allende-Regierung in Ruhe gelassen oder gar großzügig mit Wirtschaftshilfen bedacht? Wahrscheinlicher ist, dass Minister Scharping mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen die ersten Krisengespräche aufgenommen hätte.

„Wir müssen dafür sorgen, dass Milosevic wegkommt“, sagt der Vertreter der Grünen in einer Diskussionsrunde. Wer ist »Wir«? Wir Grüne? Wir Deutsche? Wir NATO? Was ist mit dem serbischen Volk?

„Die Pinochets dieser Welt sollen künftig zittern“, rief ein Redner unter starkem Beifall auf dem Kosovo-Parteitag der Grünen aus. Bravo!

Die Liste der Staaten, die die Menschenrechte verletzen ist, ist lang (auch die USA sind dort vertreten). Man geht von weltweit über 20 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus. Anlässe für »humanitäre Interventionen« gibt es wahrlich genug. Und doch kann einem angesichts der in Mode gekommenen moralisierenden Rhetorik eingreifender Außenpolitik angst und bange werden. Da darf in Talkshows ungeniert über die Ermordung eines dreimal gewählten Staatsoberhauptes räsoniert werden. Da werden Überlegungen angebracht, wie man das serbische Volk umerziehen müsse, damit es endlich am Tisch der Zivilisierten Platz nehmen dürfe. Da fließt der Begriff »Protektoratslösung« wieder flott von den Lippen. Würde dieser moralische Rigorismus Programm, stünde ein Totalitarismus des Guten ins Haus, in dessen Konsequenz die Heilsbringer den Bösewichtern immer ähnlicher werden.

Und ob es den jeweils Beteiligten bewusst ist oder nicht: Die Grundlage der humaninterventionistischen Gestaltungsphantasien bildet die Übermacht der westlichen Allianz; eine Macht, die sich nicht zuletzt auf ihre überlegene High-Tech-Militärmaschinerie stützt. Sollen wir zukünftig gutgläubig dem Militärblock der Starken und Reichen vertrauen, wenn es um die uneigennützige Verteidigung der Moral gehen soll?

Seitdem Präsident Bush 1991 die Neue Weltordnung ausrief, ist es Mode geworden, der Einmischung in »innere Angelegenheiten« das Wort zu reden. „Wir laufen in eine Phase hinein, in der die Souveränität eines Landes in Frage getellt wird“,so der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ischinger. Er fügt zur Selbstberuhigung hinzu, dass man nicht in das Stadium der Willkür übergehen dürfe. Doch die Definitionsmacht über die Grenzen bzw. Nichtgrenzen haben alleine diejenigen, die qua eigener Machtfülle die Einschränkung der Souveränität exekutieren können.

So gesehen ist der Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien tatsächlich ein Präzedenzfall. Das Recht zum Kriege (ius ad bellum) wird wieder in die Hände souveräner Nationalstaaten zurückgelegt, die sich erlauben können, die Souveränität anderer Länder zu verletzen. Interveniert wird selektiv. Die Türkei als strategischer Partner innerhalb der NATO wird gehätschelt, Serbien als Störfaktor abgestraft.

Der Münchener Soziologe Ulrich Beck hat es exakt herausgearbeitet: „Im Zuge der neuen westlichen Politik ethischer und wirtschaftlicher Globalisierung werden die Souveränitätsrechte der nationalstaatlichen Moderne entkernt und dem Zugriff »globaler Verantwortung« geöffnet. Gerade weil das weltweite Einklagen von Grundrechten hoch legitim ist und entsprechende Interventionen, wie im Kosovo, als selbstlos gelten, bleibt oft unerkannt, dass sie sich deswegen auf das wundervollste verzahnen lassen mit den altmodischen Zielen imperialistischer Weltpolitik.“

Paul Schäfer

»Empowerment« in Bosnien-Hercegovina

»Empowerment« in Bosnien-Hercegovina

Friedensfachdienste in Krisenregionen

von Martina Fischer

Schon mit Beginn und im Verlauf der Kriege im zerfallenden Jugoslawien begannen Friedensgruppen und Bürgerrechtsverbände, die bundesweit, europaweit oder international organisiert waren, friedensorientierte Initiativen in der Region zu unterstützen. Ihre Arbeit umfaßte die Herstellung von »Gegenöffentlichkeit« zur nationalistischen Propaganda und Aufklärung auf internationaler Ebene, die Unterstützung der Kriegsopfer und Flüchtlinge durch materielle, humanitäre, medizinische oder psychosoziale Hilfe sowie die Unterstützung von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern. Es entstanden Initiativen zur Dokumentation von Kriegsverbrechen und zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen, zur Aufrechterhaltung von Kommunikation zwischen Menschen verfeindeter Lager, zur Konfliktvermittlung und zum Aufbau einer zivilen Gesellschaft (vgl. dazu Large, 1997). Zwar haben diese Organisationen nicht die Kampfhandlungen beenden können, aber sie haben erheblich zur Bearbeitung der Kriegsfolgen beigetragen und Grundsteine für eine Verständigung gelegt, auf die eine notwendige Versöhnungsarbeit langfristig aufbauen kann. In folgendem Beitrag werden zwei unterschiedliche in Bosnien-Hercegovina praktizierte Ansätze skizziert. Dann wird den Fragen nachgegangen: Welche Voraussetzungen sind für eine langfristig erfolgreiche Friedensarbeit erforderlich, welche Anforderungen werden an die ProtagonistInnen gestellt und was bedeutet das für ihre Vorbereitung? Abschließend geht es um die politischen Rahmenbedingungen und Perspektiven für Friedensfachdienste in der Bundesrepublik.

Mitunter bereitet es Probleme zu bewerten, inwiefern die Angebote der sogenannten NGOs, also der vielen „(halb-) professionell und transnational arbeitenden Organisationen“, die unabhängig von staatlichen Strukturen in unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und politischen Bereichen tätig sind bzw. der „Arbeitsgruppen innerhalb strukturierter oder halb-spontaner Bewegungen“ (Merkel, 1993: 41), die sich für Frieden, Menschenrechte oder auch für Entwicklungszusammenarbeit einsetzen, friedenspolitisch effektiv sind. Manchen wird nachgesagt, sie verfolgten eigene kommerzielle Interessen. Anderen wird vorgeworfen, sie etablierten durch ihre Intervention Abhängigkeiten. Tatsächlich stehen Verfahren »freiwilliger Selbstkontrolle«, wie sie von in der Entwicklungszusammenarbeit tätigen NGO-Plattformen etabliert oder angedacht wurden, für die in der südslawischen Region tätigen humanitären und friedenspolitischen Initiativen noch aus. Dafür müßten Netzwerke gebildet werden, die eine bessere Abstimmung der Aktivitäten gewährleisten und Kriterien zur Überprüfbarkeit der eigenen Arbeit entwickeln könnten. Die Entwicklung vorbildlicher Standards bildet einen zentralen Bestandteil in der Debatte um die Professionalisierung von Friedensarbeit.

In der Bundesrepublik setzen sich seit einigen Jahren verschiedene im Forum ziviler Friedensdienst zusammengeschlossene Gruppen und Einzelpersonen für eine staatlich geförderte Entsendung von Personen ein, die (auf freiwilliger Basis) Friedensarbeit in Konfliktregionen leisten sollen. Dachverbände, wie die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), bemühen sich vor allem um die Weiterentwicklung bisheriger Auslandsdienste (sozialer Lerndienste und qualifizierter Freiwilligendienste) zu »Friedensfachdiensten«, die sie in weitestgehender Unabhängigkeit von der staatlichen Ebene durchgeführt sehen wollen. Allen geht es um die Verbesserung der materiellen und politischen Voraussetzungen für die Entsendung und die Ausbildung von Freiwilligen, die von gesellschaftlichen Trägern in Konfliktregionen vermittelt werden.

Einige der Mitgliedsorganisationen aus dem unabhängigen und aus dem christlichen Spektrum haben in der südslawischen Region in den vergangenen Jahren Friedensprojekte etabliert, denen eines gemeinsam ist: Sie wurden auf Anfrage und/oder in enger Kooperation mit lokalen Partnern entwickelt und haben zum Ziel, Foren der Begegnung und des Dialogs zu schaffen, Kommunikation zu befördern, soziales Lernen zu ermöglichen, Flüchtlingen bei der Rückkehr in ihre Herkunftsregionen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen oder auch »empowerment« für friedenspolitische Initiativen (z. B. das Recht auf Kriegsdienstverweigerung) zu gewährleisten. Pax Christi, die Aktion Sühnezeichen – Friedensdienste, der Versöhnungsbund, das Deutsche Mennonitische Friedenskomitee, IPAK und die Bildungs- und Begegnungsstätte »Kurve Wustrow« wurden in Bosnien-Hercegovina aktiv, Ohne Rüstung Leben in Kroatien (Ostslawonien) und in der BR Jugoslawien (Voijvodina); auch das vom Bund für soziale Verteidigung und zehn weiteren internationalen und europäischen Organisationen getragene Balkan Peace Team verfügt über mehrjährige Erfahrung in der Friedensarbeit in Kroatien und Jugoslawien (Kosovo). Gleiches gilt für das bundesweit aktive Netzwerk von Schüler helfen Leben oder für Initiativen, die sich der psychosozialen Arbeit mit weiblichen Flüchtlingen widmen, wie etwa die Freiburger Gruppe Amica.

Voraussetzungen für erfolgreiche Arbeit

In den Berichten von Friedensfachkräften wird immer wieder die Frage aufgeworfen, wie die Projekte anzulegen sind, damit sie dem erklärten Ziel der Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen gerecht werden. Vielen ist bewußt, daß sich die Qualität ihrer Arbeit daran bemißt, daß sie sich möglichst rasch überflüssig machen. Die Mitarbeiter des Sarajevoer CNA-Projekts haben sich dafür das Prinzip »Train the Trainers« zu eigen gemacht: Man will verstärkt Workshops durchführen, in denen zukünftige TrainerInnen gewonnen und fortgebildet werden können. Außerdem sollen einheimische AktivistInnen den CNA-„Staff« perspektivisch verstärken. Auch Jörg Heidig kommt als Koordinator in Begov Han zu dem Schluß, daß im dörflichen Begegnungszentrum „vorwiegend Einheimische beschäftigt werden sollen und nicht mehr wie bisher vor allem Ausländer. Lokalen Angestellten ist es viel besser möglich, den Gedanken des Projektes zu vermitteln. Sie sprechen die Sprache, sind in dem Land aufgewachsen und werden von den Dorfbewohnern ernst genommen.“ Immer wieder stellt sich für Fachkräfte und ProjektkoordinatorInnen die Frage: Wie lassen sich Wissensvorsprünge abbauen und Strukturen so aufbauen, daß sie rasch in lokale Hände überführt werden können? Soll man sich als örtliche Organisation mit überwiegend einheimischen Mitarbeitern fortentwickeln, oder soll man sich perspektivisch überhaupt zurückziehen und die Arbeit ganz auf Partnerorganisationen übertragen?

Auch in der transnationalen Friedensarbeit gilt das Prinzip der »Hilfe zur Selbsthilfe« bzw. der Förderung eigenständiger Initiativen im Zielland als Erfolgskriterium. Wie dieser theoretisch von den meisten nachvollziehbare Anspruch faktisch in der Konzeption der eigenen Arbeit umgesetzt und mit dem Projektalltag in Übereinstimmung gebracht werden kann, ist die entscheidende Frage, die im Vorfeld thematisiert werden muß, wenn der Herausbildung von Dominanzstrukturen in Projekten entgegengewirkt werden soll.

Das Anforderungsprofil von Friedensfachkräften erweist sich also in mancher Hinsicht als vergleichbar mit dem von Fachkräften in der Entwicklungszusammenarbeit (vgl. Würtele, 1997: 63). Sie müssen einerseits hohe Motivation, also Belastungsfähigkeit und Selbstausbeutungsbereitschaft mitbringen, dürfen sich aber andererseits nicht für unentbehrlich halten und sich selbst nicht zu wichtig nehmen. Es kommt in Projekten zu Spannungen, wenn AktivistInnen nicht gelernt haben, Verantwortung zu delegieren, oder das, was sie in mühevoller Arbeit mit aufgebaut haben, »loszulassen«, das heißt: anderen zu überantworten.

Eine intensive Motivationsklärung sollte zum zentralen Bestandteil von Vorbereitungsmaßnahmen gemacht werden. Von zentraler Bedeutung dabei erweisen sich die Fragen: Was will ich geben? Was will ich nehmen? und vor allem: Was mache ich danach, welchen Stellenwert hat der Friedenseinsatz in meiner Lebensplanung? In der Erfahrung von Entsendeorganisationen zeigt sich immer wieder, daß Personen, die diese Frage nicht beantworten können, dem Prinzip des »capacity-building« für einheimische Initiativen in Konfliktregionen kaum gerecht werden können. Wenn die Hilfe für andere zum Selbstzweck und Lebensinhalt der Helfer wird, fällt es schwer, sich selbst »überflüssig« zu machen.

Von prinzipieller Relevanz für erfolgreiche Friedensarbeit erweist sich weiterhin interkulturelle Kompetenz. Sie wird – neben einer allgemeinen sozialen Kompetenz – von Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit seit langem als erforderlich für den Auslandsdienst erachtet. Das Training interkultureller Kommunikationsfähigkeit ist fester Bestandteil der Vorbereitung von Fachkräften der Entwicklungsdienste (vgl. DED, 1998: 9ff.). Es erweist sich erst recht für den Friedensdienst als unabdingbar: „Wer in Konflikt- oder Kriegsregionen arbeitet, muß besonders sensibel die interkulturellen Barrieren wahrnehmen, die zu Mißverständnissen führen und Kommunikationsprozesse blockieren können. Grundlegende Voraussetzung sind hinreichende Kenntnisse der Umgangssprache im Gastland und der dortigen Umgangsformen.“ (Freise, 1997: 78).

Personen im Auslandsdienst müssen sich in Menschen anderer Kulturen hineinversetzen können, sie in ihrem Denk- und Wertehorizont respektieren anstatt sie vom eigenen Verstehenshorizont her zu beurteilen oder gar zu verurteilen.1 Diese Personen müssen außerdem die eigene Identität darstellen können. Den Erfahrungen der Entwicklungszusammenarbeit zufolge ist bei der Ausbildung einer Beschäftigung mit der fremden Kultur die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur voranzustellen.2 Man geht davon aus, daß Menschen erst dann, wenn sie die eigenen Prägungen durch Geschichte und Kultur erkannt haben, kulturelle Unterschiede im Gastland wahrnehmen, verstehen und kritisch akzeptieren können (vgl. DED, 1998: 9).

Friedensfachkräfte müssen schon deshalb in der Lage sein, ihre eigene Identität zu finden und darzustellen, um entscheiden können, in welchen Konfliktsituationen sie eine neutrale Position einnehmen und beide Seiten verstehen müssen, weil dies für die Bearbeitung des Konflikts am ehesten Erfolg verspricht. Sie müssen gleichzeitig ein Gespür dafür entwickeln, in welchen Situationen ein Machtgefälle zwischen Unterdrückten und Unterdrückern gegeben ist, in dem Neutralität schädlich und unglaubwürdig wäre, wo es also um »empowerment« für die unterlegene Seite geht (vgl. Freise, 1997: 78).

Das Lernziel interkultureller Kompetenz wird zudem immer auch im Zusammenhang mit der Vermeidung eines »Kulturschocks« diskutiert. Die Frage: Wie weit muß ich mich anpassen (ohne eine Überanpassung zu vollziehen)? Wie weit ist Abgrenzung nötig? beschäftigt viele AktivistInnen.

Für zahlreiche Fachkräfte erweisen sich überdies noch weitergehende Qualifikationen als unabdingbar: Projektentwicklung, Management-Fähigkeiten und Kenntnisse in »fundraising«. Befragungen von AktivistInnen und ProjektkoordinatorInnen ergaben, daß sich die Tätigkeitsbereiche aus einer Kombination vielfältiger Aufgaben zusammensetzen. Häufig handelt es sich um eine Mischung aus Sozialarbeit (psychosoziale Unterstützung, Gemeinwesen- oder Kulturarbeit), Führungsaufgaben (manche Fachkräfte arbeiten in Strukturen, in denen sie andere MitarbeiterInnen oder internationale Freiwillige anleiten können müssen) sowie Aufgaben der Akquisition von Geldern zur Weiterentwicklung der Projektzusammenhänge. Gerade in den südslawischen Nachkriegsregionen haben zahlreiche internationale Organisationen (z.B. EU, UNHCR, OSZE) Fonds zur Unterstützung von NGOs eingerichtet, weil sie auf zivilgesellschaftliches Engagement für die Friedenssicherung angewiesen sind. Um diese Quellen zu erschließen, muß man vor Ort Kontakte mit Ansprechpartnern in den entsprechenden Organisationen pflegen.

An viele Friedensfachkräfte wird nicht nur der Anspruch gestellt, daß sie im Team arbeiten können, sondern auch, daß sie eigenverantwortlich in den genannten Feldern agieren können. Für das Anforderungsprofil gilt, was auch Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit für ihre Fachkräfte schon seit einiger Zeit feststellen: „Die Aufgaben (…) sind anspruchsvoller und komplexer geworden. Zunehmend gehen sie mit höherer Verantwortung und Entscheidungskompetenz einher. Heute ist immer weniger der praktisch Mitarbeitende verlangt, vielmehr jedoch der Berater für entwicklungspolitische Prozesse und Organisationsentwicklung, der Ausbilder von Multiplikatoren, der Vermittler (von Kontakten) und der Berater für Planung, Prüfung, Begleitung und Finanzfragen, Moderator, Koordinator etc.“ (Würtele, 1997: 65).

Perspektiven für Friedensfachdienste

Immer wieder stellen sich für die vor Ort meist an der gesellschaftlichen Basis tätigen Fachkräfte Fragen nach der Einordnung ihrer Arbeit in den politischen Gesamtzusammenhang. Zweifel am Sinn der eigenen Arbeit und der Reichweite der zivilgesellschaftlichen Akteure entstehen dann, wenn auf dem internationalen Parkett politische Entscheidungen getroffen werden, die Prozessen des »peace-building« zuwiderlaufen. Wenn z.B. auf staatlicher Ebene die Abschiebung von Flüchtlingen verfügt wird, obwohl deren Rückkehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts des Mangels an Wohnraum und Erwerbsmöglichkeiten die vorhandenen Konfliktlinien noch verschärft.

Friedenskonsolidierung in Bosnien-Hercegovina hängt nach Einschätzung zahlreicher NGO-MitarbeiterInnen überdies vor allem davon ab, ob das krasse Mißverhältnis in der Mittelvergabe – für die militärische Komponente SFOR wird nach wie vor etwa das zehnfache an Ressourcen aufgewandt wie für den zivilen Aufbau3 – zugunsten eines umfassenden wirtschaftlichen Förderprogramms zur Ankurbelung des Produktionssektors und zur Schaffung von Arbeitsplätzen überwunden wird. Außerdem müßten die staatlichen Initiativen viel besser mit den gesellschaftlichen Ansätzen verzahnt werden. Das Gros der Aufgaben der NGOs und Friedensgruppen, die sich seit Ende der Kämpfe am Wiederaufbau demokratischer Gemeinwesen, Minderheitenrechte, Begleitung und Beratung von Flüchtlingen und Rückkehrern beteiligen und damit eine unverzichtbare Unterstützung für die Umsetzung des Friedensschlusses bilden, wird bislang von Freiwilligen oder Halbprofessionellen verrichtet und großenteils mit Hilfe von privatem Spendenaufkommen finanziert. Letzteres ist nach Abschluß des Dayton-Abkommens jedoch nahezu zum Erliegen gekommen. Staatenorganisationen wie die OSZE bzw. die Europäische Union halten zwar diverse Fonds für NGO-Arbeit in Bosnien bereit. Vor allem die im PHARE-Programm4 für den Zeitraum 1996 bis 1999 in Aussicht gestellte 1 Mrd. ECU bildete zunächst Hoffnungsschimmer. Aber immer wieder machen Gruppen die Erfahrung, daß sie durch schwerfällige Bürokratien hingehalten werden und dann nach mehr als zwölfmonatigen Bearbeitungsfristen doch noch leer ausgehen. So erging es aktuell dem im Kosovo tätigen Balkan Peace-Team.

Von StaatenvertreterInnen wird der Beitrag der gesellschaftlichen Akteure zum »peace-building« in Konfliktregionen zwar gern in Anspruch genommen und vordergründig anerkannt, aber weder in der Vorbereitung noch in der Durchführung und Auswertung erfährt deren Arbeit bislang durch diese Ebene die gebührende Unterstützung. Die gesellschaftlichen Träger leiden aufgrund der knappen finanziellen Ausstattung chronisch unter Personalmangel und Arbeitsüberlastung. Viele arbeiten trotzdem mit einer erstaunlichen Professionalität. Ihre Arbeit wird jedoch durch die wechselvolle Entwicklung des privaten Spendenaufkommens häufig in ihrer langfristigen Planbarkeit eingeschränkt und auf kurzfristige Nothilfe reduziert. Wenn auch das Fundament transnationaler Friedensarbeit weiterhin durch die Zivilgesellschaft zu errichten sein wird, so könnte eine großzügige Co-Finanzierung aus öffentlichen Mitteln die Situation doch entschärfen. Es wäre an der Zeit, daß Bund, Länder und Gemeinden Möglichkeiten der Förderung für dezentrale Friedensfachdienste prüfen: Eine Unterstützung für die Personal- und Betriebskosten von Projekten, die von freien gesellschaftlichen Trägern aus Deutschland und aus Konfliktregionen gemeinsam entwickelt und durchgeführt werden, sowie für die Evaluation von Projekten, um die zur Konfliktbearbeitung eingesetzten Instrumentarien auf ihre Wirksamkeit hin zu prüfen (vgl. Müller, 1998: 12ff)5. Auch an der Bereitstellung einer qualifizierten Ausbildung könnten sie sich beteiligen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat mit der Etablierung des Ausbildungskurses »Zivile Konfliktbearbeitung« im Jahre 1997 dafür einen wichtigen Beitrag geleistet. Die Errichtung einer bundesweiten Einrichtung harrt weiter der Realisierung.

Es bedarf kreativer Konzepte dafür, die materielle Basis für Maßnahmen zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Konfliktgebieten zu fördern und die dafür tätigen Frauen und Männer finanziell, rechtlich und sozial in einer Weise abzusichern, die ihren verantwortungsvollen und teilweise nicht ungefährlichen Aufgaben angemessen ist. Dafür schlagen einige Trägerorganisationen unter anderem ein Freiwilligendienstgesetz (vgl. Frey, 1992) sowie ein Gesetz für die Regelung des Einsatzes von Friedensfachkräften analog zum Entwicklungshelferentsendegesetz vor. Wenn Regelungen wie die Sonderurlaubsverordnung für Beamte (Lehrer- und Parlamentarierfreistellung) auch auf die Friedensarbeit ausgeweitet würden, könnten sich auch Personen in fortgeschrittenen Berufsphasen für eine zeitlich begrenzte Friedensarbeit im Ausland entscheiden. Die politischen Mandats- und EntscheidungsträgerInnen sind weiterhin gefordert, sich für die erforderlichen gesetzlichen Regelungen und für den Aufbau einer umfassenden »Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung« (vgl. Calließ, 1996: 66ff, Merkel, 1994) einzusetzen. Sie könnten außerdem mit einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit und Würdigung der Friedensarbeit vor Ort, etwa durch Besuche von Projekten, zur Erhöhung der gesellschaftlichen Anerkennung beitragen. Nur wenn es gelingt, die praktischen Handlungsansätze sichtbar zu machen, kann die Einsicht dafür geschaffen werden, daß es sich lohnt, verstärkt in präventive und friedenskonsolidierende Maßnahmen zu investieren.

Literatur

Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (Hrsg.) (1998): Friedensfachdienst ist nötig, Reihe Friedens- und Freiwilligendienste, Nr. 11, o.O., Februar 1998.

Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste, AGdD (Hrsg.) (1997): Dem Frieden verpflichtet. Entwicklungsdienste für den Frieden, Reihe Basispädagogik der AGEH, Nr. 9, Köln.

Calließ, Jörg (1996): Die Aufgaben ziviler Konfliktbearbeitung und der Aufbau einer angemessenen Infrastruktur, in: Die Friedenswarte, Band 71, Heft 4, o.O.

Deutscher Entwicklungsdienst (DED, Abteilung Vorbereitung) (1998): Überregionales Lernprogramm, Berlin.

Fricke, Ekkehardt (1997): Friedensfachdienst im Entwicklungsdienst, in: Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste, AGdD (Hrsg.), o.O., S. 30-44.

Heidig, Jörg (1998): Bericht über die Arbeit, Hrsg. Pax Christi, o.O., Mai 1998.

Large, Judith (1997): The War next Door. A study of second-track intervention during the war in ex-Yugoslavia, Gloucestershire.

Losche, Helga (1995): Interkulturelle Kommunikation, Alling.

Merkel, Christine M. (1993): Methoden ziviler Konfliktbewältigung: Fragen an eine krisengeschüttelte Welt, in: Birckenbach, Hanne u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Frieden 1994, München, S. 35-48.

Müller, Harald (1998): Feststellung des Bedarfs für Friedensfachkräfte bei der AGDF, in: Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (Hrsg.), o.O., S. 4-23.

Ropers, Norbert (1996): Rollen und Funktionen Dritter Parteien bei der konstruktiven Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte, in: Die Friedenswarte, Heft 4, o.O., S. 417-441.

Vukosavljevic, Nenad (1998): Zweiter öffentlicher Viermonatsbericht Dezember 1997 – April 1998 aus Bosnien-Hercegowina, Hrsg. »Kurve Wustrow«, o.O.

Würtele, Werner (1997): Anforderungsprofile von Fachkräften in der personellen Zusammenarbeit, in: Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste, o.O., S. 61-66.

Der Beitrag beruht auf Eindrücken bei Forschungsreisen durch Bosnien-Hercegovina, Kroatien und die BR Jugoslawien 1997 und 1998, die teilnehmende Beobachtung und Interviews mit MitarbeiterInnen friedensaktiver NGOs zum Gegenstand hatten.

Anmerkungen

1 Friesenhahn (1995: 199) beschreibt als Hauptmerkmale von »interkultureller Kompetenz«: „Empathie, (die) Fähigkeit, zeitlich parallel auftretende unterschiedliche Erwartungen auszuhalten (Ambiguitätstoleranz), Offenheit, Kommunikationsfähigkeit in unterschiedlichen Settings, Flexibilität im Umgang mit Rollen, Streßtoleranz. Konfliktfähigkeit, Kreativität bei Konfliktlösungsversuchen.“ Zurück

2 Die Frage nach der eigenen Sozialisation, den eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen steht z. B. am Beginn des Abschnitts interkulturellen Lernens im Vorbereitungsprogramm des DED. Zurück

3 Mit 10 Mrd. DM wurden nach Dayton die Kosten für den Militäreinsatz für ein Jahr veranschlagt, 5 Mrd. sind für den zivilen Wiederaufbau für einen Zeitraum von fünf Jahren angesetzt worden. Zurück

4 Für 1998 wurden von der EU im Rahmen des PHARE-Programms 100 Mio. ECU für Wiederaufbauprojekte freigegeben. Nur 15% der für 1997 bereitgestellten Mittel wurden überhaupt abgerufen. Der Grund wird nicht in einem Mangel an Anträgen sondern in der schwerfälligen Bearbeitungspraxis ausgemacht. Zurück

5 Vor allem bezogen auf die Bearbeitung von Konflikten in ethnisch diversifizierten Gesellschaften wäre eine Aufarbeitung der Erfahrungen dringend geboten (vgl. Fricke 1997:41 und Ropers 1996:426). Zurück

Martina Fischer, Dr. phil., Politologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berghof-Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung.

Offener Himmel über Bosnien

Offener Himmel über Bosnien

Politische Perspektiven und technische Optionen

von Hartwig Spitzer

Die Idee des offenen Himmels ist einfach und zukunftsweisend zugleich. Jedes beteiligte Land öffnet seinen gesamten Luftraum für Bildüberflüge der anderen Seite und zeigt damit, daß es nichts zu verbergen hat. Die Flüge werden kooperativ durchgeführt. Kopien der aufgenommenen Luftbilder stehen allen beteiligten Staaten zur Verfügung. All das trägt dazu bei, daß Vertrauen durch Offenheit und Transparenz auf Regierungsebene gestärkt wird – im Gegensatz zur Praxis beim Umgang mit den Bildern militärischer Aufklärungssatelliten.

Ungarn und Rumänien haben sich bereits 1991 auf ein gegenseitiges Open-Skies-Abkommen verständigt. Seit 1992 werden jährlich je drei bis vier gegenseitige Überflüge von militärischen und anderen Einrichtungen durchgeführt. Die Militärs beider Länder schauen sich also auch nach der Wende gegenseitig in die Karten: Die Flüge haben wesentlich dazu beigetragen, daß die politischen Spannungen beider Länder niemals bis auf die militärische Ebene eskalierten, sondern eher abgebaut wurden.

Parallel dazu ist von 1990 bis 1992 ein multilateraler Open-Skies-Vertrag ausgehandelt worden. Dem Vertrag sind inzwischen 27 Staaten beigetreten, darunter alle 16 NATO-Staaten (nach dem Stand von 1992), sowie Rußland, Weißrußland, die Ukraine, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Georgien und Kirgistan. Bemerkenswert ist dabei, daß praktisch das ganze Gebiet der Teilnehmerstaaten von Vancouver bis Wladiwostok für Beobachtungsflüge offen ist. Anfangs kommen fotografische und Videokameras mit einer Bodenauflösung von 30 cm zum Einsatz, später auch Wärmebildkameras und Radarbildsysteme. Damit läßt sich unverdecktes, großes militärisches Gebiet dem Typ nach ohne weiteres erkennen.

Der Vertrag ist allerdings noch nicht in Kraft, weil die Ratifizierung durch die Parlamente in Moskau, Kiew und Minsk noch aussteht. Trotzdem wurden bereits zahlreiche bilaterale Versuchsflüge durchgeführt. Deutschland hat als einziges westliches Land 1995 einen Beobachtungsflug über Sibirien mit einer Gesamtlänge von 6 500 km durchgeführt.

Open-Skies für Bosnien

Einer der Väter der beiden Open-Skies-Verträge ist der ungarische Botschafter Marton Krasznai. Krasznai wurde 1996 zum persönlichen Beauftragten des Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für die Umsetzung von Teilbereichen des Dayton-Abkommens in Bosnien ernannt. Das Dayton-Abkommen verpflichtet die drei bosnischen »Parteien« zu einer Bekanntgabe und Begrenzung der Bestände ihrer konventionellen Waffensysteme. Die OSZE hat seit 1996 zahlreiche Vor-Ort-Inspektionen organisiert, bei denen Militärvertreter der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten die deklarierten Militärstandorte der jeweils anderen Seiten inspizieren. Mitarbeiter der OSZE müssen dabei die Vertreter der drei Parteien durch das geteilte Land eskortieren. Denn ein bosnisch-serbischer Offizier wagt es heute (trotz der vereinbarten Bewegungsfreiheit) immer noch nicht, im eigenen Wagen in die nichtserbischen Landesteile zu fahren.

Das Dayton-Abkommen sieht zusätzlich weitere vertrauensbildende Maßnahmen auf freiwilliger Basis vor. Botschafter Krasznai brachte nun die Idee eines offenen Himmels über Bosnien ins Spiel. Mit diplomatischem Geschick wurde ein schrittweises Vorgehen inszeniert. Zunächst wurden im Oktober 1996 Militärvertreter der drei bosnischen Parteien, aber auch aus Zagreb und Belgrad zu einem amerikanisch-ungarischen Open-Skies-Übungsflug über Ungarn eingeladen. Ich hatte Gelegenheit, an diesem Flug teilzunehmen. Das viertägige Programm bot viele gute Gelegenheiten für praktische Erfahrungen und informelle Kontakte zwischen den verschiedenen Parteien.

Als nächstes hat die OSZE im Februar dieses Jahres ein zweitägiges Seminar in Sarajevo durchgeführt. Thema waren regionale vertrauensbildende Maßnahmen und die Praxis des offenen Himmels. Die politischen und militärischen Führungen der drei bosnischen Parteien sowie die Regierungen in Belgrad und Zagreb waren durch hochrangige Delegationen vertreten. Die Idee des offenen Himmels begann Fuß zu fassen. Die Parteien sehen dabei natürlich zunächst ihre eigenen Interessen. Denn der Luftraum über Bosnien ist für militärische Flüge und damit auch für Bildflüge der drei Parteien weiterhin gesperrt.

Der erste Vorführflug

Im März haben sich dann Ungarn und Rumänien darauf verständigt, einen gemeinsamen Open-Skies-Vorführflug über Bosnien anzubieten. Das Angebot ging formal an die Regierung der Republik von Bosnien und Herzegowina. Aber erst nach komplizierten Verhandlungen mit den Militärführungen der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten konnte eine Einigung erzielt werden. Die SFOR, die den Luftraum über Bosnien kontrolliert, gab ebenfalls ihre Einwilligung und Unterstützung.

Im Juni war es dann so weit. Das ungarische Open-Skies-Flugzeug landete bei bestem Sommerwetter in Sarajevo. Das Flugteam wurde von einer stattlichen Zahl internationaler Beobachter, Pressevertreter und Militärs aus den drei bosnischen Kantonen empfangen.

Der Einflug nach Sarajevo hat immer noch etwas Atemberaubendes. Südlich des Flughafens ragen hohe Berge in den Himmel. Vor zwei Jahren schossen von dort noch die Geschütze. Auf der anderen Seite des Flughafens liegt das total zerschossene Olympia-Dorf fast leblos da. Der Flughafen gleicht mit Stacheldrahtverhauen und Behelfsbauten eher einem Militärlager. Irgendwo auf der Ankunftsbaracke weht eine Trikolore, und ein handbemaltes Schild zeigt eine »Rue des Champs Elysées« an. Im babylonischen Sprachengewirr der an- und abreisenden SFOR-Truppen sorgen französische Militärpolizisten für Ordnung.

Die internationalen Beobachter wurden teils im serbischen Kanton, teils im kroatischen Kanton untergebracht. Ich fuhr mit nach Kiseljak im bosnisch-kroatischen Teil, eine Autostunde von Sarajevo entfernt. In dem üppig grünen Tal und seinen ansehnlichen Ortschaften konnte man kaum Kriegsspuren entdecken. Erst als ich mich in Kiseljak genauer umsah, entdeckte ich eine zerstörte Moschee und eine abgesperrte orthodoxe Kirche. Vor dem Krieg machten die Kroaten hier 52 Prozent der Bevölkerung aus. Heute sind es 95 Prozent.

Im Hotel war für uns eine martialische Bewachung aufgezogen. Auf jeder Etage standen Tag und Nacht zwei Soldaten der bosnisch-kroatischen Armee (HVO). Das war offensichtlich als Machtdemonstration gedacht. Denn aus Sicherheitsgründen wäre es nicht nötig gewesen. Die bosnisch-kroatische Armee ist zwar die kleinste im ganzen Land, sie scheint aber am besten ausgerüstet zu sein und am besten bezahlt zu werden. Ein Sergeant erzählte mir, daß er 1200 Mark im Monat verdiene, weit mehr als die ungarischen und rumänischen Offiziere im Open-Skies-Team. Die muslimischen und serbischen Landesteile und ihre Armeen haben dagegen massive Finanzierungsprobleme.

An den beiden folgenden Tagen wurde dann je ein Bildflug durchgeführt. An Bord waren Vertreter der bosnischen Parteien und internationale Beobachter. Die SFOR hatte aus Sicherheitsgründen eine Flughöhe von 5000 Metern vorgeschrieben. Der Flug führte über Mostar und Tuzla auf einer Gesamtlänge von 800 Kilometern. Die vereinbarten Fotoziele waren vier Militärstandorte im muslimischen Kanton, drei im serbischen und zwei im kroatischen. Durch eine Mehrfach-Aufnahmetechnik konnten mehrere Bilder derselben Objekte aufgenommen werden. Am Ende erhielten der Staat Bosnien-Herzegowina und die Militärführungen der drei Parteien je einen Bildsatz. Das heißt, jeder weiß, was der andere sieht. Abschließend fand ein Empfang im Dom Armija statt, einem Offiziersclub mit üppigen Fresken, die noch aus der Zeit der österreichischen Herrschaft stammen. Dabei war zu spüren, wie sich die Atmosphäre – trotz tiefer Gegensätze in anderen Fragen – gelockert hatte.

Weitere Flüge

In den folgenden Monaten fanden zwei Open-Skies-Flüge über Bosnien statt. Deutschland hatte schon früh Interesse gezeigt. Nach dem Erfolg des ungarisch-rumänischen Fluges wurde ein Flugtermin für Ende August vereinbart. Der Flug führte von Split auf einer Zick-Zack-Route praktisch über jeden Landesteil von Bosnien-Herzegowina. Es wurden insgesamt 120 Orte fotografiert – davon die Hälfte mit ausschließlich zivilen Anlagen. Die Zielgebiete waren von den Konfliktparteien selbst vorgeschlagen und abgestimmt worden. Jede der Parteien erhielt einen kompletten Satz von Bildkopien. Deutschland behielt die Originale.

Mit dem deutschen Flug ist eine neue Qualität erreicht worden. Die Bilder haben nicht nur symbolischen Charakter, sondern – dank guter Qualität (Bodenauflösung ca. 30 cm) und großer Zahl der Zielgebiete – operationellen Nutzen für die beteiligten bosnischen Parteien. Die Bilder der zivilen Anlagen sollten auch dem zivilen Wiederaufbau und der Regionalplanung zugute kommen.

Der jüngste Flug über Bosnien wurde am 5. und 6. November 1997 gemeinsam von den USA und Rußland mit einer russischen Maschine vom Typ Antonov-30 durchgeführt. Dieser Flug unterstrich auch die Kooperationsbereitschaft der beiden Mächte bei der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Bosnien.

Ratifzierungsaussichten

Die Aussichten für eine baldige Ratifizierung des multilateralen Open-Skies-Vertrages durch die russische Duma sind inzwischen deutlich gestiegen. Auch kommunistische und nationalistische Duma-Abgeordnete haben begriffen, daß die Aufklärungmöglichkeiten durch Open-Skies-Flüge angesichts der NATO-Osterweiterung im ureigensten russischen Interesse liegen. Bereits im Sommer dieses Jahres konnten Duma-Abgeordnete an einem russischen Open-Skies-Probeflug in den USA teilnehmen und den kooperativen Charakter des Vertrages persönlich kennenlernen. Im September dieses Jahres wurde das Ratifizierungsverfahren in einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses der Duma begonnen. Nach der Ratifizierung des Chemiewaffenabkommens durch beide Häuser des russischen Parlamentes, die Ende Oktober erfolgte, wird nun bis zum Jahresende mit einer Ratifizierung des Open-Skies-Vertrages durch die Duma gerechnet. Dem dürften sich dann die Parlamente in Kiew und Minsk relativ bald anschließen, so daß der Vertrag im Jahre 1998 endlich in Kraft treten kann.

Ein tragischer Absturz

In diese insgesamt positive Entwicklung platzte eine Schreckensnachricht. Das deutsche Open-Skies-Flugzeug kollidierte am 13. September 1997 – einen Tag nach einem erfolgreichen Probeflug über Nordrußland (Gebiet um Archangelsk) – über dem Südatlantik vor der Küste Angolas mit einem amerikanischen Militärflugzeug. Durch den Zusammenstoß in großer Höhe wurden alle 24 Insassen in den Tod gerissen. Das Flugzeug war übrigens nicht auf einer Open-Skies-Mission, sondern führte einen Personenflug der Flugbereitschaft der Luftwaffe nach Südafrika aus. Im Verteidigungsministerium werden jetzt verschiedene Varianten für eine Fortführung des deutschen Open-Skies-Programmes geprüft. Wenn das Geld reicht, spricht einiges dafür, eine zweite Tupolev 154 der Luftwaffe, die zur Zeit außer Betrieb gestellt ist, für Open-Skies-Zwecke umzubauen.

Perspektiven für Bosnien

Vertrauensbildung in Bosnien-Herzegowina: Reichen Rüstungskontrolle und die Friedensarbeit ziviler Organisationen aus, um den Weg zu einem dauerhaften Frieden zu ebnen? Wir wissen es nicht. Zu groß sind die geschlagenen Wunden und der wirtschaftliche Niedergang in vielen Landesteilen. Skeptiker verweisen mit Recht auf das Scheitern der im Dayton-Abkommen vereinbarten Integrationspolitik. Demgegenüber steht das aktive Interesse der drei Konfliktparteien an Rüstungskontrollmaßnahmen und Garantien, die – wie Open-Skies – einen Wiederausbruch der Feindseligkeiten verhindern oder zumindestens unwahrscheinlich machen sollen. Auch scheint die Strategie von OSZE und SFOR zur allmählichen Zurückdrängung von Hardlinern und Kriegsverbrechern gewisse Erfolge zu zeigen. Alle Beteiligten, mit denen ich sprach, können sich ein Einhalten des Waffenstillstandes nur bei längerfristiger Anwesenheit einer schlagkräftigen Truppe wie der SFOR vorstellen. Tenor: „Der Westen muß uns helfen, sonst bleiben wir ein Problem für Europa“. Ein nächster logischer Schritt wäre es, die Open-Skies-Praxis in Bosnien-Herzegowina durch ein Abkommen oder Protokoll auf eine festere legale Basis zu stellen. Entsprechende Gespräche haben bereits begonnen. Ebenso wichtig werden der wirtschaftliche Wiederaufbau und die zivile Versöhnungsarbeit sein, um Haß, Angst und Hilflosigkeit in Eigenverantwortung und Akzeptanz zu verwandeln.

Professor Dr. Hartwig Spitzer leitet die Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit an der Universität Hamburg

Zivile Kriegsfolgenbearbeitung in Bosnien

Zivile Kriegsfolgenbearbeitung in Bosnien

von Christine Schweitzer

Die Zahlen sind niederschmetternd: Mehr als die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung von Bosnien-Herzegowina sind Vertriebene oder Flüchtlinge (2,5 Mio insgesamt, von denen sich 1,2 Mio als Flüchtlinge außerhalb der Landesgrenzen aufhalten.). Im Bereich der bosnischen Föderation waren zumindest im letzten Winter noch 80<0> <>% der Menschen abhängig von Lebensmittelhilfe. Die Industrieproduktion war 1994 auf 5<0> <>% des Standes von 1990 abgesackt. 30<0> <>% der Straßen und 40<0> <>% der Brücken waren zerstört.1 Die Arbeitslosigkeit liegt bei 90<0> <>%. 300.000 Soldaten werden demobilisiert und müssen ins Privatleben zurückgeführt werden.2 Die Weltbank schätzt, daß sich die Kosten für den Wiederaufbau auf 7,15 Milliarden DM belaufen werden, 5,18 Mrd für die kroatisch-muslimische Föderation und 2,16 Mrd für die Serbische Republik.3

Das Daytoner Abkommen regelt in umfassender Weise verschiedene Aspekte des Wiederaufbaus.4 Am besten in der internationalen Öffentlichkeit bekannt und auch am weitesten fortgeschritten in ihrer Durchführung ist die militärische Seite des Abkommens (Rückzug der Kriegsparteien hinter eine 4 km Grenze, Demobilisierung und Rüstungsbeschränkungen, Aufstellung der IFOR-Truppe zur Implementierung und Überwachung des Waffenstillstandes).

Weniger bekannt und auch in der Umsetzung viel problematischer sind die ebenfalls im Daytoner Vertrag geregelten zivilen Wiederaufbaumaßnahmen.5 Mit ihrer Koordinierung wurde der schwedische Konservative Carl Bildt beauftragt, dem – gemessen an der Aufgabe – ein lächerlich kleiner Stab zur Seite steht.

Der in Bosnien-Herzegowina notwendige zivile Wiederaufbau steht vor großen Problemen bei der Beschaffung von Wohnraum und Arbeit, beim Aufbau der Verwaltung kann nur beschränkt auf die Vorkriegsstrukturen zurückgegriffen werden und ein demokratisches, ziviles Leben muß völlig neu entwickelt werden. Bosnien-Herzegowina war vor dem Krieg eine ethnisch extrem gemischte Republik – die »jugoslawischste« Republik Jugoslawiens, wurde sie von manchen genannt, weil in den meisten Ortschaften zumindest zwei der Volksgruppen friedlich zusammenlebten. Eine zivile Gesellschaft existierte dort genauso wenig wie in den anderen Teilen Jugoslawien. Heute ist Bosnien-Herzegowina in drei mehr oder weniger ethnisch homogene Teile zerfallen und die meisten Ortschaften und Städte erlebten einen Austausch eines nennenswerten Prozentsatzes der Bevölkerung.

Die Situation in Bosnien-Herzegowina

Die Verfassung Bosnien-Herzegowinas, die Teil des Daytoner Abkommens ist, definiert Bosnien-Herzegowina als einen zweigeteilten Staat mit drei verfassungsmäßigen Völkern: Kroaten und Bosniaken (Muslime) in der »Föderation Bosnien-Herzegowina« und Serben in der »Serbischen Republik«, alle mit einer doppelten Staatsbürgerschaft des Staates und des jeweiligen Teiles (Föderation oder Serbische Republik).

Schon hier zeigt sich deutlich eines der Hauptprobleme. Die Schreiber der Verfassung versuchten zwei eigentlich unvereinbare Prinzipien unter einen Hut zu bringen: Das Prinzip des bürgerlichen Staates, in dem jede/r BürgerIn unabhängig von der Volkszugehörigkeit Freizügigkeit genießt und das Prinzip des »ein Volk – ein Staat«. Letzteres war bekanntlich eines der Leitmotive des Krieges.

So wird zwar im Daytoner Abkommen Freizügigkeit der Bewegung, Verbot jeglicher interner Grenzkontrollen und Recht auf Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Heimatgebiete festgeschrieben. Aber die politische Repräsentanz basiert im wesentlichen auf ethnischer Zugehörigkeit. Das Parlament besteht aus zwei Kammern. Das »Haus der Völker« setzt sich aus serbischen Vertretern aus der Serbischen Republik und kroatisch/bosniakischen (muslimischen) Vertretern aus der Föderation zusammen. Kein serbischer Abgeordneter aus dem Gebiet der »Föderation« kann in das »Haus der Völker« gewählt werden – obgleich weiterhin etliche Zehntausende Serben vor allem in Sarajevo leben. Das gleiche gilt umgekehrt für Muslime und Kroaten in der »Serbischen Republik«. Genauso bildet sich das aus drei Personen gebildete Staatspräsidium. Nur bei der zweiten Kammer, dem »Repräsentantenhaus«, das 42 Mitglieder haben soll, wäre eine Repräsentanz der jeweiligen ethnischen Minderheiten zumindest theoretisch möglich.

Eine der wichtigsten Maßnahmen im zivilen Bereich ist die Vorbereitung der Wahlen, die dem Daytoner Abkommen gemäß bis spätestens September 1996 stattgefunden haben müssen. Doch gehen die Wahlvorbereitungen nur schleppend voran, und ohne die MitarbeiterInnen der OSZE, die eigentlich die Vorbereitungen und die Wahl nur beobachten sollen, kämen die Wahlen wohl gar nicht zustande.

Die meisten Politiker/innen in Bosnien sehen diese Wahlen ohnehin als verfrüht an. In vielen Landstrichen ist das zivile Leben noch nicht so weit wiederhergestellt, daß eine Basis auch nur für die Erstellung eines Wählerverzeichnis geschaffen wäre. Fast die Hälfte der Wählerschaft fristet ihr Dasein noch als Flüchtlinge oder Vertriebene irgendwo zwischen Lagern in Bosnien, Kroatien, Serbien oder Schweden, Deutschland und den Niederlanden. Für den Beginn eines breiten politischen Diskurses bleibt keine Zeit.

Die starke Betonung, die die »internationale Gemeinschaft« auf das Thema Wahlen legt, erinnert an die Politik gegenüber vielen Ländern des Südens, wo ebenfalls die erfolgreiche Abhaltung von formal demokratischen Wahlen zur Bedingung von Wirtschaftshilfe gemacht wird. Hierzu kommt in Bosnien-Herzegowina noch das Motiv, die IFOR/NATO-Truppen wie geplant nach einem Jahr zurückziehen zu können.

Dennoch gibt es ein recht breites Spektrum an Parteien. Neben den national ausgerichteten Vorkriegsparteien – HDZ (kroatisch), SDA (bosniakisch-muslimisch) und SDS (serbisch) – besteht eine Reihe kleiner, oppositioneller Parteien. Einige von ihnen sind nur noch extremere Nationalisten. Andere aber treten für ein geeinigtes, multinationales Bosnien ein. Zwischen ihnen gibt es sogar über die Grenzen hinweg Kontakte.6 Sie haben sich nach mehreren im Ausland abgehaltenen Treffen zu einer »Demokratischen Alternative« zusammengeschlossen und einen Forderungskatalog veröffentlicht, in dem u.a. die Verfolgung aller Kriegsverbrecher und internationale Garantie für die sichere Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Ausgangsgebiete gefordert wird.

Ein Thema, das auch hier in Deutschland die Medien beschäftigt, ist die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge. Dem Daytoner Abkommen gemäß haben alle Flüchtlinge und Vertriebene (Vertriebene sind Flüchtlinge, die innerhalb der Staatsgrenzen verblieben) das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat oder ersatzweise auf finanzielle Entschädigung. Die Bundesregierung nahm das als Signal, sofort die euphemistisch »Rückführung« genannte Abschiebung der bosnischen Kriegsflüchtlinge zu planen. Mit der Ausnahme Schwedens, das all seinen Flüchtlingen das Bleiben gestattet, reagierten die anderen Gastländer ähnlich. Sie ignorieren dabei, daß in Bosnien-Herzegowina die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reintegration der Rückkehrenden noch nicht geschaffen worden.

Die mit der Flüchtlingsrückkehr verbundenen Probleme sind gut bekannt. Eine unter den in Deutschland lebenden FLüchtlingen durchgeführte Umfrage7 ergab, daß derzeit nur ein Viertel bereit ist, zurückzukehren. Zu groß sind die Zweifel an der Dauerhaftigkeit des Friedens, den zwei von drei Flüchtlingen als Bedingung für ihre Rückkehr bezeichneten. Bei 35<0> <>% der Nicht-Rückkehrwilligen ist der Grund der, daß der Heimatort in der „falschen“ ethnischen Zone liegt. Allgemein, auch für das Gebiet der Föderation gilt, daß eine Rückkehr von Menschen der »falschen« Volkszugehörigkeit unerwünscht ist. In jetzt kroatische Gemeinden werden Kroaten zurückgesiedelt, in bosniakische Muslime, in serbische Serben. Den Übersichten der UNHCR zufolge, die sich um eine Dokumentation der Lage in allen größeren Gemeinden bemüht, um Flüchtlingen eine Entscheidungshilfe an die Hand zu geben, sind bislang nur kleine Zahlen der jeweils anderen Nationen in ihre Heimat zurückgegangen8.

Arbeit und Wohnung – dies sind die beiden anderen großen Fragezeichen für die rückkehrenden Flüchtlinge, wenngleich in der erwähnten Umfrage nur 4<0> <>% bzw 8<0> <>% diese beiden Punkte als Entscheidungskriterium benannten. Wenn hier nicht eine behutsame Politik betrieben wird, entsteht ein ungeheures Pulverfaß. Denn in den von den Flüchtlingen aufgegebenen Häusern und Wohnungen leben heute oftmals andere, die ihrerseits als Vertriebene eine Unterkunft brauchten. Ohne Ersatzwohnraum können sie nicht einfach vor die Tür gesetzt werden, selbst wenn die Behörden bereit zu einem solchen Vorgehen wären. Was bleibt, ist die Drohung von Selbsthilfe, gewaltsamem Widerstand gegen die Vertreibung aus der Wohnung und späteren Racheakten. Die Methoden, die kroatische Soldaten in Kroatien anwenden, um sich mit Unterstützung der Behörden eine Wohnung zu beschaffen,9 geben hier nur ein schwaches Abbild von dem, was in Bosnien-Herzegowina zu befürchten wäre.

Die Schaffung von genügend neuem Wohnraum könnte hier zur Entspannung der Lage beitragen. Dies steht auch auf dem Programm der UN an oberster Stelle, nur getan wird anscheinend sehr wenig, was mit unklaren Eigentumsverhältnissen begründet wird.10

Im Bereich der Arbeitsplatzschaffung könnten neben der Überwindung der oben skizzierten Probleme Programme der Berufsbildung und Weiterbildung von Nutzen sein. Z.B. gibt es in mehreren Städten Einrichtungen, wo Menschen kostenlos bestimmte Berufe erlernen, Computerfähigkeiten erwerben oder Fremdsprachen studieren können. Initiativen dieser Art, die gewöhnlich auf internationales Engament durch NROs zurückgehen, könnten wesentlich ausgebaut werden.

Notwendig: ein Klima der Toleranz

Ein Wohnbauprogramm und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen allein lösen aber die Probleme nicht, wenngleich sie durchaus als Maßnahmen der Konfliktprävention betrachtet werden dürfen. Ergänzend wäre die Schaffung eines öffentlichen Klimas der Toleranz gegenüber den jeweils anderen beiden Volksgruppen und der Aufbau von Demokratie erforderlich. Ein solches Klima ist allein noch in Tuzla und – mit Einschränkungen – in Sarajevo zu finden. Hierzu könnten verschiedene Gruppierungen beitragen: die öffentlichen Medien durch eine ausgleichende Berichterstattung; die internationale Gemeinschaft und die Regierungen in Bosnien durch finanzielle Unterstützung und Schaffung der gesetzlichen Bedingungen für eine unabhängige Presse; die Religionsgemeinschaften, denen von ihrem Charakter her moralische Argumentationen am leichtesten fallen sollte sowie unabhängige Vereine und Assoziationen durch Versöhnungsarbeit, Entwicklung von friedenspädagogischen Programmen etc.

Ein Beispiel könnten die Nachbarländer liefern: In Kroatien und Serbien haben sich verschiedene Nichtregierungsoganisationen11 pädagogischen Fragen angenommen und z.B. Arbeitskreise für die Weiterbildung von LehrerInnen eingerichtet. Solche Maßnahmen sind notwendig, weil die Schulen in der Nachkriegszeit mit bislang unbekannten Problemen konfrontiert sind: Kinder, die u.a. mehrere Jahre als Flüchtlinge lebten, interethnische Konflikte; Trauer und Traumata; stark gestiegene Gewaltbereitschaft etc.

Aufbau von Demokratie ist ein Bereich, in dem Nichtregierungsorganisationen eine Schlüsselrolle spielen (müssen). Vorbilder aus Serbien und Kroatien demonstrieren, welche Aufgaben sie wahrnehmen können: Menschenrechtsarbeit; unabhängige Medien (Zeitungen, Rundfunk); Unterstützung bei Kommunikation und Austausch über Grenzen hinweg (durch E-mail, Austausch von Briefen, Austausch von Zeitungen; Organisation internationaler Treffen; Einrichtung von für alle zugängliche Begegnungszentren wie in Mohacz/Ungarn; Förderung von Begegnungen und Runden Tischen; interreligiöser Dialog; Netzwerke Oppositioneller Parteien).

Menschenrechte und Gerechtigkeit

Im Daytoner Abkommen wird dem Thema der Menschenrechte ein großes Gewicht eingeräumt. Die Verfassung Bosnien-Herzegowinas erkennt alle einschlägigen Menschenrechtskonventionen an, und diese werden durch einen eigenen Annex zum Thema nochmals bestärkt. Außerdem wurde eine Menschenrechtskommission mit der Institution eines Ombudsmanns, der für Beschwerden der Bevölkerung zur Verfügung steht und eine Menschenrechtskammer aus sechs bosnischen und acht internationalen (aus Ländern des Europarats zu bestimmenden) Mitgliedern geschaffen. Was bislang fehlt, ist ein Amnestiegesetz für Deserteure – wie Kroatien es erlassen hat – und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Solange es beides nicht gibt, müssen zurückkehrende Männer im wehrpflichtigen Alter damit rechnen, umgehend zur Armee eingezogen zu weden.

Es gibt in Bosnien-Herzegowina eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen. Sie befassen sich allerdings in erster Linie mit der Frage von Kriegsverbrechen, und dieses ist wiederum immer hauptsächlich die Frage, was die andere Seite der eigenen angetan hat. Es hat auch während des Krieges mehrere Nichtregierungsorganisationen gegeben (z.B. das International Peace Center in Sarajevo), die Kriegsverbrechen dokumentiert und publiziert haben. Allerdings sind sie alle sehr zurückhaltend, wenn es um nicht-kriegsbedingte Menschenrechts-Fragen geht.

Die Erfahrungen aus anderen Krisen- und Kriegsgebieten lehren, welch wichtige Rolle die Verfolgung von Kriegsverbrechern, Folterern und der politisch Verantwortlichen für die Bewältigung der Vergangenheit spielt. Die Entschädigung der Opfer, die in Bosnien-Herzegowina noch überhaupt nicht angegangen wurde, wäre eine ergänzende Maßnahme, die vielleicht da Gerechtigkeit wiederherstellen könnte, wo eine Verfolgung von Schuldigen unmöglich ist.

Wie könnte der deutsche Beitrag aussehen?

Eine der Hauptsorgen der Bundesregierung war von Anfang an die Zuwanderung von Flüchtlingen aus der Region nach Deutschland und das Problem, wie man diese wieder los wird. Entgegen dem allgemeinen Eindruck in der Öffentlichkeit ist auch gegenwärtig noch ungeklärt, ob es ab 1. Juli 1996 zur Abschiebung von bosnischen Kriegsflüchtlingen kommen wird oder nicht. Von den Ausländerbehörden erhalten inzwischen immer mehr Flüchtlinge den Bescheid, daß sie zum 1.7. das Land zu verlassen hätten.

Unter Berufung auf die für Flüchtlinge ausgegebene Summe (rund 17 Mrd. DM) weigert sich die Bundesregierung auch, über die der EU zur Verfügung gestellten Gelder für den Wiederaufbau (1,8 Mrd DM) hinaus weitere, eigene Gelder zum Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen.

Die Unwilligkeit, im zivilen Bereich Initiative zu ergreifen, zeigte sich auch beim Umgang der Bundesregierung mit der von einem breiten Spektrum von Kirchen und Friedensorganisationen getragenen Initiative, einen Zivilen Friedensdienst für Bosnien ins Leben zu rufen. Das Konzept sah vor, internationale Fachkräfte zu finanzieren, die mit lokalen Organisationen in den Aufgabenfeldern der Konfliktbearbeitung und Versöhnungsarbeit zusammenarbeiten sollten. Die Erfahrung in Kroatien und der Republik Jugoslawien hatte gelehrt, daß bei bestimmten Aufgaben, etwa aktivem Eingreifen bei Menschenrechtsverletzungen oder bei der Abhaltung von Seminaren in gewaltfreier Konfliktaustragung Ausländer/innen eine wesentliche Rolle spielen können, weil sie eine unabhängere Position bekleiden. Die Gespräche mit der Bundesregierung sind noch nicht beendet, doch deutet alles darauf hin, daß bestenfalls ein sehr stark reduziertes Programm Chancen auf Realisierung finden wird12.

Initiativen in der Bundesrepublik sind unterstützend in verschiedenen Bereichen des Wiederaufbaus in Bosnien tätig. Sie finanzieren und fördern bosnische NROs; organisieren humanitäre Hilfe; helfen FLüchtlingen in Deutschland und arbeiten politisch gegen deren zwangsweise Rückführung; leisten Solidaritätsarbeit mit Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren; haben verschiedene psychosoziale Betreuungsprojekte für Kriegsopfer aufgebaut und vieles mehr.

Eine zivile Kriegsfolgenbearbeitung ruht im wesentlichen auf den Schultern von Bürgerinnen und Bürgern und ihrer Zusammenschlüsse (Nichtregierungsorganisationen). Aber sie allein werden es nicht schaffen, eine tragfähige und zukunftsfähige Entwicklung in Gang zu setzen. Staatliche und internationale Programme sind notwendig und geben vielfach wohl erst den Rahmen, in dem solches ziviles Engagement Aussichten auf Erfolg hat. Bosnien-Herzegowina hat aber nur dann eine Chance den Krieg zu überwinden, wenn wesentlich mehr in die zivile Konfliktfolgenbearbeitung investiert wird. Andernfalls muß gefürchtet werden, daß der Vertrag von Dayton nicht das Ende der Segmentierung Bosnien-Herzegowinas bedeutet. Auch ein neuer Krieg nach Abzug der NATO wäre dann nicht ausgeschlossen.

Viele der hier für Bosnien-Herzegowina skizzierten Maßnahmen und Probleme sind nicht nur auch anwendbar auf andere Regionen Ex-Jugoslawiens (wie z.B. die ehemals unter serbischer Kontrolle stehenden Teile Kroatiens sowie Serbien und Montenegro incl. des Kosovo), sondern es besteht geradezu eine Notwendigkeit, sie auf diese Regionen auszuweiten. Nur so kann die Eskalation neuer Konflikte verhindert werden, zumal sich in den beiden Nachbarländern Bosniens, in Kroatien und der Republik Jugoslawien, eine Tendenz zur weiteren Entdemokratisierung bzw. Neuverfestigung totalitärer Strukturen verstärkt. Tudjman und Milosevic sind beide während des Krieges weniger gegen ihre politischen Gegner vorgegangen als heute, was sich in der Übernahme unabhängiger Medien und der Unterdrückung oppositioneller Parteien äußert, selbst wenn diese, wie in der Stadt Zagreb geschehen, die regierende Partei bei den Kommunalwahlen schlagen.

Anmerkungen

1) Alle zahlen nach: Wochenpost, 30.11.1995. Zurück

2) Die Zeit 10.Mai 1996. Zurück

3) FR 13.4.1996. Zurück

4) Daytoner Vertrag, Wright Patterson Air Force Base, Dayton, Ohio Nov 1-21, 1995. Zurück

5) Als Anhänge enthält der Daytoner Vertrag folgende Abkommen: Grenzziehung zwischen den Völkern Bosniens, Verfassung Bosnien-Herzegowinas, Bereitschaft zu Schiedsgerichtbarkeit bei Konflikten, Menschenrechte, Flüchtlinge und Vertriebene, Schutz von Kulturdenkmälern, Öffentliche Einrichtungen, zivile Implementierung und internationale Polizei. Zurück

6) Zoran Arbutina in Friedensforum 5/95. Zurück

7) Untersuchung des Saarbrücker Instituts für Entwicklungsforschung, durchgeführt im Auftrag der UNHCR. Nach: Handelsblatt vom 9.4.1996. Zurück

8) Diese Berichte sind bei den UNHCR-Büros zu beziehen. Zurück

9) Siehe Berichte von Otvorene Oci, dem kroatischen Team des Balkan Peace Teams. Zu beziehen bei: BPT, Marienwall 9, 32423 Minden. Zurück

10) Die Zeit 11.Mai 1996. Zurück

11) Eine Adressenliste von Friedens-, Frauen- und Menschenrechtsgruppen im ehemaligen Jugoslawien kann bezogen werden beim Bund für Soziale Verteidigung, Marienwall 9, 32423 Minden. Zurück

12) Rundbrief des Forums Ziviler Friedensdienst. Zurück

Christine Schweitzer, Ethnologin, Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung

Von der Anerkennung zum Bundeswehreinsatz

Von der Anerkennung zum Bundeswehreinsatz

Deutsche Politik und der Jugoslawienkonflikt

von Horst Grabert

Will man heute über die bisherige Rolle Deutschlands diskutieren, so soll dies offenbar der Erfahrungsverwertung dienen, die aber nur erfolgreich sein kann, wenn auf Schönfärberei und Rechtfertigungsversuche verzichtet wird. Das Thema macht es dann auch erforderlich, über den eigentlichen Konflikt zu sprechen und nicht nur über sein Abbild, wie es bei uns verbreitet ist.

Hier beginnt das Dilemma bereits, denn selten ist ein Konflikt so oberflächlich und am gewünschten Ergebnis orientiert behandelt worden, wie der in Ex-Jugoslawien. Das ist wohl auch deshalb der Fall, weil der eigentliche Konflikt nie mit hoher Priorität auf der Tagesordnung stand. Im Gegenteil, diente er doch häufig für Ambitionen, die mit Jugoslawien nur wenig, wenn überhaupt etwas zu tun hatten. Keiner der nichtjugoslawischen Beteiligten hatte und hat lebenswichtige Interessen in diesem Gebiet zu verteidigen, es sei denn in negativer Weise, nämlich, sich durch den Konflikt nicht verleiten zu lassen, sich gegeneinander zu stellen. Hier gibt es denn bisher auch einen gewissen Erfolg, denn weder die Interessen der USA und Rußlands, noch die der EU-Mitglieder an einer gemeinsamen Zusammenarbeit wurden, trotz aller Meinungsverschiedenheiten, jemals ernsthaft gefährdet. Ob das so bleibt, ist offen. Bislang folgte aber keine der außerjugoslawischen Parteien den Verlockungen der jugoslawischen Konfliktparteien. Der Konflikt hatte nicht das dazu erforderliche Gewicht. Dies ist, nebenbei bemerkt, ein grundsätzlicher Unterschied zu 1914.

Diese niedrige Priorität öffnete allerdings die Tür zum vielseitigen Gebrauch des Konflikts für andere Zwecke. Hier will ich mich auf die deutsche Seite beschränken, obgleich dieser Tatbestand natürlich für alle Beteiligten zutrifft. Für Deutschland werden nun eine ganze Reihe von Zwecken vermutet, die zum Teil in der Literatur ausführlich behandelt werden. Die Palette reicht von dem angeblich in Deutschland relevanten Bedürfnis, weitere Teile der Pariser Vorverträge von 1919 zu beseitigen, bis hin zur parteipolitisch motivierten Verhinderung eines außenpolitischen Schulterschlusses zwischen Union und SPD, der angeblich von Herrn Genscher befürchtet wurde, oder der Vermutung, daß der Bundeskanzler seinem Außenminister klar machen wollte, wer die Nummer »Eins« sei. Wir können heute nicht allen Thesen nachgehen, obwohl dies durchaus reizvoll sein könnte. Ganz unbestritten wichtig war aber die Rolle Deutschlands bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, mit der wir uns weiter zu beschäftigen haben werden. Auch die Frage, warum von Deutschland die Auflösung der SFRJ (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) durch die Anerkennung der Sezessionsstaaten betrieben wurde, gehört dazu.

Zu der Problematik der niedrigen Prioritätsstufe kam noch der Zeitfaktor, denn als der Konflikt in Jugoslawien Ende der achtziger Jahre in seine heiße Phase eintrat, waren die wichtigen Staaten der Welt mit anderen Dingen voll beschäftigt. Die Auflösung der Sowjetunion, die deutsche Vereinigung, die Vorbereitung von Maastricht I, die Golf-Krise, die GATT-Verhandlungen, Kambodscha, Südafrika und vieles mehr standen im Vordergrund und ließen keine oder nur wenig Zeit, sich mit Jugoslawien zu beschäftigen. Wer sich an die Hektik erinnert, die allein die deutsche Vereinigung begleitete, wird verstehen, daß die EPZ (Europäische Politische Zusammenarbeit) keine Kapazität frei hatte.

Erst am 26.03.1991, nachdem die ersten Schüsse in Pakrac gefallen waren, reagierte die EPZ mit einer Erklärung: „Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten beobachten die Lage in Jugoslawien mit größter Sorge … Nach Auffassung der 12 hat ein geeintes Jugoslawien die besten Aussichten, sich harmonisch in das neue Europa einzugliedern.“ 1 Zur gleichen Zeit schrieb Präsident Bush, daß die USA „eine Sezession nicht belohnen“ 2 würden. Dieser Haltung lag die im Prinzip richtige Analyse zugrunde, die als Grund für die akute Krise von dem Sezessionsbegehren Sloweniens und Kroatiens ausging, und mit dieser Beurteilung stimmten die nichtjugoslawischen Regierungen und ihre Diplomaten bis zum 01.07.1991 auch weitgehend überein.

An diesem Tag löste sich jedoch die Gemeinsamkeit auf, da Helmut Kohl erklärte: „Wer, wie die Deutschen, auf der Basis der Selbstbestimmung seine nationale Einheit erreicht hat, kann Slowenien und Kroatien das Selbstbestimmungsrecht nicht verweigern. Deutschland soll die EG zur Anerkennung der beiden Republiken veranlassen.“ 3 Nur wenige Tage zuvor hatte die EPZ bekräftigt, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung von Slowenien und Kroatien nicht anzuerkennen. Genscher war der Blamierte. Aber auch einige Sozialdemokraten äußerten sich gleichlautend wie Kohl und wollten, wie er, die EG »veranlassen«. Dieser Meinungsumschwung ist nicht ohne einen Blick auf die Medien zu verstehen, die unter Führung der FAZ immer stärker die öffentliche Meinung in dem von Kohl aufgenommenen Sinne beeinflußten. Deutschland, gerade vereint, wolle ein »normaler Staat« werden, und es schien ein Bedürfnis, mit der Last der Geschichte auf dem Rücken, diesmal moralisch auf der »richtigen Seite« zu stehen. Wieso also der Versuchung widerstehen, wenn das Problem Jugoslawien doch nicht als so wichtig eingestuft war.

Die politische Energie für diesen Meinungsumschwung kam nun nicht aus der Sorge, den Konflikt zu vermeiden, ganz im Gegenteil. Alte Ressentiments aus den Kreisen des alten Ustasa-Untergrundes, die seit Jahren gute Beziehungen zu rechten Gruppen einiger demokratischer Parteien unterhielten, meldeten sich zu Wort und wollten den 1945 verlorenen Kampf in neuer Form wieder aufleben lassen. Unter dem Ruf nach »Selbstbestimmung« vereinten sich diese Anhänger des Kampfes gegen den Kommunismus mit nationalistischen Elementen, die nur eine Korrektur ihrer Niederlage im Auge hatten. Diese Gruppe hatte als einzige von Anfang an ihr klares politisches Ziel, sie konnte daher auch erfolgreich an der Meinungsführerschaft teilhaben. Das Ziel war die Auflösung des Tito-Jugoslawiens.

Mit dem Meinungsumschwung setzte naturgemäß auch die Suche nach zweckdienlichen Begründungen ein. Als Codewort wurde der Begriff »Internationalisierung des Konflikts« gewählt. Aus der Sezession Sloweniens und Kroatiens wurde die Auflösung der Föderation gemacht. Widerstand gegen diese Politik wurde zur Aggression erklärt, was publizistisch leicht zu vermitteln war, da bei dem Widerstand unzulässige Mittel eingesetzt und Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Damit war dann auch der Aggressor gefunden, der zur Anwendung des Kap. VII der UN-Charta erforderlich war. Jetzt hatte man das gewünschte geschlossene System, in dem die Anerkennung der Nachfolgestaaten der SFRJ als neue souveräne Subjekte des Völkerrechts ihren logischen Platz hatte. Der Welt wurde erklärt, daß so der Balkan befriedet werden könnte, in Wahrheit war der Kurzschluß perfekt. Die inneren Widersprüche dieser Politik wurden verdrängt oder nicht bemerkt, man hatte ja auch keine Zeit für eine kritische Prüfung. Warnungen aller Art von Bush bis Izetbegovic wurden nicht beachtet, und das Zögern der Verbündeten in Deutschland und in Österreich als moralisches Versagen angeprangert.

Nachdem am 09./10. 12. 91 die Verhandlungen des Europäischen Rates zum EU-Vertrag in Maastricht abgeschlossen waren, also durch Titel V die Mitglieder eigentlich schon auf die GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) verpflichtet waren, wollte Deutschland seine angeblich auf die Menschenrechte orientierte Führungsqualität demonstrieren. So wurde dem Rat der Außenminister am 16.12.91 schlicht mitgeteilt, daß Deutschland die Republiken Slowenien und Kroatien noch vor Weihnachten anerkennen würde. Der Coup gelang. Widerwillig ging die EPZ bzw. nun die GASP (in Gründung) auf deutschen Kurs. Eine große Krise wollte man vermeiden. Selbst der Versuch einer gesichtswahrenden Kommission wurde von Deutschland zerschlagen, denn Deutschland erkannte an, ohne den Bericht der (von der EU eingesetzten) »Badinter-Kommission« abzuwarten. Die Prinzipien der GASP waren also schon überholt, noch bevor sie am 07.02.92 unterzeichnet wurden. Am 18.05.92 hatte Deutschland einen neuen Außenminister, der kurz nach seiner Amtsübernahme »Serbien in die Knie zwingen« wollte, ansonsten aber hauptsächlich mit der Schadensbegrenzung beschäftigt war, wollten doch die EU-Partner die Erpressung zur Jahreswende nicht einfach vergessen.

Für den Jugoslawien-Konflikt wurde die EU ab Mitte 1992 ständig bedeutungsloser. Die Gewichte verlagerten sich immer mehr zur UNO. Mit der Errichtung einer Kontaktgruppe, in der Vertreter der USA, Rußlands, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands Lösungen versuchten, wurde die GASP völlig abgemeldet.

Wer die Anerkennung Kroatiens wollte, mußte in Bosnien mit Krieg rechnen. Die Politik der »Internationalisierung des Konflikts« führte aber nicht zum Erfolg. Das war keine Überraschung, denn wenn man unterstellte, daß es Slowenen und Kroaten nicht mehr zuzumuten war, im multinationalen Jugoslawien zusammen mit den Serben zu leben, wie konnte man dann annehmen, daß das Zusammenleben der Serben, Kroaten und Muslime in einem Teil Jugoslawiens, nämlich in Bosnien, aufrechterhalten werden kann. Daher hatte auch Izetbegovic dringend vor der Anerkennung Kroatiens gewarnt, wußte er doch, daß das Krieg in Bosnien bedeuten würde. Er selbst hatte sich denn auch vor der Anerkennungspolitik mit den Serben und Kroaten in Bosnien verständigt, daß man keine Unabhängigkeit anstreben sollte.

Wie konnte man weiter annehmen, daß die 700.000 Serben in Kroatien nicht das gleiche Recht gegenüber Kroatien verlangen würden, das den Kroaten gegenüber Jugoslawien zugebilligt werden sollte, und wie sollte das Selbstbestimmungsrecht der Albaner im Kosovo behandelt werden, wenn hier, wie im Gebiet Kroatiens, plötzlich das Grenzregime vor der Selbstbestimmung rangieren sollte. Präsident Bush wußte schon, warum er keine Sezession belohnen wollte.

Die »Politik der Internationalisierung« hatte, außer der Auflösung der SFRJ, auch kein klares politisches Ziel. Sie unterstützte ein Schwarz-Weiß-Bild, es gab Gut und Böse, zu Schützende und zu Bekämpfende. Die Parteinahme ging aber nicht so weit, eigene Opfer zur Durchsetzung der Ziele einer Seite zu riskieren. Die Parteinahme blieb rhetorisch. So kann natürlich keine Vermittlung aussehen, wie sie die UNO im Auge hatte. Es ist mehr das Bild einer Drohung. Ist man aber nicht zur Gewaltanwendung entschlossen, so sollte man nicht mit ihr drohen, denn nur selten gelingt so ein Bluff. Wird die angedrohte Gewalt schließlich doch, z.B. um das Gesicht zu wahren, angewandt, so besteht die große Gefahr einer Eskalation, mit der alle Verhandlungsbemühungen zunichte gemacht werden können.

Auch bleibt die Frage offen, ob Ziele, und sei es der »Frieden« oder die »Menschenrechte«, mit Gewalt oder mit ihrer Androhung verfolgt werden sollen oder können. Offensichtlich besteht über diese Frage unter den nicht-jugoslawischen Beteiligten keine einheitliche Meinung. Eine solche Politik ist auch nicht mit den Grundsätzen der UN vereinbar, und wie der Generalsekretär mit Recht festgestellt hat, führt die Vermischung beider Prinzipien zu einer gegenseitigen Blockade, die Fortschritte unmöglich macht. Hinzu kommt, daß viele Aktionen angelegt sind, um vielseitige innenpolitische Bedürfnisse zu befriedigen und sei es nur, um den Anschein von Tätigsein zu erwecken oder den von den Medien erzeugten Erwartungen entgegenzukommen. Insbesondere die innenpolitische Entwicklung in den USA hat hier größten Einfluß auf den Gang der Dinge.

Trotzdem ist es nach wie vor klar, daß im Falle des Jugoslawien-Konfliktes kein außerjugoslawischer Staat zu einer vollen militärischen Intervention zur Durchsetzung einer neuen Ordnung bereit ist. Diese Bereitschaft konnte und kann auch angesichts der niedrigen Priorität des Konflikts nicht weiter von interessierten Medien herbeigeredet werden. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß sich durch die Handhabung des Konflikts, sowohl im Krisengebiet als auch in den internationalen Beziehungen Veränderungen ergeben haben, die berücksichtigt werden müssen.

Um ein Beispiel zu nennen: Als im März 93 die kroatische Armee den ersten größeren Versuch unternahm, den Sektor Süd der »UN-protected area« in Kroatien an der Küste in Richtung auf die Stadt Knin einzudrücken, um die Trennung von den Gebieten südlich von Zadar zu beseitigen, wurde der Versuch international gestoppt und der Status quo ante wiederhergestellt. Als im Mai 95 die kroatische Armee den Sektor West der gleichen »protected area« in Westslawonien, quasi als Generalprobe, überrannte, erfolgte eine Verurteilung durch den Sicherheitsrat, aber sonst keine Gegenmaßnahme. Im Juli 95 überrannten dann die serbischen Bosnier die Schutzzonen Srebrenica und Zepa mit den bekannten Reaktionen. Im August 95 eroberten kroatische Truppen die Sektoren Nord und Süd der »UN-protected area«, die Krajina also, und diesmal scheiterte sogar die beantragte Verurteilung im Sicherheitsrat an dem Widerstand der USA und Deutschlands.

Zur Erreichung politischer Ziele wird militärische Gewalt wieder akzeptiert

Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß militärische Gewalt zur Erreichung politischer Ziele, zumindest in ausgewählten Fällen, wieder akzeptiert wird. Mit welchen Folgen ist ungewiß, sicher aber nicht mit einer auf längere Sicht friedensfördernden Wirkung. Ähnliches gilt auch für die Handhabung der angedrohten Gewaltanwendung. Es ist höchst fraglich, ob mit dem jetzt geübten, sehr risikoreichen Verfahren ein Verhandlungsprozeß in Gang gesetzt werden kann, der die Aussicht auf eine, angeblich von allen für erforderlich gehaltene, politische Lösung bietet.

Das hat sich natürlich auch nicht mit dem Dayton-Vertrag geändert. Dieser Vertrag, nunmehr etwa ein halbes Jahr in Kraft, hat den heißen Bürgerkrieg zwar vorerst beendet, das ist ein wichtiger Erfolg, hat aber bisher keinen Verhandlungsprozeß der Konfliktparteien in Gang gesetzt, der die Hoffnung auf eine politische Lösung begründen könnte. Die Androhung von Gewalt hat bisher die Konfliktparteien nur zu Schritten veranlassen können, die mit ihren Zielen übereinstimmen oder mit ihnen vereinbar sind, nicht aber die Aufgabe oder Veränderung ihrer Kriegsziele bewirken können. Das IFOR-Mandat aber ist bis zum Jahresende 1996 befristet, und eine Verlängerung ist nicht zu erwarten. Die USA werden ihre Bodentruppen jedenfalls zügig nach Mandatsende zurückführen. Ob die im Vertrag vorgesehenen Wahlen noch im Herbst 1996 durchgeführt werden können, ist sehr fraglich, und die Rückkehr der Flüchtlinge wird bestenfalls mit kleinen Schritten gelungen sein.

Streng genommen ist vom Dayton-Vertrag auch nicht mehr zu verlangen, denn der eigentliche Kern des Vertrages besteht in dem Versuch, durch Herstellung eines militärischen Gleichgewichts mittels Aufrüstung der schwächeren Partei eine Lage zu schaffen, die die Konfliktparteien zwingen soll, ihre Probleme am Verhandlungstisch zu lösen. Dies ist, zugegeben, kein sehr neues Rezept. Wenn die bereits laufende Aufrüstung in Bosnien zwar stattgefunden hat, die erhofften Folgen aber nicht eintreten, wird die Grundfrage der Behandlung des Konflikts durch die Staatengemeinschaft erneut aufbrechen.

Nun ist sicher nicht zu erwarten, daß die Konfliktparteien sofort nach Abzug der IFOR die bewaffnete Auseinandersetzung voll wieder aufnehmen. Aber mit örtlicher Gewaltanwendung hier und da muß wohl in erster Linie innerhalb der moslemisch-kroatischen Föderation gerechnet werden.

Was, also, ist zu tun? Interessant ist, daß eine solche Debatte in der Öffentlichkeit überhaupt nicht stattfindet, obwohl die Frage ganz offenkundig ansteht. Soll vor der Wahl des US-Präsidenten am ersten Dienstag im November die Sache ruhen, um dann, unter Zeitdruck, die Öffentlichkeit vor einer tiefergehenden Debatte »zu bewahren«?

Soll in Deutschland erst dann die Überzeugung geweckt werden, daß eine Nachfolgetruppe für die IFOR-Einheiten, diesmal mit voller deutscher Beteiligung und nicht nur als Versorgungseinheit, zum Beispiel im Rahmen der ersten Aktion der wieder zum Leben erweckten WEU erfolgen soll? Wird sich also die öffentliche Debatte wieder nicht mit dem eigentlichen Problem, sondern mit der Frage der »Bündnisfähigkeit der Deutschen« oder der »Rangordnung der EU-Mitglieder« beschäftigen?

Das wäre dann eine Wiederholung der Debatte des letzten Jahres, in der Joschka Fischer in den »mainstream der deutschen Befindlichkeit« eintauchte, um Regierungsfähigkeit zu zeigen, weil sich „die Welt durch Srebrenica verändert“ habe.

Wer an einem Beitrag zur Lösung des Konfliktes interessiert ist, und dies sollte im deutschen Interesse liegen, der muß eine Entwicklung herbeiführen und unterstützen, in der der Frieden interessanter wird als der Krieg, nicht nur in Bosnien, sondern in der ganzen Region, von den Karawanken bis zur Ägäis.

Nur so kann die Konjunktur des Nationalismus beendet und eine Entwicklung in Richtung auf Frieden und Demokratie begonnen werden.

Anmerkungen

1) EPZ-Erklärung Luxemburg/Brüssel vom 26.03.91 (inoffizielle Übersetzung). Zurück

2) Dr. Christopher Cviic', Das Ende Jugoslawiens, Europa-Archiv 14/1991. Zurück

3) nach The Guardian vom 02.07.91. Zurück

Horst Grabert war von 1972 bis 1974 Chef des Bundeskanzleramtes, danach Botschafter der BRD: von 1974 – 1979 Wien, von 1979 – 1984 in Belgrad, von 1984 – 1987 in Dublin.

Tornados im Blindflug

Tornados im Blindflug

Der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr lief an Parlament und Verfassungsgericht vorbei

von Reinhard Mutz

Auf dem Weg der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Streitmacht mit erweitertem Aufgabenspektrum markieren zwei Daten tiefgreifende Einschnitte. Am 12. Juli 1994 erlegte das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung auf, vor einem Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Zustimmung des Bundestages einzuholen. Am 30. Juni 1995 wandten Regierung und Parlament das Karlsruher Urteil zum ersten Mal an und führten es gleich ad absurdum: Was der Bundestag an diesem Tag auf Antrag der Bundesregierung nach kontroverser Debatte beschloß, deckte den nachfolgenden Einsatz der Bundeswehr nicht.

Die zweiwöchigen Luftschläge gegen die bosnischen Serben im Spätsommer 1995 (Operation Deliberate Force) waren die aufwendigste militärische Intervention im ehemaligen Jugoslawien und die massivste Kriegshandlung gegen eine der Konfliktparteien. Die Bundesluftwaffe nahm mit 14 Tornado-Kampfflugzeugen daran teil. Was immer der politische Zweck der Operation gewesen sein mag und inwiefern sie zur Beendigung des Balkankrieges beigetragen haben könnte – für die militärische Ausgestaltung deutscher Außenpolitik, die den Auflagen des Karlsruher Richterspruchs nachkommen muß, war sie der Präzedenzfall eines Kriegseinsatzes der Bundeswehr ohne parlamentarische Billigung.

Die Involvierung der Bundeswehr in den bosnischen Aufteilungs- und Aneignungskrieg erfolgte etappenweise, wobei die Übergänge zwischen humanitären, nichtmilitärischen und militärischen Aktivitäten fließend waren. Am einfachsten fällt die Zuordnung bei den Hilfsflügen für die Zivilbevölkerung. Ab Juli 1992 beteiligte sich die Bundeswehr an der Luftbrücke von Zagreb nach Sarajevo zur Versorgung der moslemischen Viertel der bosnischen Hauptstadt und ab März 1993 am Abwurf von Lebensmitteln und Hilfsgütern über unzugänglichen Kampfgebieten in Bosnien. Diese Versorgungseinsätze wurden von Transportmaschinen westlicher Luftwaffen geflogen, aber vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) koordiniert.

Unter der Regie der NATO standen vier Missionen im Luftraum bzw. an der Peripherie des Kriegsschauplatzes. Seit Juli 1992 überwachten Schiffe und Marineaufklärungsflugzeuge in der Adria das Embargo gegen Serbien und Montenegro. Im Oktober 1992 übernahm das integrierte NATO-Frühwarn- und Aufkärungsgeschwader AWACS die kontinuierliche Beobachtung des Konfliktgebietes aus der Luft (Operation Sharp Guard). Gegen die Mitwirkung der Bundeswehr an diesen beiden Missionen wandten sich die Organklagen der Bonner Opposition beim Bundesverfassungsgericht, die klären sollten, welche Grenzen das Grundgesetz Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte zieht. Mit den ersten Gefechten amerikanischer Kampfjets gegen serbische Luft- und Bodenziele in Bosnien im Februar bzw. April 1994 wurden die Maschinen des AWACS-Geschwaders in ihrer Zweitrolle als Feuerleitzentralen Teil aktiver Kriegshandlungen – und damit auch die deutschen Besatzungsmitglieder in den Aufklärungsflugzeugen.

Die anderen beiden NATO-Missionen fanden ohne Beteiligung der Bundeswehr statt: die Kontrolle des militärischen Flugverbots über Bosnien-Herzegowina durch Luftpatrouillen mit Kampfflugzeugen seit April 1993 (Operation Deny Flight) und die Vorbereitung bzw. Übung von Luftangriffen auf militärische Ziele in Bosnien. Die Bundesregierung vertrat die Auffassung, daß schon nach geltendem Verfassungsrecht Kampfeinsätze der Bundeswehr außerhalb des Bundes- wie des Bündnisgebietes zulässig seien und daß es ihr zukomme, nach Ermessen davon Gebrauch zu machen. Sie enthielt sich aber wegen der unrühmlichen Rolle der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in Jugoslawien einer direkten deutschen Mitwirkung an den im engeren Sinne militärischen Missionen der westlichen Allianz. Mit derselben Begründung stellte die Bundesrepublik auch kein eigenes Kontingent für UNPROFOR, die Blauhelm-Truppe der Vereinten Nationen, die mit einem lediglich friedenserhaltenden Mandat ohne Kampfauftrag in Kroatien und Bosnien stationiert war.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1994 machte sich in der Sache den Standpunkt der Bundesregierung zu eigen. Waren die rechtlichen Hindernisse nun entfallen, konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch die politischen Bedenken gegen deutsche Soldaten auf dem Balkan schwinden würden. Drei gleichgerichtete Interessenlagen griffen ineinander. Die westlichen Verbündeten ließen an ihrem Wunsch nach einem stärkeren – auch bewaffneten – Engagement der Bundesrepublik keinen Zweifel. In der Bonner Koalition fehlte es nicht an prinzipieller Bereitschaft, der deutschen Sicherheitspolitik ein militärisch schärferes Profil zu geben. Und schließlich waren da noch die Streitkräfte selbst. Einen Segen für die Bundeswehr, nannte ein Kommandierender General des deutschen Heeres die im Frühjahr 1994 glücklos beendete Somalia-Expedition: Müsse doch eine Armee nicht nur wissen, sondern auch erleben können, wofür sie da sei.

Eine Armee muß erleben, wofür sie da ist

Am 20. Dezember 1994 beschloß das Bundeskabinett, dem Bündnis ein deutsches Kontingent von rund 2.000 Soldaden aller drei Teilstreitkräfte in Aussicht zu stellen, unter Einschluß von zwölf bis vierzehn Tornado-Flugzeugen. Die Zusage bezog sich auf den hypothetischen Fall, daß im Gefolge einer dramatischen Verschlechterung der Kriegslage in Bosnien die UNPROFOR-Truppe abgezogen und die Evakuierung militärisch gesichert werden müßte.

Dabei war die Abstimmung mit den NATO-Gremien nicht ganz reibungslos verlaufen. Eine erste Anfrage aus Brüssel hatte schlicht eine Staffel deutscher Tornado-Jets geordert, die in das alliierte Aufgebot für die laufenden NATO-Missionen eingefügt werden sollte. Darin sah in Bonn insbesondere der kleinere Koalitionspartner vor wichtigen Landtagswahlen keinen hinreichend öffentlichkeitswirksamen Verwendungszweck. Folglich stellte die nachgebesserte Anfrage des NATO-Hauptquartiers gezielt auf die deutsche Unterstützung der westlichen Eventualplanung ab, d.h. auf Hilfeleistung für Verbündete in Not, ein Ansuchen, das sich schlecht ablehnen ließ.

Was in der deutschen Debatte gänzlich außer Betracht blieb: Die erforderliche Zuspitzung des Krieges, der Rückzugsgrund für UNPROFOR, war nur herbeizuführen durch Wahl einer »Lift-and-Strike-Strategie«, wie sie in Washington befürwortet wurde, in Paris und London jedoch auf Skepsis stieß. »Lift« hieß Aufhebung des Waffenembargos für die kroatischen und moslemischen Bosnier, »Strike« massive Luftschläge gegen die bosnischen Serben. Doch es sollte sich noch ein griffigerer Ansatz finden, die deutsche Kriegsbeteiligung ins Spiel zu bringen.

Im Mai 1995 führte das permanente Nebeneinander der beiden unvereinbaren Operationsformen – gewaltfrei zu Lande, kriegführend aus der Luft – zu einer neuerlichen Eskalation. Als NATO-Bomber Munitionslager bei Pale angriffen, reagierten die Serben mit der spektakulären Geiselnahme von UNO-Soldaten. Die Regierungen in London und Paris, verständlicherweise besorgt um ihre Blauhelm-Einheiten, verlangten die »Restrukturierung« von UNPROFOR. Die Friedenstruppe der Vereinten Nationen sollte umgruppiert und so dem serbischen Zugriff entzogen werden, zusätzlich beschützt von einem schnellen Eingreifverband aus zwei Brigaden regulärer britisch-französisch-niederländischer Kampftruppen.

Mittels der Eingreiftruppe ließ sich die Frage des Schicksals von UNPROFOR nunmehr ins Positive wenden: Nicht mehr den Abzug, sondern den Verbleib der trotz (oder wegen) aller Schlappen immer noch populären Blauhelm-Soldaten gelte es abzusichern. Mit diesem Argument trat die Bundesregierung am 30. Juni vor den Bundestag und gewann sechzig Prozent der Abgeordneten – auch aus den Reihen der Opposition – für ihren Vorschlag der Entsendung eines Bundeswehrkontingents in das Konfliktgebiet. Die Mehrheit wäre noch deutlicher ausgefallen, hätte der Antrag nicht auch die umstrittene Tornado-Komponente enthalten.

Worin genau bestand der Auftrag der deutschen Tornados? Es war nicht gerade ein Muster an Klarheit, was die Beschlußvorlage dreifach verschachtelt umschrieb: Die Flugzeuge sollten die NATO unterstützen, wenn diese den schnellen Einsatzverband unterstützte, der seinerseits die UN-Friedenstruppe darin zu unterstützen hatte, ihren Aufgaben nachzukommen. Wohl ahnend, daß daraus kein Abgeordneter klug werden konnte, zog die Regierungsvorlage an anderer Stelle zur Verdeutlichung die Resolution 998 des UN-Sicherheitsrats vom 16. Juni heran. Dort wird der Auftrag des Einsatzverbandes in drei konkreten Aufgaben fixiert: Notfallhilfe für isolierte oder bedrohte Einheiten der Vereinten Nationen, Unterstützung bei der Umgruppierung von UNPROFOR-Elementen, Erleichterung der Bewegungsfreiheit, wo erforderlich.

In dieser sehr engen Eingrenzung warb die Bundesregierung vor dem Parlament für ihren Antrag. Nur zur Hilfestellung für UNPROFOR werde das Tornado-Geschwader eingesetzt, so hieß es, nicht in Frage komme die Mitwirkung an älteren NATO-Aufträgen, insbesondere an Luftschlägen. Daran werde sich die Bundeswehr nicht beteiligen, erklärte der Verteidigungsminister auf Vorhalt in der Debatte. Genau zwei Monate sollte es dauern, bis die Versicherungen Makulatur waren.

Den Tornado-Piloten wurden exakt die Einsätze befohlen, die ihr Minister kategorisch ausgeschlossen hatte. Kein Blauhelm-Soldat war angegriffen, bedroht oder in seiner Bewegungsfreiheit behindert, als am 30. August 1995 das NATO-Bombardement »Deliberate Force« losbrach. Zweck der Operation war, ein Exempel zu statuieren – weitab jeden UN-Mandats zur Anwendung militärischen Zwangs und ohne erkennbaren Nutzen für das Ziel der Beendigung des Krieges in Bosnien. Gewiß spielte die Bundeswehr darin keine tragende Rolle: Sie bestritt gerade 59 der insgesamt 3.515 Lufteinsätze. Auch hat sie selbst keinen Schuß abgefeuert. Aber an einer Kriegshandlung nimmt auch teil, wer militärische Ziele nur aufklärt, damit andere sie bombardieren.

Das Karlsruher Urteil vom Sommer 1994 beseitigte die verfassungsrechtlichen Hindernisse exterritorialer Einsätze deutscher Streitkräfte. Als neue Schranke schuf es die parlamentarische Zustimmungspflicht. Ein Fall, wie der vom Januar 1991 während des Golfkonflikts, als das Bonner Kabinett im Umlaufverfahren ohne Beratung und am Bundestag vorbei über die Entsendung von Jagdbombern des Typs Alpha Jet in das Krisengebiet entschied, sollte sich nicht wiederholen. Aber das Konzept der Parlamentsarmee strandete schon im ersten Anlauf. Den meisten Abgeordneten entging, daß die Tornados in Bosnien ganz andere Aufträge ausführten, als sie beschlossen hatten, und die politische Öffentlichkeit hat es nicht einmal registriert: kein gutes Omen für die Zukunft demokratischer Kontrolle der bewaffneten Macht in der Bundesrepublik.

Reinhard Mutz ist stellvertrtender wissenschaftlicher Direktor am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitk, Hamburg

Ein europäischer Unfrieden

Ein europäischer Unfrieden

Politische Reisenotizen von Skopje nach Zagreb (II)

von Michael Kalman

Vom 20. Februar bis 1. März 1993 unternahm eine gemischte Delegation aus dem Bayerischen Landtag, Flüchtlingsrat, Friedensbewegung, Studentenvertretung und Friedensforschung eine Informationsreise in das ehemalige Jugoslawien. Die Stationen der Reise, die überwiegend von den GRÜNEN im Bayerischen Landtag finanziert wurde, waren Skopje, Pristina, Belgrad, Novi Sad und Zagreb. Wir setzen den Reisebericht mit dem 2. Teil fort.

Die Bundesrepublik Jugoslawien, insbesondere die Republik Serbien ist – das ist unstrittig – in diesen Krieg involviert. Kontrovers müssen aber Formen und Ausmaß von Belgrads Engagement diskutiert werden. Mit den nationalistischen großserbischen Vorstellungen eines Milosevic ist die geistige Mittäterschaft zweifelsfrei gegeben, auch wenn expansionistische Staatsideen zum »normalen« Repertoire der radikalen Elemente fast jeder größeren ethnischen Gruppe im ehemaligen Jugoslawien gehören. Kein seriöser Experte bestreitet ferner die logistische Unterstützung der bosnisch-serbischen Einheiten. Der stellvertretende bosnische Präsident sprach gar von regelmäßigen »Linienflügen« von hundert bis zweihundert serbischen Versorgungshubschraubern des Typs MI-8 nach Bosnien-Herzegowina. Der deutsche Geschäftsträger in Belgrad war da zurückhaltender. Von der Vorsitzenden des Serbischen Roten Kreuzes in Belgrad bekommen wir hingegen zu hören, daß in der Region Banja Luka serbische Kinder sterben müssen, weil die serbischen Hubschrauber keine Hilfsflüge mit nötiger Medizin mehr unternehmen können.

Es wird ferner behauptet, daß die serbisch-bosnischen Einheiten vom Generalstab der Jugoslawischen Streitkräfte in Belgrad operativ geführt werden. Eindeutig ist hingegen, daß seit der Reorganisation im Mai 1992 keine Bodentruppen der Jugoslawischen Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina mehr operieren. Teile der jungen kroatischen Streitkräfte sollen hingegen immer wieder offen an der Seite des Kroatischen Verteidigungsrates, der militärischen Komponente der Kroaten in Bosnien, vor allem in der Herzegowina operiert haben.

Durch das Raster der Schwarz-Weiß-Malereien der deutschen Presse fallen häufig auch die Versuche der Regierungen in Belgrad und Zagreb, sich im geheimen zu arrangieren. So enthüllte ein kroatischer Präsidentenberater bereits Mitte 1991 der Londoner »Times« Geheimgespräche zwischen Tudjman und Milosevic über eine Aufteilung Bosnien-Herzegowinas. Am 6. Januar 1993 nun erzielten Milosevic und Tudjman eine Geheimvereinbarung, wonach die Republik Serbien bei der bevorstehenden Krajina-Offensive kroatischer Verbände ein Eingreifen der Jugoslawischen Streitkräfte unterbinden würde. Milosevic schien also von den geplanten kroatischen Operationen um die Maslenica-Brücke gewußt zu haben. Der serbische Regierungschef möchte offenbar den paramilitärischen Einheiten Serbiens keine uneingeschränkte Unterstützung mehr zukommen lassen.

Die irregulären bewaffneten Gruppen

Denn der Krieg wird sehr stark von paramilitärischen Einheiten und Parteiarmeen geprägt, die niemand kontrolliert, aber insbesondere Belgrad fortdauernd und zusätzlich in Mißkredit bringt. Wie der deutsche Geschäftsträger in Belgrad sinngemäß ganz zutreffend bemerkt: Selbst wenn Milosevic nichts Schlechtes tun würde, so unterläßt er es doch, Gutes zu tun. Gemeint ist die aktive Herstellung der Kontrolle aller paramilitärischen Einheiten jener Serben, die sich auf dem Boden der Bundesrepublik Jugoslawien, insbesondere in Belgrad, völlig frei bewegen können und deren berüchtigte Führer in der serbischen Hauptstadt ungeniert und ungehindert Geschäfte betreiben können. Der militärische Arm der rechtsradikalen kroatischen »Partei des Rechts« von Paraga ist in Kroatien immerhin verboten worden, Paraga selbst muß sich in vier Gerichtsverfahren verantworten. Gleiches wäre in Belgrad zu fordern, um insbesondere die Beli Orli (Weiße Adler) des Mirko Jovic, die Dusan Slini (Dusan der Mächtige) von Dragoslav Bokan und »Arkans Tiger« unschädlich zu machen. Allerdings unterhält auch der Führer der ultranationalistischen »Serbischen Radikalen Partei«, Vojislav Seselj, eine Art Privatarmee, die in Bosnien kämpft. Nach den Wahlen vom Dezember 1992 ist Seselj Koalitionspartner von Milocevics Sozialistischer Partei, was die Schwierigkeit illustriert, den irregulären Einheiten den Garaus zu machen, falls dies überhaupt der Wille der Sozialisten wäre.

Auch der royalistische Oppositionspolitiker Vuk Draskovic (Serbische Erneuerungsbewegung) unterhält seine »Serbische Garde«, die sich allerdings in letzter Zeit eher zurückhält.

Auf Seiten der anderen Kriegsparteien kämpfen ebenfalls paramilitärische Einheiten – so die »Grünen Barette« bei den Muslimen und neben der schon erwähnten HOS, kleinere Einheiten wie die »Zebras« des Sinisa Dvorski, die den ehemaligen »Ustasa«-Neofaschisten zugerechnet werden.

Aus diplomatischen Kreisen eines Staates, dessen Regierung alles andere als serbienfreundlich gilt, hören wir, daß die sogenannte »ethnische Säuberung« gängige Praxis aller drei ethnischen Gruppen in Bosnien-Herzegowina sei, lediglich die Serben würden dabei besonders erfolgreich agieren.

Was die hier kursorisch und unvollständig aufgezählten irregulären bewaffneten Gruppen zusammen mit den »regulären« Streitkräften alles angerichtet haben, erfahren wir exemplarisch in den Flüchtlingslagern außerhalb der Kriegsgebiete. Der Flüchtlingsstrom scheint nicht enden zu wollen – auch Makedonien ist von ihm betroffen. Obwohl das Land nach der offiziellen UNHCR-Statistik im November 1992 »nur« 19.000 Flüchtlinge aufgenommen hat – unsere Gesprächspartner im Lande selbst nennen Ende Februar 1993 die Zahl von 40.000 – bedeuten diese für das wirtschaftlich ausgeblutete Land eine erhebliche Zusatzbelastung. Ein vertriebener bosnischer Muslim erzählt in Gostivar seine Geschichte. Dieser Mann von Anfang dreißig aus Zvornik (Ostbosnien), sah sich angesichts des Dauerterrors von Einheiten der bosnischen Serben und paramilitärischen Gruppen Ende April 1992 zur Flucht genötigt. Er überquerte die Drina und erreichte am anderen Ufer die Republik Serbien. Von einer Anhöhe konnte er die Einnahme und Zerstörung seiner Heimatstadt beobachten. Moscheen wurden einfach in die Luft gesprengt, zahlreiche Häuser brannten. Der Vertriebene konnte ausgehobene Massengräber erkennen, in welche die zahlreichen Leichen einfach reingeschmissen wurden. Er versteckte sich in einem Wochenendhaus in den serbischen Wäldern. Dann schlug er sich nach Loznica durch, von wo er mit einem regulären Linienbus nach Subotica (Wojwodina), nahe der ungarischen Grenze, gelangte. Dort meldete er sich beim Serbischen Roten Kreuz und versuchte sich Ausreisepapiere zu besorgen. Der Vertreter des Roten Kreuzes wies ihn zurecht und drohte dem bosnischen Flüchtling eine Rekrutierung in die Jugoslawische Armee oder die Gefangennahme als Geisel für einen späteren Gefangenenaustausch an. Daraufhin floh der Muslim nach Novi Sad und fand wochenlang Unterschlupf beim dortigen Imam. Später gelang ihm offenbar problemlos die Flucht mit einem Reisebus über Nis nach Skopje. Hier und später in Gostivar wird er von der islamischen Hilfsorganisation El Hilah (Neumond) betreut.

Flüchtlingselend auch auf serbischer Seite. In der »Kollektiven Unterbringungsstätte« Pionierski Grad am Stadtrand von Belgrad sprechen wir mit einer alten Frau aus Vukovar. Ihr lebensbejahendes, aber verbrauchtes Gesicht kann ein schluchzendes Stocken in ihrer Stimme nicht verbergen als sie auf die Umstände ihrer Flucht angesprochen wird. Sie kam Ende 1991 hier an und hoffte auf einen nur kurzen Aufenthalt von wenigen Wochen im Camp – nun ist sie schon weit über ein Jahr hier und sieht keine Aussicht, daß sich das ändert. 162.000 serbische Frauen und Männer sind bisher aus Kroatien (Krajina und Slawonien) vertrieben worden – eine Zahl, die in den deutschen Medien nicht vorkommt.

Flüchtlingslager in Zagreb

Wir besuchen mit einem Kinderarzt aus Deutschland, der sich für die Hilfsorganisation »Suncocret« (Sonnenblume) ein halbes Jahr als freiwilliger Helfer in Kroatien verpflichtet hat, ein muslimisches Flüchtlingslager in Zagreb. Die vierstöckigen Mietshäuser der Einheimischen des Vororts sind in gutem baulichen Zustand. Durch eine Toreinfahrt gehen wir in einen Hinterhof, der in Ödland übergeht. Hier stehen vier niedrige Holzbaracken, die den Bauarbeitern der Firma »Tempo« einmal als Arbeitsunterkunft dienten. Jedes der Provisorien ist ca. 40 Meter lang und zwölf Meter breit. Hier hausen 700 überwiegend muslimische Flüchtlinge, einige kroatische Familien aus den Kriegsgebieten sind auch dabei. In den einzelnen Zimmern mit 16 bis 20 Quadratmetern müssen sich fünf bis zehn Personen zusammendrängen. Niemandem steht mehr als drei Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Jedes Zimmer hat zwar uralte Kohleöfen, aber die dünnen Holzwände sind nicht isoliert, es ist zugig und feucht. Über ein Drittel sind Kinder und Jugendliche, die auf dem Hof spielen und toben. Hungern muß niemand, aber der Mangel ist spürbar. Unser deutscher Begleiter spricht von erheblichem Proteinmangel der Flüchtlinge. Um dem ärgsten Vitaminmangel vorzubeugen, hat er ein »Fruchtprogramm« aufgelegt. Das bedeutet: Für jede/n pro Woche einen Apfel. Wir gehen in ein kleines Barackenhäuschen mit den sanitären Anlagen. Zwei Frauen rubbeln Wäsche in den vier einzigen Waschbecken des gesamten Lagers. Abgeteilt davon die Toiletten, in ziemlich verrottetem Zustand, ebenfalls vier an der Zahl. Dies heißt nichts anderes: 175 Kinder, Erwachsene und Greise müssen sich eine Toilette teilen. Wieder im Hof wehen uns rauchige Schwaden ins Gesicht. Am Rande der Barracken liegt die eigene wilde Mülldeponie, der Abfall wird durch offenes Feuer »entsorgt«. Wer hier nicht krank wird, muß eine sehr robuste Natur haben.

Sind die äußeren Bedingungen dieser vertriebenen Menschen schon mehr als dürftig, so sind die psychischen Folgen von Mord, Greuel und Vertreibung kaum noch in Worte zu fassen.

Der »Lagerälteste«, ein alter gebeugter Muslim mit wachen Augen und zerfurchtem, faltigem Gesicht, begrüßt uns herzlich. Er wird seine Heimat, in der er viele Jahrzehnte friedlich gelebt hat, vielleicht nie mehr wiedersehen. Seine Redepausen, sein Stocken, die feucht werdenden Augen erzählen uns mehr als seine Geschichten. Dabei gehören diese Menschen noch zu den Davongekommenen.

Und dennoch: Der Krieg und der Völkerhaß dringt auch hierhin. Seitdem sich auch Muslime und Kroaten in Bosnien-Herzegowina bekämpfen, gibt es fast kein gemischtes Lager mehr mit Muslimen und Kroaten. Die Auseinandersetzungen wollten kein Ende mehr nehmen. Auch die christlichen und muslimischen Hilfsorganisationen stecken ihre »claims« ab. Nichtmuslimische Hilfsorganisationen haben es immer schwerer, in Flüchtlingslager der bosnischen Muslime zu gelangen.

Das Bestürzendste ist jedoch, daß die wehrfähigen Flüchtlinge als Menschenmaterial für den Krieg interessant bleiben. Die kroatische Polizei führt nachts Razzien in Flüchtlingslagern durch und zwingt die Männer – Kroaten, vor allem aber Muslime – zum Kampf an die Front. Neben dem immer offensichtlicher werdenden kroatisch-muslimischen Gegensatz gibt es nämlich noch einen weitreichenden Verteidigungspakt, den die Präsidenten Tudjman und Izetbegovic am 24. September 1992 in New York bekanntgaben. Danach verpflichtete sich die kroatische Seite auch zu dieser unmenschlichen Art von »Unterstützungsleistung«. Nun leben die Mütter in ständiger Angst um ihre Söhne, die sie so gut es geht vor dem Zugriff der Häscher zu verstecken suchen.

Zurück im »Hauptquartier« der Suncocret. Hier arbeiten Freiwillige – häufig aus dem Ausland – zur Betreuung der ca. 650.000 registrierten Flüchtlinge in Kroatien. Die Helfer aus Deutschland werden vom Service Civil International (SCI) in einem sechswöchigen Kurs auf ihre Aufgaben vor Ort vorbereitet. Die Helfer werden auf die Camps verteilt. Pro Flüchtlingslager arbeiten zehn freiwillige Helfer und vier Einheimische. Die freundliche, junge Kroatin in der unkomfortablen »Zentrale« von Suncocret gibt sich unpolitisch, will helfen, das Leid vermindern. Was wären die Flüchtlinge ohne diese Wellen der Hilfsbereitschaft, obwohl die meisten davon nach Kroatien, weit weniger nach Serbien gehen. Nichts in diesem gewalttätigen Konflikt kann unpolitisch bleiben. Der »Politik der Hilfe«, obwohl ein wenig asymmetrisch angewandt, kommt sicher erstrangige Bedeutung zu.

Anti-War-Center in Zagreb

Auch Zagreb hat sein Anti-War-Center. Es wurde zur gleichen Zeit wie in Belgrad, im Juli 1991 gegründet. Zoran Ostric erzählt von der Arbeit. Ein Schwerpunkt sind Menschenrechtsfragen. Zusammen mit amnesty international ist ein Buchprojekt durchgeführt worden. Auf der innenpolitisch-gesellschaftlichen Ebene soll das Recht auf Zivildienst durchgesetzt werden. Das Antikriegszentrum initiiert zudem eine Rechtshilfe für Menschenrechtsfälle. Die Situation der Serben in Kroatien ist alarmierend. Immer wieder werden ganze Häuser mitsamt serbischen Familien in die Luft gesprengt. In Split wurde das Haus eines Kroaten, der einen Serben in Schutz genommen hatte, dem Erdboden gleichgemacht. Es gibt im Lande kaum noch Rechtsanwälte, die bereit sind, Serben zu verteidigen.

Ein weiterer Schwerpunkt sind Workshops für gewaltfreie Lösungen. Zoran erweist sich als Realist und Mann der Praxis. Er mißt den sozialen Bewegungen wichtige Funktionen vor und nach gewalttätigen Konflikten zu. Sind die kriegerischen Auseinandersetzungen jedoch erst einmal ausgebrochen, so blieben den Bewegungen keine direkten Einwirkungsmöglichkeiten mehr.

Zoran wünscht sich eine Verlängerung des UNPROFOR-Mandats in den Schutzzonen Slawoniens und der Krajina, das zum 21. Februar 1993 ausgelaufen ist. Die Blauhelme sollten erweiterte, quasi hoheitliche Funktionen erhalten. Ihm schwebt eine Art Protektorat der Schutzzonen-Gebiete vor, in dem das Militär notfalls auch gesellschaftliche Funktionen übernimmt. Es soll jedoch vor allem einer vergrößerten zivilen Komponente der UNO vorbehalten bleiben, die Verwaltung aufzubauen und soziale Probleme zu moderieren und zu bearbeiten. Nur in einem solchen Protektorat könnten soziale Bewegungen in Krisengebieten agieren. Ich frage Zoran nach den »Praxis«-Philosophen in Zagreb. Ja, sie gibt es noch, die Intellektuellen undogmatisch-marxistischer Provenienz des ehemaligen Jugoslawien. Er empfiehlt durchaus das Gespräch mit ihnen, moniert jedoch deren abgehobene, theoretische Art. Auch Sonja Licht bezieht er in diese Beurteilung mit ein. Ihre Überlegungen seien doch sehr »global« angelegt, wo es doch vor allem gelte, im Lokalen zu wirken.

Die Arbeit des Antiwar Centers ist zu würdigen und unterstützenswert, nicht zuletzt wegen der Mailbox-Verbindung mit den anderen Zentren in Ljubljana und Belgrad. Hier kann in einer Zeit abgebrochener Kommunikation wichtige Vernetzungsarbeit geleistet werden. Dennoch regt sich bei mir Widerstand gegen diese Art von Theorievergessenheit. Schließlich handelt der Mensch in der Praxis immer theoriebezogen, ob es ihm bewußt ist oder nicht. Das unterscheidet ihn vom Regenwurm. Auch Zoran hat ein theoretisches Raster, daß von Sonja Lichts Konzept einer »civil society« sicher nicht weit entfernt ist.

Die »unpolitischen« Intellektuellen

Ein kleiner Teil unserer Delegation besucht Professor Flego in seiner Zagreber Wohnung. Er ist einer der »ungleichzeitigen« Intellektuellen, die es im Zeitalter der »nationalen Wiedergeburt« Kroatiens gleichwohl noch gibt und die sich der einfältigen Dichotomie kroatisch-unkroatisch nicht fügen. Der Hochschullehrer für Philosophie an der Universität Zagreb schildert uns mit ruhigen und sachlichen Worten die aktuelle Situation in Kroatien. Nein, seine Stelle an der Universität sei nicht gefährdet, administrative Maßnahmen gegen ihn und andere Kollegen wurden bisher nicht ergriffen oder angedroht. Das Klima an den Hochschulen allerdings hätte sich verändert. Immer häufiger würden (ehemalige) »Praxis«-Philosophen kompromittiert, meistens beschränkt auf die Privatsphäre. Auch öffentliche Angriffe in Form von Beiträgen in Fachzeitschriften und Tageszeitungen würden geführt. Gegendarstellungen allerdings werden genauso ungekürzt veröffentlicht. Irgendwann werde auch er sich gegen die Anwürfe öffentlich wehren müssen.

Inzwischen ist »Kroatische Philosophie« als Studienfach an der Universität Zagreb eingeführt worden. Der Kroate Petricius gilt als mittelalterlicher Begründer der Hermeneutik. Wie wäre es, wenn Max Streibl die Einrichtung eines Lehrstuhls für »Bayerische Philosophie« verfügen würde? Provinzialistische Größenordnungen auch im wissenschaftlichen und literarischen Output Kroatiens: vor dem Krieg habe es in der Teilrepublik jährlich 2.000 selbstständige Publikationen gegeben. Nun sind es nur 200. Dafür ist allerdings auch die allgemeine wirtschaftliche Lage verantwortlich.

Die Universitäten in Kroatien – Osijek, Zadar, Pula, Rijeka, Split und Zagreb – werden zentralistisch gelenkt, die Alleinkompetenz der Gebietskörperschaften ist abgeschafft worden. Die Studenten seien völlig apolitisch. Sie hätten sich zwar in Vereinigungen organisiert, würden jedoch nicht profiliert in der Öffentlichkeit hervortreten.

Die Kollateralschäden des kroatischen Ethnonationalismus, die teils verständliche, teils irrationale Abgrenzung gegenüber dem Feind Serbien, überhaupt die ganzen Geburtswehen des neuen Staates, haben offensichtlich eine lebendige demokratische Öffentlichkeit und politische Kultur bislang verhindert. Hier sind ganz verschiedene Faktoren bestimmend. Mit der Unabhängigkeit spielen nun ganz neue/alte gesellschaftliche Substrate eine größere, zuweilen dominierende Rolle. Exilkroaten, insbesondere Ustasa-Emigranten kehren nach Kroatien zurück. Eine gewisse Indifferenz gegenüber dem kroatischen Faschismus im Zweiten Weltkrieg macht sich breit. Tudjman habe in seinem Werk über die kroatische Geschichte immerhin die Massenmorde der Ustasas an den Serben nicht geleugnet. Gleichwohl taxiert er die Anzahl der Toten auf 40.000 bis 60.000 und nicht, wie historisch belegt ist, auf mindestens 400.000. Diese Zugeständnisse scheint der Staatspräsident gegenüber den oft sehr vermögenden Exilkroaten machen zu müssen, die zu den wichtigsten Investoren im Land gehören.

Seit Jahren wird die kroatische Bevölkerung mit Dauerpropaganda überschwemmt. Die Angestellten bei Fernsehen und Hörfunk sind fast komplett ausgewechselt worden. Da das Vertriebssystem für Zeitungen und Zeitschriften fest in der monopolistischen Hand des Staates ist, werden die letzten noch unabhängigen Blätter benachteiligt, womit ein indirekter Hebel der Zensur gegeben ist. Mittlerweile droht auch der letzten kritischen Zeitung, die »Slobodna Dalmacija« das Aus.

Überall im Lande werden Straßen und Plätze umbenannt. In Zagreb soll eine Straße nach dem Minister der Regierung des Faschisten Ante Pavelic benannt werden. Die staatliche Kommission für die Umbenennung der Straßen versucht jetzt in Übereinstimmung mit den Anwohnern einen heiklen »Kompromiß«. Danach soll die Straße nun »Straße des Schriftstellers Mile Budak« heißen. Dieser Mile Budak, der auch Schriftsteller war, gehört zu den Mitunterzeichnern jenes Rassengesetzes, daß die Grundlage für die Ausrottung von Juden, Serben und Zigeunern lieferte.

Die Renaissance der Kirche

Auch die katholische Kirche feiert ihre Renaissance, ja ihr »Roll-back«. Sie ist „unter Kardinal Kuharic zur fünften Kolonne von Franjo Tudjmans autoritär-chauvinistischer Sammlungsbewegung »Kroatische Demokratische Eintracht (bzw. Gemeinschaft, M.K.)« geworden“ (Wolf Oschlies). Überall in Zagreb sehen wir große Plakate, die für die regierende HDZ Tudjmans wirbt. Die Motive gerieren sich in scheinbar unpolitischer Provinzialität. Man sieht einen Fensterausschnitt mit dem katholischen Zagreber Dom, auf einem Tisch sind ein Laib Brot und Früchte zu sehen – und die aufgeschlagene Bibel. Soll das eine demokratische politische Partei in einer pluralistischen Gesellschaft symbolisieren?

Im Gespräch mit Professor Flego diskutieren wir den Begriff »Gemeinschaft«, der im Namen der HDZ enthalten ist. Er ist symptomatisch für die innere Situation Kroatiens. Jugoslawien sei ein Einparteiensystem ohne entwickelte Gesellschaft gewesen, dieser Typus einer »sozialistischen« Gemeinschaft sei nun durch einen neuen nationalistischen Typus von Gemeinschaft abgelöst worden. Tudjmans Politik orientiert sich an der einenden Vorstellung »des Kroatischen« und fördert damit eine politische Apathie, die uns auch Uta Kalavares, eine Literaturdozentin und Friedensaktivistin aus Rijeka bestätigt. Mag sein, daß Tudjman diesen Krieg wie Milosevic braucht, um eine weitere demokratische Ausdifferenzierung der kroatischen Kriegsgesellschaft zwecks Machterhalt zu verhindern.

Wir diskutieren aktuelle philosophische und soziologische Tendenzen, insbesondere den Kommunitarismus, der vor allem in den USA vorgedacht wurde. Die Denker dieses »Communitarianism« stellen den Begriff der »Gemeinschaft« wieder in den Mittelpunkt der Reflexion. Damit wird rehabilitiert, was wegen Hitlers „Vorstellung einer biologisch begründeten Kollektividentität der Deutschen und (damit einhergehenden) … totalitären Ausgrenzung alles Fremden“ (Axel Honneth) jahrzehntelang außer in kulturkonservativen Kreisen verpönt war. Der Kommunitarismus ist als wissenschaftliche Gegenbewegung zum alles durchdringenden Prozeß der Individualisierung in den (post)modernen Dienstleistungs- und Industriegesellschaften interpretierbar. Diesen Zustand der Individualisierung kann man mit dem unzureichenden Wort »Entwurzelung« umschreiben, die aus der zunehmenden Abkoppelung des einzelnen Subjekts aus vorgegebenen Sozialformen resultiert. In diesem Kontext erscheint die Einbindung der Subjekte in Wertgemeinschaften geradezu als unabdingbare Voraussetzung von Freiheit.

Nach Flego sind jedoch die kommunitaristischen Reflexionen eigentlich nur sinnvoll auf entwickelte pluralistische Gesellschaften zu beziehen. Nur dort könnten sich verschiedene gesellschaftliche und gemeinschaftliche Systemkreise entwickeln. Nur dort können gemeinschaftliche Wertbezüge ein sinnvolles Korrektiv zu ausufernden individualistischen Ansprüchen darstellen. Flego wundert sich – nicht ohne Ironie –, daß im heutigen Kroatien der Kommunitarismus noch nicht rezipiert worden ist, lieferte er doch eine hervorragende Legitimation für Tudjmans »Gemeinschaftsprojekt«. Diese Art von Gemeinschaft wäre allerdings genau jenes einschnürende Korsett, welches Freiheit nicht befördert, sondern verhindert – eben weil ein gewachsener Pluralismus in Politik und Gesellschaft Kroatiens noch fehlt.

Ähnlich wie Sonja Licht rekurriert auch Flego auf den untergegangenen Vielvölkerstaat, ohne allerdings auf seine Renaissance zu hoffen oder diese als Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Es läge eine innere Logik des Zerfalls vor, die allerdings durch externe Faktoren bedeutend unterstützt wurde. Es hätte keine ökonomische Balance zwischen den verschiedenen Teilrepubliken gegeben, wobei die ökonomischen Mehr- und Transferleistungen insbesondere Kroatiens nicht ausreichend kompensiert und honoriert wurden, hier würde Flego Licht widersprechen. Kroatien erwirtschaftete nach Flego 50 % aller jugoslawischen Devisen und mußte 35 % des Steueraufkommens tragen, seine Bevölkerung machte jedoch nur 27 % der Gesamtbevölkerung aus. Das Botschaftspersonal der Jugoslawischen Föderation wurde zudem nur zu 3 bis 11 % aus Kroaten rekrutiert. Die serbische Dominanz in anderen Apparaten wie Armee und Geheimdienst war groß. Die kroatischen und slowenischen Zahlungen für den gemeinsamen Ausgleichsfond seien in nationalem Sinne umgedeutet worden: Man wollte keine Gelder mehr für die serbische Polizei verausgaben. Die ökonomische Reaktion folgte prompt: Serbien erhob Zölle für kroatische und slowenische Waren.

Das Kosovo-Problem war sicher ein Katalysator sowohl für den serbischen wie für den kroatischen Nationalismus. Man beschuldigte sich in der Folge der reziproken Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Zagreb protestierte gegen die Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch Serbien, serbische Nationalisten und Freiwillige sickerten bereits 1989 in den kroatischen Teil der Krajina ein und schürten den serbischen Chauvinismus. Die Organe der Jugoslawischen Föderation waren in ihrem labilen Gleichgewicht bald nicht mehr handlungsfähig und zerbröselten unter den Mühlsteinen des slowenisch-kroatischen Sezessionismus und des serbischen Strebens nach Vorherrschaft.

Die Jugoslawische Volksarmee versuchte noch durch den Rückzug aus Slowenien das Patt im Staatspräsidium zur serbischen Majorität von vier zu drei hin zu wenden. Nach dem Ausscheiden Sloweniens aus dem Staatsverband hätte der serbische Block mit Serbien, Montenegro, Wojwodina und Kosovo die drei übrigen Republiken Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Makedonien überstimmen können. Aber die Rechnung ging nicht auf. Eine Militärmacht, die 1968 zur Zeit des sowjetischen Einmarschs in die CSSR acht Millionen Soldaten mobilisieren konnte, ist nichts wert, wenn die Unterstützung des Volkes fehlt – genau diese ist für Titos Partisanenkonzept aber unabdingbar.

Zu den externen Faktoren seien nach Flego die hohen Auslandsschulden in Höhe von 20 Mrd. US-Dollar zu zählen, welche die jugoslawische Wirtschaft zunehmend belastete. Allerdings sei dafür auch die starke Aufrüstung der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) in den achtziger Jahren verantwortlich. Allein in Kroatien hätte es 38.000 Offiziers- und Unteroffizierswohnungen gegeben – ein Staat im Staate? Vielleicht.

Mit Titos Tod und der Auflösung des Ost-West-Konflikts hätte Jugoslawien aus der Sicht des Westens seine weltpolitische Funktion als Motor der Blockfreienbewegung und Bollwerk gegen den Sowjetkommunismus verloren. Das westliche Interesse an der Schwächung einer der stärksten Armeen Europas wuchs. Noch im Mai 1991 hätte die JVA einen Vertrag mit der Sowjetunion über die Nutzung jugoslawischer Marinestützpunkte unterschrieben. Diese Ausweitung sowjetischer Militäroptionen wurde dann durch die Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni 1991 zunichte gemacht. Das muß wohl auch in westlichem Interesse gelegen haben.

Zagreb ist die letzte Station unserer Reise durch eine europäische Krisenregion, wie sie vielfältiger nicht sein kann. Slawische Makedonier und Serben orthodoxen Glaubens, albanische und bosnische Muslime, kroatische Katholiken, um nur wenige ethnische Gruppen und Religionen zu nennen, leben in dieser Region, die einstmals in einem Staat zusammengefaßt war. Meine politischen Reisenotizen konnten nicht mehr sein als ein Selbstversuch in der Tugend des Unterscheidungsvermögens, der die Unterschiede nicht verdecken aber auch keine überzeichneten Feindbilder produzieren soll.

Teil 1

Michael Kalman, Politikwissenschaftler, freier Autor, lebt in München.

Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Beispiel: Bosnien-Herzegowina

von Helga Wullweber

Im Krieg in Bosnien-Herzegowina sind von allen Konfliktparteien Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen an Frauen, Männern und Kindern, begangen worden. Die Frauen des Kriegsgegners wurden von allen kriegführenden Parteien vergewaltigt. Am umfangreichsten aber und systematisch wurden bosnische Frauen, das sind muslimische, kroatische und infolge Eheschließung mit Muslimen »unreine« serbische Frauen, von den Truppen der bosnischen Serben vergewaltigt. Die Vergewaltigungen bezweckten die psychische Zerstörung der bosnischen Frauen und Männer und ihrer Familien. Sie dienten der ethnischen Säuberung in von den Serben beanspruchten Gebiete, waren Kriegstaktik, um Terrain zu erobern. Das unterscheidet die von den Serben in den von ihnen besetzten Gebieten begangenen Vergewaltigungen von anderen Kriegsvergewaltigungen.

Obgleich viele Lager, in denen Frauen vergewaltigt wurden, bekannt waren, blieben das UN-Flüchtlingskommissariat und das Internationale Rote Kreuz lange Zeit untätig. Bei der Anhörung des Bundestagsausschusses für Frauen und Jugend zu den systematischen Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina beklagte Roman Wieruszewski, persönlicher Referent des jetzigen UN-Menschenrechtsbeauftragten für Jugoslawien Tadeus Mazowiecki, die Hilflosigkeit der UN und die Gleichgültigkeit Europas: „Wir haben keine Mittel, mit dieser Situation fertig zu werden.“ Selbst Lager, zu denen die Vertreter internationaler Organisationen Zutritt haben, könnten nicht aufgelöst werden, weil es nicht genug Angebote aus den europäischen Staaten gibt, die Kriegsopfer unterzubringen (FR v. 9.12.92). Erst die internationale Einmischung von Frauen hat ein Ende der Untätigkeit bewirkt.

Aus der Feststellung, daß die Serben besonders grausam und zielgerichtet mordeten, folterten und vergewaltigten, folgt nicht, daß damit die Serben als für den Bürgerkrieg verantwortlich dingfest gemacht wären. Die Verurteilung der Kriegführung ist von der Beurteilung der Kriegsursachen zu unterscheiden. Das Anprangern der Kriegsverbrechen, das Beharren auf der Einhaltung der für die Zivilbevölkerung existentiellen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts darf nicht den Blick auf das vielschichtige Konfliktfeld trüben, das dem Bürgerkrieg zugrunde liegt. Handlungsräume, die sich durch das öffentliche Anprangern der Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen eröffnen, könnten durch die Ineinssetzung von Kriegsführung und Kriegsursachen verschüttet werden.

Vergewaltigung – Vergessenes Kriegsverbrechen

Von Frauen, Bürgerinnen und Politikerinnen wurde, um die internationale Staatengemeinschaft aufzurütteln und zum Eingreifen zu veranlassen, gefordert, die Kriegsvergewaltigung völkerrechtlich als Kriegsverbrechen zu ächten. Das ist aber längst geschehen. Seit 1949 ist es geltendes Völkerrecht, daß Vergewaltigungen im Krieg Kriegsverbrechen sind. Es ist bemerkenswert und bezeichnend, daß die Ächtung von Vergewaltigungen im Krieg als Kriegsverbrechen öffentlich nicht bekannt war, obgleich mit dieser Ächtung nach 1945 die Konsequenz aus den den Frauen im Zweiten Weltkrieg angetanen Vergewaltigungen gezogen wurde. Die von den Deutschen und den Japanern begangenen Kriegsvergewaltigungen waren als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des den, den Kriegsverbrecherprozessen zugrundeliegenden Londoner Abkommens vom 8. August 1945 in den alliierten Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und in Tokio angeklagt und Grundlage der Verurteilungen. Doch handelten die Kriegsverbrecherprozesse von solchen unsäglichen millionenfachen Greueltaten, daß sich viele sperrten, die Einzelheiten zur Kenntnis zu nehmen. Auch wurden die Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland von vielen, erleichtert mit dem Leben davon gekommen zu sein, mit schuldbewußter Apathie als bloße Siegerjustiz wahrgenommen. So wie die tausendfachen Vergewaltigungen, die die deutschen Soldaten den Frauen ihrer Kriegsgegner antaten, und die massenhaften Vergewaltigungen deutscher Frauen insbesondere durch die russischen Soldaten nach Kriegsende öffentlich kein Thema waren, sondern verschwiegen wurden – erst Helke Sander durchbrach 1992 mit ihrem Film »BeFreier und Befreite« das Schweigen –, so war in Vergessenheit geraten, daß die Vereinten Nationen, die in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das humanitäre Völkerrecht mit Elan fortentwickelten, an das den Frauen angetane besondere Leid gedacht und mit der Ächtung von Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen reagierten und künftig zu verhindern hofften. Zwar wurden die amerikanischen GI`s, die nach dem Vietnamkrieg wegen des Massakers in My Lai vor amerikanischen Militärgerichten angeklagt waren, auch wegen ihrer Beteiligung an unzähligen Vergewaltigungen verurteilt. Jedoch beförderte die nur vereinzelte Verfolgung von im Vietnamkrieg durch amerikanische GI's begangenen Kriegsverbrechen durch nationale amerikanische Militärgerichte nicht die Erkenntnis,daß die angeklagten Vergewaltigungen und Massaker als Kriegsverbrechen international geächtet sind. Während des 1971/72 neun Monate währenden Bürgerkrieges in Bangladesch, das seine Unabhängigkeit von Pakistan erklärt hatte, verloren Millionen Menschen ihr Leben und wurden Hunderttausende, überwiegend moslemische Frauen von den Pakistanis vergewaltigt. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde von Frauen weltweit gegen die Vergewaltigungen im Krieg protestiert und Hilfen für die vergewaltigten und schwangeren Frauen organisiert. Aber Bangladesh zählte zum sozialistischen Lager, auch war der Vietnamkrieg noch nicht zuende – die Anprangerung der Vergewaltigungen als international geächtete Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen hatte keine FürsprecherInnen. Erst 1992 wagte eine Gruppe koreanischer Frauen von der japanischen Regierung Wiedergutmachung zu fordern für 100.000 Frauen, die während des Krieges zwischen Korea und Japan 1930-1940 auf die Pazifischen Inseln in eine lange sexuelle Sklaverei verschleppt wurden. Die Mehrheit der Frauen war zu dem Zeitpunkt zwischen 16 und 18 Jahren alt, sie wurden von ihren Familien gerissen, zu denen sie niemals zurückkehren konnten (zit. nach Lepa Mladjenovic, Universal Soldier, in Scheherezade, Newsletter No.4, Januar 1993). Die Koreanerinnen fordern damit mit Jahrzehnten Verspätung von Japan die Wiedergutmachung ein, zu der jede Kriegspartei verpflichtet ist, deren Soldaten Kriegsverbrechen begangen haben.

Da die Kriegsvergewaltigungen Kriegsverbrechen sind, befaßt sich die vom Weltsicherheitsrat eingesetzte Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien auch mit den Vergewaltigungen. Außerdem hat die diesjährige UN-Generalversammlung dem Völkerrechtsausschuß der Vereinten Nationen (erneut) das Mandat erteilt, die Statuten eines internationalen Strafgerichtshofes auszuarbeiten, damit gegen die Kriegsverbrecher Anklage erhoben werden kann. Keine Delegation wagte gegen den Resolutionsentwurf offen aufzutreten, obgleich es genügend Gewaltherrscher gibt, die damit rechnen müßten, selbst vor einem internationalen Tribunal zu enden (FR v. 15.12.92).

Der völkerrechtlich garantierte humanitäre Standard

Die Ächtung der den Frauen in Bosnien-Herzegowina angetanen Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen resultiert aus nachfolgenden, von allen bosnischen Konfliktparteien in einer Vereinbarung vom 22.5.1992 anerkannten Regeln des humanitären Völkerrechts.

„In der Erwägung, daß bei allem Bemühen, Mittel zu suchen, um den Frieden zu sichern und bewaffnete Streitigkeiten zwischen den Völkern zu verhüten, es doch von Wichtigkeit ist, auch den Fall ins Auge zu fassen, wo ein Ruf zu den Waffen durch Ereignisse herbeigeführt wird, die ihre Fürsorge nicht hat abwenden können, von dem Wunsche beseelt, selbst in diesem äußersten Falle den Interessen der Menschlichkeit und den sich immer steigernden Forderungen der Zivilisation zu dienen“, war im IV. Haager Abkommen vom 18.10.1907, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, die „meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres“ verboten (Art.23 Abs.1 b der Anlage zum Abkommen) und der „militärischen Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiet“ aufgegeben worden, „die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger und das Privateigentum sowie die religiösen Überzeugungen zu achten“ (Art.46 der Anlage zum Abkommen). Ein papierenes Versprechen, das in beiden Weltkriegen unbeachtet blieb.

Trotzdem wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das völkerrechtliche Kriegsrecht mit den vier »Genfer-Rotkreuzabkommen« vom 12.8.1949 durch humanitäre Regelungen zum Schutz der Verwundeten, Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung im Falle eines bewaffneten Konflikts aktualisiert, bestimmter gefaßt und die Geltung auch auf Bürgerkriege erstreckt. Die Abkommen betreffen zwar in erster Linie bewaffnete internationale Konflikte. Jedoch wird durch den in allen vier Abkommen gleichlautenden Art.3 der Zivilbevölkerung auch im Falle von nicht-internationalen, d.h. Bürgerkriegen, der Kernbestand des humanitären Völkerrechts garantiert. Art.3 verlangt von den Konfliktparteien u.a., daß sie „die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmenden Personen menschlich behandeln, ohne jede auf Rasse, Farbe, Religion oder Glauben, Geschlecht, Geburt oder Vermögen oder auf irgendeinem anderen ähnlichen Unterscheidungsmerkmal beruhende Benachteiligung“. Dies bedeutet insbesondere das Verbot von grausamer Behandlung, Folterung, Beeinträchtigung der persönlichen Würde und namentlich von erniedrigender und entwürdigender Behandlung. Im 4. Genfer-Rotkreuzabkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten heißt es im Unterschied zum IV. Haager Abkommen zum Schutz der Frauen explizit: „Die Frauen werden besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigungen, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt.“ (Art.27 4. Rotkreuzabkommen)

Mittels zweier Zusatzprotokolle vom 10.6.1977 wurde sodann das humanitäre Völkerrecht an die veränderte Kriegstechnik und an die veränderten Formen der Kriegführung im Guerillakrieg angepaßt und der humanitäre Mindeststandard, wie er in dem Art.3 der vier Genfer-Rotkreuzabkommen normiert ist, sowohl für internationale als auch für nicht-internationale Konflikte (d.h. für „interne Feindseligkeiten kollektiven Charakters, an denen organisierte und unter verantwortlichem Kommando stehende bewaffnete Einheiten beteiligt sind, die einen Teil des Staatsgebietes kontrollieren und fortlaufend militärische Operationen durchführen“, Art.1 Ziff.2 des 2. Zusatzprotokolls) fortentwickelt.

Für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien sind beide Zusatzprotokolle von Belang, denn dieser Krieg ist beides: Krieg zwischen Staaten, soweit die jugoslawische Bundesarmee unter serbischem Oberkommando in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina kämpft, und Bürgerkrieg, soweit Milizen in Kroatien oder in Bosnien-Herzegowina ansässige Serben gegen bosnische oder kroatische Kampftruppen kämpfen.

In beiden Zusatzprotokollen wird zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte »grundlegend« garantiert, daß folgende Handlungen jederzeit überall verboten sind und bleiben, gleichviel ob sie durch zivile Bedienstete oder durch Militärpersonen begangen werden, gleichviel ob den geschützten Personen die Freiheit entzogen ist oder nicht: Folter jeder Art, gleichviel ob körperlich oder seelisch, Beeinträchtigungen der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung, Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art (Art.75, 76 des 1. Zusatzprotokolls, Art.4 des 2. Zusatzprotokolls).

Die den bosnischen Frauen angetanen Vergewaltigungen sind zugleich Foltermaßnahmen, denn unter Folter ist „jede Handlung zu verstehen, durch die jemand vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen zugefügt werden, sofern dies u.a. in der Absicht, von ihm oder einem Dritten eine Auskunft oder ein Geständnis zu erzwingen, ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, ihn oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder in irgendeiner auf Diskriminierung beruhenden Absicht geschieht und sofern solche Schmerzen oder Leiden von einem öffentlich Bediensteten oder von einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person bzw. auf deren Veranlassung mit deren Zustimmung oder mit deren stillschweigendem Einverständnis verursacht werden“ (Art.1 der „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ vom 10.12.1984). Wenn auch diese „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ noch nicht in Kraft getreten ist, weil noch nicht zwanzig Staaten die Konvention, die Folter auch außerhalb kriegerischer Konflikte verbietet, ratifizierten, so gibt doch diese Definition nur den allgemeingültigen Begriff von Folter wieder und bestätigt die internationale Gültigkeit des Folterbegriffs. Die Vergewaltigungen, die die serbischen Truppen und Milizen im ehemaligen Jugoslawien begingen, sind Foltermaßnahmen im Sinne dieser Definition. Frauen wurden sowohl vergewaltigt, um sie einzuschüchtern und zu diskriminieren, als auch um von ihnen Auskunft über bosnisch-muslimisch-kroatische Gefechtsstellungen zu erhalten.

Ächtung von Menschen als Kriegsverbrechen

Insbesondere die systematischen, gezielt als Kriegstaktik eingesetzten Vergewaltigungen sind Kriegsverbrechen. Kriegsverbrechen sind die schweren Verstöße gegen die Genfer Rotkreuz- und Zusatzabkommen. Als schwere Verletzung der Rotkreuzabkommen und der Zusatzabkommen gelten u.a.: die vorsätzliche Tötung, die Folterung oder unmenschliche Behandlung, die vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwerer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit, die rechtswidrige Verschleppung oder Verschickung und die rechtswidrige Gefangenhaltung von Zivilpersonen (Art.147 des 4. Rotkreuzabkommens, Art.85 Ziff.3 und 5 und Art. 11 Ziff.4 des 1. Zusatzabkommens). Schwere Verstöße und folglich Kriegsverbrechen sind auch die durch Art.75 des 1. Zusatzprotokolls und Art.4 des 2. Zusatzprotokolls „jederzeit und überall verbotenen“ Vergewaltigungen und die Nötigung zur Prostitution.

Die systematischen Vergewaltigungen der bosnischen Frauen durch die serbischen Truppen sind strafbare Kriegsverbrechen auch aufgrund der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« vom 9.12.1948. In dieser Konvention wird „Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen“, als „Verbrechen gegen das internationale Recht“ qualifiziert, zu dessen Verhütung und Bestrafung sich die Vertragsstaaten verpflichten. Als Völkermord werden u.a. definiert die Tötung von Mitgliedern der Gruppe oder die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe, wenn diese Handlungen in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die zum Zwecke der ethnischen Säuberung begangenen massenhaften Vergewaltigungen zielten auf die psychische Vernichtung und Demoralisierung der bosnischen Frauen und Männer und Kinder. Die Vergewaltigungen wurden also begangen, um sie als Gruppe zu zerstören.

Strafbarkeit von Kriegsverbrechen

Ein völkerrechtliches Strafrecht, d.h. einen Verbrechenskodex, der Sanktionen für Straftaten normiert, gibt es allerdings noch nicht. Zur Bestrafung der Kriegsverbrecher des 2. Weltkrieges hatten die Siegermächte zwar das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 geschlossen, das die wichtigsten Tatbestände des völkerrechtlichen Strafrechts aufzeichnete: 1. Verbrechen gegen den Frieden, 2. Kriegsverbrechen, 3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Kriegsverbrechen im engeren Sinn sind alle schweren Verletzungen des Kriegsrechts, z.B. Mißhandlungen oder Deportation von Zivilpersonen in besetzten Gebieten, Mord oder Mißhandlung von Kriegsgefangenen, mutwillige Zerstörungen nichtmilitärischer Anlagen, Plünderung usw.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind schwere Verletzungen der Menschenrechte aus Motiven, die mit der Zugehörigkeit des Opfers zu einem bestimmten Staat, einer Volksgruppe, einer Rasse, Religion oder politischen Überzeugung zusammenhängen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigte in einer Resolution vom 11.12.1946 die »Nürnberger Prinzipien« und erteilte der Völkerrechtskommission den Auftrag, diese Prinzipien zu formulieren. Der Entwurf für einen Verbrechenskodex, den die Völkerrechtkommission 1954 vorlegte, fand jedoch nicht die Billigung der Generalversammlung.

Inzwischen wird die Notwendigkeit eines internationalen Verbrechenskodex in Frage gestellt und die Nürnberger Prinzipien als ausreichende völkergewohnheitsrechtliche Grundlage für die Aburteilung von Kriegsverbrechen angesehen, zumal in den Rotkreuzabkommen und in der Völkermordkonvention Verbrechenstatbestände normiert wurden, die die Nürnberger Prinzipien bekräftigten.

Auch die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« vom 9.12.1948, die zu verabschieden der UNO gelungen war, enthält keine eigene Strafnorm, sondern verpflichtet lediglich die Signatarstaaten, Handlungen, die als Völkermord definiert sind, unter Strafe zu stellen (Art.VI der Konvention). Die Bundesrepublik ist 1954 ihrer Verpflichtung aus der Konvention durch die Einfügung des § 220a in das Strafgesetzbuch nachgekommen.

So wie in der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« werden in allen vier Genfer Rotkreuzabkommen die „Maßnahmen gegen Verletzungen des Abkommens“ gleichlautend geregelt. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, „alle notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Festsetzung von angemessenen Strafbestimmungen für solche Personen zu treffen, die eine schwere Verletzung des Abkommens begehen oder zu solch einer Verletzung den Befehl erteilen“ (so z.B.: Art.146 Abs.1 des 4.<|>Rotkreuzabkommens). Dabei ist zu berücksichtigen, daß Art. 87 des 1.<|>Zusatzprotokolls die militärischen Kommandanten dafür verantwortlich macht, daß die ihrem Befehl unterstellten Soldaten oder sonstige Personen keine Verletzungen der Abkommen begehen.

Von der Option der Genfer Abkommen, Kriegsverbrechen unabhängig vom Tatort und der Nationalität des Täters nach nationalem Strafrecht zu ahnden, indem die dafür notwendigen Strafnormen in das nationale Recht aufgenommen werden, hat die Staatengemeinschaft nur vereinzelt und lückenhaft Gebrauch gemacht. Die Bundesrepublik ist auch dieser Verpflichtung nachgekommen. Gemäß § 6 Ziff.9 Strafgesetzbuch, der 1974 nach der Aufnahme der Bundesrepublik in die UNO in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde, gilt das deutsche Strafrecht ohne Rücksicht auf den Tatort und unabhängig vom Recht des Tatortes und der Staatsangehörigkeit des Täters und des Opfers (Weltrechtsprinzip) für Taten, die aufgrund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden. Durch diese Generalklausel wird der Bundesrepublik im Interesse internationaler Solidarität bei der Verbrechensbekämpfung eine umfassende Verfolgungszuständigkeit eröffnet. Die vier Genfer Rotkreuzabkommen und die beiden Zusatzabkommen sind zwischenstaatliche Abkommen im Sinne von § 6 Ziff.9 Strafgesetzbuch.

Verpflichtung zur Ermittlung, Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen durch nationale Gerichte

Die Völkermordkonvention sieht vor, daß Personen, denen Völkermord zur Last gelegt wird, entweder vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt werden (Art.VI der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes).

Die vier Genfer Rotkreuzabkommen dagegen verpflichten gleichlautend jede Vertragspartei „zur Ermittlung der Personen, die der Begehung oder der Erteilung eines Befehls zur Begehung einer schweren Verletzung beschuldigt sind; sie stellt sie ungeachtet ihrer Nationalität vor ihre eigenen Gerichte; wenn sie es vorzieht, kann sie sie auch gemäß den in ihrem eigenen Recht vorgesehenen Bedingungen, einer anderen an der gerichtlichen Verfolgung interessierten Vertragspartei zur Aburteilung übergeben, sofern diese gegen die erwähnten Personen ein ausreichendes Belastungsmaterial vorbringt.“ (Art.146 des 4. Rotkreuzabkommens)

Das heißt: Jeder Vertragsstaat, auch die Bundesrepublik, ist zur Verfolgung der Personen verpflichtet, die wegen schwerer Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen als Kriegsverbrecher beschuldigt werden.

Das Problem, das sich bei dieser Möglichkeit, vor den nationalen Strafgerichten der Vertragsstaaten die Kriegsverbrechen nach den Rotkreuzabkommen anzuklagen, stellt, ist, ob der einzelne Staat über die erforderliche moralische und politische Reputation verfügt, um die Kriegsverbrechen anzuklagen und zu ahnden. Ein Staat, der stellvertretend für die Völkergemeinschaft Kriegsverbrechen verfolgt, sollte nicht wegen eigener Verstöße gegen elementare Menschenrechte angreifbar oder durch seine Geschichte desavouiert sein.

Voraussetzung dafür, daß die des Kriegsverbrechens beschuldigte Person vor ein nationales (deutsches, französisches, schwedisches etc.) Strafgericht gestellt werden kann, ist zwar, daß sie sich in der Gewalt des betreffenden Staates befindet, entweder weil die beschuldigte Person auf dessen Hoheitsgebiet gestellt oder weil sie ihm ausgeliefert wurde. Jedoch haben sich die Vertragsstaaten bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen zur Zusammenarbeit und zur Rechtshilfe und zur Auslieferung beschuldigter Personen an einen Vertragsstaat, der willens ist, diese vor sein nationales Strafgericht zustellen, verpflichtet (Art.88, 89 des 1. Zusatzprotokolls).

Verfolgung und Ahndung durch ein internationales Strafgericht

Einen Internationalen Strafgerichtshof gibt es noch nicht. Obwohl dem Londoner Abkommen 19 Staaten beitraten, waren doch die aufgrund dieses Abkommens gebildeten »Internationalen Militärtribunale« interalliierte und nicht internationale Gerichte. 1949 hatte das Sekretariat der Vereinten Nationen den Entwurf für ein Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof entworfen, mit dem sich 1951 und 1953 ein Sonderausschuß der Vereinten Nationen befaßte. Die Völkerrechtskommission aber, die den Auftrag erhalten hatte, die Nürnberger Prinzipien zu kodifizieren, erklärte, daß die Zeit für die Errichtung eines solchen Gerichtshofes noch nicht reif sei. Es müßte erst einmal ein Verbrechenskodex erarbeitet werden. Dieser Plan wurde 1978 aufgegriffen und beschäftigt seitdem die Generalversammlung und die Völkerrechtskommission – bis heute ohne Ergebnis. 1992 ist nun erneut der Auftrag erteilt worden, die Statuten eines Internationalen Strafgerichtshofes auszuarbeiten.

Wenn auch der Auftrag zur Erarbeitung eines Statuts für ein internationales Strafgericht ohne Gegenstimmen erteilt wurde, so ist die baldige Verabschiedung des Statuts keineswegs gesichert. Nach Auskunft des deutschen Vertreters in der International Law Commission, der Völkerrechtskommission der UNO, Prof. Tomuschat, liegt der Entwurf für das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bereits vor. Jedoch wird wegen des großen Kreises der erforderlichen Signatarstaaten und der Vorbehalte vieler Staaten gegen einen internationalen Strafgerichtshof, weil sie Anklagen gegen sich befürchten, mit einer schnellen Verabschiedung nicht gerechnet. Weil die Meinung in der Weltöffentlichkeit zu solchen Gerichtsverfahren gespalten ist, bezweifelt auch der Vorsitzende der UN-Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, der niederländische Jurist Frits Kalshoven, daß die dort begangenen Morde und Vergewaltigungen jemals vor ein internationales Gericht kommen können (FR v. 28.1.93). Ähnlich skeptisch, so wird (a.a.O.) berichtet, äußerte sich der Sonderbeauftragte der UN-Menschenrechtskommission für das ehemalige Jugoslawien, Tadeusz Mazowiecki, zu dem Vorschlag, Kriegsverbrechertribunale einzurichten. Er sei zwar vom moralischen Nutzen eines Tribunals überzeugt. Es werde jedoch äußerst schwierig sein, den Gedanken einer gerichtlichen Ahndung auch wirklich umzusetzen: „Es ist sicher wünschenswert, daß die Täter bestraft und Gerechtigkeit geübt wird, aber wir leben im 20. und noch nicht im 21. Jahrhundert.“ Zwar hat inzwischen die amerikanische Regierung versprochen, sich für die Schaffung eines internationalen Strafgerichts der Vereinten Nationen einzusetzen. Jedoch ist damit keineswegs sichergestellt, daß die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Statut für das internationale Strafgericht billigt und den Beschluß über dessen Errichtung mehrheitlich verabschiedet.

Den Vorbehalten vieler Staaten gegen ein internationales Strafgericht wird nur durch den Druck der internationalen Öffentlichkeit abzuhelfen sein, die darüber aufklärt, welche Staaten solche Gerichtsverfahren ablehnen. Ein Forum für die nachdrückliche Forderung nach einem internationalen Strafgericht sollte auch die Menschenrechtskonferenz der UNO im Juli 1993 in Wien sein.

Der kodifizierte Menschenrechtsstandard ist inzwischen beträchtlich. Jedoch mangelt es an Handhaben zu dessen Verwirklichung und Durchsetzung. Der Internationale Strafgerichtshof wird deshalb gebraucht. Er ist erforderlich, um Völkermord zu ahnden. Er ist außerdem als international anerkannte Instanz von fragloser Reputation erforderlich, der für die Ahndung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zuständig ist.

Wo KlägerInnen sind, werden auch RichterInnen sein

Es besteht noch keine Veranlassung, sich mit einem europäischen Tribunal in der Art des Russell-Tribunals zu bescheiden.

Einen Ausweg versucht zur Zeit die aus 52 Staaten bestehende KSZE-Staatengemeinschaft zu gehen. Sie hat aus Anlaß der Ereignisse in Bosnien eine Kommission eingesetzt, um einen »ad-hoc-Strafgerichtshof« zur Verfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien einzurichten. Vor diesem Strafgerichtshof, auf den die KSZE-Staaten ihre Befugnisse aus den Rotkreuzabkommen delegieren, könnten die Kriegsverbrechen darstellenden Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen angeklagt werden.

Mehrere regionale und internationale Kommissionen, u.a. eine vom Sicherheitsrat eingesetzte Expertenkommission in Genf, leisten bereits Ermittlungsarbeit und sichern – auch für nationale Gerichte – Beweise für Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien. Die Sorge, daß es die Ermittler schwer haben werden, da Ex-Jugoslawien im Gegensatz zu Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von internationalen Streitkräften besetzt ist, erscheint unbegründet.

Es besteht die Möglichkeit, Druck zur Errichtung eines »ad hoc-Strafgerichtshof« zur Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen dadurch auszuüben, daß in der Bundesrepublik Anzeige wegen der im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen und Kriegsvergewaltigungen erstattet und die Staatsanwaltschaft zur Einleitung von Ermittlungsverfahren gezwungen wird. Als Beweismaterialien können z.B. der Untersuchungsbericht von Amnesty International oder Berichte anderer Kommissionen, die Menschenrechtsverletzungen ermittelt haben, vorgelegt werden. Die Berliner Kriminalpolizei ermittelt bereits gegen neun serbische Tschetniks, die von Opfern während einer Sat.1-Sendung »Einspruch« im Publikum erkannt wurden (TAZ vom 25.1.93). In dem am 12.2.1993 von Mazowiecki in seiner Eigenschaft als Sonderberichterstatter für die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht über die Lage im ehemaligen Jugoslawien wird festgestellt, daß sich die aus den Konfliktgebieten in Kroatien und Bosnien-Herzegowina gemeldeten Kriegsverbrechen als wahr herausgestellt haben.

Außerdem kontrollieren nach Ansicht von Mazowiecki die Führer aller Konfliktparteien wirksam ihre zivilen und militärischen Strukturen. Sie könnten daher nicht ihre Hände in Unschuld waschen, was die von ihren Streitkräften begangenen Greueltaten betrifft, sondern seien mitverantwortlich für die Vergewaltigungen und die anderen Kriegsverbrechen (FR vom 13.2.93). Richtet sich der Anfangsverdacht noch nicht gegen eine bestimmte Person, so würde das Ermittlungsverfahren zunächst gegen Unbekannt geführt werden.

Zwar kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 153 c Abs.1 Ziff.1 Strafprozeßordnung aus Gründen der politischen Opportunität von der Verfolgung von Taten, die im Ausland begangen worden sind, absehen. Die Genfer Rotkreuzabkommen zählen jedoch zu den wenigen völkerrechtlichen Verträgen, in denen das sogenannte »Weltrechtsprinzip« statuiert ist, das die Vertragsstaaten ohne Rücksicht auf den Ort des Verbrechens und auf das Recht am Tatort, unabhängig auch von der Nationalität des Opfers und des Täters berechtigt und verpflichtet, Personen, denen Verstöße gegen ein solches Abkommen vorgeworfen werden, zu verfolgen. Es ist daher davon auszugehen, daß der § 153 c Abs.1 Ziff.1 Strafprozeßordnung nicht gilt, weil die Rotkreuzabkommen völkerrechtliche Vereinbarungen im Sinne von Ziff.94 Abs.2 der »Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren« sind, die die Verpflichtung begründen, Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen wie Inlandstaten zu behandeln und gemäß dem in § 152 Abs.2 Strafprozeßordnung verankerten Legalitätsprinzip dann zu verfolgen, wenn „zureichende Anhaltspunkte vorliegen“. Auch dann aber, wenn aus Gründen der politischen Opportunität von der Strafverfolgung abgesehen werden könnte, dürfte die Staatsanwaltschaft nicht untätig bleiben, sondern müßte prüfen, ob sie z.B. aus politischen Gründen von einer Verfolgung der Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen absieht. Bliebe die Staatsanwaltschaft dennoch untätig, so würden deren BeamtInnen eine strafbare Strafvereitelung (§§ 258, 258 a Strafgesetzbuch) durch Unterlassen von Amtshandlungen begehen, zu deren Vornahme sie wegen des Legalitätsprinzips (§§ 152, 163 Strafprozeßordnung) verpflichtet sind. Innen- oder außenpolitische Gründe, die eine Verneinung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien durch die Bundesrepublik begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Es dürfte deshalb schwer fallen, eine Ablehnung der Strafverfolgung zu rechtfertigen.

Da andererseits die Bundesrepublik aus historischen Gründen nicht daran interessiert sein kann, die Kriegsverbrecherprozesse durchzuführen, dürfte sie durch solche Ermittlungsverfahren veranlaßt werden, sich intensiv um die Errichtung eines »ad-hoc-Strafgerichts« der KSZE-Staatengemeinschaft zu bemühen. Ebenso könnte in anderen Vertragsstaaten, die wie die Bundesrepublik die rechtlichen Voraussetzungen für die Verfolgung der Kriegsverbrechen nach den Rotkreuzabkommen geschaffen haben, Anzeige erstattet und die Staatsanwaltschaften zur Einleitung von Ermittlungsverfahren veranlaßt werden. Es müßte hierdurch zumindest erreicht werden können, daß die KSZE-Staatengemeinschaft sich darüber verständigt, in welchem Staat die Kriegsverbrecherprozesse stattfinden sollten, um sodann diesen Staat, z.B. Schweden, mit der Durchführung der Prozesse zu beauftragen und die Verfahren gemäß Art.146 des 4. Rotkreuzabkommens an diesen abzugeben. Das beauftragte Strafgericht wäre zwar nach wie vor ein nationales, jedoch international mandatiertes Strafgericht.

<>Beendigung des Schweigens über die Kriegsvergewaltigungen

So manche, die sich über die Forderung mokieren, die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien vor einem internationalen Strafgericht anzuklagen und zu ahnden, und eine militärische Intervention fordern, um den verbrecherisch kämpfenden Serben das Handwerk zu legen, sind ignorant gegenüber den Erfahrungen, die gerade die Zeitgeschichte bietet, und gegenüber der Konfliktlage. Z.B. handelt die Geschichte des Niedergangs der DDR nicht zuletzt vom Nutzen, den es hat, die Dinge beim Namen zu nennen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und nicht durch Schweigen zu tolerieren. Die Teilnahme der DDR an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in deren Schlußakte sich die Teilnehmerstaaten zur Achtung der Menschenrechte ihrer BürgerInnen verpflichteten, hatte den oppositionellen BürgerInnen der DDR Sprachräume und, aus diesen resultierend, Handlungsräume eröffnet. Mit der KSZE-Schlußakte unter dem Arm klagten DDRlerInnen Menschenrechte ein, waren sie imstande, sich für Frieden und Menschenrechte einzusetzen und nicht mehr um des Friedens willen über Menschenrechtsverletzungen zu schweigen. Die DDR hat deshalb immer versucht, die innenpolitische Bedeutung der KSZE-Schlußakte herunterzuspielen. Zugleich markierte die KSZE-Schlußakte einen Einbruch in das von den sozialistischen Staaten propagierte Verständnis des in Art.2 Ziff.7 der Charta der Vereinten Nationen normierten Interventionsverbotes als Sprechverbot. Gemäß Art.7 Ziff.2 UN-Charta sind die Vereinten Nationen nicht befugt, in Angelegenheiten einzugreifen, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Die sozialistischen Staaten haben dieses Einmischungsverbot stets so interpretiert, daß schon Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen eine unzulässige Einmischung darstellen.

Wenn auch diese Interpretation von den westlichen Staaten abgelehnt wurde, so folgte aus dem Dissens doch, daß über zahllose Menschenrechtsverletzungen nur verhalten öffentlich gesprochen wurde und schon gar nicht die Rede davon war, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die internationale Anprangerung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, die nicht länger ohnmachtsgläubige Hinnahme der Kriegsverbrechen und die Forderungen nach Sanktionen für die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen, für die Ausführenden wie auch vor allem für die Befehlsgeber und Anführer, sind von neuer Qualität.

Das Anprangern und das Verantwortlichmachen wird von den Verantwortlichen als störende Einmischung in das Kriegsgeschehen erlebt. Sie fürchten die Wirkung, die von der Benennung der Schandtaten als Kriegsverbrechen und der Androhung ausgeht, daß die Täter und ihre Anführer, die sich bei ihrem verbrecherischen Tun im Kollektiv sicher wähnten, namhaft gemacht und individuell zur Rechenschaft gezogen werden. In Serbien darf über die Kriegsverbrechen nicht gesprochen werden. Auch Karadzic weiß aber, daß das Schweigen über die Kriegsverbrechen bei den Verhandlungen in Genf mit den Führern der Bürgerkriegsparteien über Waffenstillstände und Grenzverläufe, nicht die Tolerierung der Kriegsverbrechen bedeutet, für die er mitverantwortlich ist.

Die öffentliche Brandmarkung der schrecklichen Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen hat Wirkungen gezeitigt. Seit die Verfolgung der Vergewaltiger und derjenigen, die die Vergewaltigungen anordneten oder zuließen, vehement gefordert wird, werden Hilfen finanziert und die Serben durch die Ermittlungsergebnisse der zur Untersuchung der Vorwürfe eingesetzten internationalen Kommissionen unter Druck gesetzt, die Unterkünfte, in denen Frauen vergewaltigt werden, aufzulösen. Vielleicht wenden die Serben inzwischen deshalb bei den von ihnen fortgesetzten Vertreibungen zum Zwecke der ethnischen Säuberung im Süden von Bosnien-Herzegowina »verfeinerte« Methoden an. Es gebe keine Berichte mehr über Gewalttaten, Todesfälle oder Verletzte, teilte der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) mit (Fr v. 3.2.1993). Die serbischen Militärs teilten mit, daß sie im Tal der Drina »humanitäre Korridore« für die moslemische Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete offenhalten, die es dieser ermöglicht über die Frontlinien in die von Moslems gehaltenen Gebiete Bosnien zu gelangen (a.a.O.).

Für die Opfer von Verbrechen kommt die Ahndung der Verbrechen zwar immer zu spät. Die genannten Auswirkungen bedeuten jedoch, daß die nachdrückliche Ankündigung, die Kriegsverbrecher vor einem internationalen Strafgericht zur Rechenschaft zu ziehen, durchaus von präventivem Nutzen und geeignet sein kann, die Frauen in den serbisch besetzten Gebieten Bosnien-Herzegowinas vor weiteren Vergewaltigungen zu bewahren.

Unterscheidung von verbrecherischer Kriegführung und Kriegsursachen

Die dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegenden Probleme werden auf absehbare Zeit nicht gelöst werden können. Um zu verhindern, daß im ehemaligen Jugoslawien weiterhin Kinder, Frauen und Männer gefoltert und gemordet und vergewaltigt werden, ist deshalb die »Zivilisierung« der fortdauernden Auseinandersetzungen zum Schutz der Zivilbevölkerung unerläßlich.

Wer aus humanitären Gründen für eine militärische Intervention plädiert, verfehlt die Realität der verworrenen Konfliktlage im ehemaligen Jugoslawien und übersieht, daß die bisherige nicht-militärische Einmischung der Europäischen Gemeinschaft und der KSZE-Staatengemeinschaft der Illusion verhaftet war, die internationale Anerkennung der bestehenden innerjugoslawischen Grenzen als Staatsgrenzen könne Jugoslawien stabilisieren. Nach der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens war jedoch der status quo in Restjugoslawien nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Strikte Unparteilichkeit

Um die Sinnhaftigkeit und die Chancen von nicht-militärischer Einmischung, zu der das fact-finding zu Menschenrechtsverletzungen und die Vorbereitung von Prozessen gegen die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen ebenso zählen wie weitere Verhandlungen, Embargos, aber auch die Inaussichtstellung von Wiederaufbaugeldern, einschätzen zu können, bedarf es der Vergegenwärtigung der dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegenden Konfliktlage. Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Jugoslawien wird die Bedeutung der fundamentalen Regel des humanitären Kriegsvölkerrechts, der strikten Unparteilichkeit, erhellt. Gleichlautend enthalten alle vier Genfer Rotkreuzabkommen die Berechtigung der Schutzmächte (das sind die von den am Konflikt beteiligten Parteien mit der Wahrnehmung ihrer Interessen betrauten Staaten und bzw. oder die UNO) und der Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes oder irgendeiner anderen unparteiischen humanitären Organisation, sich an alle Orte zu begeben, wo sich Kriegsgefangene oder hilfsbedürftige Zivilpersonen aufhalten, namentlich an alle Internierungs-, Gefangenhaltungs- und Arbeitsorte. Sie haben das Recht, Hilfssendungen zu verteilen und sich mit den Gefangenen und geschützten Personen ohne Zeugen zu unterhalten. Solche Besuche dürfen nur aus zwingenden militärischen Gründen und nur ausnahmsweise untersagt, Häufigkeit und Dauer der Besuche dürfen nicht begrenzt werden (z.B. Art.4, 8 bis 11 des 1. Rotkreuzabkommens; Art. 9 folgende, Art.142, 143 des 4.<|>Rotkreuzabkommens).

Der Berechtigung der Schutzmächte und humanitären Organisationen entspricht umgekehrt die Verpflichtung der am Konflikt beteiligten Parteien, die Schutz- und Hilfeleistungen zu ermöglichen. Diese (intensiver als bisher zu nutzenden) Möglichkeiten, helfend einzugreifen, etwa durch die Inspektion und Auflösung der Internierungslager oder zumindest deren Unterstellung unter internationale Kontrolle, werden durch militärische Interventionen aufs Spiel gesetzt, die das Konfliktknäuel, das in der Regel Bürgerkriegen zugrunde liegt, nur weiter verwirren.

Von den Vereinten Nationen ist unparteiisch darauf zu insistieren, daß alle Konfliktparteien den völkerrechtlichen Minderheitenschutz beachten und garantieren. Gemäß Art.27 des Internationalen Paktes der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte von 1966, durch den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 rechtsverbindlich kodifiziert wurde, darf „in Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten… Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben und sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.

Als Mittel zur Förderung der Identität wird in der Ziff.35 des KSZE-Konferenzdokuments die Einrichtung autonomer Verwaltungen erwähnt, die im Falle kompakter Siedlungsgebiete lokal autonom sind oder andernfalls über Personalautonomie verfügen, z.B. Selbstverwaltungsrechte für die Angehörigen der Minderheit haben. Dieser Minderheitenschutz muß von allen jugoslawischen Nachfolgerepubliken verlangt werden, um weiterer Verfeindung entgegenzuwirken.

Deeskalation

Dann besteht für die Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen auch die Chance, von den BürgerInnen im ehemaligen Jugoslawien unterstützt zu werden, indem sie sich von den, der Kriegsverbrechen beschuldigten Personen distanzieren und ihnen keinen Schutz zuteil werden lassen.

Zum Schutz der Frauen und Männer und Kinder in Bosnien-Herzegowina vor weiteren Vergewaltigungen, Folter und Mord kommt es darauf an, zu deeskalieren, indem von allen gleichermaßen der Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte eingefordert wird; ferner indem Vertreibungen und Enteignungen nicht anerkannt, sondern Ansprüche auf Rückgabe oder Entschädigung vereinbart werden – um der Zukunftssicherung der Flüchtlinge willen und um der apokalytischen Stimmung, dem Nährboden für Nationalismus, entgegenzuwirken; und schließlich indem die Entpersönlichung der Soldaten und Milizionäre als Teil des militärischen Apparates nicht akzeptiert und Kriegsverbrechen nicht toleriert, sondern die einzelnen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Helga Wullweber, Rechtsanwältin in Hamburg, Vorstandsmitglied des Republikanischen RechtsanwältInnenvereins.

Weltmenschenrechtskonferenz

Mit der Resolution 45/155 beschloß die UN-Vollversammlung die Einberufung einer Weltkonferenz über Menschenrechte (WCHR), die vom 14.-25 Juni 1993 in Wien abgehalten werden soll. Diese Konferenz findet in einem entscheidenden historischen Moment statt: Das Ende des Kalten Krieges führte zu bedeutenden Veränderungen; die UN übernimmt eine aktivere Rolle bei internationalen Beziehungen. Die UN-Generalversammlung hat entschieden, daß 25 Jahre nach der ersten WCHR (Teheran 1968) das UN-Menschenrechtsprogramm überarbeitet werden muß, damit eine größere Wirkung und Effektivität bei der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte erzielt werden kann. Die Konferenz wird über die Ausrichtung der Menschenrechtsprogramms für das nächste Jahrhundet beschließen.

Parallel zur WCHR findet in Wien ein Forum der NGOs (Nichtregierungsorganisationen) statt, an dem sich möglichst viele Menschenrechtsgruppen beteiligen sollten.

Weitere Informationen und Anmeldung beim Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Möllwaldplatz 4, A – 1040 Wien, Tel.: 43-1-5044677, Fax:43-1-50446789

Der Preis des Friedens

Der Preis des Friedens

Friedensbewegung als Opfer des Krieges in Ex-Jugoslawien

von Siegfried Fischer

Zu den Opfern des Krieges in Ex-Jugoslawien gehört nun auch die deutsche Friedensbewegung. So zumindest Dirk Kurbjuweit in der sechsten Nummer der »Zeit«. Der fünfte »Spiegel« läßt den grünen Ruf von Conny Jürgens nach militärischer Gewalt gegen die mordenden und vergewaltigenden Serben durch den SPD-roten a.D. General Manfred Opel militärisch konterkarieren. Die werweißwievielte TV-Talkshow hetzt den Interventionisten aus der x-ten gegen den Militäreinsatzverweigerer aus der gleichen oder einer anderen Partei. Es ist wie immer, jeder Krieg findet eben seine Fortsetzung an Stamm- und anderen Tischen.

Was den kleinen Politikern recht, war den Großen auf der Münchener Wehrkundetagung nur billig. Der türkische Verteidigungsminister will die NATO-Christen für einen unheiligen Krieg auf Seiten seiner bosnischen Glaubensbrüder begeistern. Die NATO projiziert aber die abschreckende Zahl von mindestens 200.000 Soldaten für den friedenschaffenden Einsatz in einem solchen Jugovietnam. Manfred Wörner fordert: „The Germans to the Front!“ Der neue Pentagonchef Les Aspin hört sich ruhig und gelassen das Hauptargument seines britischen Kollegen Hurd an: „Diplomaten sind billiger als Soldaten!“ Und unser Einheitskanzler erklärt freudig, daß trotz der unangenehmen Ereignisse an der Adria kein dritter Weltkrieg ins Haus steht.

Es ist aber auch ein sehr schwieriger und nicht nur kanzlerliker Eiertanz zwischen der noch geboten scheinenden Zurückhaltung und dem bei so manchem neu gewachsenen deutschen Verantwortungsgefühl. Einerseits fordert unser Großmachtselbstbewußtsein immer nachdrücklicher die Freigabe von deutschen Soldaten für weltweites peacekeeping and peacemaking. Andererseits wollen unsere Generale auch nicht zu anklagbaren Witwenmachern werden, selbst wenn Günther Nonnenmacher in der neunzehnten FAZ dieses Jahr für diesen altbekannten deutschen way of death warb.

Wie der neue deutsche way of life in der neuen Periode europäischer Unfriedlichkeit aussehen soll wird zwar viel diskutiert, bleibt aber, wie die Geschichte selbst, offen. Es hat den Anschein, als ob wir Deutschen regelrecht erschrocken darüber sind, daß wir nun aus dem Schatten der abschreckenden nuklearen Verantwortungslosigkeit heraustreten und uns entscheiden müssen. Angesichts unserer historischen Fehlleistungen in diesem Jahrhundert ist es nur normal, daß wir abwägen. Nicht normal ist es allerdings, wenn wir im Duell mit Andersdenkenden oder unserem eigenen Gewissen auf die gründliche Analyse der möglichen bzw. wahrscheinlichen Folgen unserer Entscheidungen verzichten.

Diese Forderung richtet sich an den Gesinnungsethiker wie an den Verantwortungsethiker; denn in unserer Welt ist jede politisch-militärische Entscheidung, egal ob im Frieden oder im Krieg, mit menschlichen Leiden und Opfern verbunden. Sage keiner, er habe es nicht gewußt. Sage deshalb jeder, der sich hierzu äußern möchte, auch den Preis, den er zu zahlen bereit ist oder den er andere zahlen lassen will.

Im Falle Jugoslawien ist alles schrecklich einfach und einfach schrecklich. Der Krieg ist im vollen Gange und hat seine eigenen bluttriefenden Gesetze. Die Beendigung dieses Krieges wird ebenfalls Blut, Leid und Tränen kosten. Wer nun das Ende des Krieges von außen beschleunigen will, muß sich entscheiden, ob er das mit dem Blut von Soldaten und/oder einem zivilen Einmischungsprogramm tut.

Ja, es ist richtig, wenn aktive und pensionierte Generale davor warnen, mit Kampftruppen in diesen jugoslawischen Neuordnungskrieg einzugreifen. Sie schreckt die Nichtgewinnbarkeit eines Guerillakrieges ohne klar erkennbaren Feind. Sie verschweigen aber den Hauptmangel ihres Berufsstandes. Was vorrangig für den bewaffneten Kampf ausgebildet, ausgerüstet und strukturiert wurde ist auf militärische Effizienz getrimmt, nicht aber darauf, mit menschlichem Fingerspitzengefühl politisch differenziert zu handeln. Der Kampftruppeneinsatz trennt keine Feinde, er schafft neue. In Ex-Jugoslawien kommt es darauf an, daß den militanten Möchtegernpolitikern die Soldaten weg, nicht aber zulaufen.

Ja, es ist richtig, wenn Politiker Diplomaten für billiger halten als Soldaten. Sie verschweigen aber die Unfähigkeit der heutigen Diplomatie und Politik, den Rahmen der Nationalstaatlichkeit und der Staatenbündnisse verlassen zu können. Wo es keine regierbare Staatlichkeit mehr gibt, versagen alle darauf zielenden Resolutionen, Embargos und Gliederungsvarianten. Gerade die jugoslawische Konkursmasse ist der Beweis für die Überlebtheit klassischer Staatsstrukturen mit ethno-territorialer Grundorientierung. Hier hat jede politische Administration nur dann eine Chance, wenn sie der sozialökonomischen Gesundung und Entwicklung der Bevölkerung in konkreten Kommunen und Regionen dient. In Ex-Jugoslawien kommt es darauf an, daß die Menschen, egal welcher Religion und Nationalität, direkt am wirtschaftlichen Aufbau nicht aber an staatlicher Abgrenzung interessiert werden. Die jetzigen staatsdiplomatischen Spielregeln entlarven keine politischen Verbrecher, sondern helfen ihnen beim Völkermord.

Ja, es ist richtig, daß der wirtschaftliche Wiederaufbau erst nach dem Krieg geschehen kann und gegenwärtig caritative Aktionen gefragt sind. In Ex-Jugoslawien ist aber auch deshalb Krieg, weil angesichts fortdauernder ökonomischer Abgrenzung des Westens gegen die südosteuropäischen Habenichtse das Erbe der Titoschen Sozialismusvariante nun mit Waffengewalt umverteilt wird. Widersprüchliche politische Aktionen von EG- und NATO-Staaten ohne konkrete Hilfsangebote zur Überwindung des kriegsverursachenden status quo ante sind genauso kontraproduktiv wie militärische Aktionen ohne konkrete Aussagen über das Nachkriegsverhalten der Helfer. Die begründete Hoffnung auf einen demokratiefähigen Marshallplan für die Kommunen und Regionen in Ex-Jugoslawien kann den Krieg schneller beenden helfen als jede militärische Intervention. Vielleicht kann die Verweigerung militärischer Einsätze nichtmilitärische Optionen befördern helfen.

Der neue amerikanische Vizepräsident Al Gore hat einen globalen Marshallplan für unsere waidwunde Welt projiziert. Nicht militärische Befriedung oder diplomatisches Konflikthandling ist gefragt, sondern ein lokales, regionales und globales Entwicklungsmanagement, das einfühlsames Teilen ebenso zur Voraussetzung hat wie politische Härte gegen militante Pseudopolitiker. Selbst wenn wir schon so weit wären, müßten aber noch Millionen an den Folgen unseres bisherigen Tuns sterben.

Siegfried Fischer ist einer der beiden Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS).