Proteste gegen den Krieg

W&F dokumentiert:

Proteste gegen den Krieg

von Redaktion

120 ProfessorInnen und über 1.000 weitere WissenschaftlerInnen und Studierende haben untenstehenden Aufruf des BdWi unterzeichnet:

Für die sofortige Beendigung des Krieges gegen Jugoslawien

Die Angriffe der NATO-Truppen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sind ein Verstoß gegen das Völkerrecht und das Grundgesetz. Sie führen zu einer Eskalation mit dem Risiko einer unkontrollierbaren Ausweitung des Krieges und verhindern politische Lösungen.

Die unterzeichneten WissenschaftlerInnen und Studierenden fordern:

  • statt Ausweitung des Krieges durch den Einsatz von Bodentruppen sofortiger Waffenstillstand ohne weitergehende Bedingungen seitens aller Kriegsparteien;
  • kein NATO-Protektorat Jugoslawien, wie es in Kapitel 7 und Anhang B des Abkommens von Rambouillet ermöglicht wird;
  • die Bundesrepublik Deutschland muss ihre Grenzen für Flüchtlinge und Deserteure öffnen und einen sofortigen Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Bosnien und Jugoslawien in Kraft setzen;
  • sofortige Aufnahme von Friedensverhandlungen unter Hoheit des UN-Generalsekretärs;
  • politische Beendigung der augenblicklichen Selbstmandatierung der NATO zum Weltpolizisten.

Wir fordern insbesondere die Bundesregierung auf, im Sinne dieser Forderungen einzutreten.

Wir fordern die insbesondere die Studierenden und WissenschaftlerInnen auf, sich einzumischen.

Wir werden uns an Aktivitäten beteiligen, die zu einer Beendigung des Krieges führen.


Einen Aufruf der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF), sich nicht an den Krieg zu gewöhnen, haben über 300 PädagogInnen veröffentlicht:

Gewöhnt euch nicht an den Krieg!

Krieg ist kein Mittel zur Konfliktlösung und er darf auch nicht länger Mittel der Politik sein!

Die NATO-Strategie im Kosovo-Konflikt, den für den Völkermord verantwortlichen Politiker Milosevic mit Bomben in die Knie zu zwingen, ist nicht nur gescheitert, sondern hat zu weiterer Eskalation geführt: Im Kosovo werden mehr Menschen als je zuvor ermordet oder vertrieben – und es werden immer mehr Menschen direkt oder indirekt in den Konflikt hineingezogen…

Wir verlangen von der Bundesregierung, sofort jede militärische, finanzielle und politische Unterstützung für den NATO-Einsatz zu beenden. Statt dessen sollen alle Mittel, Menschen und Materialien für die Flüchtlingshilfe, den Einsatz ziviler OSZE-Vermittler und den Wiederaufbau zerstörter Häuser und Dörfer im Kosovo zur Verfügung gestellt werden.

Wir verlangen die sofortige Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland mit dem Ziel ihrer endgültigen Abschaffung.

Wir fordern die Bundesregierung auf, allen ausländischen Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren politisches Asyl zu gewähren und die deutschen Totalverweigerer zu amnestieren…

Gewöhnt euch nicht an den Krieg!


Unmittelbar nach Beginn der Bombardierungen hat die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative eine Stellungnahme veröffentlicht, in der es u. a. heißt:

Frieden durch Bomben?

Das politische Verhalten von Präsident Milosevic und seiner Führungsmannschaft und die brutale militärische Unterdrückung der Selbstbestimmungsabsichten der Kosovo-Albaner sind zutiefst verabscheuungswürdig. Aber das rechtfertigt den Einsatz der geballten Kriegsmaschinerie der NATO nicht, auch wenn die NATO emotional verständliche moralische Argumente anführt. Die Geschichte gerade dieses Jahrhunderts hat mehr als einmal gezeigt, dass Abkommen, die dem Frieden dienen sollen, sich nicht mit militärischer Gewalt erzwingen lassen. Darauf haben z.B. bei der Abstimmung im US-Senat über das Vorgehen der NATO mehrere US-Senatoren hingewiesen. Eine Autonomie des Kosovo im jugoslawischen Staatsverband und ein Ende der Greueltaten der serbischen Sicherheitskräfte und des Militärs kann nicht herbeigebombt werden. Die Gefahr besteht sogar, und dies zeigt sich täglich deutlicher, dass die Bomben der NATO den extremen Nationalismus von Milosevic politisch noch stärken und die NATO genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie als »humanitäres« Ziel vorgibt. Die grausame Eskalation der Gewalt gegen die albanische Bevölkerung ist in vollem Gange. Humanitäre Hilfe für die geschundenen Menschen in ihrer Heimat ist so unmöglich geworden. Sie sind nun verstärkt Geiseln und Opfer des serbischen Militärs geworden.


Der Arbeitskreis Darmstädter Signal, ein Zusammenschluss aktiver und ehemaliger Soldaten und MitarbeiterInnen der Bundeswehr stellt zum Krieg der NATO gegen Jugoslawien u.a. fest:

Soldaten fordern: Luftangriffe sofort einstellen – verhandeln!

…Auch wenn die serbische Regierung die hauptsächliche Verantwortung für die verfahrene Situation und für tausendfaches menschliches Elend trägt, kann die Lösung nicht in der Kriegführung liegen.

  • Die NATO-Luftangriffe haben bei der jugoslawischen Führung letzte Hemmungen beseitigt: Die Folge ist eine brutale Vertreibungspolitik und ein riesiges Flüchtlingsdrama.
  • Die Luftangriffe der NATO haben die Regierung Milosevic innenpolitisch gestärkt.
  • Die Fortsetzung der Luftangriffe erhöht die Gefahr der Eskalation in einen Landkrieg mit unvorhersehbarem Ausgang.
  • Die massiven Kriegsschäden sowie das Flüchtlingsdrama destabilisieren den gesamten Balkan für Jahrzehnte. Die Kosten für den erforderlichen Wiederaufbau, aber auch schon die jetzigen Kriegskosten, werden die sozialen Probleme besonders in Europa verschärfen…

Der Krieg der NATO wird nun im Wesentlichen zur Vermeidung des Ansehensverlustes fortgesetzt…

Editorial

Editorial

von Jürgen Nieth

„Nach UNHCR-Angaben wurden bei den jüngsten Kämpfen insgesamt 4.000 Menschen vertrieben.“

„Die italienische Küstenwache hat am Samstag mehr als 1.000 Flüchtlinge in Auffanglager gebracht, die aus dem Kosovo geflohen waren.“

„Sie sind um Mitternacht gekommen und haben uns fünf Minuten gegeben. Als wir nach hier oben flohen, haben wir unser Haus schon brennen sehen.“

Können Sie diese Zitate zeitlich zuordnen? Das erste ist vom 04. März 1999, die beiden anderen sind vom Juli und August. Dazwischen liegen 11 Wochen Krieg. Ein Angriffskrieg der NATO geführt im Namen der Menschenrechte.

Den Kriegsverlauf kennen wir: Die Eskalation der Flüchtlingsströme, das Elend, die Bilder von den Opfern fanatisierter Milizen, von Bomben und Raketen. Ein »High-Tech-Krieg«, indem die Zivilbevölkerung die Zeche zahlte. Tausende toter Zivilisten auf der einen Seite, auf der anderen eine Hand voll »verunglückter« NATO-Soldaten und 258 tote jugoslawische Soldaten und Polizisten.

Jetzt sind viele, die während des Krieges geflohen sind oder vertrieben wurden, in ihre verwüstete Heimat zurückgekehrt. Frieden ist nicht eingekehrt. Die Gewalt der Waffen hat Hass geschaffen. Früher wurden die Rechte der Bevölkerungsmehrheit durch die Regierenden beschnitten, heute flüchten die Minderheiten. Auf 200.000 schätzte das UN-Flüchtlingswerk die Zahl der Albaner, die in den zwei Jahren vor dem Krieg aus dem Kosovo flohen. Seit dem Krieg flüchteten 195.000, also 85 Prozent der dort vor dem Krieg lebenden Serben.

Die Tausend Roma, die Anfang Juli an der Küste Italiens anlandeten (siehe Zitat am Anfang) bekamen übrigens kein politisches Asyl.

Es sieht so aus, als hätten die Serben, die Roma und die Goraner im Kosovo keine Zukunft, als hätte der Krieg die Chancen auf eine politische Ordnung, in der Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zusammenleben können, endgültig zerbombt.

Es sieht so aus, als ob die ethnische »Säuberung« im Kosovo bald vollendet sei. Und das bei Anwesenheit der NATO-Truppen, die vorgaben Krieg zu führen um ethnische Vertreibungen zu verhindern. Die Nachkriegs-Realität: Französische Soldaten in Mitrovica sahen zu, als 7.000 Roma vertrieben und ihr Viertel niedergebrannt wurde; Deutsche Truppen in Prizren gaben militärischen Geleitschutz bei der Flucht von 10.000 Serben – das kann man auch als Beihilfe zur Vertreibung deuten. Die Internationale Polizei aber, die eben diese Entwicklung verhindern und eine ethnisch gemischte örtliche Polizei aufbauen sollte, ist faktisch nicht anwesend. Von der Sollstärke von 3.155 waren zwei Monate nach dem Krieg nicht einmal zehn Prozent vor Ort.

Und nun? 700.000 Serben aus Kroatien und Bosnien leben bereits im Restjugoslawien, dazu noch 200.000, die im Kosovo ihre Heimat verloren haben.

Die Infrastruktur dieses Landes ist zerstört; Brücken, Straßen, Eisenbahnlinien, die größeren Betriebe, die Energieversorgung, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten wurden zerbombt. Allein auf die eigene Kraft angewiesen, wird dieses Land auf Jahrzehnte zum Armenhaus Europas und zu einem dauernden Konfliktherd. Nicht der einzige auf dem Balkan, schließlich wurde mit dem Krieg auch die Lage in den Nachbarstaaten destabilisiert, wurden Hass und Nationalismus beflügelt.

Vor diesem Hintergrund ist ein »Stabilitätspakt« für den Balkan, ist Hilfe zur Lösung der humanitären Probleme, zum Aufbau der Infrastruktur, zur Entwicklung demokratischer Strukturen, zur zivilen Konfliktbearbeitung, dringend erforderlich.

Wirksam kann ein solcher Stabilitätspakt aber nur dann sein, wenn alle betroffenen Staaten einbezogen werden, wenn ein Zukunftsprogramm für die Region erarbeitet wird und wenn möglichst schnell ein Hilfsprogramm anläuft, das den Namen tatsächlich verdient. Doch davon sind wir weit entfernt.

Der Ausschluss Jugoslawiens, so lang Milosevic im Amt ist, das ist die Fortsetzung der alten Machtpolitik, das sieht mehr nach Rache aus als nach Lösungssuche. Selbst Außenminister Fischer muss zugeben, dass man ohne die Serben im Boot zu haben, „wesentliche Entscheidungen nicht treffen“ kann.

Die Summen, die bisher für die humanitäre Soforthilfe genannt werden, stimmen auch nicht gerade optimistisch. Auf 100 Milliarden Mark werden die NATO-Kriegskosten veranschlagt, von den 1,5 Milliarden Mark, die das UNHCR und das Rote Kreuz als Mindestsumme genannt haben, um vor dem Wintereinbruch die Grundversorgung für Hunderttausende sicherzustellen, war Anfang August nicht einmal die Hälfte bereitgestellt.

Im Krieg wurde geklotzt, geht's um die Kriegsfolgen, wird gekleckert. »Nachkrieg« im Namen der Menschenrechte?

Jürgen Nieth

Totaliter aliter

Totaliter aliter

Nichts ist mehr, wie es war

von Johannes M. Becker

Der Jugoslawien-Krieg, dessen Bombardierungsphase nun beendet scheint, hat das sicherheitspolitische Gefüge der Bundesrepublik, Europas und der Erde vielfältig verändert. Keine dieser Veränderungen indes ist ohne Vorgeschichte.

Beginnen wir mit dem Entscheidenden. Die FAZ, das direkte Sprachrohr der Herrschenden in unserem Lande, brachte am 16.06.1999 eine unscheinbare Nachricht mit dem Titel „Krisenreaktionskräfte sollen um etwa ein Drittel verstärkt werden“. Das Blatt berichtete hierin über die Ankündigung Minister Scharpings, die Krisenreaktionskräfte des Heeres von derzeit 37.000 auf 50.000 Mann aufzustocken. „Der Umfang der KRK-Kräfte, sagte Scharping, müsse so bemessen sein, dass die Soldaten der Bundeswehr nicht gezwungen würden, innerhalb von zwei Jahren mehr als einmal einen Einsatz wie jetzt im Kosovo mitzumachen.“ Diese Ankündigung, zwölf Monate zuvor in der bundesdeutschen Presse veröffentlicht, hätte einen Sturm der Empörung hervorgerufen. Im Juni 1999 ist sie Ausdruck eines gelebten sicherheits-, sprich: interventionspolitischen Alltags des »neuen« Deutschland.

Im Kern: Die BRD ist ein ganz »normaler« Staat geworden. Was die Historikerdebatte der 80er Jahre noch nicht vermochte, was bei dem Schriftsteller Martin Walser noch vor Jahresfrist vielfältige Proteste hervorrief, ist heute Realität. Deutschland (ein Wort das manchen Menschen hierzulande noch immer schwer über die Lippen geht) hat das Stigma »Auschwitz«, durch die »Wehrmachtsausstellung« unbequemerweise unlängst vorübergehend noch einmal angemahnt, abgestreift. Der „ökonomische Riese“, so Kanzler Schmidt in den 70er Jahren, ist nun auch eine politische und sogar eine militärische Größe geworden.

Als Kriegsgegner muss man den Hut ziehen vor den Public-Relations-Spezialisten dieser Republik. Über eine fein abgestufte Eskalierungsstrategie haben sie das vor einem Jahrzehnt »wiedervereinte« Volk militärfähig und -willig gemacht: Das fing (humanitär!) an mit der Entsendung eines Bundeswehrlazaretts nach Kambodscha, ging über die nur finanzielle und logistische Unterstützung der NATO im zweiten Golfkrieg, über den »friedenstiftenden« Einsatz in Somalia (wie ereiferten sich die oppositionellen Grünen und die Sozialdemokratie damals noch über dessen Kosten von 0,5 Milliarden DM!), über die Luftüberwachung im Bosnienkrieg bis hin zum heutigen gleichberechtigten Bombardieren in Jugoslawien. Mich erinnert diese PR-Leistung an die Remilitarisierung der BRD, als man bereits vier (!) Jahre nach der Kapitulation der Wehrmacht wieder Stimmen lancierte, die einen „Westdeutschen Beitrag zur Verteidigung des Westens“ gegen die als aggressiv apostrophierte Sowjetunion zunächst erwogen, dann offensiv forderten. 1954, nur neun Jahre nach dem Nazi-Verbrechen und dem militärischen Desaster, war die Sache dann unter Dach und Fach. Die Adenauer-Republik hatte eine Armee. 100 Prozent ihrer Generalität kamen aus der faschistischen Wehrmacht.

Nur neun Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung bombardierten heute Bundeswehrkampfflugzeuge den „Menschenrechtsverletzer Milosevic“, den „neuen Hitler“, den „Anstifter eines neuen Holocaust“, den „schurkenhaften Betreiber großserbischer Imperialgelüste“. Auch wenn sich die rosa-grüne Bundesregierung heute noch auf die Verteidigung der Menschenrechte berufen muss und (noch) nicht wie die USA, wie Frankreich und Großbritannien offen die erdumspannende Verfolgung ihrer Interessen einklagt, muss gesagt werden: Genial gemacht.

Was sich noch entscheidend verändert hat in unserem Lande ist die Tatsache, dass uns in der Friedensbewegung das Gros der bisherigen Opposition verlorengegangen ist. Nicht dass dies überraschend gekommen wäre! Konstatieren muss man es dennoch. Ich erinnere an die Haltung der Sozialdemokratie in der Remilitarisierungsdebatte eben der 50er Jahre, erinnere an das Taktieren der SPD in der NATO-Stationierungspolitik der 70er und 80er Jahre (wo sie erst in der Opposition die Kraft zur Ablehnung fand). Ich erinnere des Weiteren an die Diskussionen der Grünen während des Jugoslawienkrieges, als sie sehr rasch den Blick für die Ursachen des Krieges verloren und die Rede von der „Bewahrung der Menschenrechte“ als Grund für die Verabschiedung pazifistischer Strömungen nutzten. Heute bleibt neben der kleinen Friedensbewegung einzig die PDS, die an der Ablehnung des Krieges als Politikersatz festhält.

Bei der Analyse des Verhaltens der Grünen fühle ich mich unweigerlich an die Analyse Max Webers über die Sozialdemokratie der Weimarer Republik erinnert, wo er schreibt, dass durch deren Regierungsbeteiligung nicht nur die Sozialdemokratie in den Staat eindrang, sondern auch der Staat in die SPD. Die heutige BRD, das »neue Deutschland« also, ist der Staat der Grünen geworden, sie sind Bestandteil und Träger des Normalitäts- und Machtdiskurses dieses interventionistischen Landes mit seinen, noch einmal sei die FAZ zitiert, acht Millionen Arbeitslosen, mit seiner Verarmung weiter Bevölkerungsteile vor allem im Osten, mit seinen xenophoben Tendenzen usw.

Das war schon ein seltsames Gefühl, in Marburg (als Nicht-Christ!) mit wenigen Dutzend Christinnen und Christen gegen den Krieg zu demonstrieren und die grünen und sozialdemokratischen FreundInnen und GenossInnen sich abwenden sehen! Wo noch im Irak-Krieg Hunderte, ja Tausende die Straßenkreuzungen blockiert hatten! Auch das gesamte »autonom« sich nennende jüngere politische Spektrum, das ansonsten keinen Castor-Transport, keine drohende Hüttendorf-Räumung u.v.m. auslässt, war und ist paralysiert. In zahlreichen Gesprächen gewann ich den Eindruck, dass viele der jüngeren Menschen keine Vorstellung von der Gewalt und von dem Grauen eines realen Krieges haben; zum Zweiten ist er für ihre Vorstellungen weit weg, schließlich fielen sie dem medialen Unisono zum Opfer.

A propos Medien: Neben den intellektuellen Umfallern (wie Habermas) war die weitgehende Unilateralität der maßgeblichen bundesdeutschen Medien vielleicht das beunruhigendste Phänomen. Sieht man von einsamen Aufklärern wie Klaus Bednarz, von »Konkret«, von kleinen Unternehmen wie dem »Freitag«, der »Jungen Welt« oder dem PDS-nahen »Neuen Deutschland« ab (alle drei wohl nicht zufällig im Osten des Landes angesiedelt), konnte einem schon Angst und Bange werden. Und man konnte in tiefe Zweifel an der eigenen Haltung geraten. Sehr deutlich wurde hier, was es heißt, wenn ein Land im Krieg ist. Fakten interessierten nur noch wenig, Bestätigungen des Feindbildkonstruktes Serbien/Milosevic wurden präferiert. (Dass nun – nach dem Ende des Bombardements – eine endlose Kette von Berichten über angebliche oder tatsächliche Greueltaten der jugoslawischen Kräfte folgt, gleichsam als nachgeschobene Legitimierung der Pro-Kriegs-Haltung, darf nicht überraschen. Wobei sich eine Überprüfung der während des Bombardements gemachten Angaben anhand der heutigen durchaus lohnt…) »Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges« – nun konnte man es auch hierzulande erfahren. Man erinnert den Irak-Krieg. Die Schäden an der Demokratie sind erheblich.

Die zentralen Slogans von der „Verhinderung einer humanitären (!) Katastrophe (!)“ bzw. von der „Verteidigung der Menschenrechte“ waren ausgesprochen werbewirksam ausgewählt. Wer mag sich schon dagegen aussprechen? Und bei diesen Slogans wird allzuleicht übersehen, dass die militärische Kriegführung der NATO selbst erst eine neue Quantität und Qualität der Probleme schufen.

Die supranationalen Organisationen UNO und OSZE haben schweren Schaden genommen. Dies ist nicht zufällig. Die US-Politik, der sich die westeuropäischen (mehrheitlich sozialdemokratisch regierten) Staaten in vollem Wissen unterwarfen, legte es darauf an. Die USA wollen sich fürderhin nicht stören lassen bei der Wahrnehmung ihrer Interessen, wo auch immer auf unserer Erde.

Gleichsam als Nebenwirkung haben die USA an das Minderwertigkeitsgefühl der (West)Europäer gerührt, die sich ja wieder einmal sichtbar der US-Dominanz unterworfen sahen und nun mit Nachdruck auf den Aufbau eigenständiger Militärstrukturen drängen. Die Mehrzahl der politischen BeobachterInnen sieht im Aufbau einer »sicherheitspolitischen Identität« der EU (so wird die Militarisierung der Europäischen Union in feiner Semantik feilgeboten) etwas Positives: Diese könne, der Patt-Situation zu Zeiten des Kalten Krieges ähnlich, das weltweite Hegemoniestreben der USA eindämmen. Nicht nur die Ernennung des (NATO-Generalsekretärs!) Javier Solana zum Mister GASP muss da nachdenklich stimmen.

Man lasse sich auch nicht täuschen von der tendenziellen Aufweichung der kriegstreiberischen Haltung einiger Medien im Verlaufe des Krieges: Diese war nicht der Einsicht in einen Irrtum geschuldet, sondern Ausfluss der Kritik an der Art der Kriegsführung durch die NATO. Nicht mehr und nicht weniger.

Wie es friedenspolitisch weitergeht in unserer Republik? Mit Blick auf die Parteienlandschaft bleibt abzuwarten, ob die rosa-grüne Regierung um den Populisten Schröder von ihrer Klientel aus Gründen der Selbsterhaltung zum Rücktritt genötigt wird. Für eine Verfeinerung von Sozialabbau und Neoliberalismus wurden die Regierungsparteien nämlich nicht gewählt. Dann könnte es in beiden Parteien eine Aufarbeitung auch der Kriegspolitik geben. Und ähnlich dem Regierungswechsel von 1982 könnte die Friedensbewegung dann quantitativ wieder an Kraft gewinnen. Die wirklich in diesem Lande Herrschenden werden dann allerdings weitaus weniger Probleme haben, die von der rosa-grüne Koalition betriebene Interventionspolitik nahezu beliebig zu reproduzieren. Der Rubicon ist überschritten!

Aktuell bleibt den AufklärerInnen nichts als die Aufklärung. Die gewaltfreie Konfliktlösung muss in den Vordergrund gerückt werden, die Stärkung und Demokratisierung supranationaler Organismen, die Stärkung der Nicht-Regierungs-Organisationen. Die Friedensforschung muss gestärkt, Früherkennungsstrategien für Konflikte ausgearbeitet und wirksam gemacht werden. Die weitere Militarisierung Europas und der EU, dies ist ein ganz dringliches und höchstaktuelles Anliegen, muss verhindert werden!

PD Dr. Johannes M. Becker ist Mitbegründer der Marburger Interdisziplinären Arbeitsgruppe Friedens- und Abrüstungsforschung (IAFA) und lehrt Politikwissenschaften.

UCK – Zur Karriere einer terroristischen Vereinigung

UCK – Zur Karriere einer terroristischen Vereinigung

von Erich Schmidt-Eenboom

Den Nährboden für militante Separatisten im Kosovo schuf die fatale Entscheidung von Slobodan Milosevic, der Provinz im Januar 1989 ihre Autonomie zu rauben und an die Stelle der strukturellen Benachteiligung der kosovo-albanischen Bevölkerung eine massive Repression zu setzen. So bildeten sich zum Anfang der 90er Jahre zunächst regionale Widerstandsgruppen, die jedoch erst mit einem Bekennerschreiben zu einem terroristischen Anschlag im Februar 1996 als UCK die Medienbühne der Weltöffentlichkeit betraten. Zunächst und bis 1997 bestand die UCK nur aus einem schmalen Kern von etwa 2.000 professionellen Kämpfern – darunter etwa 250 ehemalige Offiziere der jugoslawischen Bundesarmee – und den zahlenmäßig dominierenden Dorfmilizen, die aus den traditionellen tribalen Clanstrukturen gebildet wurden.

Die militärische Taktik der Terror-Gruppe bestand von vornherein darin, mit ihren Kernverbänden serbische Polizeistationen und -konvois aus dem Hinterhalt anzugreifen und sich anschließend in die Berge zurückzuziehen, so dass die schlecht bewaffneten Dorfmilizen anschließend den Counter-Guerilla-Operationen der serbischen Sicherheitskräfte hilflos ausgeliefert waren. Bei ihren militärischen »Nadelstichen« gegen Regierungstruppen und Sonderpolizeieinheiten setzte die UCK – inzwischen verstärkt durch islamische Kämpfer aus Afghanistan, Tschetschenien und dem Iran – zunehmend auch auf Angriffe gegen die serbische Minderheit im Kosovo.

Die Amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. Dezember 1996 an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht spiegelt die Lage und die Ziele der Parteien im Bürgerkrieg zwischen UCK und serbischen Verbänden: „Nach Erkenntnis des Auswärtigen Amts sind die Maßnahmen der Sicherheitskräfte in erster Linie auf die Bekämpfung der UCK gerichtet, die unter Einsatz terroristischer Mittel für die Unabhängigkeit des Kosovo, nach Angaben einiger ihrer Sprecher sogar für die Schaffung eines »Groß-Albanien« kämpft.“ Am Frieden wenig interessiert eskalierte die rapide anwachsende UCK den Bürgerkrieg und kontrollierte im September 1998 40 Prozent des Kosovo. Die jugoslawischen Streitkräfte schlugen zurück und massakrierten dabei vielfach unbewaffnete Zivilisten. Die Drohung mit Luftschlägen führte im Oktober 1998 zu einer Waffenstillstandsvereinbarung, aber die hielt nur bis zum Januar 1999. Die UCK nahm ihre Operationen wieder auf und die jugoslawischen Streitkräfte ermordeten im Gegenzug 45 Zivilisten.

Neun Tage vor Beginn des NATO-Luftkriegs hatte das AA am 15. März 1999 dargelegt: „Wie im Lagebericht von 18.11.1998 ausgeführt, hat die UCK seit dem Teilabzug der (serbischen) Sicherheitskräfte im Oktober 1996 ihre Stellungen wieder eingenommen, so dass sie wieder weite Gebiete im Konfliktgebiet kontrolliert. Auch vor Beginn des Frühjahrs 1999 kam es weiterhin zu Zusammenstößen zwischen UCK und Sicherheitskräften, auch wenn diese bislang nicht die Intensität der Kämpfe vom Frühjahr/Sommer 1996 erreicht haben… Es handelte sich bei den jugoslawischen Gewaltaktionen und Gewaltexzessen seit Februar 1998 um ein selektives gewaltsames Vorgehen gegen die militärische Untergrundbewegung (insbesondere der UCK) und deren Umfeld in deren Operationsgebieten. Ein staatliches Verfolgungsprogramm, das sich auf die gesamte ethnische Gruppe der Albaner bezieht, besteht nach wie vor nicht.“

Die UCK selbst bezifferte im Vorfeld von Rambouillet die Zahl der Toten in dem bis dahin elfmonatigen Kampf im Februar 1999 auf 2.000.

CIA-Chef George Tenet warnte zu dieser Zeit, dass es beim Ausbleiben einer Friedenslösung nach dem Winter zu einer massiven Verschärfung der militärischen Auseinandersetzungen im Kosovo kommen werde, da die UCK inzwischen weit besser ausgebildet und ausgerüstet sei als zuvor. Die Lage sei auch deshalb viel gefährlicher als im Bosnien-Krieg, weil die Kriegsparteien hier nicht erschöpft seien. Dem Armed Services Committee des US-Senats erklärte der CIA-Chef Anfang Februar 1999, Belgrad werde versuchen, die UCK ein- für allemal auszuschalten, während die Rebellen die Fähigkeit gewonnen hätten, den serbischen Streitkräften größere Verluste zuzufügen. Beide Seiten würden voraussichtlich die Zivilbevölkerung angreifen und es würde weit mehr als die 250.000 Flüchtlinge der vergangenen Jahre geben. Hintergrund dieser Warnungen waren u.a. die Hinweise des österreichischen Heeresnachrichtenamtes, das die Operation »Hufeisen« der jugoslawischen Streitkräfte aufgeklärt hatte.

Finanziert wurde die UCK seit Mitte der 90er Jahre durch Millionenbeträge, die sie vor allem von ExilalbanerInnen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland erhielt. Im Sommer 1998 bezifferte der Verantwortliche Ibrahim Kelmendi die Tageseinnahme auf 300.000 DM. Neben den »Spenden« erhielt die UCK auch zwangseingetriebene »Kriegssteuern« und – ausweislich der Ermittlungen von Europol – große Summen aus dem von Albanern kontrollierten Bereich der organisierten Kriminalität. Serbische Schätzungen beziffern die Gesamteinnahmen bis März 1999 auf etwa 900 Millionen DM, der BND spricht von 500 Millionen DM.

Die militärische Stärke der UCK betrug 1997 etwa 15.000 Mann. Durch Rekrutierungen im Ausland, im Kosovo und in Flüchtlingslagern wuchs sie 1998 deutlich an und konnte insbesondere ihren Bestand an »hard core fighters« von 2.000 bis 1999 auf 12.000 steigern. Nach einem Kriegsmonat des NATO-Luftkriegs reklamierte der UCK-Sprecher am 20. April 1999 in der Tageszeitung Die Welt eine Armee von 50.000 bewaffneten Kämpfern sowie weiteren 50.000 Rekruten, die noch bewaffnet und ausgebildet werden müssten. Das Gebiet, das die Untergrundarmee kontrolliere, beherberge 700.000 KosovarInnen. Diese Angaben mögen übertriebene Propaganda sein. Doch während die NATO das Kriegsgeschehen im Kosovo auf die Darstellung einer serbischen Vertreibungs- und Vernichtungskampagne gegenüber einer wehr- und schutzlosen Zivilbevölkerung verkürzt, findet zugleich ein blutiger Bürgerkrieg zwischen UCK und serbischen bewaffneten Kräften statt. Nach jugoslawischen Angaben wurden allein an der Grenze zu Albanien Anfang April 1999 ca. 150 UCK-Kämpfer getötet.

Zur Bewaffnung der kosovarischen Untergrundarmee zählen überwiegend moderne Handfeuerwaffen vom Typ Kalaschnikoff. Darüber hinaus verfügt sie über Gewehrgranaten und wenige panzerbrechende Waffen, beispielsweise über die Panzerfaust Armbrust, die in deutscher Lizenz in Singapur gefertigt wird. Quelle des militärischen Rüstzeugs sind in Albanien seit dem Lotterieaufstand vom März 1997 vagabundierende Waffen deutscher und türkischer Herkunft sowie von NATO-Geheimdiensten unterstützte Waffenkäufe. Die aus dem Ausland aufgebrachten Mittel zur Aufrüstung der UCK sind für die Erstausstattung der Untergrundarmee mit Tarnanzügen, Handfeuerwaffen und Fernmeldemitteln weitgehend verbraucht worden. Seit dem Frühjahr 1999 bemüht sich die UCK auf dem internationalen Waffenmarkt um den Ankauf schwerer Waffen, die ihr ein Vorgehen gegen gepanzerte serbische Einheiten erlaubt. Das bestätigt auch eine dpa-Meldung, nach der die italienische Polizei am 12. April ein umfangreiches Waffenlager ausgehoben hat, „das für die UCK bestimmt war. Etwa 30 Tonnen Kriegsgerät, darunter Luft- und Panzerabwehrraketen, Granatwerfer und Maschinengewehre.“ Die Waffen waren nach derselben Meldung in aus Deutschland stammenden Lastwagen mit bosnischen Kennzeichnen versteckt und als Caritas-Hilfslieferung für Kriegsflüchtlinge in Albanien deklariert. Unklar blieb, wo die LKW die Waffen – unter denen sich über 1.000 aus einem NATO-Arsenal in Deutschland entwendete Granaten befanden – geladen hatten. Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass der UCK von den Waffenhändlern offensichtlich nicht das angeboten wird, was sie sich wünscht. Nachdem in Albanien im Oktober 1998 Majko seinen Kontrahenten Berisha als Regierungschef abgelöst hatte, setzte Tirana alles daran, aus den konkurrierenden und notorisch zerstrittenen Fraktionen des albanischen Widerstandes eine Einheitsfront zu schmieden, die den serbischen Streitkräften durch ihre Geschlossenheit Paroli bieten könnte. Unter den Fittichen der Regierung in Tirana wurde die UCK im Norden des Landes zu einer modernen Streitmacht mit politischer Komponente aufgebaut – assistiert vom albanischen Geheimdienst SIKH und dessen wichtigstem Partner, dem türkischen Militärnachrichtendienst MIT. Ihre höheren Weihen als gleich- oder sogar übergewichtiger Partner neben Rugova am Verhandlungstisch von Rambouillet verdankt die UCK wesentlich dem albanischen Patronat.

Die Frankfurter Rundschau berichtete im September 1998 erstmals über eine Unterstützung des Bundesnachrichtendienstes für die UCK. Die serbische Seite selbst hat in einem ausführlichen Dossier vom 8. März 1999 ihre Sicht der deutschen Unterstützung für die terroristische Vereinigung dargelegt und dieses Papier auch dem deutschen Außenminister Joschka Fischer übermittelt. Die Palette der serbischen Vorwürfe reicht von der „Gastfreundschaft für Separatisten und Terroristen“ – beispielweise für Bujar Bukoshi, den Exil-Ministerpräsidenten, oder für Sali Xhelcaji, den Organisator der militärischen Ausbildung in Albanien – über die Unterstützung bei der Rekrutierung in albanischen Clubs wie »Skanderberg« in Ludwigshafen oder »Emil Duraku« in Düsseldorf bis hin zu illegalen Waffenlieferungen, die von deutschen Nachrichtendiensten gesteuert worden seien. Der BND war seit dem Ende der 80er Jahre sichtlich bemüht, den wachsenden türkischen Einfluss in Tirana auszupendeln und dürfte auch bei der Kooperation mit der UCK maßgeblich von dem Motiv geleitet worden sein, den Einfluss der Türkei auf dem Balkan zu begrenzen.

Die nachrichtendienstliche Hauptrolle in Albanien spielt spätestens mit der Regierungsübernahme durch Majko die Central Intelligence Agency, die die UCK unter ihre Fittiche genommen hat, sie politisch aufwertet und als Reservoir für Agententätigkeiten und die Zielaufklärung im Kosovo einsetzt. Den Beginn der CIA-Aktivitäten zugunsten der UCK datieren Eingeweihte bereits auf das Jahr 1992. Zur Waffenbrüderschaft der NATO mit der UCK zählt seit mindestens März 1999 auch, dass in Zwei-Mann-Teams operierende französische Fernaufklärer sowie die etwa 80 im Kosovo eingesetzten Briten des Special Air Service Scout-Dienste der UCK in Anspruch nehmen, nachdem sich zuvor US-amerikanische und britische Special Forces unter der Tarnung von OSZE-Kontrolleuren im Kosovo bewegt hatten.

Offiziell hat US-Außenministerin Madeleine Albright die an sie herangetragenen Wünsche, der UCK schwere Waffen aus den USA zu liefern, am 13. April 1999 abgelehnt, um das UN-Waffenembargo nicht zu verletzen. Am 22. April 1999 berichtete Newsday, dass die Clinton-Administration ernsthaft die Möglichkeiten zur verdeckten Bewaffnung und Ausbildung der UCK prüfe. Auf Weisung des Nationalen Sicherheitsberaters Sandy Berger hatte die CIA bereits vor Monaten mit der Ausarbeitung von Plänen begonnen, wie die UCK zu einem ernsthaften Gegner der jugoslawischen Armee aufgerüstet werden könne. Das bereits entwickelte Konzept des US-Auslandsnachrichtendienstes war im April 1999 zwischen CIA und Nationalem Sicherheitsrat umstritten und wurde mehrfach überarbeitet. Fraglich war offensichtlich, wer die UCK ausbilden solle und ob sie die geforderten panzerbrechenden Waffen bekäme.

Der US-Senator James A. Traficant hat im April 1999 einen Gesetzesvorschlag, den »Kosova Independence and Justice Act 1999«, unterbreitet, die UCK in einem Umfang von zunächst 25 Mio. Dollar auf zu rüsten und seinen Vorstoß hemdsärmelig damit begründet, die Untergrundarmee bekämpfe schließlich denselben Gegner wie die US-Luftstreitkräfte.

Die französische Regierung hatte vor Beginn der NATO-Luftangriffe davor gewarnt, dass die westliche Allianz mit dem Beginn des Bombardements in die Rolle der schweren Artillerie und der Luftstreitkräfte der UCKschlüpfen würde. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die UCK als leichte Infanterie der NATO – sei es in einem angelsächsisch geführten Bodenkrieg oder sei es am Boden nur auf sich gestellt – in die Offensive geht. Vordergründig hat dies den militärischen Vorteil, dass die ortskundigen und im Partisanenkampf erfahrenen UCK-Kämpfer dem serbischen Militär schwerere Schäden zufügen können als es die Luftschläge der NATO vermögen. Überdies würde ein hoher Blutzoll bei der UCK als »Kanonenfutter« der NATO in keinem westlichen Land zu innenpolitischen Turbulenzen führen. Diese Option birgt jedoch zwei dramatische Gefahren: Einerseits würde die UCK grausame Rache an den serbischen ZivilistInnen im Kosovo nehmen und die NATO damit zur Unterstützerin neuer Greueltaten machen. Andererseits würde die UCK aus ihrem militärischen Engagement den politischen Anspruch ableiten, bei den Verhandlungen zur Nachkriegsstruktur des Kosovo mit einem Monopolanspruch auf der kosovarischen Seite des Verhandlungstisches zu sitzen.

Für die Nachkriegsordnung auf dem Balkan entsteht dadurch neues Konfliktpotenzial, das sich an mindestens drei Gefahrenpunkten festmachen lässt: Erstens hat der israelische Außenminister Sharon am 7. April 1999 nachdrücklich vor einem Großalbanien als einem Hort des internationalen Terrorismus gewarnt und damit die Parallelen aufgezeigt, die zwischen der CIA-gestützten Schaffung von europäischen Mujaheddin und dem Desaster der US-Politik in Afghanistan bestehen. Auch Phyllis Oakley, stellvertretende US-Ministerin für Geheimdienstangelegenheiten, äußerte im April 1999 die Sorge, die muslimisch dominierte UCK könne ebenso radikalisiert und unkontrollierbar werden wie die heute für zahllose Terrorakte verantwortlichen Glaubenskämpfer, die die USA der Sowjetunion in Afghanistan einst entgegengesetzt hatten.

Zum Zweiten verweist Makedonien aus gutem Grunde darauf, dass der Machtanspruch der UCK und ihres Paten in Tirana auch einen beträchtlichen Teil seines Staatsgebiets in das angestrebte Großalbanien einbezieht. Mit großer Sorge sieht die Regierung in Skopje, wie die UCK in den Flüchtlingslagern rund um Tetovo bereits ihre Fahne aufgepflanzt hat und in welchem Umfang sie unter den makedonischen Albanern Propaganda für den Separatismus entfaltet.

Zum Dritten fürchtet die Regierung in Athen, dass ihr in dem latenten Dauerkonflikt mit dem »Erzfeind« Türkei nunmehr nicht nur die Front in der Ägäis droht, sondern dass Griechenland über ein von der Türkei nachhaltig unterstütztes Großalbanien geostrategisch in die Zange genommen wird. Symptomatisch ist die Gründung einer Schwesterorganisation der UCK im Frühjahr 1999, die sich die »Befreiung« der AlbanerInnen im Nordzipfel Griechenlands auf die Fahne geschrieben hat.

Über die Rolle der UCK

Zwangsrekrutierung

„Die Rekrutierungskommandos der Untergrundarmee UCK erscheinen stets am Abend. Ihre Botschaft… ist stets dieselbe:»Die Heimat braucht uns, wir müssen kämpfen.« Feierlich wird der »Gestellungsbefehl des Generalstabs der Befreiungsarmee« verlesen. Die »Anordnung Nr. 98« vom 31. März gilt für alle wehrfähigen Männer zwischen 18 und 50 Jahren und verpflichtet sie, sich binnen eines Monats als Kämpfer zur »Bewältigung der serbischen Offensive und zur endgültigen Befreiung Kosovos« registrieren zu lassen.“ (Der Spiegel Nr. 15/99, S. 40: Patriotische Pflichten)

Freikaufen erlaubt

Auf die Frage Süddeutschen Zeitung nach Druck bei der Registrierung antwortet der UCK-Auslandssprecher Kicmari: „Die Entscheidung des Generalstabs gilt nur für Freiwillige. Es gibt sogar eine Anordnung, dass diejenigen, die hier arbeiten und bereit sind, der UCK finanziell zu helfen, nicht dorthin zu gehen brauchen.“ Und auf die Zusatzfrage, nach der in Nordalbanien zu sehen war, wie Flüchtlinge aus dem Bus geholt worden sind, um für die UCK zu kämpfen, antwortet derselbe Kicmari: „Ja gut, es kann da ein paar Fälle gegeben haben. Wir sind in einer Kriegssituation, und das kann man nicht anders machen. Da muss die junge Generation kämpfen.“ (SZ, 12.04.99: Die Rekrutierung läuft gut)

Zusammenarbeit UCK-NATO

Bereits zu Beginn des Krieges bestätigte der UCK-Auslandssprecher, dass „es eine Koordination zwischen den Luftangriffen der NATO und der Tätigkeit der UCK“ gibt. (taz, 01.04.99: Die UCK wartet darauf einzugreifen) Zwei Wochen später erklärt der seit neun Jahren in Bochum lebende UCK-Sprecher: „Es gibt ständige Kontakte (zwischen NATO und UCK), es gibt auch Verständnis auf beiden Seiten… Die NATO braucht natürlich die UCK. Sie informiert sie darüber, wo sich die serbischen Einheiten befinden.“

(UCK-Auslandssprecher Sabri Kicmari in der SZ vom 12.04.99: Die Rekrutierung in Deutschland läuft gut)

Erzfeind der USA als UCK-Ausbilder

Osama Bin Laden, Terrorist Nr. 1 in den Augen der US-Regierung, ihm galt im letzten Jahr der US-Raketenangriff auf Afghanistan, hat nach einem Bericht der Washington Times in seinen Lagern UCK-Kämpfer ausgebildet. Die Ausbildungslager lagen dem Bericht zu Folge in Bosnien-Herzegowina und in Afghanistan. (SZ, 05.05.99: UCK-Kämpfer bei Bin Laden ausgebildet)

UCK-Alleinvertretungsanspruch

Es gibt im Kosovo derzeit drei Gruppen, die die Führung übernehmen möchten: den gewählten Präsidenten Ibrahim Rugova und seine Demokratische Liga des Kosovo (LDK), die Exilregierung unter Bujar Bukoshi und die Exilregierung der UCK unter Hashin Thaci. Befragt nach einer möglichen Zusammenarbeit der drei Gruppen erklärt der Deutschland-Vertreter der UCK-Exilregierung, Muje Rugova: „Eine Zusammenarbeit ist unmöglich. Rugova hat acht Jahre lang behauptet, er habe die Unabhängigkeit des Kosovo in der Tasche. Bukoshi sagte, er habe eine Armee. Nichts davon ist wahr… Im übrigen haben Rugova und die LDK mittlerweile die Unterstützung des Volkes verloren… (Rugova hat) uns verraten. Er ist auch keine Geisel der Serben, wie es in den Medien berichtet wurde.“ (taz, 03.05.99: Gemeinsam das Kosovo befreien)

Erich Schmidt-Eenboom ist Vorsitzender des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V. in Weilheim.

Zweierlei Massaker?

Zweierlei Massaker?

Wie ein US-Diplomat im Kosovo-Dorf Racak den Dritten Weltkrieg auslöste

vonvon Jürgen Scheffran

Das Hinschlachten von Zivilisten durch die Serben im Januar in Racak erforderte eine deutliche Reaktion des Westens. Alle Analysen deckten sich in dem Befund, dass ohne Reaktion die Serben glauben würden, sie hätten nun freie Bahn für ihre Vertreibungs- und Vernichtungspolitik.“ (Ludger Volmer, Staatsminister im Ausw. Amt)1

Am Morgen des 16. Januar 1999 entdeckten BeobachterInnen der OSZE bei dem Kosovo-Dorf Racak, 30 Kilometer südlich von Pristina, mehr als 40 Leichen: „Die OSZE-Überprüfer zählten am Samstag 45 Leichen, die in Häusern, Gärten und Bachläufen lagen. Viele von ihnen waren offenbar aus nächster Nähe erschossen worden und mehrere waren verstümmelt. Bei den Opfern handelte es sich nach den vorliegenden Meldungen vorwiegend um Zivilisten, die meisten Männer, aber auch drei Frauen und ein Kind. Der Chef der OSZE-Mission in Kosovo, William Walker, erklärte nach einem Augenschein, es handle sich um ein Massaker an unbewaffneten Zivilisten, um eine unerhörte Grausamkeit, um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für das eindeutig die Sicherheitskräfte der Regierung die Verantwortung trügen. Nach einer Meldung des albanischen Informationszentrums Kosovo waren allerdings acht der Getöteten Mitglieder der Befreiungsarmee Kosovo.“ (NZZ, 18.1.1999)

Serbische Offizielle bestritten den Vorwurf Walkers vehement und behaupteten, die UCK habe gefallene Kämpfer zusammengetragen. Belgrad warf Walker vor, wie ein „Staatsanwalt und Richter zugleich“ zu handeln und „Terroristen“ zu unterstützen und forderte ihn auf, sofort das Land zu verlassen.

Die Empörung westlicher Politiker und Medien über das »Massaker von Racak« und die Ausweisung Walkers brachten den Umschwung für einen Militärschlag gegen Jugoslawien. In den NATO-Staaten setzten sich die Hardliner durch und eröffneten ihren Kreuzzug gegen das »barbarische Milosevic-Regime«. Allen voran zückte US-Außenministerin Madeleine Albright das Schwert. Just am 15. Januar war sie im Weißen Haus noch mit ihrer Forderung nach einer raschen Militärintervention im Kosovo gescheitert:2 „Am Freitag, einen Tag bevor das Massaker bekannt wurde, warnte Außenministerin Albright, dass das zerbrechliche Kosovo-Abkommen, das im vergangenen Herbst vom Unterhändler Richard Holbrooke ausgehandelt wurde, kurz vor dem Scheitern stand.… Albright erzählte dem Weißen Haus, dem Pentagon und anderen Behörden, dass die Administration an einem »Entscheidungspunkt« im Kosovo stehe.“

Wie rasch diese prophetischen Worte Realität wurden, überrascht selbst die Washington Post, für die „Racak die westliche Balkanpolitik in einem Maße verändert hat, wie dies einzelne Ereignisse selten tun.“ (WP 18.4.99) Racak, sagt auch der deutsche Außenminister Joseph Fischer, war „für mich der Wendepunkt“.3 Der Versuch, vor dem Militärschlag unter Zeitdruck zu verhandeln, führte zu dem Debakel von Rambouillet, wo die USA mit ihrem Versuch scheiterten, Kosovo zu einem Protektorat zu machen und eine NATO-Truppe in ganz Jugoslawien zu stationieren.

Die entscheidende Funktion sollte eben jener William Walker bekommen, der das Massaker von Racak entdeckt hatte, wie die Neue Zürcher Zeitung am 8. März berichtete: „Der Vertragsentwurf von Rambouillet sieht in seiner letzten Fassung vom 23. Februar de facto die Errichtung eines Protektorats in Kosovo vor. Dessen oberster Chef ist der OSZE-Chef in Pristina, also der Amerikaner William Walker; er erhält umfassende Befugnisse. Die Durchsetzung seiner Beschlüsse wird mit der Stationierung einer wuchtigen Nato-Streitmacht – die Rede ist von gegen 30.000 Mann – sichergestellt. Der Plan trägt die Handschrift Washingtons, das seinen Führungsanspruch im Balkan stets unterstreicht.“

Walker, der in den achtziger Jahren als US-Botschafter in Honduras und El Salvador hinreichend Erfahrungen mit Massakern sammeln konnte, scheint seine neue Rolle zu genießen. Nach einem Bericht der Los Angeles Times vom 14. April über seine große Popularität unter Kosovo-Flüchtlingen schlägt er der Zeitung als Titel vor: „Ehemaliger Trägerjunge der Times startet Weltkrieg III im Kosovo“.4

Die umstrittenen Ereignisse von Racak und das gespaltene Verhältnis Walkers zu Menschenrechtsfragen werden im Folgenden dokumentiert.5 Es geht dabei weder um den Nachweis, dass es sich in Racak nicht um ein serbisches Massaker gehandelt hat, noch um Verschwörungstheorien, sondern um Widersprüche, die der Klärung bedürfen.

Der Streit um Racak

Über das, was in Racak am 15. Januar geschah, liegen widersprüchliche Angaben vor. Klar ist, dass an diesem Tag in der Region Kämpfe zwischen serbischen Einheiten und der UCK stattfanden: „Bei Racak hatten kosovo-albanische Widerstandskämpfer vor einer Woche einen Überfall auf eine Polizeipatrouille verübt; dabei wurde ein serbischer Polizist getötet. Serbische Stellen meldeten, die Polizei sei ausgerückt, um in dem Dorf nach Kämpfern zu suchen. Dabei sei sie unter Beschuss aus Granatwerfern und Maschinengewehren gekommen. Sie habe das Feuer erwidert und mehrere Dutzend albanische »Terroristen« getötet. Nach albanischen Quellen wurde das im Sommer stark zerstörte Dorf mit 240 Häusern am Donnerstag abend umzingelt und am Freitag morgen mit Granaten beschossen. Der Infanterievorstoß folgte am Freitag nachmittag. Mehrere Männer wurden gefangengenommen; eine Gruppe von ihnen wurde abgeführt und auf einem Hügel exekutiert. Andere Dorfbewohner wurden auf der Flucht erschossen. In der Stube eines Hauses wurden angeblich 24 Leute erschossen.“(NZZ, 18.1.99)

Diese Darstellung wird durch Zeugenaussagen erhärtet, die von JournalistInnen und Menschenrechtsorganisationen zusammengetragen wurden:6 „Dorfbewohner sagten, dass die Polizei das Dorf gegen 9 Uhr morgens betreten habe.… Um 16.30 hatte die Polizei das Dorf verlassen.… Gegen 13 Uhr führte die Polizei 23 Männer von Osmanis Grundstück fort.… Zeugenaussagen und Beweisstücke, die am Fundort von Journalisten entdeckt wurden, machen klar, dass die meisten dieser Männer, die keinen Widerstand ausübten, aus kurzer Entfernung erschossen wurden. Einige wurden offenkundig erschossen, während sie versuchten zu fliehen.“

ZeugInnen berichteten, die Truppen hätten über Funk Befehle von Vorgesetzten erhalten. Einige dieser Funkgespräche seien von den USA abgehört worden, berichtete die Washington Post am 28.1.99. Den ZeugInnen zufolge seien die ersten OSZE-Beobachter am Nachmittag des 15.1. in Racak eingetroffen, ohne jedoch von dem Massaker etwas zu bemerken. Mit Einbruch der Dunkelheit zogen sie wieder ab. Am nächsten Morgen, nachdem die UCK das Dorf in der Nacht wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatte, wurden die Leichen entdeckt. Walker traf gegen 13 Uhr, eskortiert von der UCK, am Fundort ein und beschuldigte vor den laufenden Kameras die Serben, ohne eine weitere Untersuchung abzuwarten. Die OSZE schloss sich der Darstellung an, es habe sich um eine Hinrichtung an ZivilistInnen gehandelt.7

Zweifel wurden jedoch nicht nur von serbischer Seite geäußert (die keine Gelegenheit zur Spurensicherung erhielt), sondern auch in französischen Tageszeitungen. Die Welt fasst diese am 22.1.99 zusammen: „Waren die Toten von Racak im Kosovo Opfer eines Massakers der Serben – oder sind die Leichen Teil eines makabren Schaustücks der Untergrundarmee UCK geworden, um den Westen zum Eingreifen zu bewegen? In der britischen und französischen Presse machen derartige Spekulationen derzeit die Runde. Der Kosovo-Krieg wird immer mehr auch zur Propagandaschlacht.

Den Berichten zufolge könnten die unstrittig kosovo-albanischen Toten Opfer der Gefechte eines ganzen Tages sein – in der Nacht zusammengetragen und in dem Hohlweg oberhalb von Racak von UCK-Kämpfern »fotogerecht« zu einem Haufen von mehr als 40 Leichen arrangiert. Die französischen Tageszeitungen »Le Monde« und »Le Figaro« sowie der britische »Guardian« stützen diese in Frageform gekleidete Spekulation auf Indizien vor Ort und auf Hinweise aus dem OSZE-Team, das die Toten derzeit untersucht.

Ein Kamerateam des TV-Ablegers der Nachrichtenagentur AP habe während der Gefechte um und in Racak den ganzen fraglichen Freitag vergangener Woche gefilmt, schreibt der »Figaro«. Die Aufnahmen gäben jedoch keinen Hinweis auf ein Massaker. Außerdem habe das serbische Polizeikommando selbst das TV-Team und OSZE-Beobachter von der Aktion gegen das Dorf vorab informiert und bereits am Nachmittag eine Pressemitteilung zum erfolgreichen Kampf gegen die »UCK-Terroristen« in Racak herausgegeben. Laut »Figaro« hätten zudem zwei OSZE-Fahrzeuge mit amerikanischen Nummernschildern den ganzen Tag auf einem Hügel oberhalb von Racak gestanden, von wo aus das Dorf gut zu überblicken sei – nicht aber der 500 Meter entfernte Hohlweg, in dem am nächsten Morgen UCK-Kämpfer herbeigerufenen Journalisten und OSZE-Mitarbeitern den Leichenberg gezeigt hätten.“

Renaud Girard hatte am 20.1.99 in Le Figaro William Walker „unangemessene Eile“ bei der Verurteilung der Serben vorgeworfen und einen auf Filmmaterial gestützten Ablauf der Ereignisse am 15. Januar vorgelegt, der die offizielle Darstellung in Zweifel zieht. Danach hätten die Beobachter wie auch die Journalisten noch am späten Nachmittag bei einem Besuch des Dorfes keine besonderen Vorkommnisse bemerkt. Diese Darstellung stimmt weitgehend überein mit jener von Christophe Chatelot am 21.1.99 in Le Monde. Die Welt geht am 22.1.99 in ihren Spekulationen noch weiter: „Andere Opfer jedoch seien offenbar nicht an Ort und Stelle getötet worden, zitiert der »Guardian« einen OSZE-Mitarbeiter. Schleifspuren und Spuren von Blut oder Gehirnmasse ließen darauf schließen, dass die Leichen aus der Umgebung herbeigeschafft worden seien. Wenn das stimmt, liegt der Schluss nahe, die UCK habe aus der militärischen Niederlage von Racak einen politischen Sieg machen wollen. Auch im Bosnien-Krieg hatten mehrere Massaker und ausschließlich gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Angriffe den Westen nach langem Zögern zum Eingreifen bewogen – zur Rettung der von den Serben angegriffenen bosnischen Moslems. In mindestens einem Fall jedoch war es offenbar eine bosnisch-moslemische Granate, die auf einem belebten Marktplatz mehrere Dutzend moslemische Zivilisten tötete. Der Vorfall wurde nie restlos aufgeklärt.“

Nachdem die Leichen in einer Moschee zusammengetragen worden waren, besetzte die serbische Polizei Racak erneut und transportierte die Leichen nach Pristina. Dort wurde mit der Obduktion durch jugoslawische und weissrussische Gerichtsmediziner begonnen. Nach ihrer Ansicht seien die tödlichen Wunden durch Schusswaffen aus großer Distanz abgefeuert worden. Erst nach Eintritt des Todes seien weitere Schüsse aus der Nähe und Schnittwunden hinzugefügt worden. Bei einigen Körpern sei die Kleidung gewechselt worden.8

Die Europäische Union beauftragte ein finnisches Team unter Leitung von Helana Ranta mit der Durchführung forensischer Untersuchungen. Die Fertigstellung und Übergabe des Berichts wurde bereits Anfang Februar erwartet, doch mehrfach verschoben, was zu weiteren Spekulationen führte. „Ob es ein Massaker war, will keiner mehr wissen“, schreibt Die Welt vom 8.3.99. „Eine heiße Kartoffel ist dieser Bericht“, sagt ein OSZE-Diplomat in Wien gegenüber der Welt, „keiner will ihn so richtig.“ Helana Ranta rechtfertigte die Verzögerung damit, „dass das deutsche Außenamt die Verantwortung dafür übernommen hat, ob der Untersuchungsbericht veröffentlicht wird oder nicht.“ (BZ, 9.3.99)

Zunehmend geriet auch Walker in der OSZE unter Beschuss: „William Walker, soll nach dem Willen mehrerer europäischer Staaten möglichst schnell abgelöst werden. Wie die »Berliner Zeitung« im Vorfeld der Pariser Kosovo-Konferenz aus OSZE-Kreisen in Wien erfuhr, verlangen unter anderem Deutschland, Italien und Österreich, dass Walker seinen Posten räumt. Hochrangigen europäischen OSZE-Vertretern liegen diesen Quellen zufolge Erkenntnisse vor, wonach die Mitte Januar im Kosovo-Dorf Racak gefundenen 45 Albaner nicht wie von Walker behauptet einem serbischen Massaker an Zivilisten zum Opfer fielen.… Intern, so heißt es bei der OSZE, gehe man längst von einer »Inszenierung durch die albanische Seite« aus.… Kritisiert wird Walker, der öffentlich an der Massaker-Version festhält, auch für seinen »selbstherrlichen« Führungsstil und seine Medienauftritte. Das von Walker nach Racak geholte, übergroße Journalistenaufgebot »hat sich am Fundort so ausgetobt, dass viele Spuren vernichtet wurden«, beklagt ein westeuropäischer OSZE-Vertreter.“ (BZ, 13.3.99)

Die Pressekonferenz, die am 17. März anläßlich der Übergabe des Berichts in Pristina stattfand, ließ wesentliche Fragen offen. Der 21 Kilo wiegende Bericht selbst wurde nicht veröffentlicht, auch keine zusammenfassende Expertise. Statt dessen verlas Helena Ranta lediglich einen persönlichen Kommentar, der am gleichen Tag in deutscher Übersetzung vom Außenamt präsentiert wurde.9 Nur wenige Sätze befassen sich mit dem Ergebnis der Untersuchung selbst und sind zudem vorsichtig formuliert:„Die Autopsieergebnisse (z.B. Einschusslöcher, koaguliertes Blut) und die Fotos vom Schauplatz lassen den Schluss zu, dass Kleidungsstücke höchstwahrscheinlich weder gewechselt noch entfernt wurden.… Unter den autopsierten Personen waren mehrere ältere Männer und nur eine Frau. Es gab keine Hinweise, dass es sich bei den Betroffenen nicht um unbewaffnete Zivilpersonen handelte.“

Die von BeobachterInnen gefundenen 22 Männer seien „höchstwahrscheinlich am Fundort erschossen“ worden. An den Händen der Opfer konnten dem Bericht zufolge keine chemischen Rückstände entdeckt werden, die auf einen Waffengebrauch schließen ließen. Der Bericht macht keine Aussagen über Todesumstände der Opfer oder mögliche Täter. Ob es ein »Massaker« war, gehe aus den medizinischen Fakten nicht hervor. Ausführlich werden die schwierigen Bedingungen der Untersuchung hervorgehoben und auch Kritik an der fehlenden Beweissicherung am Fundort geäußert.

Westliche Medien sahen in der Erklärung jedoch einen klaren Beweis für ein serbisches Massaker. So berichtete die Washington Post bereits am Tag der Pressekonferenz:„Ein unabhängiger forensischer Bericht… kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Opfern um unbewaffnete Zivilisten handelte, die in einem organisierten Massaker exekutiert wurden; einige wurden gezwungen niederzuknien, bevor sie mit Gewehrkugeln beschossen wurden, sagen westliche Quellen, die mit dem Bericht vertraut sind.“ (WP, 17.3.99)

Die angesprochenen Quellen wurden bislang nicht genannt. Entsprechend verfährt auch der Kosovo-Sonderbeauftragte der EU, Wolfgang Petritsch, acht Wochen nach Übergabe des Ranta-Berichts (Die Zeit, 12.5.99):„Vergangene Woche ist er aus Helsinki nach Wien zurückgekehrt. Finnische Forensiker haben zum wiederholten Mal die Opfer aus Racak untersucht, von denen Belgrad behauptet hatte, es seien Kämpfer der UCK gewesen.… Die Ergebnisse sind eindeutig: Eine geplante Mordtat an 45 Menschen allesamt von der Seite oder von vorne erschossen, manche enthauptet.… Aber die Europäische Union zögert bis heute, die Ergebnisse zu veröffentlichen. Immer noch ist die Sache brisant. Man fürchtet, eine neuerliche Verurteilung der Serben könnte einen Friedensschluss mit Milosevic erschweren.“

Seltsam nur, dass dieselben Politiker, die wochenlang bemüht sind, den NATO-Einsatz durch schwer nachweisbare serbische Greueltaten zu rechtfertigen, ein umfangreiches Beweisdokument monatelang mit der Begründung zurückhalten, dies würde die Serben belasten. Um weiteren Spekulationen vorzubeugen, sollte die EU die wesentlichen Untersuchungsergebnisse unverzüglich veröffentlichen.

William Walkers Widersprüche

Nicht immer hatte es William Graham Walker so eilig, die Schuldigen eines Massakers zu benennen. Der 1935 geborene „erfahrene amerikanische Karrierediplomat“ verbrachte den Großteil seiner fast 40jährigen diplomatischen Karriere in Mittel- und Südamerika. Unter anderem war er von 1988 bis 1992 US-Botschafter in El Salvador. Weitere hohe diplomatische Posten bekleidete er in Brasilien, Honduras, Peru, Bolivien, Japan und Panama. Von 1985 bis 1988 war er zudem stellvertretender Unterstaatssekretär im US-Außenministerium. Seit Mitte 1997 ist Walker auf dem Balkan im Einsatz, 1998 wurde er von den USA als Chef der OSZE-Mission durchgesetzt.

In den frühen achtziger Jahren wurde Walker stellvertretender Missionschef in Honduras als die CIA mit argentinischen Militärberatern eine Contra-Armee gegen das von Sandinisten regierte Nicaragua aufbaute. Offenkundig unterstützte Walker die Contras10 und war gemeinsam mit Oliver North und seinem Vorgesetzten Elliott Abrams tief in die Iran-Contra-Affäre verstrickt, wie aus dem offiziellen Untersuchungbericht vom August 1993 hervorgeht.11 Im US-Kongress setzte sich Walker vergeblich für die Lieferung von Kampfflugzeugen an Honduras ein.

Während Walker Botschafter in El Salvador war, tobte ein Bürgerkrieg zwischen Regierungstruppen und der linksgerichteten Nationalen Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN). Im Verlauf der Kämpfe kamen mehr als 70.000 Menschen ums Leben, der größte Teil ZivilistInnen, die von Regierungstruppen und paramilitärischen Todesschwadronen getötet wurden. Der Bericht der UNO-Wahrheitskommission kam 1993 zu dem Ergebnis, dass die Armee El Salvadors für umfangreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sei; eine große Zahl der Täter sei in der School of the Americas (SOA) in den USA ausgebildet worden.12

Der UNO-Bericht rückt William Walker und andere US-Diplomaten in ein schlechtes Licht. So wurde der mutmaßliche Drahtzieher der Ermordung von Erzbischof Romero im Jahr 1980, Roberto d'Aubuisson, von Walker wie auch Abrams in Schutz genommen, obwohl Belege für seine Mittäterschaft vorlagen. Während die CIA d`Aubuisson 1981 als „egozentrisch und rücksichtslos“ beurteilte und die Washington Post ihn 1994 einen „gemeinen Killer“ nennt, erkannte Walker noch 1989 in ihm einen „Demokraten“ und einen der „besten Politiker“ El Salvadors.(WP 21.3.93) Dass Verharmlosungen von US-Verbündeten in den achtziger Jahren die Regel waren, belegt auch das Massaker von El Mozote, wo im Dezember 1981 etwa 800-900 Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet wurden, nach Ansicht der UNO-Kommission durch das von den USA-trainierte Atlacatl-Battalion. Obwohl genügend Indizien vorlagen, stritt Abrams dies ab.

Neben weiteren Verwicklungen (etwa in die Zona-Rosa-Morde) war Walkers Rolle besonders fragwürdig als es darum ging, die Aufklärung der Ermordung von zwei Frauen und sechs Jesuitenpriestern zu verhindern, die in der Nacht zum 16. November 1989 von Soldaten des Atlacatl-Battalions aus ihren Betten geholt und exekutiert wurden. So versuchte Walker zunächst, die Verantwortung der FMLN anzulasten, obwohl ein CIA-Agent kurz nach der Tat zu anderen Erkenntnissen gelangt war und die Indizien auf die Führung der salvadorianischen Armee hinwiesen. Walker wurde von Kirchenführern beschuldigt, die einzige Zeugin des Verbrechens rechtswidrig festgehalten und unter psychischen Druck gesetzt zu haben um ihre Aussage zu beeinflussen.13

In internen Telegrammen an das State Department warnte Walker Außenminister James A. Baker, dass die USA den Fortschritt in El Salvador „nicht durch frühere Tote behindern sollten, wie abscheulich dies auch immer sei.“ Als die Kritik an den Jesuitenmördern zunahm ging Walker nach Washington um dem Verfahren gegen die Armee El Salvadors entgegenzutreten. Bis zuletzt verteidigte Walker Rene Emilio Ponce, den Generalstabschef der Armee El Salvadors, der nach dem Bericht der UNO-Komission und deklassifizierten Telegrammen die Hauptverantwortung für das Jesuiten-Massaker trug. (WP 5.4.94) Anlässlich einer Pressekonferenz nennt die Washington Post am 19.12.89 Walker wegen seiner positiven Darstellung „Ambassador Sunshine“. Gereizt reagierte Walker auf Nachfragen zu Fehlern beim Jesuiten-Massaker: „In Situationen wie diesen gibt es Management-Probleme.… Ich meine, dies ist Krieg. Es ist Kampf, es ist Tod.“

Die Zeitschrift »Covert Action«, die sich um die Aufdeckung von Geheimdienstoperationen bemüht, schreibt in ihrer jüngsten Ausgabe:14 „Als US-Botschafter in El Savador beaufsichtigte und duldete Walker eine der brutalsten Unterdrückungs- und Mordaktionen in der westlichen Hemisphäre.“

Resümee

William Walker repräsentiert in personam die Widersprüchlichkeit der Menschenrechtspolitik der USA, die immer wenn es eigenen Interessen dient großzügig über Menschenrechtsverletzungen hinwegsieht, aber die von Gegnern scharf angreift und sogar zum Anlass von Kriegen nimmt. Sicherlich beweist die Tatsache, dass William Walker in den achtziger Jahren Menschenrechtsverletzungen in Mittelamerika gedeckt bzw. geduldet hat und es dabei mit der Wahrheit oft nicht sehr genau nahm (wovon er heute nichts mehr hören will)15, nichts über seine Rolle beim Racak-Massaker. Ein geeigneter Kronzeuge für Menschenrechte ist er aber kaum, zumal er durch sein hastiges Auftreten in Racak zur Verschleierung von Beweisen beitrug und die für die OSZE wichtige Neutralität verletzte. Er wäre ein denkbar ungeeigneter Kandidat für den Posten eines »Gouverneurs« in einem Kosovo-Protektorat.

Wie doppelbödig die Politik der USA und der NATO in Menschenrechtsfragen ist, wird nicht nur dadurch belegt, dass weiterhin undemokratische Regime unterstützt und bestimmte Menschenrechte ausgeblendet bzw. durch die eigene Politik unterminiert werden, sondern auch durch die Bereitschaft, Menschen im Namen der Menschlichkeit zu töten, wie im Jugoslawienkrieg täglich vorexerziert. Nach sieben Wochen Bombenkrieg ist Jugoslawien um Dutzende von Racaks reicher. An nur einem Tag des Krieges hat es die NATO mit einer Streubombe geschafft, doppelt so viele Kosovo-Albaner zu töten wie in Racak. Von einem Massaker wird hier jedoch nicht gesprochen, denn es geschah ja aus Versehen.

Anmerkungen

1) L. Volmer, Die Entscheidung eines Pazifisten zum Luftangriff, Berliner Zeitung, 29.03.1999. Im Folgenden werden folgende Abkürzungen verwendet: BZ (Berliner Zeitung), NZZ (Neue Zürcher Zeitung), WP (Washington Post), NYT (New York Times).

2) J. Perlez, Defiant Yugoslav Orders Expulsion of U.S. Diplomat, NYT, 19.1.99; B. Gellman, The Path to Crisis: How the United States and Its Allies Went to War, WP, Sunday, 18.4.99.

3) G. Hofman, Wie Deutschland in den Krieg geriet, Die Zeit, 12.5.99.

4) E. Shogren, American Kosovo Monitor Changes His Image, Los Angeles Times, 14.4.99.

5) Eine ausführlichere Dokumentation des Autors erscheint als IANUS-Arbeitsbericht.

6) Human Rights Watch, Yugoslav Government War Crimes in Racak, http://www.hrw.org

7) Vgl. den in Auszügen veröffentlichten Bericht der OSZE: J. Perlez, Monitors Call Kosovo Massacre an Act of Revenge by Serbs, NYT, 22.1.99.

8) B. Gvozdenovic, „No Massacre in Racak“. Belarus Forensic Expert Says Dr Kuzmicov: „There Were No Shots in the Head, No Torture, No Massacre“, Politika, 22.3.99.

9) Bericht der Leiterin des forensischen Expertenteams der Europäischen Union, Helana Ranta, Gerichtsmedizinisches Institut der Universität Helsinki, zu den Vorfällen von Racak im Januar 1999, Auswärtiges Amt, 17.3.99.

10) D. North, Irony at Racak: Tainted U.S. Diplomat Condemns Massacre, The Consortium, 26.1.99, http://www.consortiumnews.com

11) Final Report of the Independent Counsel for Iran/Contra Matters, Volume I: Investigations and Prosecutions, L.E. Walsh, August 4, 1993, Washington, D.C., US Court of Appeals for the District of Columbia Circuit; http://www.fas.org/irp/offdocs/walsh.

12) G. Gugliotta, Douglas Farah, 12 Years of Tortured Truth on El Salvador, WP, 21.3.93.

13) L. Hockstader, U.S. Accused of Impugning Salvadoran – Bishop Says Witness Tormented in Miami, WP, 11.12.89. Behauptungen in linksstehenden Zeitungen, wonach Walker selbst als »stiller Teilnehmer« bei dem Massaker anwesend gewesen sein soll, konnten bislang nicht überprüft werden. Siehe etwa G. Wilson, Warhawk behind U.S. Kosovo policy – Amb. Walker covered up real massacres in El Salvador, Workers World, 28.1.99, http://www.workers.org; K. Hartmann, »Massaker von Racak« – Durchsichtige Manipulation, bestellte Provokation, DKP Hamburg, http://mitglied.tripod.de/dkp_hamburg/racak.htm.

14) E. Ray, B. Schaap, NATO and Beyond, Covert Action, No.66, Spring 1999.

15) R.J. Smith, This time, Walker wasn't speechless. Memory of El Salvador spurred criticism of Serbs, WP, 23.1.99.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TU Darmstadt.

Humanität oder Macht?

Humanität oder Macht?

Mit welchem Ziel bombt die NATO?

von Jürgen Nieth

Seit dem 24. März führen deutsche Soldaten zum ersten Mal seit über 50 Jahren wieder Krieg. „Um eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, blieb uns jedoch keine andere Wahl“, erklärte Rudolf Scharping (Der Spiegel, 29.03.99, S. 218). Den mit dem NATO-Krieg verbundenen Bruch des geltenden Völkerrechts schob Außenminister Fischer mit den Worten beiseite, dass Milosevic „eine völkische Politik“ betreibe, „eine rohe barbarische Form des Faschismus“, bei der man nicht zusehen könne.1
Sieben Wochen nach Beginn des Krieges bombt die NATO immer noch. Die Gewalt ist eskaliert und mit ihr das Elend auf dem Balkan. Von den Kosovo-AlbanerInnen sind jetzt Hunderttausende auf der Flucht, in Serbien, Montenegro und der Vojvodina sterben ZivilistInnen unter NATO-Bomben, die Nachbarländer werden von einer Flüchtlingswelle überrollt, die Folgeschäden des Krieges für die gesamte Region sind kaum übersehbar.
Die Wirklichkeit des Krieges hat die erste Kriegsbegründung – Menschen und Menschenrechte zu schützen – ab absurdum geführt. Die Kriegführung selbst wirft die Frage neu auf: Mit welchem Ziel bombt die NATO?

Die Spannungen im Kosovo sind seit Jahren bekannt. Dass eine zivile Bearbeitung sehr schwierig sein und mit Sicherheit Jahre in Anspruch nehmen würde, davon konnte man nach den vorangegangenen Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien und auch mit Blick auf andere Konfliktherde in Europa, wie z.B. Nordirland und Baskenland, ausgehen. Doch der Kosovo wurde in Dayton ausgeklammert, statt Hilfe zur Deeskalation der Spannungen wurde lediglich beobachtet und registriert, selbst die gewählten Vertreter der Kosovo-AlbanerInnen fanden jahrelang kein Ohr der westlichen PolitikerInnen. Vermittlungsversuche vor Ort überließ man Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die alleine gelassen über gute Beispiele nicht hinaus kommen konnten.

Die Lage änderte sich nach einer „erheblichen Eskalation und Militarisierung des Konflikts“2 ab Anfang März 1998. Die UCK – in Berichten des Auswärtigen Amtes bis zum Beginn dieses Jahres als terroristische Organisation klassifiziert – hatte bis zu der Offensive der jugoslawischen Armee und der Milizen im Juli/August des letzten Jahres vorübergehend 40 Prozent des Kosovo unter ihrer Kontrolle. Berichten des Auswärtigen Amtes zu Folge gab es dabei Vertreibungen und Massaker auf beiden Seiten. Nach einer Vereinbarung des US-amerikanischen Unterhändlers Holbrooke mit Milosevic vom Oktober 1998 über den Rückzug der jugoslawischen Sicherheitskräfte aus dem Konfliktgebiet sollten 2.000 OSZE-BeobachterInnen (ein Kontingent, das nie ganz ausgeschöpft wurde) die Lage kontrollieren. Mit der Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Dörfer kam es aber auch „vielerorts zu einer Rückkehr der UCK in kosovo-albanische Dörfer“3 und damit verbunden zu erneuten Kampfhandlungen.

In der Folge zwang die NATO die Kontrahenten an einen Tisch, um unter Androhung militärischer Gewalt eine Vereinbarung durchzusetzen. Erfolglos, wie bekannt ist. Seitdem bombardiert die NATO.

Das Elend ist heute größer
als je zuvor

Es gehe darum Massenvertreibung und einen drohenden Völkermord zu verhindern, so das erklärte Kriegsziel der NATO. Und die Wirklichkeit? Zwischen März 1998 und dem 24. März 1999 sind nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe 171.000 Menschen aus dem Kosovo geflüchtet oder vertrieben worden. Mit Beginn des Krieges explodierte die Zahl der Flüchtlinge. Nach 6 Wochen Krieg wird von fast einer Million Flüchtlinge und Vertriebener gesprochen. „Selbst wenn sich bestätigen würde, dass der Vertreibungsprozess in Belgrad von langer Hand geplant war, bleibt die Tatsache unübersehbar: Die Bomben und Raketen haben ihn nicht verhindert und können ihn auch weiterhin nicht verhindern.“4 Jetzt werden die Menschen nicht nur von Milosevics Schergen vertrieben, jetzt flüchten sie auch vor den Bomben der NATO. Serbische Oppositionelle kommentieren die Situation verbittert: „Die NATO in der Luft und Milosevic am Boden.“

Vor dem Krieg gab es das Massaker von Racak, bei dem Mitte Januar 42 Menschen ermordet wurden. Die finnische Untersuchungskommission hat nie die genauen Umstände und die Täter ermittelt, es bleibt der Verdacht auf den serbischen Milizen. Erschütternd die bestialische Verstümmelung 17 toter UCK-Kämpfer am 19. Januar.5 Hinzu kommen zahlreiche andere Greueltaten – übrigens nicht nur von einer Seite. Verbrechen, die nach einer Bestrafung der Täter und Hintermänner rufen, gegebenenfalls vor einem internationalen Kriegsverbrechertribunal.

Nur, die verantwortlichen Politiker mussten wissen, dass ein Krieg solche Verbrechen nicht verhindert, sondern im Gegenteil, dass ein Krieg das Vielfache an krimineller Energie freisetzt – mit der Folge Massenvertreibung, Vergewaltigung und Mord. Die verantwortlichen Politiker waren gewarnt. So schreibt Der Spiegel (29.03.99) über die Rede von US-Unterhändler Holbrooke auf der entscheidenden Sitzung des NATO-Rats am 23.03.99 (ein Tag vor Beginn des Krieges): „Begänne die NATO jetzt mit Luftangriffen, schloss Holbrooke, sei mit Völkermord im Kosovo zu rechnen. Unter den serbischen Truppen herrsche »blinder Hass«.“ Bereits Anfang März hatte der EU-Sonderbeauftragte Petritsch erklärt: „Die (Gefahr von Massakern nach Beginn der Bombardierungen) ist nicht zu unterschätzen, der Aggressionspegel der serbischen Polizei ist enorm hoch.“6 Warum wurden dieses Warnungen nicht beachtet?

Und wie verhält es sich mit der Verhältnismäßigkeit der Mittel? Noch gibt es keine Übersicht über die toten ZivilistInnen in Folge des NATO-Luftkrieges. Doch allein bei den bisher zugegebenen »irrtümlichen Bombardierungen« (die »Kollateralschäden« im NATO-Sprachgebrauch) sind Hunderte Tote zu beklagen. Wohngebiete, Personenzüge, Flüchtlingstrecks, Busse, Universitätsgebäude, Sportanlagen, ein Bauernhof mit Flüchtlingen usw. usf.

Bundeskanzler Schröder hatte seine Regierungserklärung am 24.03.99 noch mit den Worten eingeleitet, „heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen.“7 Mittlerweile ist längst die Infrastruktur Jugoslawiens im Fadenkreuz und bei den Bomben und Raketen auf Brücken, Straßen, Eisenbahngleise, Bürohäuser, Fabriken, Kraftwerke, Rundfunk- und Fernsehsender werden bewusst auch Tote unter der Zivilbevölkerung in Kauf genommen.

Nach sieben Wochen Bombenkrieg haben sich die Menschenrechte für Hunderttausende auf den Kampf ums nackte Überleben reduziert. Einige Tausend dürften auch diesen Kampf bereits verloren haben.

Handlungsdruck ja –
aber militärisch?

Gab es die von der NATO behauptete Zuspitzung der Lage, die ein Weiterverhandeln ausschloss und die (für in militärischen Kategorien Denkende) ein sofortiges militärisches Eingreifen im Kosovo erforderlich machte?

Lageberichte aus dem Auswärtigen Amt und Ausführungen des Generalinspekteurs der Bunderswehr, Hans Peter von Kirchbach, hinterlassen hier mehr offene Fragen als Antworten.

Nach den eingangs skizzierten Kampfhandlungen des letzten Jahres hieß es in einem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.11.98: „Im Kosovo selbst hat sich die schwierige humanitäre Situation etwas entspannt… Beim Einzug der serbischen Sicherheitskräfte in zurückeroberte Ortschaften kam es zu Übergriffen gegen dort verbliebene Bewohner. Die durch die Presse wiederholt gemeldeten »Massaker« und Meldungen über »Massengräber« trugen zur Beunruhigung der Flüchtlinge bei, konnten jedoch durch internationale Beobachter nicht bestätigt werden.“8

Sechs Wochen später, am 28.12.98, heißt es in einer Amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amts: „Nach Erkenntnis des Auswärtigen Amts sind die Maßnahmen der Sicherheitskräfte in erster Linie auf die Bekämpfung der UCK gerichtet, die unter Einsatz terroristischer Mittel für die Unabhängigkeit des Kosovo, nach Angaben einiger ihrer Sprecher sogar für die Schaffung eines »Groß-Albanien«, kämpft.“9

Und noch am 15. März, also 10 Tage vor Beginn der Bombardierungen, hieß es aus dem Auswärtigen Amt, „vor Beginn des Frühjahrs 1999 kam es weiterhin zu Zusammenstößen zwischen UCK und Sicherheitskräften, auch wenn diese bislang nicht die Intensität der Kämpfe vom Frühjahr/Sommer 1998 erreicht haben.“10

Nach Beginn des Krieges hat sich die amtliche Argumentation verschoben, seitdem wird von einer gezielten Vertreibungspolitik Milosevics gesprochen. Wichtigster Beleg: Die »Operation Hufeisen«. Sie ist in der Interpretation der Bundesregierung der Beleg für die geplante Vertreibung aller Kosovo-AlbanerInnen und für einen von langer Hand geplanten Völkermord. Der Generalinspekteur der Bundeswehr sieht das aber offensichtlich differenzierter: „Hauptziel der »Operation Hufeisen« war/ist aus unserer Sicht die Zerschlagung beziehungsweise Neutralisierung der UCK im Kosovo. Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung mit dem Ziel gewaltsamer regionaler demographischer Veränderungen ist offensichtlich ein Bestandteil des Plans… Nachdem im Oktober auf Druck der internationalen Gemeinschaft Belgrad zunächst einlenkte… kehrten zumindest viele Binnenflüchtlinge in ihre Heimatwohnorte zurück – mit ihnen aber auch die UCK, für Belgrad offensichtlich ein unangenehmer, unannehmbarer Zustand. Mit dem »Hufeisen«-Plan sollte die Wiederholung dieser Abläufe offensichtlich verhindert werden.“11

Wenn das Verteidigungsministerium gegenüber dem Monatsmagazin Konkret eine schriftliche Veröffentlichung dieses Lageberichts des Generalinspekteurs mit den Worten ablehnt: „Das werden wir doch nicht noch schriftlich verbreiten,“12 so erhöht das nicht gerade die Glaubwürdigkeit der eigenen Interpretation der »Operation Hufeisen«. Eine Glaubwürdigkeit, die auch dann schweren Schaden nimmt, wenn der Verteidigungsminister von der Einrichtung eines Konzentrationslagers in einem Fußballstadion spricht, das Luftaufnahmen zum gleichen Zeitpunkt als leer zeigen, oder wenn Rudolf Scharpinge ohne Beweise vorzulegen Serben des Kannibalismus bezichtigt: „Schwangeren Frauen wurden nach ihrer Ermordung die Bäuche aufgeschlitzt und die Föten gegrillt.“13

Der Bundesnachrichtendienst hat in den letzten Wochen einen Krisenstab eingerichtet, der sich nur um den Krieg kümmert. In der Süddeutschen Zeitung heißt es dazu: „Es fällt auf, dass der BND in seiner Berichterstattung recht zurückhaltend ist. Viele der Geschichten über angebliche Massengräber und Greueltaten der Serben werden von Pullach als nachrichtendienstliche Desinformation bewertet, mit denen Politik gemacht werde.“14

Vorsicht ist also geboten bei den gelieferten Informationen. Sicher ist, es gab vor dem Krieg Vertreibungen, es gab massenhafte ethnische Diskriminierungen, es gab Massaker. Es bestand ein internationaler Handlungsdruck zur Wahrung der Menschenrechte und zur Lösung der Probleme im Kosovo. Sicher ist aber auch, dass es im Oktober eine Vereinbarung gab, in deren Folge Flüchtlinge zurückkehren konnten und deren mangelnde Umsetzung nicht nur die Schuld einer Seite war. Grund genug, alle politischen Möglichkeiten auszuloten, was nicht gemacht wurde.

Waren die Verhand- lungsmöglichkeiten in Rambouillet erschöpft?

In Rambouillet hätten diese politischen Möglichkeiten weiter ausgelotet werden müssen. Doch bereits die Anlage dieses Treffens war dafür nicht geeignet. Während in der Öffentlichkeit von einem auszuhandelnden Friedensabkommen gesprochen wurde, wurde in der Realität der Text von der NATO ohne die Einbeziehung ziviler internationaler Institutionen wie UNO und OSZE und ohne die Einbeziehung der Konfliktparteien erstellt. Die jugoslawische Regierung sollte mit der Drohung der Bombardierung Jugoslawiens und die Kosovo-Albaner notfalls mit der Drohung der Nichtbombardierung Jugoslawiens zur Unterschrift gezwungen werden, ein geringer Verhandlungsspielraum eingeschlossen.

Dass es um die Durchsetzung eines Diktats ging und nicht um Verhandlungen, gab denn auch der EU-Sonderbeauftragte Petritsch, der als Mitglied der NATO-Kontaktgruppe die Rambouillet-Verhandlungen leitete, unverblümt zu: „80 Prozent unserer Vorstellungen werden einfach durchgepeitscht… das Endergebnis wird wohl ein Diktat sein. Vor Ende April wird der Kosovo-Konflikt entweder formal gelöst sein oder wir bombardieren.“15

Ein Diktat, auf das sich die jugoslawische Regierung kaum einlassen konnte, da im politischen Teil des Abkommens – anders als immer wieder behauptet – die Existenz des Kosovo als Teil Jugoslawiens lediglich für drei Jahre festgeschrieben wurde, die dann fälligen freien Wahlen hätten bei der überwiegend albanischen Bevölkerung mit größter Wahrscheinlichkeit zur Ablösung und nicht nur zur Autonomie des Kosovo geführt. Hinzu kommt, dass im Anhang B (siehe Kasten) den NATO-Streitkräften Bewegungs- und Rechtsfreiheit sowie die Nutzung aller Anlagen in ganz Jugoslawien zugesichert werden sollte. Ein Besatzungsstatut, dem keine Regierung eines Landes zustimmen kann, es sei denn nach einer totalen Kapitulation.

Auch die Delegation der Kosovo-AlbanerInnen hatte zuerst unter dem Einfluss der UCK den Rambouillet-Text abgelehnt, da sie die sofortige Unabhängigkeit des Kosovo (und einige den Anschluss an Albanien) wollten. Sie stimmten erst zu, nachdem die US-Außenministerin Albright erklärt hatte, es werde keine Bombardierung Jugoslawiens geben, wenn die Kosovo-albanische Delegation den »Friedensplan« ablehne. „Das heißt, die Kosovo-Albaner konnten davon ausgehen, dass ihre Unterschrift zur NATO-Intervention führte. Die Luftschläge würden Jugoslawien bzw. Serbien entscheidend schwächen und damit die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten ändern.“16 Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer stellt dazu fest: „Indem über der serbischen Unterschriftsverweigerung die Bombardierungsdrohung stand wurde die Entscheidung über die tasächliche Bombadierung mit in die Hand der Kosovo-Albaner gelegt… Die Friedensziele für den Kosovo wurden also mit einem ungeeigneten Vertragswerk und mit einem Szenario verfolgt, womit die Situation aufgeheizt statt befriedet wurde.“17

In Rambouillet waren also nicht – wie immer wieder behauptet – alle Verhandlungswege erschöpft. Die Selbstmandatierung der NATO für die Verhandlungs- und Kriegführung hat jede Verhandlungslösung von Anfang an blockiert. Nach Äußerungen des CDU Sicherheitsexperten Willy Wimmer, langjähriger Staatssekretär im Verteidigungsministerium und Vizepräsident der OSZE-Versammlung, nicht ganz unbeabsichtigt: „Wir haben… in den letzten anderthalb Jahren gesehen, dass die Europäische Union mit ihrer Politik der autonomen Maßnahmen gegenüber der BR Jugoslawien erfolgreicher war, als befreundete Staaten das eigentlich wahr haben wollten. Wir waren im März des vergangenen Jahres wesentlich weiter gekommen, auch im Zusammenhang mit einer Lösung, die den Albanern im Kosovo entgegenkommt, wenn man die Europäische Union nur gelassen hätte. Aber hier durften bestimmte Ergebnisse offensichtlich nicht erzielt werden und deswegen ist das auch nichts geworden.“18

Double Standards

Wer auch immer vorgibt, aus »edlen Motiven« heraus Krieg zu führen, muss sich messen lassen an seinem Verhalten in vergleichbaren Situationen.

Flüchtlinge in Ex-Jugoslawien

Die kurze Geschichte des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawien ist auch eine Geschichte der Vertreibungen. Lediglich Slowenien hatte zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitsbestrebungen eine einigermaßen homogene Bevölkerungsstruktur.

Aus Kroatien wurden Hunderttausende SerbInnen vertrieben und die gewaltsamen »Bevölkerungsumschichtungen« in Bosnien haben wir alle noch vor Augen. Tatsächlich konnte mensch in den letzten Jahren den Eindruck gewinnen, dass die meisten Politiker bei den Vertreibungen weggesehen haben, vielleicht in der Hoffnung, dass so ethnisch geschlossenere Gebiete entstehen, die weniger Schwierigkeiten machen.

Dass die Vertreibungen von über einer halben Million (nach dem Auswärtigen Amt) oder 700.000 (nach jugoslawischen Angaben) SerbInnen die BR Jugoslawien als Aufnahmeland vor große Probleme stellte, war nicht zu übersehen. Dass mit der »ethnischen Säuberung« in der einen Region die Probleme in der anderen Region zunehmen, auch nicht. So wurde von den Kosovo-AlbanerInnen die Tatsache, dass 10.000 der serbischen Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien und der Herzogowina im Kosovo angesiedelt wurden, als Beispiel für die geplante »Kolonisierung des Kosovo« herausgestellt. Tatsächlich aber wurden nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts im Kosovo „proportional weit weniger Flüchtlinge untergebracht… als in anderen Teilen der BRJ.“19 Eine Erkenntnis, die die Kompliziertheit der Flüchtlingsproblematik andeutet, sich in der veröffentlichten Meinung allerdings nicht wiederfindet.

Der ehemalige Volkstribun der serbischen Opposition und Ende April entlassene Vizeministerpräsident der BR Jugoslawien, Vuk Draskovic, beklagt die ungleiche Behandlung: „…habe ich genug von der westlichen Heuchelei über die angebliche Sorge um die Flüchtlinge. Gab es nicht 1995 eine 400km lange Kolonne von serbischen Flüchtlingen aus der Krajina, die bei der kroatischen Offensive vertrieben wurden? Hat damals jemand Kroatien bombardiert?“20

Die Türkei bombt mit

Die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen der Türkei sind seit Jahren bekannt: Der Krieg gegen die KurdInnen (mit rund 30.000 Toten), die Verfolgung der armenischen Minderheit, die Einschränkung der Religionsfreiheit, Inhaftierung und Folter von Oppositionellen, Todesstrafe, die Besetzung eines Teils Zyperns, die permanente Verletzung der Grenzen des Iraks durch türkisches Militär. Man kann Verbrechen nicht mit Verbrechen aufrechnen aber es muss die Frage erlaubt sein, warum sich das eine Land der freundlichen Zuwendung der NATO erfreut und für die Unterdrückung seiner Minderheiten Waffen und Know-how erhält, während das andere Land für vergleichbare Verbrechen (ohne Expansion gegen fremde Länder) bombardiert wird.

Der NATO-Partner Türkei hat nicht nur keine Repressalien zu befürchten ob seiner Menschenrechtspolitik. Mehr noch: Im Kosovo darf er jetzt mitbomben. Innerhalb der NATO-Luftflotte sind auch türkische Flugzeuge im Einsatz.

Die Liste der Glaubwürdigkeitslücken lässt sich fortsetzen.

  • Da geben die NATO-Länder vor, an einer demokratischen Entwicklung in Jugoslawien interessiert zu sein, aber – genau wie im Irak – die demokratische Opposition ist das erste Opfer der Bombenangriffe.
  • Es heißt, die nationalen Minderheiten in der BR Jugoslawien brauchten den besonderen Schutz vor der serbischen Übermacht, die Absatzbewegungen der montenegrinischen Regierung von Milosevic werden wohlwollend zur Kenntnis genommen. Und dann bombt die NATO Montenegro, den Sandzak und die von der ungarischen Minderheit bewohnte Vojvodina. Der NATO-Partner Ungarn darf zusehen (im wahrsten Sinne des Wortes) wie die ungarische Minderheit ins Elend gebombt und wie in der für die Bevölkerung ungarischen Ursprungs wichtigsten Stadt Jugoslawiens, in Novi Sad, die Infrastruktur systematisch zerstört wird.

Mit welchem Ziel bombt
die NATO?

Die Politik der NATO selbst, die Veränderung der Kriegsziele im Verlauf des Krieges wirft Fragen auf nach ungenannten Hintergründen dieses Krieges, nach politischen Zielen, die nicht benannt oder in schönen Formulierungen versteckt werden.

Die deutsche Beteiligung an einem Krieg dokumentiert das Ende der Nachkriegsordnung. Aus der Blockkonfrontation, die dem Machtdrang jeder der beiden Supermächte enge Grenzen setzte, ist die westliche Staatengemeinschaft als Siegerin hervorgegangen und jetzt geht es darum, dieses neue Kräfteverhältnis fest zu schreiben. Das ist auch der Kern der Aussage von Bundesaußenminister Fischer, wenn er in er Bundestagsdebatte vom 22.04.99 erklärt: „Im Kosovo geht es vor allem darum, in welchem Europa der Zukunft wollen wir leben.“ Im gleichen Atemzug heißt es, der Bundesregierung gehe es dabei nur um die Sicherung der Menschenrechte, um Freiheit und Demokratie. Ein Ziel, für das es sich ja gelohnt hätte und auch zukünftig lohnen wird alle politischen und ökonomischen Mittel zu mobilisieren. Nur denken die Regierenden der westlichen Welt bei der Verfolgung dieses Zieles leider zuerst einmal an den Einsatz von Macht statt an (politische und ökonomische) Hilfe. Der Logik dieses Denkens entsprach bereits die NATO-Osterweiterung (zumindest um Jahre einer EG-Erweiterung vorgezogen). Dieser Logik entspricht auch die Balkanpolitik.

Das ist kein Zufall, denn diese Politik ist nicht so uneigennützig wie sie erscheinen soll.

Noam Chomsky formuliert das folgendermaßen: „Die Militärische Allianz… hat sich selbst einen neuen Auftrag gegeben… nämlich die Gemeinschaft der demokratischen Nationen zu erweitern und zu stärken. Als Demokratie aber gelten nur jene Staaten, die die Marktwirtschaft übernehmen und sich der Globalisierung unterwerfen. Und last, but not least: dem Hegonomieanspruch der USA.“21

Letzteres bestätigt die US-Regierung ziemlich offen. Am 25. März 99 beschreibt die Frankfurter Rundschau wie Präsident Clinton seiner „Nation erklärte, warum US-Soldaten im Kosovo kämpfen sollen.“ und wie er sich bemühte den Konflikt „in ein größeres Konzept transnationaler Politk einzubetten.“ Dort heißt es u.a.: „Der zentralen Kritik, dass die USA auf dem Balken keine nationalen Interessen habe, setzte Clinton die Vision einer europäisch-amerikanischen Achse neuer Qualität entgegen… Clintons Botschaft: Wenn die USA ihre innenpolitischen und wirtschaftspolitischen Ziele erfolgreich verfolgen wollen, dann braucht es ein »vereintes, freies und demokratisches Europa«… Europa als einen Partner, mit dem die »Führerschaft« der Welt geteilt werden könne. Europa sei der »Schlüssel« zu einer langfristig starken US-Wirtschaft und für die Chancen des Landes, seine Waren weltweit ungehindert zu vertreiben.“22

Machtinstrument dieser »Achse neuer Qualität« soll die NATO sein, »entfesselt« vom Völkerrecht und anderen Behinderungen durch die zivilen internationalen Institutionen , wie UNO und OSZE.„Die NATO nach Ende des Kalten Krieges als Instrument für weltweite Kriegseinsätze ohne UN-Mandat? Im weißen Haus in Washington ist dies längst schon gültige US-Politik. In diesem geheimen US-Regierungsdokument mit dem bezeichnenden Titel »Mit den Vereinten Nationen wenn möglich, ohne sie wenn notwendig?« legte Bill Clinton bereits 1993 fest, wie die USA künftig mit den Vereinten Nationen umgehen werden: »Die NATO soll die Entscheidungskriterien für die UN festlegen und nicht umgekehrt«.“23

Die Menschenrechtsverletzungen des Milosevic-Regimes im Kosovo waren hierfür der gegebene Anlass. Die USA drängten auf einen schnellen Krieg weil Präsident Clinton entschlossen war, „den Kosovo-Krieg unter amerikanischer und unter NATO-Führung durchzuführen. Vor dem 50. Jahrestag der NATO wollte er Macht demonstrieren und einen militärischen Erfolg vorführen. Er wollte zeigen, dass die NATO nun in der internationalen Sicherheitspolitik die Führungsrolle hat – und nicht die Vereinten Nationen. Und so setzte er, an den Vereinten Nationen vorbei, die Entscheidung für den NATO-Einsatz durch.“24

Druck, den auch der deutsche Außenminister bestätigt: „15 Minuten“, erinnert sich Joschka Fischer, „blieben uns, um über eine Frage von Krieg und Frieden zu entscheiden.“25

Differenzen USA-Westeuropa?

Die USA wollen – im Gegensatz zu einigen westeuropäischen Regierungen – eine global d.h. über den europäischen Rahmen hinaus agierende NATO. So veröffentlichte die Monitor-Sendung vom 22.04.99 eine interne Karte des »United States European Command» (EUCOM)26 in Stuttgart. Auf dieser Karte ist der militärische Einflussbereich der USA mit grüner Farbe eingezeichnet und reicht vom südlichen Afrika bis weit nach Osteuropa.

Verlief die Grenze des Kalten Krieges früher mitten durch Deutschland, so zählen die USA jetzt ganz Europa bis einschließlich Weißrussland und der Ukraine zu ihrem Einflussbereich. Da macht es dann auch Sinn, wenn in Vorbereitung des aktuellen Krieges gegen Jugoslawien die ehemalige zweite Supermacht ins Abseits gedrängt wird. „Mit den Luftschlägen der NATO gegen Jugoslawien hat sich das mehr als einmal konstatierte Ende der Nachkriegsordnung in einer für Russland neuen Qualität gezeigt. Die Dominanz des Westens ist in schärferer Weise offenbar geworden als etwa bei der Erweiterung der NATO, wo man über die Einwände Moskaus nur zögerlich hinweggegangen war. Jetzt hat der Westen – was sich bereits bei den Luftschlägen gegen den Irak anbahnte – demonstriert, dass er Russland gegenwärtig in der Weltpolitik als eine Quantité négliable betrachtet. Die Position der einstigen Supermacht wurde einfach ignoriert.“27

Natürlich hätte die NATO die angestrebte neue Machtstruktur lieber ohne Bomben erreicht. Zum Verhältnis von Diplomatie und Waffeneinsatz heißt es bereits in der vier Jahre alten »Nationalen Sicherheitsstrategie der USA für das neue Jahrhundert«: Wie werden, „wie es Amerika immer getan hat, uns diplomatischer Mittel bedienen, wenn wir können, jedoch auf militärische Gewaltanwendung zurückgreifen, wenn wir müssen.“28

Hätte Milosevic in Rambouillet unterschrieben, wären keine Bomben gefallen, hätte das Milosevic-Regime nach drei Tagen Bombardierung kapituliert, dann wäre die Rechnung aufgegangen, wäre die Dominanz des Westens – mit der NATO als Weltpolizei – ein Stück mehr festgeschrieben worden.

Doch die Rechnung ist (noch) nicht aufgegangen. Sieben Wochen nach Beginn des Krieges steht die NATO vor der Entscheidung:

  • weitere Eskalation der Luftangriffe, einkalkulierend immer mehr zivile Opfer und damit auch eine wachsende Unglaubwürdigkeit der erklärten Politik,
  • Einsatz von Bodentruppen, einkalkulierend eigene Verluste und damit ein Anwachsen der Proteste in den eigenen Ländern
  • oder Orientierung auf eine Verhandlungslösung unter Einbeziehung Russlands und der UNO.

Der Bundesregierung darf man zu Gute halten, dass sie als erstes NATO-Land auf die Wiedereinbeziehung Russlands auf diplomatischer Ebene gedrängt hat. Entscheidend ist aber nicht nur ob die UNO, ob die OSZE, ob Russland einbezogen werden in eine Verhandlungslösung, entscheidend ist vor allem das Wie. Wird Russland von der NATO als Partner anerkannt oder dient es nur als Briefträger, werden UNO und OSZE wieder gestärkt oder erledigt die UNO zukünftig nur noch die ihr von der NATO zugewiesenen Aufgaben?

Eine zivile Welt, eine zivile Lösung der zahlreichen Konflikte verlangt nach einem Ausbau ziviler internationaler Strukturen, sie verlangt nach Wegen und Mechanismen, um die Lösung anstehender Probleme zukünftig im Konsens der überwiegenden Mehrheit der Staatengemeinschaft anzupacken und nicht als »Diktat des Westens«, notfalls gegen den Rest der Welt.

Jürgen Nieth ist verantwortlicher Redakteur von Wissenschaft & Frieden


Ein Besatzungsstatut für Gesamt-Jugoslawien

Auszüge aus dem Vertragsentwurf von Rambouillet

Appendix B: »Status einer multinationalen militärischen Implementierungstruppe«

Artikel 6

a) Die NATO genießt Immunität vor allen rechtlichen Verfahren – ob zivil, verwaltungs- oder strafrechtlich.

b) Die zur NATO gehörenden Personen genießen unter allen Umständen und zu jeder Zeit Immunität vor der Gerichtsbarkeit der Konfliktparteien hinsichtlich sämtlicher zivil-, verwaltungs-, straf- oder disziplinarrechtlicher Vergehen, die sie möglicherweise in der Bundesrepublik Jugoslawien begehen.
Die Konfliktparteien sollen die an der NATO-Operation beteiligten Staaten dabei unterstützen, ihre Jurisdiktion über ihre eigenen Staatsangehörigen auszuüben.

Artikel 8

Das NATO-Personal soll sich mitsamt seiner Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und Ausrüstung innerhalb der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraumes und ihrer Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen können.

Das schließt ein – ist aber nicht begrenzt auf – das Recht zur Errichtung von Lagern, die Durchführung von Manövern und das Recht auf die Nutzung sämtlicher Regionen oder Einrichtungen, die benötigt werden für Nachschub, Training und Feldoperationen.

Artikel 10

Die Behörden der Bundesrepublik Jugoslawien sollen den Transport von Personal, Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen, Ausrüstung oder Nachschub der NATO durch den Luftraum, Häfen, Straßen oder Flughäfen mit allen angemessenen Mitteln und mit Priorität ermöglichen.

Der NATO dürfen keine Kosten berechnet werden für die Starts, Landung oder Luftraum-Navigation von Flugzeugen.

Ebenso dürfen keine Zölle, Gebühren oder andere Kosten erhoben werden für die Nutzung von Häfen durch Schiffe der NATO.

Fahrzeuge, Schiffe oder Flugzeuge, die bei der NATO-Operation eingesetzt werden, unterliegen keiner Verpflichtung zur Genehmigung, Registrierung oder kommerziellen Versicherung.

Anmerkungen

1) taz, 15.04.99, S.3: Es ist eine rohe barbarische Form des Faschismus.

2) Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien (Stand November 1998) des Auswärtigen Amtes der BRD. Zitiert nach konkret 5/99: Zu Protokoll.

3) Bericht des Auswärtigen Amtes a.a.O.

4) Reinhard Mutz, stellvertretender Direktor des IFSH, in der taz am 23.04.99.

5) Fotos des Massakers wurden am 27.04.99 von Rudolf Scharping im Bundestag als neueste Dokumente für die Verbrechen der Serben der Öffentlichkeit präsentiert, sozusagen als »nachträgliche Kriegsbegründung«. Verschwiegen wurde, dass Der Spiegel die Fotos bereits in der Ausgabe 5/99, Anfang Februar, veröffentlicht hatte. Siehe auch Der Spiegel vom 03.05.99, S. 23.

6) Zitiert nach Der Spiegel, 08.03.99.

7) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 13/1999, S. 140.

8) AZ: 514-516.80/3 Yug, zitiert nach IALANA, Presseerklärung vom 22.04.99.

9) AZ: 514-516.80/3 Yug, zitiert nach IALANA, Presseerklärung vom 22.04.99.

10) AZ: 514-516.80/33 841, zitiert nach IALANA, Presseerklärung vom 22.04.99.

11) Bundeswehr-Generalinspekteur Hans Peter von Kirchheim am 08.04.1999 auf einer Pressekonferenz des Verteidigungsministers. Zitiert in konkret 5/1999 nach einer Fernsehmitschrift.

12) Konkret 5/1999, S.39.

13) Der Spiegel, 26.04.99, S. 26.

14) Hans Leyendecker in Süddeutsche Zeitung, 14.04.99.

15) Der Spiegel, 08.03.1999.

16) Werner Link in Frankfurter Rundschau, 02.04.1999.

17) Manuskript Hermann Scheer.

18) Der OSZE-Parlamentarier Willy Wimmer (CDU) in einem Interview des Deutschlandfunks vom Januar 1999, zitiert nach Junge Welt, 19.01.99.

19) Vertraulicher Bericht des Auswärtigen Amts vom November 1998, zitiert nach konkret 5/99, S. 36.

20) Süddeutsche Zeitung, 31.03.99.

21) Noam Chomsky, Professor am Massachussets Institute of Technologie, Boston, in Le Monde diplomatique, 14.05.99, S. 15.

22) Martin Winter in Frankfurter Rundschau, 25.03.99, S. 7.

23) Monitor-Sendung vom 22.04.99. Der gesamte Text ist im Internet unter »www.monitor.de« nachzulesen.

24) Michael Klare, Professor am international renommierten Hampshire College in Massachusettes, einer der führenden Kenner der US-Militärpolitik in der Monitor-Sendung vom 22.04.99.

25) DIE ZEIT, Dossier vom 12.05.99, S. 20.

26) Nach der in Monitor veröffentlichten Karte scheint übrigens auch die weitere Aufteilung Jugoslawiens für die USA bereits beschlossene Sache zu sein: Die jugoslawische Teilrepublik Montenegro ist auf der US-Militärkarte bereits als eigenständiger Staat eingezeichnet.

27) Christiane Hoffmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 08.04.99, S. 1.

28) Clinton, William J.: A National Security Strategy of Engagement and Enlargement, Washington, D. C., February 1995, p. ii. (zitiert nach W&F Dossier Nr.32: Amerika – Das Rom der Moderne?).

Das »Interim Agreement for Peace and Self-Goverment in Kosovo (February 23, 1999)« ist vollständig dokumentiert unter: http://www.balkanaction.org/pubs/kia299.htm.

Uran-Geschosse im Einsatz

Uran-Geschosse im Einsatz

von Redaktion

Bereits zu Beginn des Krieges hat sich die internationale ÄrztInnenvereinigung gegen den Atomkrieg IPPNW an den Verteidigungs- und den Außenminister gewandt und darauf hingewiesen, dass die NATO im Krieg gegen Jugoslawien „A-10 Bomber einsetzt, die – wie aus dem Irak und Bosnien bekannt – panzerbrechende 30mm Geschosse mit abgereichertem Uran benutzen.“1 Es handelt sich um 22 Bomber mit einer Feuerleistung von 3.000 Schuss in der Minute. „Jedes Geschoss enthält 272 Gramm Uran-238… (dadurch wird die Munition) bei bleibender Durchschlagskraft kleiner, gewinnt aber an Geschwindigkeit und Reichweite. Bei einem Treffer kommt es zur Feinverteilung des Urans; es entzündet sich und Uranoxid wird freigesetzt.“ Über die Folgen heißt es bei der IPPNW: „Gelangt (das Gift) in den Körper, bewirkt es bei hoher Dosis eine Schwermetallvergiftung, bei niedriger Dosis schädigt es die Nieren. Eingeatmete Isotope setzen das Lungengewebe der Strahlung aus, was zu Krebs führen kann.“

Während der deutsche Verteidigungsminister lediglich die Auskunft gab, dass die deutsche Luftwaffe diese Munition nicht einsetze, bestätigte die NATO den Einsatz der Munition.2

In einem Beitrag von Jo Angerer, Johannes Höflich, Mathias Werth zur Monitor-Sendung am 22.04.99 heißt es zu diesen Folgen dieses Munitionseinsatzes:

„Schon 1991 im Golfkrieg gegen den Irak hatten die USA diese Uran-Granaten eingesetzt – vor allem in der Gegend um Basra. Die Folgen: Die Krebsrate hat sich nach amerikanischen Untersuchungen in dieser Region vervielfacht und besonders Kinder erkranken hier an Leukämie, also Blutkrebs, oder sie leiden häufiger unter schweren Nieren- und Leberschädigungen. In der Region um das zerstörte Basra sind diese Schäden in den Krankenhäusern auch bei den Kindern zu beobachten, die nach dem Golfkrieg geboren wurden. Der kanadische Chemiker Dr. Hari Sharma hat in seinem Universitätsinstitut in Toronto in den letzten Jahren die Folgen der amerikanischen Uranmunition bei irakischen Kindern dokumentiert. Auch heute findet er immer noch messbare Spuren in den Körpern der Bevölkerung von Basra. Nach seinen Berechnungen werden nach dem Golfkrieg bis zu 35.000 Menschen zusätzlich daran sterben.“

Monitor stellte US-Soldaten vor, die im Golfkrieg nach dem Kontakt mit Splittern von freigesetzter Uranmunition schwer erkrankten und belegte, dass die US-Streitkräfte ihre eigenen Soldaten mit einem internen Aufklärungsvideo vor den Gefahren warnt, die von der Munition ausgehen. O-Ton Monitor: „Gefahr für Leib und Leben drohe, so heißt es, »wenn man mit dem radioaktiven Material innerhalb oder außerhalb des Körpers« in Kontakt komme. Gefahr drohe sogar beim Essen und Trinken, wenn der Uranstaub auf die Mahlzeit riesele. Er dürfe weder in den Magen noch in die Lunge geraten, warnt die US-Armee. In Schutzkleidung müsse kontaminiertes Material, wie zum Beispiel getroffene Panzer, unmittelbar versiegelt und fortgeschafft werden. Beachte man diese Vorsichtsregeln beim Umgang mit der Uran-Munition nicht, dann sei dies lebensgefährlich, so warnt die US-Armee ihre Soldaten.

Anders als nach außen dargestellt, sind die amerikanischen Militärs, hier im Pentagon in Washington, über die Folgen ihrer Uran-Munition sehr beunruhigt. Mit großem Aufwand setzten sie Spezialisten zur Untersuchung der Folgen für Mensch und Umwelt ein.

Professor Doug Rokke war Direktor dieser Expertengruppe des US-Verteidigungsministeriums. Er ist Arzt und Umweltphysiker am medizinischen Institut der renommierten Universität von Jacksonville, Alabama. Im Irak hat er über Jahre mit seinem Team die Folgen der radioaktiven Uran-Munition untersucht.“

Und eben dieser Prof. Doug Rokke erklärt:Es ist festzustellen, dass dieses radioaktive Material dort noch immer herumliegt und auch dort bleiben wird. Es gibt keinerlei Möglichkeit, es wegzuschaffen oder aufzulösen. Das einzige wäre, es Stück für Stück aufzusammeln und es irgendwo anders sicher endzulagern. Es ist wirklich sehr viel gefährlicher als zum Beispiel Landminen.“

Die Gefährlichkeit der Uran-Munition ist umfassend dokumentiert. Die IPPNW hatte bereits in o. g. Stellungnahme darauf hingewiesen, dass die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf seit Mitte der neunziger Jahre an einem Bann dieser Waffen arbeitet, da „ihre Wirkung auf Zivilpersonen nach einem militärischen Einsatz nicht kontrollierbar ist.“

Professor Rokke, der die gesamte Forschung der US-Armee zur Uran-Munition leitete und auch die militärischen Dienstanweisungen für US-Soldaten verfasste, kommt in der Monitor-Sendung zu der Feststellung: „Wir bekämpfen die Serben, damit die vertriebenen Kosovaren zurückkehren können. Aber wie sollen die Kosovaren in diese Gegend zurückkehren können, in eine radioaktive Wüste, wo ihr Land, ihre Städte mit Uran-Geschossen übersät sind?“

Außenminister Fischer will dies allerdings nicht wahrhaben. Er beantwortete eine Monitor-Anfrage mit den Worten: „Dem Auswärtigen Amt ist bekannt, dass solche Munition im Kosovo-Konflikt zum Einsatz kommen kann… [Es] ist jedoch davon auszugehen, dass Gefährdungen der von Ihnen beschriebenen Art für Mensch und Umwelt nicht auftreten.“

Die Gefahr einer zunehmenden Verseuchung des Kosovo nimmt weiter zu, wenn es zum Einsatz der 24 US-amerikanischen Apache-Hubschrauber kommen sollte, die bereits in der Region sind und die genau wie die A-10-Bomber Uran-Granaten abschießen.

Anmerkungen

1) IPPNW: Uran Geschosse im Einsatz. taz-Beilage des Netzwerks Friedenskooperative vom 14.04.l 1999.

2) Monitor Sendung in der ARD vom 22.04.1999, zitiert nach internet: http//www.monitor.de.

Die Kosten und Folgekosten des Kosovo-Krieges

Die Kosten und Folgekosten des Kosovo-Krieges

von Matthias Z. Karádi

Krieg kostet seit alters her viel Geld. Für die modernen Kriege gilt dies in besonderem Maße. Der Einsatz modernster Waffen und Technologie schlägt sich in entsprechenden Kriegskosten nieder. Während die NATO gegen Jugoslawien aus der Luft den High-Tech-Krieg des 21. Jahrhunderts führt, finden gleichzeitig auf dem Boden Metzeleien und Vertreibungen statt. Gegenwärtig ist noch nicht abzusehen, wie lange der Luftkrieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien dauern wird. Mit Fortdauer des Krieges steigen nicht nur die sogenannten »Kollateralschäden«, sondern auch die Opfer. Je länger der Krieg dauert, umso deutlicher wird, dass es den – von der NATO propagierten – sauberen, chirurgischen Krieg nicht gibt. Gleichzeitig schwindet die Zustimmung innerhalb der NATO-Staaten. Nicht erst seit der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad, ist die Zielplanung der NATO in die Kritik geraten. Sollte bis zum Spätsommer des Jahres 1999 keine politische Lösung erzielt werden, dürfte die NATO den Einsatz von Bodentruppen in Erwägung ziehen.1 Mit anderen Worten: Die Kosten des Krieges sind stark von der weiteren Entwicklung abhängig, die veranschlagten Summen können deshalb nur ungenaue und vorläufige Schätzungen sein.

Bei der Schätzung der Kosten und Folgekosten des Krieges ist zu unterscheiden zwischen 1. den militärischen Kosten der kriegführenden NATO-Länder2; 2. den Kosten, die den Nachbar- und Anrainerstaaten als Folge des Krieges entstehen; 3. den Zerstörungen, die die NATO-Bomben in der Bundesrepublik Jugoslawien anrichten und 4. den zu erwartenden Kosten für Wiederaufbau- und Unterstützungsmaßnahmen für die Region, die derzeit unter den Begriffen »Stabilitätspakt für Südosteuropa« und »Marshallplan für den Balkan« diskutiert werden. Fest steht, dass die sozialen und wirtschaftlichen Lasten für das Kriegsgebiet und die direkt betroffenen Anrainerstaaten am höchsten sind.

Die Kriegskosten der NATO

Die unmittelbaren Kriegskosten für die beteiligten NATO-Staaten können nur ungefähr geschätzt werden. Mit der Intensivierung der Luftangriffe und der Verlegung von zusätzlichen Flugzeugen, Kampfhubschraubern und Soldaten in die Region steigen auch die Kosten. Sollte sich die NATO doch noch für den Einsatz von Bodentruppen entscheiden, würde dies nicht nur eine neue Qualität des Krieges, sondern eine weitere Kostenexplosion mit sich bringen. So würde ein Einsatz von Bodentruppen nach Schätzungen des Institute for Strategic Studiesin New York die Kriegskosten vervierfachen.3

Die bislang detaillierteste Auflistung der Kriegskosten findet sich in einer Studie der Universität der Bundeswehr München.4 Die entstehenden Kosten für die NATO-Staaten summieren sich aus folgenden vier Faktoren: 1. Munitionseinsatz, 2. Einsatz von Luftfahrzeugen, 3. Entstandene Verluste an Luftfahrzeugen und 4. Sonstige Zusatzkosten. Demnach setzten sich die täglichen Mindestkosten des NATO-Einsatzes wie folgt zusammen:

  • Munitionseinsatz: ca. 67 Millionen DM – davon 27 Millionen DM für Lenkflugkörper (Tomahawks und Cruise Missiles), 30 Millionen DM für Bomben5 sowie zehn Millionen DM »sonstiger Munitionseinsatz«.
  • Einsatz von Kampfflugzeugen und Drohnen: ca. 31 Millionen DM – davon 26 Millionen für Treibstoff, Wartung und Reparaturen sowie fünf Millionen DM für Verluste an Luftfahrzeugen. (Zu den zwei Drohnen und dem F-117 A Nighthawk ist mittlerweile noch ein Apache-Kampfhubschrauber dazugekommen.)
  • Sonstige Zusatzkosten: ca. 15 Millionen DM. Diese Zusatzkosten entstehen im Wesentlichen durch die Bereitstellung von Truppen in Mazedonien, Albanien und Italien, aber auch in Deutschland und England.

Damit summieren sich die täglichen Kosten der NATO-Einsätze auf ca. 120 Millionen DM pro Tag, d.h. 840 Millionen DM pro Woche. Zugleich räumt die Studie ein, dass die tatsächlichen Kosten wesentlich über diesen vorsichtigen Schätzungen liegen dürften.6 So sind beispielsweise die Kosten für die Satellitenaufklärung und die Kriegsschiffe in der Adria ebensowenig mit eingerechnet wie die Ausgaben für die humanitäre Nothilfe. Grob geschätzt kann deshalb für die ersten Kriegswochen von etwa einer Milliarde DM pro Wocheausgegangen werden. Die Erhöhung der Zahl der Kampfflugzeuge sowie die Verlegung von Apache-Kampfhubschraubern und zusätzlichen NATO-Truppen nach Mazedonien und Albanien wird die Kosten entsprechend steigen lassen. Auch das von EU und NATO beschlossene Ölembargo und dessen Überwachung durch Kriegsschiffe in der Adria werden mit weiteren Summen zu Buche schlagen.

Noch geht man innerhalb der NATO davon aus, dass jedes Land den jeweils eigenen Anteil der Kriegskosten bestreitet. Falls dem so wäre, käme Deutschland mit weniger als fünf Prozent der Kriegskosten davon, während die Vereinigten Staaten von Amerika mit ca. 75 Prozent den Hauptteil der Kriegskosten tragen müssten. Von den bislang 680 eingesetzten NATO-Flugzeugen stellen die USA 500, darunter insbesondere die teuren Systeme wie die F-117 A Nighthawk und die B-2-Tarnkappenbomber. Auch die meisten Bomben und Marschflugkörper stammen aus US-amerikanischen Arsenalen. Damit stehen zwei Kriegsgewinner jedenfalls schon fest: die beiden US-Rüstungskonzerne General Dynamics und Raytheon. Beide melden Kursgewinne von über 20 Prozent. Nach Berechnungen des Center for Strategic and Budgetary Assessment in Washington zahlen allein die USA für den Luftkrieg gegen Jugoslawien jeden Tag 20 bis 40 Millionen Dollar. Sollte der Krieg drei Monate dauern, würden die Kosten nach amerikanischen Berechnungen auf mindestens 20 Milliarden Dollar (36 Milliarden DM) steigen. Diese Zahl halten jedoch die meisten Experten für zu hoch gegriffen.

Je länger der Krieg dauert und je teurer er damit wird, um so wahrscheinlicher ist es, dass die USA bestrebt sein werden, den Anteil der Kriegskosten auf die NATO-Mitglieder umzulegen, womöglich nach dem jeweiligen Anteil eines jeden NATO-Landes am Gesamt-Bruttosozialprodukt der NATO-Länder. Dies wären im Falle Deutschlands zwölf Prozent. Ferner ist davon auszugehen, dass für das Kosovo und den gesamten Balkan das Prinzip gelten wird, dass auch schon bei Bosnien Anwendung fand: Die USA zahlen den Krieg, Europa den Wiederaufbau.

Die Kosten für die humanitäre Hilfe

Kaum abzuschätzen sind die Kosten für Versorgung und Unterbringung der Kosovo-Flüchtlinge. Die humanitären Hilfen stellen bislang lediglich einen Bruchteil der Kriegskosten dar. So rechnet das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) mit 430 Millionen DM, um 650.000 Vertriebene fürs erste in der Region zu versorgen. „Ein Zelt des Technischen Hilfswerks für eine Flüchtlingsfamilie kostet 2.500 DM.“7 Bislang hat die Europäische Union 800 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt, davon finanziert Bonn rund 30 Prozent. Darüber hinaus haben das deutsche Entwicklungshilfeministerium 15 Millionen, das Außenministerium 23 Millionen und die privaten Hilfswerke über 30 Millionen DM für humanitäre Hilfslieferungen angesetzt.8

Das Bestreben europäischer PolitikerInnen, die Flüchtlinge nach Möglichkeit vor Ort zu belassen und »Hilfe zur Selbsthilfe« für Mazedonien und Albanien zu leisten, liegt vor allem in den hohen Kosten für die Unterbringung von Balkan-Flüchtlingen in Westeuropa begründet. So haben während des Bosnien-Krieges in Deutschland die Kommunen und Länder allein für die Versorgung und Unterbringung von 350.000 bosnischen Kriegsflüchtlingen zweistellige Milliardenbeträge ausgegeben, die Bundesregierung spricht von 20 Milliarden DM. Die unzureichende Aufnahmebereitschaft der EU-Länder für kosovo-albanische Flüchtlinge lässt jedenfalls den Schluss zu, dass der Westen die humanitäre Katastrophe zwar verhindern möchte, wenn möglich jedoch auf Kosten der Nachbarländer der Bundesrepublik Jugoslawien.

Die Folgekosten

Die eigentlichen Kriegskosten werden jedoch neben den Kosten für den Wiederaufbau der Region verblassen. Denn: Die Folgekosten des Kosovo-Krieges betreffen nicht nur die Bundesrepublik Jugoslawien, das in den Worten eines Militärs „in die Steinzeit zurückgebombt wurde“, sondern auch die Nachbarländer. Zerstörte Donaubrücken und Infrastruktur haben den Handel nahezu zum Erliegen gebracht. Nach Schätzungen der NATO betragen die Schäden in Jugoslawien durch die Luftangriffe allein an Gebäuden, Straßen und Brücken an die 20 Milliarden DM. Belgrad hingegen beziffert den Schaden auf mindestens 181 Milliarden DM.9

Neben der Bundesrepublik Jugoslawien sind auch die Anrainer durch den Krieg betroffen. Nach Schätzungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds belaufen sich die Kriegskosten für die Nachbarstaaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien und Rumänien auf mindestens zweieinhalb Milliarden Dollar für dieses Jahr. Darunter fallen vor allem die Lasten für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Ausfälle bei Handel und Tourismus.10

Der dickste Brocken kommt jedoch noch: Es ist der von EU und NATO angekündigte »Marshall-Plan für den Balkan«. Damit soll die gesamte Region nach Ende des Krieges stabilisiert und ihr eine Perspektive gegeben werden. Mit anderen Worten: Der Westen wird den Wiederaufbau des von ihm zerbombten Landes bezahlen müssen. Von Experten geschätzte Kosten: Über 100 Milliarden DM.11 Doch auch hier variieren die Zahlen: Während EU-Kommissar Yves Thilbaut de Silgui mit 60 Milliarden DM für den Wiederaufbau der Region rechnet, gehen andere Kalkulationen von 600 Milliarden DM für die Beseitigung aller Folgeschäden des Krieges aus.12 Darin enthalten wären auch die Kosten für NATO- und OSZE-Missionen, die nach Ende des Krieges vermutlich nicht nur im Kosovo, sondern auch in Albanien und Mazedonien über Jahre, vermutlich Jahrzehnte stationiert werden müssen. Zusammen mit Bosnien und Ostslawonien würde die internationale Gemeinschaft – d.h. in erster Linie der Westen – somit fünf Quasi-Protektorate auf dem Balkan unterhalten und finanzieren müssen. Bosnien-Herzegowina kann hier als Modell dienen. So kostet die internationale Präsenz in Bosnien pro Jahr etwa 15 Milliarden DM (SFOR, OSZE, EU, UNHCR, UNO etc). Darüber hinaus sind auf den Geberkonferenzen bislang fünf Milliarden Dollar für den wirtschaftlichen Wiederaufbau aufgebracht worden.

Die Gesamtrechnung wird also so oder so riesig werden, auch wenn die bereits vollmundig angekündigten Milliarden für einen Balkan-Marshallplan in der Realität um einiges niedriger ausfallen dürften. Angesichts der instabilen Verhältnisse ist davon auszugehen, dass eine friedliche Neuordnung des Balkans Jahrzehnte dauert, große Summen kostet und nur über die langfristige Aussicht auf Integration in die euro-atlantischen Strukturen Erfolg verspricht. Doch auch hier gilt: Abgerechnet wird zum Schluss.

Anmerkungen

1) Vgl. zu den Hintergründen und den aktuellen Entwicklungen des Kosovo-Krieges: Hans-Georg Ehrhart/Matthias Z. Karádi, Brennt der Balkan? Plädoyer für eine komplexe Präventionspolitik im Kosovo-Konflikt, Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Ausgabe 23/1998, Hamburg, März 1998; sowie dies., Krieg auf dem Balkan. Lage, Interessen, Optionen, Lehren und Perspektiven, Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Ausgabe 27/1998, Hamburg, Mai 1999.

2) Folgende zehn NATO-Staaten sind am Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien beteiligt: Die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, Belgien, die Niederlande, Portugal und Spanien.

3) Vgl. International Herald Tribune, 25.4.1999.

4) J. Schnell/G.A. Straub, Kurzstudie der Universität der Bundeswehr »Abschätzung der militärischen Kosten des Kosovo-Einsatzes der NATO«. München 1999 (Stand: 15.04.1999).

5) Dabei geht die Studie von täglich 80 Bomben à 360.000 DM aus. Ebda, S. 5/6.

6) Ebda, S. 9.

7) Wolfgang Hoffmann, Offene Rechnungen. Wie die NATO-Partner die Kosten des Krieges kalkulieren, in: DIE ZEIT, 22.4.1999.

8) Vgl. Frankfurter Rundschau, 15.4.1999.

9) Vgl. Welt am Sonntag, 18.4.1999.

10) Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.4.1999.

11) Ludwig Greven, Rechnung folgt, in: DIE WOCHE, 16.4.1999.

12) Vgl. Alois Berger, Kassen-Sturz, in: DIE WOCHE 14.5.1999.

Matthias Z. Karádi ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Der Preis des Krieges

Der Preis des Krieges

Die Bundeswehr wird noch teurer

von Paul Schäfer

Dass die Bundeswehr nach dem Kosovo-Krieg nicht mehr dieselbe sein wird, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Mehr noch. Weitreichende Änderungen hat der für Verteidigungs- und Kriegsangelegenheiten zuständige Mann am Kabinettstisch, Minister Scharping, bereits öffentlich angekündigt:

  • Der Anteil der sog. Krisenreaktionskräfte soll beträchtlich erhöht werden. Bisher sind dafür etwas über 50.000 Soldaten eingeplant.
  • Die Bundeswehr brauche neue, längerreichweitige Transportkapazitäten und müsse endlich über eine eigenständige strategische Satellitenaufklärung verfügen.

Zu rechnen ist also mit dem beschleunigten Umbau der Bundeswehr in eine Interventionsarmee und neuen Beschaffungsprogrammen, die die in den letzten Jahren eingeleitete dritte große Beschaffungswelle der Bundeswehr ergänzen.

Der Kosovo-Krieg habe deutlich gemacht, wie sehr die Westeuropäer rüstungstechnologisch den USA hinterherhinkten, heißt es nicht nur in Fachkreisen. In der Tat stellen die USA auf dem Balkan das Gros der Flugzeuge, mehr als 70 % der eingesetzten »Feuerkraft«, einen Großteil der High-Tech-Waffen und der benötigten Aufklärungs- und Gefechtsführungssysteme. In der »Bremen-Erklärung« des WEU-Ministerrats vom 11. Mai dieses Jahres haben die europäischen NATO-Mitglieder gerade wieder die Notwendigkeit einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschworen. Man kann davon ausgehen, dass sich die europäischen Rüstungsanstrengungen nach dem Krieg verstärken werden, d.h. steigende Rüstungsetats. Ob die Bürgerinnen und Bürger von London bis Athen diese Zumutung akzeptieren werden, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Mit den neuesten Schreckensmeldungen über zu erwartende Mindereinnahmen der öffentlichen Hand von 35,4 Mrd. DM in den Jahren 2000 bis 2002, spitzen sich die ohnehin riesigen Finanzprobleme des Bundes noch weiter zu. An einem »strikten Sparkurs« führe kein Weg vorbei, meint der neue Finanzminister. Die Absicht der Militärplaner, den Wehretat überplanmäßig aufzustocken, erscheinen unter diesen Vorzeichen als kühn. Selbst in SPD-Kreisen, die bisher strikt an dem derzeitigen Streitkräfteumfang festhalten wollten, setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass man zu Personalkürzungen kommen müsse, wenn man die ehrgeizigen Rüstungs-Investitionsprogramme aufrechterhalten wolle. Die Zahl von 270.000 Soldaten geistert herum. Ob sich eine solche Verschlankung der Bundeswehr als Abrüstungspolitik verkaufen ließe, sei dahingestellt. Tatsache wäre, dass die Einsparungen bei den Personalkosten für die interventionistisch ausgerichtete Umrüstung und die Finanzierung der Kriegseinsätze verwandt würden.

Was kostet uns der Krieg?

Schon beim jetzt verabschiedeten Rüstungsetat 1999 war ein heftiges Gezerre hinter den Kulissen im Gange. Dabei ging es vor allem um die Frage, zu welchen Anteilen der laufende Kriegseinsatz auf dem Balkan aus dem Einzelplan des Ministers Scharping bzw. der Allgemeinen Finanzverwaltung (Einzelplan 60) finanziert werden sollte. Wie man hört, trug zum überraschenden Rücktritt Oskar Lafontaine nicht zuletzt bei, dass sich Scharping die Unterstützung des Kanzlers sichern konnte, die Kriegskosten auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Während der SFOR-Einsatz in Bosnien mit ca. 300 Millionen DM und die Einsätze der Luftwaffe (gegenwärtig mit knapp 300 Mio. DM veranschlagt) noch aus dem Einzelplan 14 (BMVg) zu erwirtschaften sind, soll der Finanzminister den Einsatz des Heeres (mit 441 Mio. DM angesetzt) übernehmen. Auch der jüngste Bundestagsbeschluss über »humanitäre Hilfe« der Bundeswehr in Albanien und Mazedonien soll mit etwa 360 Mio. DM dem Einzelplan 60 zugeschlagen werden.

Insgesamt soll der Balkan-Einsatz der Bundeswehr nach jetziger Vorstellung 1999 ca. 1,5 Milliarden DM kosten. Diese Rechnung enthält einige Unbekannte. Noch nicht eingeschlossen sind die Aufwendungen für die Wiederauffüllung der verbrauchten Waffenarsenale. Bisher wurden zum Beispiel durch die deutschen Tornado-Piloten knapp 200 HARM-Raketen verschossen, deren Wiederbeschaffungswert gegenwärtig pro Stück 1,2 Mio. DM beträgt. Die wirklichen Ausgaben werden also in diesem und im nächsten Haushaltsjahr noch weiter steigen.

Rüstungsausgaben
bleiben im Aufwärtstrend

Der jetzige Haushaltsansatz sieht einen Plafonds des Einzelplans 14 von 47,049 Mrd. DM vor. Damit musste der Rüstungsminister im Rahmen der sog. globalen Minderausgabe (minus 450 Mio. DM) sein Scherflein zur Sanierung des Gesamtetats beitragen. Nach dem Ausscheiden Lafontaines konnte sich Scharping aber eine Kompensation von 232 Mio. DM sichern: Durch die erhöhte Beteiligung des Ressorts am Verkauf von Material und Grundstücken soll dieser Betrag zur Verstärkung investiver Ausgaben genutzt werden. Damit erreicht der EP 14 fast wieder den in der mittelfristigen Planung eingesetzten Betrag und liegt nur ca. 200 Mio. DM unter dem Ansatz des CSU-Finanzministers Waigel aus dem Sommer 1998.

Addiert mit den Verstärkungsmitteln (gemeint sind hier Lohnerhöhungen) für militärische und humanitäre Aufgaben steigt er um 1,8 Prozent.

Bleibt es bei der bisherigen Planung bewegt sich der Wehretat in den nächsten Jahren wieder auf die 50 Milliarden-Grenze zu. Nach NATO-Kriterien liegt er ohnehin weit darüber. Mehr als 58 Milliarden DM schlagen demnach für das Militär zu Buche. Addieren wir die aus anderen Ressorts zu bestreitenden aktuellen Kriegskosten hinzu, so kann festgestellt werden: Zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges leisten wir uns eine Summe von über sechzig Milliarden DM für Soldaten und Waffen.

Gleichzeitig wird zur Zeit die Diskussion über einen »Marshall-Plan« für Südosteuropa geführt. Während täglich immense Kriegsschäden angerichtet werden, wird darüber gesprochen, dass umfangreiche Milliarden-Beträge für den Wiederaufbau mobilisiert werden müssten.

Anstieg vor allem bei den militärischen Beschaffungen

Die Schröder-Regierung setzt auch die Vorgabe der alten Regierung um, den verteidigungsintensiven Teil am Gesamtplafond schrittweise anzuheben. Er steigt von 23,9 % auf 25,4 % in 1999. Das Ziel bleibt ein Anteil von 30%. Nur so lassen sich auch die aufwendigen Beschaffungsprogramme zur Modernisierung und Umrüstung der Bundeswehr finanzieren. Während sich die Ausgaben für Materialerhaltung, militärische Forschung & Entwicklung nur geringfügig verändern, steigt der Posten militärische Beschaffung um knapp 1 Mrd. DM auf rund 7,3 Mrd. DM an. Mit weiteren Steigerungen ist angesichts der umfangreichen Verpflichtungsermächtigungen (Eurofighter, Hubschrauber TIGER, neue Fregatten, Gepanzertes Transportfahrzeug GTK etc.) für die nächsten Jahre zu rechnen. Allein zwei Großprojekte der Luftwaffe – die neuen Jagdflugzeuge und die neuen Hubschrauber – beanspruchen innerhalb der nächsten zehn Jahre Beträge zwischen 40 und 50 Milliarden DM. Auch bei den diesjährigen Zuwachsraten liegt die Luftwaffe mit einem Plus von 630 Mio. DM vorne. Davon wiederum fließen 375 Mio. DM allein in den planmäßigen Aufwuchs bei der Eurofighter-Beschaffung. Die leichte Absenkung des Haushaltsansatzes im Bereich militärische Forschung, Entwicklung und Erprobung um 70 Mio. DM ändert nichts daran, dass erhebliche Summen aufgewandt werden um die Tötungs- und Zerstörungsinstrumente der Streitkräfte weiter zu effektivieren. Der Etatrückgang ist nahezu ausschließlich auf auslaufende Entwicklungsprogramme beim Eurofighter und beim Kampfflugzeug MRCA zurückzuführen. Das Ministerium kann folgerichtig und mit Stolz verkünden, dass die laufenden Entwicklungsvorhaben weitgehend plangerecht fortgeführt werden können. Dies betrifft vor allem ein neues Satellitenkommunikationssystem der Bundeswehr (SATCOM), das Gepanzerte Transport-Kraftfahrzeug (GTK), die Kampfdrohne TAIFUN des Heeres , die Modulare Abstandswaffe (MAW-Taurus) und die Luft/Luft-Lenkflugkörper kurzer (IRIS-T) und mittlerer Reichweite (EURAAM/METEOR), die für die Bewaffnung des Eurofighter vorgesehen sind. 2 Milliarden DM für militärische Forschung, fünf Millionen DM für Zivilen Friedensdienst – das soll zukunftsorientierte Politik sein?

Die Friedensdividende
kommt nicht von allein

Friedensforschung und Friedensbewegung müssen sich durch diese Entwicklungen herausgefordert fühlen: Der Preis dafür, dass Deutschland seit dem 24. März 1999 neue Kriegsführungsmacht ist, ist hoch. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der Balkan-Krieg Katalysator für weitere Rüstungsrunden sein wird. Hier und in anderen Teilen der Welt. Damit kann dann wieder die Steigerung der Ausgaben hierzulande begründet werden. Neue Initiativen gegen den Umbau der Bundeswehr, für konsequente und qualitative Abrüstung sind überfällig.

Paul Schäfer ist Wiss. Mitarbeiter im Deutschen Bundestag.

Zum Krieg

Zum Krieg

Stimmen aus dem Bundestag

von Deutscher Bundestag

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

…Wir hatten deshalb keine andere Wahl, als gemeinsam mit unseren Verbündeten die Drohung der NATO wahrzumachen und ein deutliches Zeichen dafür zu setzen, dass wir als Staatengemeinschaft die weitere systematische Verletzung der Menschenrechte im Kosovo nicht hinzunehmen bereit sind.

…Wir alle wissen, dass dies das erste Mal seit dem zweiten Weltkrieg ist, dass deutsche Soldaten in einem Kampfeinsatz stehen. Ich darf Ihnen deshalb versichern, dass die Bundesregierung sich ihre Entscheidung nicht leichtgemacht hat. Aber wir wissen uns einig und in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung und, Gott sei Dank, auch mit der großen Mehrheit des Deutschen Bundestages – über alle Parteigrenzen hinweg.

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung:

…Dass wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Europa in der Lage sind, unsere Werte und unsere Ideale nicht nur zu reklamieren, sondern mehr für sie zu tun als in den Zeiten davor, finde ich, ist auch ein Teil der Verantwortung, die mit dem Kosovo verbunden ist. Deshalb sage ich, dass angesichts der Realitäten, die sich dort entwickelt haben, angesichts des monatelangen Bemühens um eine politisch vereinbarte Verhandlungslösung und angesichts der grauenhaften Umstände, die dort mittlerweile herrschen, auch das problembeladene Tun immer noch besser ist als jedes Nichtstun…

Wir müssen heute mit einem Völkerrecht umgehen, das ich nicht gering schätzen will… Aber ist es wirklich zu rechtfertigen, an den Weltsicherheitsrat gebunden zu sein, wenn sich dort drei von fünfzehn Nationen – Russland, China und Namibia – gegen das Vorgehen der NATO und der westlichen Staatengemeinschaft ausgesprochen haben und von den zwölf anderen zwei mindestens Verständnis und die übrigen Unterstützung bekundet haben? Können wir es uns auf Dauer leisten, dass die Weltgemeinschaft mit dem aus der Rolle der Atommächte begründeten Vetorecht lebt…

Was im Kosovo geschieht, ist eine Prüfung. Zunächst ist es für die Menschen eine fürchterliche, eine schreckliche, eine unmenschliche Prüfung. Es ist aber auch eine Prüfung für uns, für unser politisches Gewissen, für unsere Fähigkeit, aus beanspruchter Moral praktische Konsequenzen zu ziehen und auch für unsere Fähigkeit, die Grenzen militärischer Handlungsmöglichkeiten sehr genau zu kennen. Es wäre auch gegenüber den eingesetzten Soldaten ganz und gar unverantwortlich zu glauben, dass Frieden schon aus der Beendigung von Mord und Gewalt entstünde. Das ist der erste Schritt auf einem langen Weg. Europa hat aber neben dem, was wir alle gemeinsam tun um das Morden zu beenden, noch eine andere Verpflichtung, nämlich die ökonomischen, die sozialen und die kulturellen Grundlagen für einen Friedensprozess auf dem Balkan zu schaffen…

Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.):

…angesichts der ersten europäischen Herausforderung durch Gewalt muss man Festigkeit in der Sache bewahren… Mir geht es darum, hier noch einmal klarzustellen…, dass wir dort Prinzipien, die sich aus der Kulturgeschichte Europas ergeben, verteidigen – gegen Menschen, die sie nicht achten und die über andere Menschen herfallen. Deshalb sage ich Ihnen, Herr Kollege Gysi: Pazifismus ist eine respektable Haltung. Wenn aber Pazifismus am Ende nicht mehr fähig ist, Menschen in Not zu helfen, dann verliert er seinen Bezug zur Menschlichkeit…

Es mag richtig sein, auf den Zusammenbruch oder jedenfalls die Gefahr des Zusammenbruchs einer Weltordnung hinzuweisen, der sich dadurch ergibt, dass das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und die Entscheidung der NATO in einen Konflikt miteinander geraten. Aber Weltordnungen, die am Ende nicht mehr in der Lage sind, Gewaltanwendung gegen Menschen zurückzudrängen, verlieren an Legitimität. Deshalb kann über die Weltordnung hier nicht nur unter dem Aspekt diskutiert werden, ob sie verletzt wird… Deshalb ist nicht nur eine formale völkerrechtliche Diskussion zulässig, sondern auch eine zutiefst emotionale, menschliche in der Zuwendung zu den Menschen.

Ich habe hier eine Meldung vor mir. Ob sie zutrifft, kann ich noch nicht einmal sagen. Aber wir spüren alle, dass sie zutreffen könnte. Diese Reuters-Meldung ist von 11.39 Uhr. Danach haben im Kosovo nach Informationen der albanischen Nachrichtenagentur jugoslawische Soldaten und serbische Polizisten 21 Lehrer albanischer Abstammung vor den Augen ihrer Schüler umgebracht. Man vermutet, dass das so sein könnte. (Eine Bestätigung dafür gab es nicht, d. Red.) Wenn ich so etwas lese bin ich nicht mehr in der Lage, eine Diskussion darüber zu führen, ob man sich da heraushalten kann…

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

…Es wurde immer wieder versucht, einen Friedensvertrag auszuhandeln. Die einzige Konsequenz war, dass der Vertrag gebrochen wurde und dass die Politik der Gewalt weitergegangen ist. Deswegen möchte ich mit allem Nachdruck den Vorwurf zurückweisen, dass wir hier von deutschem Boden aus eine Politik des Krieges betreiben. Wir können nicht zulassen, dass sich in Europa eine Politik der Gewalt durchsetzt, eine Politik, die keine Skrupel hat, Gewalt einzusetzen und die bereit ist, über Leichen zu gehen, auch wenn es Tausende, Zehntausende oder Hunderttausende Tote bedeutet. Das ist keine Theorie, sondern Praxis auf dem Balkan; sie ist als Ergebnis der Politik von Milosevic zu sehen.

… Dies ist nicht mit einer Aggressionspolitik vergleichbar, die aus nationalistischer Überhebung oder gar aus verbrecherischer rassistischer Verblendung entstanden ist und für die das Deutsche Reich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweimal verantwortlich war. Wir sind in die internationale Staatengemeinschaft, also in die Demokratien der EU und der NATO, eingebunden. Diese Demokratien riskieren jetzt das Leben ihrer Soldaten um Menschenleben zu retten und vor allen Dingen um einen Friedensvertrag durchzusetzen… Der einzige, der das verhindert, ist Milosevic mit seiner Gewaltpolitik. Der Kosovo würde Bestandteil nicht nur Jugoslawiens, sondern auch Serbiens bleiben; das war das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft. Milosevic müsste nur ja sagen; aber er hat immer nur nein gesagt.

Dr. Gregor Gysi (PDS):

…Es hat mich schon bestürzt, Herr Bundesaußenminister, dass Sie zur rechtlichen Grundlage dieses Krieges kein einziges Wort verloren haben, genausowenig wie der Bundeskanzler… Es (ist) ganz eindeutig: …dieser europäische Krieg ist ein Völkerrechtsbruch.

Nun haben Sie, Herr Gerhardt, dazu gesagt: Rechtsbrechern muss man entgegentreten. Das ist wahr. Aber muss man ihnen mit Rechtsbruch entgegentreten?… Wissen Sie, Völkerrecht dann einzuhalten, wenn es mit den eigenen Zielen… übereinstimmt, das ist ja leicht… Aber es dann einzuhalten, wenn es einem politisch nicht passt, das ist die eigentliche Schwierigkeit. Für genau solche Fälle schafft man Recht. Wenn man es verletzt, dann ist man nicht viel besser als andere Rechtsverletzer…

Der Bundeskanzler als auch Herr Schäuble haben gesagt, die Bomben richten sich nicht gegen das serbische Volk, sondern gegen Milosevic…Das ist doch nichts weiter als eine abstrakte Phrase, die mit Realitäten nichts zu tun hat. Bomben richten sich niemals gegen einen einzelnen Diktator, sondern immer gegen das Volk.

Es sind immer die Zivilisten und die wehrpflichtigen Soldaten, die dabei sterben, nicht der Diktator…

Wir liegen doch in der Beurteilung dieses Mannes (Milosevic) gar nicht so weit auseinander, Herr Bundesaußenminister Fischer… Sie haben Ihn als schlimmen Diktator, als irrational bezeichnet. Sie sagen, er nehme den Krieg in Kauf und handele gegen die Interessen seines eigenen Volkes. Können Sie mir dann erklären, warum er nach vier, fünf Bombenangriffen plötzlich rational werden, plötzlich sein Volk lieben und plötzlich den Krieg als ein Mittel ausschließen soll? Er wird nicht unterschreiben. Und was machen wir dann?

Man kann doch nicht einfach sagen: Wir bomben bis zur Unterschrift…Wir müssen die Bombardierungen beenden. Wir müssen zurück zu Verhandlungen…

Sie (Herr Verteidigungsminister) haben gesagt, Sie hätten darunter gelitten, dass der Westen damals (Prag 1968) ohnmächtig war und nicht helfen konnte… Das Gegenteil von Ohnmacht, Herr Bundesverteidigungsminister, können doch nicht Bomben sein. Morden beendet man doch nicht, indem man selbst mit Bomben völlig ungezielt tötet. Ich empfinde also die Antwort als falsch, nicht die Analyse der Situation…

Sie haben gesagt, dass im Weltsicherheitsrat nur drei Länder, nämlich China, Russland und Namibia, dagegen gestimmt hätten und hinzugefügt, es könne nicht angehen, dass diese drei Länder eine bestimmte Entscheidung verhinderten, auch wenn das Völkerrecht – das Vetorecht von Russland und China – dies ausdrücklich erlaubt. Sie wissen ganz genau, dass es Hunderte von Beschlüssen im Sicherheitsrat gegeben hat, die mehrheitsfähig waren und daran gescheitert sind, dass die USA von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht haben…

Wenn man das überwinden und demokratischer gestalten will, wenn man dadurch auch zu einer anderen Friedensordnung kommen will, dann ist dagegen nichts zu sagen. Nur, wir haben es nicht wirklich überwunden, wir haben keine neue Friedensordnung. Wir schaffen die alte Ordnung ab und setzen keine neue Ordnung an die Stelle, sondern nur das Recht der militärischen Macht und des Geldes… Ich glaube nicht an den Krieg als Mittel der Politik.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

…Ich gebe Ihnen recht, sich danebenzustellen und zu sagen ich tue nichts, ist das Schlechteste. Auch ich will etwas tun. Aber heißt das, dass man Bomben und Raketen wirft?

…Das ist kurzsichtig. Sehen Sie sich doch jetzt einmal die Situation im Kosovo an und vergleichen Sie sie mit der Situation von vor einer Woche. Heute sind dort zehnmal mehr Menschen auf der Flucht. Es werden Menschen getötet, wahrscheinlich mehr als bekannt wird… Durch einen solchen Krieg, dadurch, dass da jede Nacht Bomben und Raketen abgeworfen werden, dass Menschen umgebracht werden und Zerstörungen angerichtet werden, werden doch die Grausamkeit und der Hass gefördert. Es wird doch in den nächsten Tagen und Wochen noch mehr an Menschenrechtsverletzungen, an Tötungen, an Zerstörung angerichtet werden wenn das so weitergeht. Das heißt, Krieg ist doch gerade in dieser Situation ein ganz schlechtes und gefährliches Mittel weil er die Situation der Menschen im Kosovo nicht verbessert, sondern erheblich verschlechtert. Es gibt dort auch keine Menschenrechtsorganisationen mehr. Es gibt keine OSZE-Beobachter mehr. Mit dem Abbruch der Verhandlungen, mit dem Rückzug der OSZE-Beobachter hat sich die Situation, die Hilflosigkeit der Menschen dramatisch verschlechtert. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

Die Bundesregierung und die Parlamentsmehrheit konnten und mussten von Anfang an wissen: Wenn man sich in diese Logik des Krieges begibt, wird eine solche Situation eintreten und ist eine Eskalation nicht auszuschließen.

…Da frage ich mich: Musste man sich den Forderungen der UCK und denen der USA so weit unterwerfen, dass man über andere Möglichkeiten wie etwa über die Stationierung einer Friedenstruppe unter UNO-Mandat überhaupt nicht mehr diskutiert hat?

Muss man sich auch heute noch so weit unterwerfen, dass man von Milosevic fordert: Wenn du die sofortige Implantierung von UNO-Truppen im Kosovo nicht sofort akzeptierst, dann bomben wir weiter? Heißt das wirklich, dass Sie sagen, die Entscheidung liegt allein bei Milosevic? Müssen er und die serbische Regierung sich in dieser Weise unterwerfen? Oder können wir nicht eine sofortige Beendigung des Bombardements, natürlich eine sofortige Beendigung der Gewalttätigkeiten der Serben im Kosovo, einen Wiederbeginn von Verhandlungen fordern mit dem Ziel, eine abgesicherte Autonomie für den Kosovo zu garantieren? Wir können doch nicht nur mit diesem Prestigedenken sagen: Es geht nicht anders als mit den Truppen der NATO.

…Wir befinden uns im Augenblick im Krieg. Wenn man einen Krieg beenden will – das ist immer so gewesen und sollte auch jetzt so sein –, sollte man als erstes sagen: Wir lassen die Waffen auf beiden Seiten schweigen. Wir treffen eine Übereinkunft; ab dieser Stunde gibt es keinen Waffengang mehr.

Alle Zitate nach Plenarprotokoll 14/31 Deutscher Bundestag, 31. Sitzung,
Freitag, den 26. März 1999