Per se unzulässig

Per se unzulässig

Syrien, Chemiewaffen und ein Bombenangriff

von Wissenschaftliche Dienste – Deutscher Bundestag

Syrien wird vorgeworfen, Anfang April 2018 in der Stadt Duma Chemiewaffen eingesetzt zu haben. Die syrische Regierung wies die Anschuldigungen zurück und forderte gemeinsam mit Russland die Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) auf, eine Inspektionsreise nach Duma anzusetzen und die Lage vor Ort zu untersuchen. Noch bevor das Inspektorenteam vor Ort war, führten die USA, Großbritannien und Frankreich Mitte April Luftangriffe gegen drei Ziele in Syrien aus.
Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages verfassten einen » Sachstand – Völker­rechtliche Implikationen des amerikanisch-britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien« (WD 2-3000-048/18 vom 18.4.2018), den W&F hier ohne den ausführlichen Fußnoten­apparat in Auszügen dokumentiert. Der komplette Bericht steht unter ­bundestag.de online.

1. Der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien […] zwischen Legalität und Legiti­mität […]

Die politisch und moralisch aufgeladene Debatte über die jüngsten Luftangriffe der USA, Großbritanniens und Frankreichs gegen Chemiewaffeneinrichtungen und militärische Infrastruktur in Syrien erzeugen ein Spannungsfeld, bei dem die Frage nach der völkerrechtlichen Legalität der Militäroperation zugunsten der politisch-moralischen Legitimität des Handelns argumentativ in den Hintergrund tritt. […] Abgesehen von Staaten wie Russland, Iran oder Syrien, die wie erwartet in den alliierten Militärschlägen gegen syrische Chemiewaffeneinrichtungen einen klaren Völkerrechtsverstoß (act of aggression) erkannten, stieß die Militäroperation bei der Mehrheit der Staatengemeinschaft politisch weitgehend auf Zustimmung. Eine Resolution im VN-Sicherheitsrat, welche die alliierten Militärschläge verurteilen sollte, kam nicht zustande.

Die deutsche Regierung hält die Einsätze für »erforderlich und angemessen« um das Assad-Regime von weiteren Verstößen gegen die Chemiewaffenkonvention abzuhalten und ein Signal dahingehend zu setzen, dass ein Einsatz von Chemiewaffen – das Überschreiten der von US-Präsident Obama 2013 gezogenen »roten Linie« – nicht folgenlos bleiben dürfe.

Ausdrücklich wird dabei auf die Blockade-Situation im VN-Sicherheitsrat abgehoben, die es verhindert hätte, in diplomatischer Weise auf den Syrienkonflikt einzuwirken und den wiederholten Giftgaseinsatz gegen die syrische Bevölkerung zu unterbinden. […]

Die völkerrechtliche Literatur sowie die deutsche Presse haben den jüngsten Militärschlag der Alliierten gegen Syrien einhellig als völkerrechtswidrig qualifiziert. […]

2. Völkerrechtliche Positionen zum Repressalienrecht

Zur Frage der Zulässigkeit von Repressalien lassen sich folgende völkerrechtliche Positionen formulieren:

Völkerrechtliche Repressalien (Gegenmaßnahmen in Form von militärischen Vergeltungsschlägen) gegen einen Staat sind grundsätzlich unzulässig. […]

Das grundsätzliche Repressalienverbot gilt auch dann, wenn ein Staat einen internationalen Vertrag wie die Chemiewaffenkonvention und entsprechende VN-Resolutionen (wie die Sicherheitsratsresolution 2118 (2013)) verletzt und mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen ein Kriegsverbrechen begangen hat. Die Verletzung einer Völkerrechtsnorm durch einen Staat begründet keinen »Blankoscheck für unilaterale Zwangsmaßnahmen« seitens einer »Koalition der Willigen«. Vielmehr sieht das Völkerrecht rechtsförmige Mechanismen vor – sei es im Rahmen der Chemiewaffenkonvention, sei es im Rahmen des Völkerstrafrechts – um internationale Konventionen durchzusetzen, deren Einhaltung zu überwachen sowie Rechtsgutverletzter zur Verantwortung zu ziehen und einen Völkerrechtsbruch zu ahnden. Dass die Durchsetzung solcher Rechtsmechanismen angesichts der russischen (Blockade-) Haltung im VN-Sicherheitsrat oder angesichts der Schwierigkeiten, Untersuchungen der OPCW im syrischen Douma durchzuführen, eher theoretisch als praktisch und effektiv erscheint, tut der völkerrechtlichen Bewertung keinen Abbruch. Umso mehr fällt in diesem Zusammenhang ins Gewicht, dass im Falle der alliierten Militärschläge vom 14. April 2018 die Ergebnisse der OPCW-Untersuchungen in Syrien nicht einmal abgewartet wurden.

Der Einsatz militärischer Gewalt gegen einen Staat, um die Verletzung einer internationalen Konvention durch diesen Staat zu ahnden, stellt einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) dar. […]

Auch der VN-Sicherheitsrat hat bewaffnete Repressalien als „incompatible with the purposes and principles of the United Nations“ [unvereinbar mit den Zielen und Prinzipien der Vereinten Nationen/Red.] verurteilt. Der Internationale Gerichtshof führte zur Repressalienfrage in seinem Nicaragua-Urteil aus:

„While an armed attack would give rise to an entitlement to collective self-defence, a use of force of a lesser degree of gravity cannot, as the Court has already observed, produce any entitlement to take collective countermeasures involving the use of force.[…].“ [Ein bewaffneter Angriff würde zwar das Recht auf kollektive Selbstverteidigung begründen, ein weniger schwerer Gewalteinsatz kann aber, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, keine kollektiven Gegenmaßnahmen unter Gewalteinsatz rechtfertigen./Übers. Red.]

Darauf aufbauend beurteilte die International Law Commission in ihren – zwar grundsätzlich unverbindlichen, wenn auch in den relevanten Teilen Völkergewohnheitsrecht kodifizierenden – Entwurfsartikeln zur Staatenverantwortlichkeit die Unzulässigkeit von Gewalthandlungen im Rahmen von Repressalien (Art. 50 Abs. 1 lit. a).

Angesichts der genannten Judikate dürfte das Verbot gewaltsamer Repressalien im Ergebnis wohl dem Völkergewohnheitsrecht zuzuordnen sein.

Repressalien im Rahmen eines bereits andauernden internationalen Konflikts sind dagegen nicht per se unzulässig; doch dürfen solche Zwangsmaßnahmen nur in ganz beschränktem Umfang eingesetzt werden, um eine völkerrechtswidrig handelnde Konfliktpartei zu völkerrechtskonformem Handeln zu bewegen – nicht aber, um bereits abgeschlossene Kriegsverbrechen zu ahnden. […]

Allerdings scheidet die Betrachtung der jüngsten amerikanisch-britisch-französischen Luftschläge gegen das syrische Assad-Regime unter dem Gesichtspunkt der Kriegsrepressalie bereits deswegen aus, weil sich die drei Alliierten nicht in einem direkten bewaffneten Konflikt mit dem syrischen Zentralstaat befinden. […]

3. Der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien im Lichte des ius ad bellum und der humanitären Intervention

Der jüngste Militäreinsatz der Alliierten gegen Syrien stellt – wie bereits die Kosovo-Intervention von 1999 – eine Herausforderung für das völkerrechtliche Gewaltverbot dar. Die Ausgangslage in Syrien im April 2018 scheint ähnlich wie 1999: Mangels einer Selbstverteidigungslage zugunsten der militärisch intervenierenden Alliierten (USA, Frankreich, Großbritannien) hätte nur der VN-Sicherheitsrat gem. Kapitel VII der VN-Charta einen Militärschlag legitimieren können, um die internationale Sicherheit wiederherzustellen.

Resolution 2118 (2013), welche die Vernichtung aller syrischen Chemiewaffen durchsetzen sollte, droht dem Assad-Regime zwar mit dem Einsatz von Gewalt, behält eine Entscheidung darüber aber dem VN-Sicherheitsrat selbst vor.

Allein Großbritannien hat seine eigene Rechtsposition zum alliierten Militärschlag gegen Syrien in einem »Policy Paper« vom 14. April 2018 dargelegt. Darin heißt es, dass das Völkerrecht es erlaube, in Ausnahmefällen, Maßnahmen zu ergreifen, um überwältigendem menschlichen Leiden abzuhelfen. Die Rechtsgrundlage dafür sei die Doktrin der humanitären Intervention, für die drei Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen seien:

  • Erstens sei es erforderlich, dass die internationale Gemeinschaft als Ganzes überzeugt sei, dass es eine extreme humanitäre Notlage gebe, der unmittelbar und unverzüglich abzuhelfen sei.
  • Zweitens dürfe es keine praktikable Alternative zur Gewaltanwendung geben.
  • Und drittens müsse die Gewaltanwendung notwendig und verhältnismäßig sein.

Die genannten Voraussetzungen sieht das Vereinigte Königreich als erfüllt an: Durch die Blockade des VN-Sicherheitsrates gebe es keine andere Handlungsmöglichkeit; die gezielten und begrenzten Angriffe auf die Chemiewaffen-Infrastruktur seien notwendig und verhältnismäßig.

Die britische Rechtsposition zu den Militärschlägen gegen Syrien, der sich Deutschland im Grundsatz offenbar angeschlossen hat, kann im Ergebnis nicht überzeugen.

[…]

Als (gewohnheitsrechtsbildender) Präzedenzfall für einen wie auch immer gearteten Rechtfertigungsgrund »humanitäre Intervention« taugt der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien kaum. Denn das Konzept der Schutzverantwortung, das der Rechtsfigur der »humanitären Intervention« zugrunde liegt, zielt ausschließlich auf den Schutz der Zivilbevölkerung ab, nicht dagegen auf eine Ahndung von Rechtsverletzungen. Indes beschränkt sich der »humanitäre Anteil« der Militäroperation in den Begründungen der USA und Frankreichs im Wesentlichen auf die Durchsetzung des Verbots des Einsatzes von Chemiewaffen.

Abgesehen von Großbritannien haben die anderen beiden Akteure das Rechtsargument der humanitären Intervention gar nicht explizit plädiert. Dies wäre jedoch notwendig gewesen, um ihrer Begründung eine eindeutige »opinio iuris« zugunsten des Rechtfertigungstatbestandes der »humanitären Intervention« entnehmen zu können.

So stellen sich die alliierten Luftangriffe dann im Ergebnis eher als unverhohlene Rückkehr zu einer Form der – völkerrechtlich überwunden geglaubten – bewaffneten Repressalie im »humanitären Gewand« dar.

4. Konsequenzen für die Fortentwicklung des Völkerrechts

Den Rechtsauffassungen von Staaten kommt im Völkerrecht eine große, wenn nicht sogar gewohnheitsrechtsprägende Bedeutung zu. Rechtsbehauptungen zielen nicht zuletzt ab auf eine Veränderung und auf einen Wandel des bestehenden Völkerrechts – dies gilt insbesondere [für] die Fortentwicklung der Regelungen über das Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) bzw. seiner geschrieben und ungeschriebenen Ausnahmetatbestände.

Ob sich mit den Militäreinsätzen von 2017 und 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in der Zukunft ein neuer Ausnahmetatbestand vom Gewaltverbot für Fälle von »humanitär begründeten Repressalien« herausbilden wird, ist nicht gänzlich auszuschließen.

In den völkerrechtlichen Kommentaren zur alliierten Militäroperation gegen Syrien ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass das Einstehen für eine regelbasierte internationale Ordnung und ihre zentralen Eckpfeiler (wie insbesondere das völkerrechtliche Gewaltverbot) auch von einer entsprechenden klaren und unmissverständlichen Artikulation von Rechtsauffassungen begleitet werden müsse. Politische und rechtliche Glaubwürdigkeit hingen überdies davon ab, dass bei der völkerrechtlichen Beurteilung von Militäroperationen (Beispiele: Russische Krim-Annexion von 2014, NATO-Operation im Kosovo 1999, Militärschläge von NATO-Bündnispartnern gegen Syrien 2018) nicht mit zweierlei Maß gemessen werde.

Eine Welt ohne Chemiewaffen?

Eine Welt ohne Chemiewaffen?

Herausforderungen für das CWÜ

von Mirko Himmel, Gesine Rempp und Volkmar Vill

Seit 20 Jahren sind Chemiewaffen verboten, aufgrund ihrer Wirkung unterliegt ihr Einsatz schon viel länger einem völkerrechtlichen Verbot. Dennoch macht der Einsatz von chemischen Stoffen nicht nur bei Attentaten, sondern auch im Krieg bis heute immer wieder Schlagzeilen. Dabei ist es oft schwierig, eine bestimmte Konfliktpartei zur ­Schuldigen zu erklären. Aufgrund der Verwendbarkeit vieler einschlägiger Substanzen für zivile Zwecke ist außerdem eine eindeutige Einstufung als verboten nicht opportun. Dennoch ist das Chemiewaffenübereinkommen ein taugliches Instrument gegen chemische Kriegsführung – und Wissenschaftler*innen können unmittelbar zur Stärkung des Vertragsregimes beitragen.

Im Juli 2017 wird einer weiteren Eskalation der chemischen Kriegsführung während des Ersten Weltkriegs zu gedenken sein: Vor hundert Jahren, in der Nacht vom 12. zum 13. Juli 1917, wurde bei Ypern durch deutsche Truppen erstmals Senfgas (S-Lost) eingesetzt. Das als Hautkampfstoff eingesetzte Schwefel-Lost (benannt nach den deutschen Chemikern Lommel und Steinkopf) erwies sich als sehr potent und wurde rasch in die Chemiewaffenarsenale vieler Staaten aufgenommen.

Chemiewaffeneinsätze in der Vergangenheit

Berichte über den Einsatz giftiger Stoffe bei kriegerischen Auseinandersetzungen sind seit dem Altertum überliefert.1 Die wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert ermöglichten neben den überwiegend friedlichen auch neue militärische Anwendungen. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) stellt eine Zäsur dar, weil hier erstmals chemische Waffen massenhaft eingesetzt wurden und sich ein chemisches Wettrüsten entfaltete. Weitere chemische Kampfstoffe ergänzten die Waffenarsenale der Großmächte, und auch die Zwischenkriegszeit war geprägt vom Einsatz chemischer Waffen, z.B. durch Spanien in Marokko gegen die Riff-Kabylen, durch Italien im Abessinienkrieg und durch Japan in China. Dennoch einigten sich die Staaten nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Genfer Protokoll von 1925 auf ein Verbot des Ersteinsatzes chemischer und biologischer Waffen im Kriege. Vorbereitungen auf eine chemische Kriegsführung waren aber nicht explizit verboten, sodass auch diese Vereinbarung das chemische Wettrüsten nicht verhindern konnte. Als Folge hielten die Konfliktparteien des Zweiten Weltkriegs große Chemiewaffenbestände in Reserve, die jedoch in Europa nicht zum Einsatz kamen. Umfangreiche Chemiewaffenprogramme vor allem in den USA und der Sowjetunion führten während des Kalten Krieges dazu, dass zehntausende Tonnen hochtoxischer Chemikalien für Waffenzwecke produziert und gelagert wurden.

Abrüstung und Rüstungs­kontrolle chemischer Waffen

Nachdem es der internationalen Staatengemeinschaft weder in der Zwischenkriegszeit noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen war, sich auf die vollständige Abrüstung biologischer und chemischer Waffen zu einigen, wurde in den 1960er Jahren ein neuer Versuch im Rahmen der Genfer UN-Konferenz für Abrüstung gestartet. Aus politischen, aber auch militärischen Überlegungen wurden die Abrüstungsbemühungen für diese beiden Waffenkategorien später getrennt verhandelt, und 1975 konnte zunächst das Biowaffenübereinkommen (BWÜ) in Kraft treten. Das BWÜ ist insofern ein erfolgreicher Vertrag, als es eine ganze Kategorie von Massenvernichtungswaffen unter Verbot stellt, wenn ihm auch ein eklatanter Mangel anhaftet, da bis heute kein Überprüfungsmechanismus vorgesehen ist.2 Dieser Umstand schwächt das Biowaffenverbot – ein Fehler, der bei den ab 1984 durchgeführten Verhandlungen zum Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) glücklicherweise vermieden wurde.

Das CWÜ wurde am 13. Januar 1993 zur Zeichnung aufgelegt, und bereits während der Unterzeichnungskonferenz in Paris setzten 130 Staaten ihre Unterschrift unter den Vertrag – ein für einen internationalen Rüstungskontrollvertrag bis dahin einmaliges Zeichen der Unterstützung. Am 29. April 1997 trat das CWÜ in Kraft, und mit Stand vom 17. Oktober 2015 gehören dem Vertrag 192 Staaten an.3 Bisher nicht beigetreten sind neben kleineren Inselstaaten Ägypten, Israel, Nordkorea und Südsudan; Israel ist seit 1993 Signatarstaat, hat die Konvention aber noch nicht ratifiziert.

Das CWÜ verbietet die Entwicklung, Produktion, Lagerung und den Einsatz chemischer Waffen und zielt auf die restlose Vernichtung vorhandener Chemiewaffenbestände ab. Zudem gibt es Vorgaben für die Regulierung des Handelsverkehrs mit bestimmten, potenziell waffenfähigen Chemikalien. Zur Umsetzung des CWÜ wurde die internationale Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) mit Sitz in den Haag gegründet. Für die bisher geleistete Arbeit bei der Abrüstung chemischer Waffen erhielt die OVCW 2013 den Friedensnobelpreis.

Mit dem CWÜ verpflichten sich die Vertragsstaaten, chemische Waffen weder zu entwickeln, herzustellen, zu handeln, zu lagern oder einzusetzen. Als »chemische Waffe« werden im CWÜ Chemikalien bezeichnet, die durch ihre chemische Wirkung auf die Lebensvorgänge den Tod, eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder einen Dauerschaden bei Mensch oder Tier herbeiführen können. Somit ist jeder Einsatz einer giftigen Chemikalie zu kriegerischen Zwecken verboten. Anwendungen für »nicht verbotene Zwecke« sind der friedliche Einsatz der Chemie, z.B. in der Arzneimittel-, Pestizid- oder Düngemittelproduktion oder für Forschungszwecke. Ebenfalls nicht verboten sind defensive Aktivitäten zum Schutz vor chemischen Kampfstoffen. Konkrete Stoffe werden im Anhang benannt, welcher drei Chemikalienlisten enthält. Diese sind jeweils in die Kategorien »A. Toxische Chemikalien« und »B. Ausgangsstoffe« untergegliedert. Die Einteilung richtet sich hierbei nach der rüstungskontrollpolitischen und industriellen Bedeutung dieser Substanzen und nicht nach dem tatsächlichen Gefährdungspotential oder der Schadwirkung. Liste 1 enthält Sub­stanzen mit sehr hohem Risikopotenzial, aber ohne oder mit geringem zivilen Nutzen. Liste 2 weist Substanzen aus, die in geringen Mengen für nicht verbotene Zwecke produziert werden, aber aus Sicht des CWÜ ein signifikantes Risiko darstellen, während Liste 3 risikobehaftete Substanzen mit vielfältigem Nutzen umfasst, die auch in größeren Mengen produziert werden können.

Das CWÜ setzt auf ein umfangreiches Kontrollsystem durch jährliche Deklarationen der Vertragsstaaten, Routineinspektionen von Produktionsstätten sowie kurzfristig ansetzbare Verdachtsinspektionen. Chemiebetriebe müssen daher Produktionsmengen und Umgang mit den gelisteten Substanzen der OVCW regelmäßig melden. Diese Meldungen sind eine entscheidende Basis für das vertraglich verbindliche Verifikationsregime und dienen auch Nichtverbreitungsmaßnahmen, wie der Exportkontrolle. Hier setzt auch die Arbeit der »Australischen Gruppe« an, einem informellen Zusammenschluss von aktuell 41 Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union, die durch gemeinsame Absprachen und Standards bei der Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen für Güter mit potenziellem Mehrfachverwendungszweck (Dual-use-Güter) einer Verbreitung von biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen bestmöglich entgegenwirken. Die Handbücher und Kontrolllisten zur Erfassung relevanter Handelsgüter sind dabei eine wertvolle Hilfe.

Allerdings besteht eine wesentliche Einschränkung für die umfassende Analyse von Daten aus Handelsbewegungen oder auch aus wissenschaftlichen Veröffentlichung: Trotz verschiedener Ansätze zur Benennung chemischer Stoffe fehlt eine einheitliche Beschreibung chemischer Substanzen mit potenziell doppeltem Verwendungszweck. Zwar existiert das so genannte CAS-Registrierungsnummernsystem,4 aber die Australische Gruppe vermerkt hierzu: „CAS-Nummern können nicht in jedem Fall als einziges Identifizierungskriterium angewendet werden, da verschiedene Formen einer erfassten Chemikalie verschiedene CAS-Nummern haben und Mischungen, die eine erfasste Chemikalie enthalten, ebenfalls verschiedene CAS-Nummern haben können.“ 5 Es fehlt also ein vereinheitlichter Identifikator für die Zwecke der Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung chemischer Waffen. In der Praxis wird das durch den chemischen Sachverstand und das Erfahrungswissen der Export- und Rüstungskontrollexperten ausgeglichen. Es ist naheliegend – und in der Vergangenheit wiederholt durch staatliche Akteure geschehen –, mit Verschleierungstaktiken die genannten Exportkontroll- und Verifikationsmaßnahmen gezielt zu unterwandern.

Aktueller Stand der Abrüstung chemischer Waffen

In ihrem aktuellen Bericht zur Implementierung des CWÜ vom November 2016 gibt die OVCW den Bestand an seit Inkrafttreten der CWÜ gemeldeten Chemiewaffen und Vorprodukten mit 72.525,092 t an, deklariert durch sieben Vertragsstaaten (Albanien, Libyen, Indien, Südkorea,6 Syrien, Russland, USA).7 Im Berichtszeitraum waren zehn Einrichtungen zur Vernichtung chemischer Waffen in Betrieb: eine in Libyen, fünf in den USA und vier in Russland. Insgesamt wurden bereits 65.737,447 t (90,6 %) der deklarierten Chemiewaffenbestände vernichtet. Die größten Bestände sind in Russland (ca. 40.000 t; ca. 80 % bereits vernichtet) und den USA (ca. 28.600 t, ca. 90 % vernichtet) zu finden. Syrien deklarierte 2013 ca. 1.300 t im Zuge des Beitritts zum CWÜ (100 % vernichtet). Im Irak befinden sich noch nicht näher bezifferte Mengen an Altbeständen nicht mehr einsatzfähiger chemischer Waffen in versiegelten Bunkern, deren Entsorgung aus Sicherheitsgründen zur Zeit nicht möglich ist (diese Bestände wurden in der aktuellen Meldung der OVCW daher auch nicht berücksichtigt). Libyen hat bereits alle Liste-1-Chemikalien vernichtet; die Entsorgung der deklarierten Vorprodukte soll 2017 mit internationaler Unterstützung bei der Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten (GEKA mbH, Munster, Niedersachsen) erfolgen. In dieser Anlage wurden auch schon die Restchemikalien aus der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen erfolgreich entsorgt.

Aktuelle Bedrohungen durch Chemiewaffen

Die aktuell immer noch vorhandenen, aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Chemiewaffenbestände Russlands und der USA sollen bis 2023 vollständig vernichtet sein. Während diese Bestände unter staatlicher und internationaler Kontrolle stehen und ihre Abrüstung in absehbarer Zeit erfolgen soll, bilden sich in anderen Regionen der Welt neue chemische Bedrohungspotentiale heraus.

Seit 2012 gab es wiederholt Meldungen über den Einsatz chemischer Kampfstoffe im syrischen Bürgerkrieg, mit wechselseitigen Schuldzuweisungen. Dies war umso bedrohlicher, weil davon ausgegangen werden musste, dass Syrien über die größten Chemiewaffenbestände in der Region verfügte. Wohl aufgrund der zunehmend bedrohlicheren militärischen Lage der syrischen Regierung eskalierte der Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung; so wurde 2013 offenbar mehrfach der Nervenkampfstoff Sarin eingesetzt. Die meisten Todesopfer forderte ein Angriff am 21. August 2013 auf Ghuta im Osten von Damaskus – die Zahlenangaben schwanken zwischen 300 und 1.700 Toten. Unter massivem, auch militärischem, Druck vor allem seitens der USA trat Syrien zum 14. Oktober 2013 dem Chemiewaffenübereinkommen bei. Damit ist Syrien dem Chemiewaffenverbot verpflichtet. Nach durch den Bürgerkrieg bedingten Verzögerungen wurde 2014 die vollständige Vernichtung der deklarierten syrischen Chemiewaffenbestände bekannt gegeben. Allerdings traten wiederholt Unstimmigkeiten in den syrischen Meldungen an die OVCW auf, sodass Zweifel bestehen, ob wirklich sämtliche syrischen Chemiewaffen vernichtet wurden.

Äußerst besorgniserregend sind Einsätze von Chlorgas als chemische Waffe, auch nachdem Syrien dem CWÜ beigetreten war. Chlor als Basischemikalie wird so vielfältig genutzt, dass es in den Anhängen zum CWÜ nicht explizit als Chemiewaffe benannt ist, Produktion und Handel daher auch nicht kontrolliert werden. Die Ziele, aber insbesondere die Art der Ausbringung des Chlorgases durch aus Armeehubschraubern abgeworfene Fassbomben, legen die Urheberschaft der syrischen Regierung nahe. Dies wurde wiederholt bestritten, gilt laut Bericht einer gemeinsamen Untersuchungsmission (fact-finding mission) der Vereinten Nationen und der OVCW aber zumindest für einige ausgewählte Fälle inzwischen als erwiesen.8 Diese Mission hatte auch Vorfälle bestätigt, bei denen der »Islamische Staat« in Syrien Angriffe mit chemischen Kampfstoffen, u.a. mit S-Lost, durchgeführt hatte.

Im September 2016 berichtete Amnesty International über angebliche Chemiewaffenangriffe durch Regierungstruppen in der Darfur-Region im Sudan. Von Januar bis September 2016 seien wiederholt unbekannte chemische Stoffe gegen die Bevölkerung eingesetzt worden.9 Die sudanesische Regierung widerspricht dieser Darstellung vehement. Die OVCW erklärte in einer Stellungnahme vom 29. September 2016, dass gegenwärtig nicht genügend Informationen und Beweismittel vorliegen, um eine Aussage zu den Vorwürfen treffen zu können.

Kürzlich geriet zudem der Nervenkampfstoff VX erneut in die Schlagzeilen, als am 13. Februar 2017 auf dem Flughafen von Kuala Lumpur in Malaysia ein Giftattentat auf Kim Jong-nam, dem im Exil lebenden Halbbruder des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un, verübt wurde.10 Die malaysischen Behörden beschuldigen Nordkorea, hinter dem Attentat zu stecken, was von der Regierung aber abgestritten wird. Über Nordkorea, das nicht Mitglied im CWÜ ist, wurde wiederholt berichtet, es verfüge angeblich über große Bestände an VX und weiteren Chemiekampfstoffen.11

Beitrag der Wissenschaft zur Stärkung des CWÜ

In der Vergangenheit trugen Wissenschaftler*innen entscheidend zur Entwicklung chemischer Waffen bei,12 aber gleichermaßen gibt es Möglichkeiten, aus den Wissenschaften heraus einen aktiven Beitrag zur Abrüstung und Nichtverbreitung chemischer Waffen zu leisten. Dies gilt aktuell insbesondere für die Bewertung von Handelsbewegungen bisher nicht durch die Stofflisten des CWÜ oder der Australischen Gruppe erfasster Chemikalien.

Hier kann eine an der Universität Hamburg im Arbeitskreis von Professor Volkmar Vill entwickelte umfassende chemische Stoffdatenbank, die mithilfe objektorientierter Programmierung die Implementierung einschlägiger Verbotsnormen, Gesetze und Verordnungen konsequent berücksichtigt, einen entscheidenden Beitrag liefern. Die Eingabemaske zur Datenbank erkennt anhand der hinterlegten Stoffdefinitionen nicht nur eine mögliche Zuordnung zum CWÜ, sondern auch analoge Strukturen mit ähnlichem Gefährdungspotenzial, für die das System zudem teilweise auch toxikologische Einstufungen vornimmt. Das ist umso wichtiger, weil einige Chemiekampfstoffe auch Dual-use-Güter sind, da sie neben dem Einsatz als Chemiewaffe auch einen zivilen Nutzen haben können, z.B. als Arzneimittel (Beispiel N-Lost). Aus Sicht der Rüstungskontrolle bzw. Nichtverbreitung chemischer Waffen kann mithilfe der Datenbank einem Versuch, die Regelungen des CWÜ gezielt zu umgehen, begegnet werden.

Auch aus wissenschaftlichen und Sicherheitsgründen ist das relevant, denn Derivate potenziell hochtoxischer Chemikalien können so schon vorab identifiziert werden, noch bevor entsprechende chemische Synthesen im Labor erfolgen. Das System erkennt automatisch die im CWÜ regulierte Substanzen, auch wenn sie einzeln nicht explizit in den Anhängen genannt werden (Abb. 1), und gibt Hinweise zur Einstufung sowie grundlegende Gefahrenhinweise aus. Außerdem sind in der Datenbank bereits die durch das Scientific Advisory Board der OVCW vorgeschlagenen erweiterten Stoffinterpretation von isotopenmarkierten Stoffen und isomeren Formen13 umgesetzt und teilweise auch schon eine Erkennung strukturell ähnlicher, nicht regulierter Stoffe programmiert. Gerade im Hinblick auf die internationale Zusammenarbeit in der Rüstungskontrolle chemischer Waffen könnte ein zuverlässiger, von allen Vertragsstaaten anerkannter Algorithmus zur Erkennung und Zuordnung hochtoxischer Verbindungen eine objektive Ergänzung zu Expertenmeinungen sein, die auch weniger speziell ausgebildeten Personen eine schnelle und standardisierte Stoffbewertung ermöglicht.

Ausblick

Mit der eindeutigen Verbotsnorm im Rücken und einer funktionierenden internationalen Organisation zur Umsetzung des Vertrages als Unterstützung kann das CWÜ durchaus als erfolgreicher Abrüstungs- und Rüstungskontrollvertrag angesehen werden. Daher ist es entscheidend, jede potenzielle Schwächung des CWÜ wirkungsvoll zu unterbinden: Auch Wissenschaftler*innen sollen und müssen aktiv werden, um das Chemiewaffenverbot weiter aufrecht zu halten und zu stärken, denn am Ende dürfte dieses Vertragswerk das beste Instrument gegen die chemische Kriegsführung sein.14

Anmerkungen

1) Martinetz, D. (1996):Vom Giftpfeil zum Chemiewaffenverbot. Frankfurt am Main: Harri Deutsch Thun.

2) Himmel, M. (2016): Das Biowaffenübereinkommen – Fit für die Zukunft? W&F 3-2016, S. 42-45.

3) Eine Liste der Vertragsstaaten des CWÜ wird durch die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OVCW, engl. Organization for the Prevention of Chemical Weapons/OPCW) auf ihrer Website opcw.org sowie unter der Dokumentnummer S/1315/2015 bereitgestellt.

4) CAS steht für Chemical Abstracts Service. Das CAS Registry wird von der American Chemical Society geführt und listet die verfügbaren Informationen zu nahezu 130 Millionen Sub­stanzen auf.

5) Hinweise zur Ausfuhrkontrollliste der Australischen Gruppe; zu finden unter australiagroup.net.

6) Südkorea besteht darauf, in offiziellen Berichten nicht namentlich erwähnt zu werden, und wird daher als »ein Vertragsstaat« bezeichnet.

7) Bericht der OVCW an die Staatenkonferenz zum CWÜ vom 30. November 2016; Dokumentnr. C-21/4.

8) Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (2016): Third report of the Organization for the Prohibition of Chemical Weapons – United Nations Joint Investigative Mechanism; Dokumentnr. S/2016/738.

9) Bericht der Organisation Amnesty International vom September 2016, Indexnummer AFR 54/4877/2016.

10) Siehe z.B.: Verdächtige nach Tod von Kim Jong Nam wegen Mordes angeklagt. ZEIT Online, 1. März 2017.

11) Länderreport zu Nordkorea der Nuclear Threat Initiative vom Dezember 2015; siehe nti.org.

12) Siehe dazu: Wöhrle, D. und Thiemann W.: Der Chemiker Fritz Haber. Anerkannte Wissenschaft – und Etablierung eines Massenvernichtungsmittels. W&F 1-2011, S. 45-49.

13) Bericht des Scientific Advisory Board der OVCW (2016): Response to the Director-General’s Request to the Scientific Advisory Board to Provide Further Advice on Scheduled Chemicals. Dokumentnr. SAB-23/WP.1.

14) Während der Freigabe dieses Artikels wird aus Syrien berichtet, am 4. April 2017 sei erneut eine von Rebellen gehaltene Ortschaft mit einem Nervenkampfstoff angegriffen worden und es seien mindestens 70 zivile Todesopfer zu beklagen – eine erneute Eskalation des Chemiewaffeneinsatzes in diesem Konflikt.

Mirko Himmel ist Biochemiker und arbeitet gegenwärtig am Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg zu Fragen der präventiven Rüstungskontrolle biologischer und chemischer Waffen.
Professor Volkmar Vill ist Chemiker und Physiker und hat im Fachbereich Organische Chemie der Universität Hamburg ein Datenbanksystem zur vereinheitlichten Stofferkennung und Bewertung etabliert, das auch für die Rüstungskontrolle chemischer Waffen geeignet ist.
Gesine Rempp ist Chemikerin und entwickelt im Arbeitskreis Vill datenbankengestützte Informationssysteme für die chemische Anlagensicherheit.

Chemiewaffen

Chemiewaffen

Vom Ersten Weltkrieg zur weltweiten Abschaffung

von Paul F. Walker

Tödliche Chemikalien wurden schon vor Jahrhunderten für Straftaten oder in Kriegen eingesetzt. Der jüngste Einsatz von Chemiewaffen erfolgte im aktuellen Syrienkonflikt und führte Berichten zufolge zum Tod von etwa 1.400 Zivilisten, darunter einige hundert Kinder. Insbesondere dieser Vorfall lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit jetzt wieder auf diese alte, inhumane und unterschiedslose Art, zu töten und Krieg zu führen.

Demnächst jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Das sollte uns Anlass sein, des tödlichsten Einsatzes von Chemiewaffen auf den Schlachtfeldern dieses Krieges zu gedenken. Dem Giftgas fielen in diesem furchtbaren Krieg etwa 90.000 Soldaten zum Opfer, rund eine Million Soldaten wurde davon verletzt. (Die hohe Zahl an Verletzten hatte für die Angreifer deshalb große Bedeutung, weil sie nicht nur selbst als Kämpfer ausfielen, sondern an und hinter der Front zur Bergung und anschließenden, oft Wochen und Monate dauernden, medizinischen Versorgung sehr viele Kräfte banden.) Zum Glück wurde inzwischen eine Reihe völkerrechtlicher Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge vereinbart, die sich mit diesen im Kriegsvölkerrecht als »inhuman« bezeichneten Massenvernichtungswaffen befassen.

Die Geschichte solcher Vereinbarungen reicht weit zurück, bis ins Jahr 1675, als die kaiserlichen und die französischen Truppen in Straßburg ein bilaterales Abkommen zum Verbot vergifteter Kugeln trafen. 200 Jahre später verbot die Brüsseler »Deklaration über die Gesetze und Gebräuche des Krieges« von 1874 inhumane Waffen, die unnötiges Leiden verursachen. Dies schloss ein Verbot von Gift und vergifteten Waffen ein. Auf dieser Grundlage wurde 1899 auf der Ersten Friedenskonferenz in Den Haag neben dem »Haager Abkommen« u.a. eine Erklärung verabschiedet, die verbietet „solche Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten“. Acht Jahre später wurde das Verbot von Giftwaffen auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz ausdrücklich bestätigt.

Giftgaseinsätze trotz Verbots

Bei den Kämpfen im Ersten Weltkrieg erwiesen sich die Rüstungskontrollanstrengungen der vergangenen 200 Jahre leider als vollkommen untauglich. Die französische Armee experimentierte im August 1914 als erste mit dem Einsatz von Reizgas; die deutschen Truppen zogen im Oktober nach. Diese noch begrenzten Angriffe waren nicht sehr folgenreich, es gab nur wenige Opfer. Deutschland setzte Giftgas am 31. Januar 1915 auch in der Schlacht von Bolimów nahe Warschau ein, wo deutsche Truppen ungefähr 18.000 Reizstoffgranaten gegen die russischen Truppen abschossen; die Wirkung blieb allerdings aufgrund der kalten Witterung äußerst begrenzt.

Zum ersten folgenreichen Großeinsatz tödlicher chemischer Wirkstoffe kam es auf den zum Synonym für Giftgas gewordenen Schlachtfeldern von Ypern. Die Stadt im Nordwesten Belgiens, unweit der Grenze zu Frankreich, wurde in ihrer 2.000-jährigen Geschichte immer wieder von Krieg überzogen und zerstört. 1914 wurde Ypern beim Vorstoß der deutschen Truppen Richtung Frankreich gemäß dem Schlieffen-Plan eingenommen. Im Herbst des Jahres eroberten britische, französische und alliierte Streitkräfte die Stadt mit ihren 40.000 Einwohnern von den Deutschen zurück, und Deutschland versuchte in der zweiten Flandernschlacht, das verlorene Terrain wieder einzunehmen.

Um den festgefahrenen Grabenkrieg um Ypern aufzubrechen, befahl der kommandierende General am 22. April 1915 den Einsatz von Chlorgas gegen die alliierten Kräfte. Mehr als 5.700 große Druckflaschen waren bereits an die Front verbracht worden, und am frühen Abend, als der Wind günstig stand, wurde das Chlorgas abgeblasen. Gelb-grüne Chlorwolken trieben auf die alliierten Schützengräben zu, und die französischen, britischen, kanadischen, algerischen, marokkanischen und senegalesischen Soldaten, die die alliierten Linien verteidigten, mussten zwischen zwei Übeln wählen: Entweder sie verließen die Schützengräben und setzten sich dem Maschinengewehrfeuer der Deutschen aus, oder sie blieben im Graben und hofften, diese mysteriöse Gaswolke zu überleben.

Das chemische Element Chlor wird in flüssiger Form zwar häufig für industrielle Zwecke eingesetzt, z.B. zum Bleichen, in seiner gasförmigen Elementarform ist es aber ein Kampfstoff, der in hoher Konzentration binnen weniger Minuten zum Ersticken seiner Opfer führt. 1915 gab es in den alliierten Truppen nur vereinzelte Gasmasken. Der einzige Schutz für die Soldaten bestand also darin, auf Stoff zu urinieren und sich die uringetränkten Lappen dann vor die Nase zu halten. Tausende alliierter Soldaten kamen bei dem Gasangriff der »Schlacht von Gravenstafel« um. Die Weltöffentlichkeit musste zur Kenntnis nehmen, dass die bis dato abgeschlossenen Verbote die Kriegsführung mit den inhumanen chemischen Waffen nicht verhindert hatten.

Die deutschen Truppen setzten in den Schlachten bei Ypern noch mindestens viermal Chlorgas ein, insbesondere bei der Schlacht von Bellewaarde am 24. Mai 1915, dem vierten großen Waffengang um Ypern in diesem Frühjahr. Dieses Mal waren die alliierten Truppen besser darauf vorbereitet, sich gegen überraschende Gasangriffe zu schützen, dennoch wurden viele Tote und Verletzte verzeichnet. Im weiteren Verlauf des Ersten Weltkriegs bedienten sich sowohl die deutschen als auch die alliierten Streitkräfte noch weitaus tödlicherer Kampfgase, darunter Phosgen, Phosgen-Chlor-Verbindungen und Senfgas – neu entwickelte Lungen- und Kontaktkampfstoffe mit einer erheblich höheren Letalität als Chlorgas. Der erste britische Gasangriff fand am 25. September 1915 in der Schlacht von Loos in Frankreich statt; das Chlorgas entfaltete aufgrund wechselnder Winde aber kaum Wirkung. Insgesamt wurden während des Ersten Weltkriegs von Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten ungefähr 190.000 Tonnen Giftgase hergestellt. Mit Abstand die meisten Todesfälle wurden durch den Kampfstoff Phosgen verursacht.

Den Schrecken des Giftgaskrieges wird in und um Ypern bis heute an mehreren Orten gedacht: auf dem Deutschen Soldatenfriedhof Langemark und dem Soldatenfriedhof »Tyne Cott Commonwealth«, in der anglikanischen »Saint George’s Memorial Church«, dem »In Flanders Fields Museum« und dem »Menin Gate Memorial to the Missing«. Mit Ausnahme der deutschen Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs wird am Menin Gate seit 1928 jeden Abend eine Gedenkzeremonie für die Kriegstoten abgehalten. Viele DiplomatInnen, FachexpertInnen und BürgerInnen (einschließlich des Autors dieses Artikels) besuchten diese bewegenden Gedenkstätten von Ypern in Belgien. Unser Engagement für die wirksame Umsetzung eines globalen Verbots dieser kompletten Waffengattung wird durch dieses Gedenken gestärkt.

Neue Anläufe zur Kontrolle chemischer Waffen

Die internationale Gemeinschaft war vom Einsatz chemischer Waffen und Agenzien im Ersten Weltkrieg so verschreckt, dass sie sich 1925 auf das Genfer »Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege« einigte. Dieser völkerrechtliche Vertrag verbot zwar den Einsatz chemischer und biologischer Waffen im Krieg, untersagte aber nicht die Forschung, Entwicklung, Herstellung und Lagerung solcher Waffen. Dem Genfer Protokoll traten zahlreiche Länder bei, viele von ihnen aber nur unter dem Vorbehalt, dass sie sich offen halten, auf einen Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen auch mit solchen Waffen zu antworten bzw. solche Waffen gegen Nicht-Vertragsstaaten einzusetzen.

Die meisten Industriestaaten setzten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Entwicklung und Lagerung chemischer Waffen fort. Sie führten neue und noch tödlichere Wirkstoffe ein, wie Lewisit, und schließlich auch eine ganz neue Gruppe von Nervengasen, wie Sarin, Soman, VX und andere. Diese Agenzien greifen das Nervensystem an und führen innerhalb weniger Minuten zum Tod.

In Europa kam es im Zweiten Weltkrieg zu keinen größeren Giftgaseinsätzen, obwohl die Großmächte zehntausende Tonnen in ihren Arsenalen vorhielten. Im asiatisch-pazifischen Raum war dies anders. Dort setzte Japan 1943 – zwei Jahre nach seinem Überraschungsangriff auf Pearl Harbor und sieben Jahre nach seiner Invasion in China – in der Schlacht nahe der chinesischen Stadt Changde Senfgas und Lewisit ein, möglicherweise auch an anderen Orten. Heute kooperieren Japan und China, um Tausende mit Chemiewaffen gefüllte Geschosse, die vom Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg übrig sind, auszugraben und zu sichern.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kam es wiederholt zu Chemiewaffenangriffen: Im Jemenkrieg (1962-67) setzte Ägypten bei mehreren Luftangriffen auf den Jemen Fliegerbomben mit chemischen Agenzien – vor allem Senfgas und Phosgen – ein. Dabei starben etwa 1.500 Menschen, weitere 1.500 wurden verletzt. In den 1960er Jahren versprühten die USA im Vietnamkrieg riesige Mengen des äußerst gefährlichen Entlaubungsmittels Agent Orange über gegnerischen Gebieten.

In den 1970er Jahren kamen die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und weitere Länder jedoch mitten im Kalten Krieg zu der Erkenntnis, dass ihre Lagerbestände weitaus mehr Risiken und Kosten als Sicherheitsgewinn verursachten. Daher richteten die beiden Supermächte 1978 eine Arbeitsgruppe zu Chemiewaffen ein – 15 Jahre später wurde das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) zur Unterzeichnung ausgelegt. Die Genfer Verhandlungen für diesen völkerrechtlichen Vertrag hatten in den 1980er Jahren an Dringlichkeit gewonnen, als Irak im Ersten Golfkrieg Chemiewaffen gegen Iran einsetzte, insbesondere, als der irakische Präsident Saddam Hussein 1988 den Einsatz von Chemiewaffen gegen die Stadt Halabja in Irakisch Kurdistan befahl, bei dem Tausende irakischer BürgerInnen umkamen. Der Terroranschlag im Jahr 1995, als die japanische Sekte Aum Shinrikyo in der Tokioter U-Bahn Sarin ausbrachte und mehrere Dutzend Menschen umkamen sowie Tausende verletzt wurden, verlieh den Argumenten für das CWÜ zusätzliche Kraft.

Das Übereinkommen trat 1997 in Kraft und hatte zu Beginn 87 Vertragsparteien. Das CWÜ verbietet Entwicklung, Herstellung, Lagerung und Einsatz von Chemiewaffen im Krieg. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, jegliche Chemiewaffen, -programme und –einrichtungen zu deklarieren, die Verifikation zuzulassen und die Waffen und Einrichtungen auf sichere Weise zu vernichten bzw. zu beseitigen. Inzwischen sind dem CWÜ 190 Staaten beigetreten, davon haben acht Chemiewaffenarsenale deklariert. Insgesamt meldeten Albanien, Indien, Irak, Libyen, Russland, Südkorea, Syrien und die Vereinigten Staaten mehr als 72.000 t Chemiewaffen an, die meisten davon, 68.000 t, in den USA und Russland.

Erfreulicherweise haben drei Staaten mit Chemiewaffenarsenalen – Albanien, Indien und Südkorea – die verifizierte Vernichtung ihrer Vorräte unter Leitung der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« (OVCW, engl. OPCW, Sitz in Den Haag) bereits abgeschlossen. Die übrigen fünf Chemiewaffenländer setzen die vereinbarten Abrüstungsprogramme weiterhin um, wobei die meisten Chemiewaffen immer noch in Russland (etwa 10.000 t) und den USA (ca. 2.800 t) vorrätig sind. In Syrien, der jüngsten, 190. Vertragspartei des CWÜ, wird die Vernichtung der etwa 1.300 t Chemiewaffenvorräte momentan nach Plan abgewickelt und soll Mitte 2014 abgeschlossen sein. Wenn alles gut geht, sind in spätestens zehn Jahren weltweit sämtliche Vorräte dieser Waffengattung beseitigt.

Von einer kriegsgeplagten Welt mit einem massiven Einsatz tödlicher Chemiewaffen haben wir uns in den vergangenen 100 Jahren zu einer Weltgemeinschaft entwickelt, die sich auf die verifizierte Abrüstung dieser Waffen verpflichtet hat. Noch sind sechs Länder –Ägypten, Angola, Israel, Myanmar, Nordkorea und Südsudan – dem CWÜ nicht beigetreten, aber es bestehen kaum Zweifel, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern wird. Dieses Abrüstungsregime taugt gut als Vorbild für ähnliche Abrüstungsregime, u.a. für biologische, nukleare und konventionelle Waffen:

  • Es ist nicht-diskriminierend (d.h. sämtliche Mitgliedsstaaten haben die gleichen Rechte und Pflichten).
  • Es verpflichtet alle Mitgliedstaaten dazu, ihre Chemiewaffen zu vernichten.
  • Jegliche einschlägigen Anlagen – nicht nur die des Militärs, sondern auch die der Industrie – stehen der OVCW für Vor-Ort-Inspektionen und andere Verifikationsmaßnahmen offen.

Gedenken – und für Abrüstung kämpfen

Wir sollten also im Jahr 2014 beides tun: der vielen Toten gedenken, die in den vergangenen 100 Jahren der chemischen Kriegsführung zum Opfer gefallen sind, aber auch die Fortschritte feiern, die wir vor allem in den vergangenen drei Jahrzehnten auf dem Weg in eine chemiewaffenfreie Welt verzeichnen konnten. ForscherInnen und WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und DiplomatInnen und die gesamte Zivilgesellschaft müssen darauf drängen und dafür arbeiten, dass das Chemiewaffenübereinkommen universelle Geltung erlangt und vergleichbare Abrüstungsregime auch für alle anderen unmenschlichen und unterschiedslos tötenden Waffengattungen durchgesetzt werden.

Paul F. Walker promovierte am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Internationaler Sicherheit. Er leitet den Bereich Umweltsicherheit und Nachhaltigkeit bei Green Cross International und wurde 2013 für seinen unermüdlichen Einsatz für eine chemiewaffenfreie Welt mit dem Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) ausgezeichnet.
Übersetzt von Regina Hagen.

Der Chemiker Fritz Haber

Der Chemiker Fritz Haber

Anerkannte Wissenschaft – und Etablierung eines Massenvernichtungsmittels

von Dieter Wöhrle und Wolfram Thiemann

Das Deutsche Kaiserreich (gegründet 1871) entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts zu dem in Europa wirtschaftlich führenden modernen Industriestaat. Die Leistungsfähigkeit der deutschen chemischen Industrie lag vor dem Ersten Weltkrieg mit 86% der Weltproduktion weit über der seiner Kriegsgegner. Für Deutschland war es auch eine Epoche stärkster geistiger Dynamik der Wissenschaften. Seit Beginn der Verleihung der Nobelpreise 1901 wurden bis 1933 allein 14 Nobelpreise für Chemie und elf Nobelpreise für Physik an deutsche Wissenschaftler verliehen. Den Chemie-Nobelpreis des Jahres 1918 erhielt Fritz Haber (1868-1934) für seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Synthese von Ammoniak. Besonders wird aber sein Name bei der Entwicklung und dem Einsatz von Chemikalien als erstes Massenvernichtungsmittel der Menschheitsgeschichte im Ersten Weltkrieg genannt. Wie konnte sich diese Ambivalenz der Extreme von Ehre durch wissenschaftliche Leistung und Schuld an der Etablierung eines grausamen Kriegsmittels in einer Person überhaupt vereinen? Dieser Frage versuchen die beiden Autoren nachzugehen, und weisen dabei auch auf einige wichtige Punkte in seinem Privatleben hin.

Fritz Haber wurde 1868 in der Zeit der Gründung des Deutschen Reiches in Breslau (dem heutigen Wroclaw) geboren (Szöllösi-Janze, 1998; Stoltzenberg, 1994). Er stammte aus einer liberalen jüdischen Familie. Schulbesuch, Studium und Militärzeit des jungen F. Haber unterscheiden sich nicht wesentlich von den frühen Lebensgeschichten vieler deutscher Wissenschaftler. Nach dem Chemiestudium erfolgte 1891 die Promotion in der organischen Chemie an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität).

Erste Erfahrungen mit dem Militär sammelte F. Haber 1888/89 als Einjährig-Freiwilliger bei seinem Militärdienst in Breslau. Der Militärdienst gehörte im Kaiserreich zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine Karriere (Szöllösi-Janze, 1998, S.45). F. Haber wäre sehr gerne Reserveoffizier geworden, scheiterte aber u.a. daran, dass jüdische Bewerber mit Ausnahme des Sanitätswesens nicht das Reserveoffizierspatent erwerben konnten. Die Reichsgründung bedeutete zwar die gesetzlich festgelegte staatsbürgerliche Gleichstellung von Juden, der gesellschaftliche Antisemitismus war damit aber keineswegs aus der Welt geschafft. So wurden bei der Besetzung von Hochschullehrerstellen die christlich Getauften gegenüber den Nichtgetauften bevorzugt (Szöllösi-Janze, 1998, S.146). F. Haber entschloss sich daher 1892, zum evangelischen Glauben zu konvertieren.

Die Karlsruher Zeit bis 1911

1894 trat F. Haber eine Stelle an der Technischen Hochschule Karlsruhe in der physikalischen Chemie und Elektrochemie an, wurde bereits 1898 außerordentlicher Professor und 1906 im Alter von nur 38 Jahren auf einen neu zu besetzenden Lehrstuhl berufen. F. Haber führte u.a. ab1903 auch wissenschaftliche Arbeiten zur katalytischen Synthese von Ammoniak aus den Elementen Stickstoff und Wasserstoff durch, die 1909 zum Erfolg führten. Er sah in dieser Arbeit die Möglichkeit, zum angestrebten Weltruhm zu gelangen, und erhielt dafür 1918 den Nobelpreis für Chemie. Zusammen mit der von Ostwald (1853-1932, Nobelpreis für Chemie 1909) realisierten Oxidation des Ammoniaks zu Salpetersäure standen damit die beiden Grundchemikalien für die Herstellung von Düngemitteln, aber auch Sprengstoffen zur Verfügung.

Von 1908 bis 1933 war F. Haber vertraglich an die BASF (Badische Anilin- und Sodafabrik) gebunden, welche 1913 mit Hilfe von Carl Bosch (1874-1940, Nobelpreis für Chemie 1931) erstmalig die großtechnische und damit industrielle Synthese von Ammoniak realisierte, was für die Fortführung des Ersten Weltkrieges die größte Bedeutung hatte. Die Ammoniaksynthese zeigte in der damaligen Zeit den Erfolg einer systematischen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie, zwischen Chemie und Ingenieurwissenschaften.

Eine außerordentliche wissenschaftliche Begabung, ein immenser Arbeitseifer, die Auswahl zukunftsträchtiger fachlicher Arbeitsgebiete, die große politische und fachliche Loyalität und letztlich auch die Konversion zum christlichen Glauben waren die Bausteine, die F. Haber den Weg zum wissenschaftlichen Erfolg öffneten. Was noch fehlte war die weitere gesellschaftliche Anerkennung durch Gründung einer Familie und die politische Einflussnahme bei gesellschaftlich relevanten Themen. Und hier beging F. Haber die entscheidenden Fehler seiner Laufbahn. In seiner Sucht nach Ruhm und Anerkennung war er insbesondere in seiner Berliner Zeit nicht mehr in der Lage, Geborgenheit in der Familie zu finden und Verantwortung für seine Wissenschaft zu erkennen und zu übernehmen.

Die Ehe mit der verantwortungsbewussten Clara Immerwahr

F. Haber war in seiner ersten Ehe seit 1901 mit der überdurchschnittlich begabten promovierten Chemikerin Clara Immerwahr (1870-1915) verheiratet (Leitner, 1993; Friedrich, 2007; Szöllösi-Janze, 1998). Auch sie stammte aus einer liberalen jüdischen Familie in Breslau. Dem Antrag von F. Haber an C. Immerwahr, ihn zu heiraten gab sie erst nach einigem Zögern nach, was verständlich war. Eine eigene – außerhäusliche – Erwerbstätigkeit, auch als Assistentin, war als treu sorgende Professorengattin damals kaum vorstellbar. Damit wollte sich C. Immerwahr nicht abfinden. Und bald zeigte sich, dass die Ehe durch den Gegensatz des von Anerkennung und Erfolg getriebenen F. Haber und der selbst- und verantwortungsbewussten C. Immerwahr-Haber letztlich zum Scheitern verurteilt war und mit Claras spektakulären Freitod 1915 endete (Wöhrle, 2010).

Die Berliner Zeit von 1911 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

Vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft wurde 1911 in Berlin die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG; ab 1948 Max-Planck-Gesellschaft, MPG) gegründet. Ein Problem war allerdings die Finanzierung der Institute, die zum Teil von privater Seite erfolgte. Hier ist u.a. der jüdische Berliner Bankier L. Koppel (1854-1933) zu nennen, der sich privat in der Wissenschaftspflege engagierte (Szöllösi-Janze, 1998, S.212). Er wollte in Berlin Dahlem in der KWG ein separates Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie finanzieren mit F. Haber als Direktor. F. Haber siedelte 1911 mit seiner Familie nach Berlin und war bis 1933 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie (ab 1953 Fritz-Haber-Institut der MPG). Die Laufbahn von F. Haber als Leiter des neuen, bedeutenden Instituts, das 1913 arbeitsfähig wurde, entwickelte sich zuerst wie erwartet weiter. Dabei machte er den Schritt vom Wissenschaftler zum Wissenschaftsorganisator, wo er zunehmend an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, chemischer Großindustrie und dann auch dem politisch-militärischen Bereich an Einfluss gewann.

Chemische Waffen

Land Menge Kampfstoffe in Tonnen
Deutschland 52.000
Frankreich 26.000
Großbritannien 14.000
Österreich/Ungarn 7.900
Italien 6.300
Russland 4.700
USA 1.000
Gesamt 113.000
Tabelle 1: Mengen der im Ersten Weltkrieg von den kriegsführenden Staaten eingesetzten chemischen Kampfstoffe (nach SIPRI)

Im Ersten Weltkrieg stellte F. Haber seine Erfahrungen und auch seine Arbeitskraft bedingungslos der deutschen Kriegsführung zur Verfügung. Was waren seine Motive? In Szöllösi-Janze (1998) wird auf S.260 ausgeführt „Seine Haltung war preußisch: Im Vordergrund stand der Staat, dem er diente, dem er unbedingte Loyalität entgegenbrachte und für dessen Ziele er sich rückhaltlos einsetzte […]“. Archimedes diente ihm als Leitfigur „[…] der im Frieden […] dem Fortschritt der Menschheit diente, im Krieg aber seiner Heimat […]“. Der Krieg eröffnete dem in Breslau an seiner jüdischen Herkunft gescheiterten Reserveoffizier eine Chance auf gesellschaftliche Anerkennung. Die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg wurde für den Wissenschaftler F. Haber aber nicht zuletzt durch den Freitod seiner Frau Clara 1915 zur seelisch und körperlich empfundenen Niederlage.

F. Haber ist – gemeinsam mit anderen – zunächst im Zusammenhang mit der Sicherung des Munitionsbedarfs (und damit auch für die Verlängerung des Krieges) durch die erfolgreiche Salpeterversorgung über die bereits erwähnte Ammoniaksynthese zu sehen. Die Blockade der Entente-Mächte führte dazu, dass die begrenzten Vorräte an Chilesalpeter ein großes Hindernis für die Fortführung des Krieges darstellten. F. Haber war zunächst als Berater und dann als Leiter der Zentralstelle für Chemie in der zivilen und militärischen Rohstoffversorgung tätig.

Besondere Erwähnung findet F. Habers Name aber im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Einsatz von Chemikalien als erstes Massenvernichtungsmittel der Menschheitsgeschichte (Martinetz, 1996; Gartz, 2003; Wietzker, 2008). Dabei war F. Haber nicht der Erste, der Chemikalien (»chemische Kampfstoffe« bzw. munitioniert als »chemische Waffen« bezeichnet) in militärischen Auseinandersetzungen einsetzte. Die Verwendung von erstickendem Rauch oder Reizkampfstoffen gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Von französischer Seite wurden bereits im Herbst 1914 Gewehrmunition und Granaten mit geringen Mengen des Reizkampstoffes Bromessigester gefüllt und eingesetzt – um den Gegner aus Stellungen zu treiben –, aber wegen geringen Erfolges wieder aufgegeben. Auch auf der deutschen Seite blieb die Verwendung von Dianisidinsalz (reizendes Niespulver), Xylylbromid (Augenreizstoff) und anderen Reizstoffen ohne Erfolg. Erst F. Haber allerdings etablierte todbringende Chemikalien in der Kriegsführung als Massenvernichtungsmittel. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 als Teil des humanitären Völkerrechts untersagte den Vertragsstaaten u.a. die Verwendung von „Giften oder vergifteten Waffen“ sowie den „Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötigerweise Leiden zu verursachen“. Das Deutsche Reich hatte das Abkommen unterzeichnet und verstieß, unterstützt von F. Haber, mit dem Einsatz chemischer Waffen gegen geltendes Völkerrecht.

Was waren die Ursachen für eine neue Methode der Kriegsführung? Zum einen die Erstarrung der deutschen Westoffensive im Herbst 1914 zu einem Stellungskrieg und zum anderen die drohende Munitionskrise. Generalstabschef E. von Falkenhayn (1861-1922) wandte sich an F. Haber und andere Chemiker mit der Aufforderung, nach Giften zu suchen, die den Gegner aus den Gräben treiben und seine Kampfkraft dauerhaft schädigen könnten. Alles soll verseucht werden, Luft, Boden, Wasser, Nahrung…

Dazu schlug F. Haber Ende 1914 vor, das in großen Mengen aus der Natriumchlorid-Elektrolyse zur Verfügung stehende Chlor im Blasverfahren aus Stahlflaschen an der Front zu verwenden. Am 22. April 1915 führte das deutsche Militär im belgischen Ypern mit rund 150 Tonnen Chlor aus über 5.000 Stahlflaschen den ersten Gasangriff der Militärgeschichte durch. Die Konsequenz waren über 1.000 Tote und an die 10.000 Verletzte. Der Erfolg dieses Gaseinsatzes bescherte F. Haber Tage danach die von ihm angestrebte Beförderung in den Hauptmannsrang.

Eine persönliche Tragödie

Clara Immerwahr-Haber erkennt die Perversion der Wissenschaft, warum ihr Mann nicht? „Wenn Du wirklich ein glücklicher Mensch wärst, könntest du das nicht machen“ (Leitner, 1993, S.196), konfrontierte ihn seine Frau. Dennoch vollzog F. Haber den militärisch gewünschten Schritt vom Reizkampfstoff zum tödlich wirkenden Kampfstoff. C. Immerwahr-Haber hingegen wandte sich mit verschiedenen Argumenten energisch gegen den Gaseinsatz. Ihr Mann soll seiner Frau sogar Landesverrat vorgeworfen haben. Es traf sie besonders, dass er ihr vorwarf, ihm und Deutschland in der größten Not in den Rücken zu fallen.

In dieser aus ihrer Sicht aussichtslosen Situation erschoss sie sich kurz nach der gefeierten Rückkehr ihres Mannes aus Ypern in der Nacht vom 1. auf den 2.5.1915 mit seiner Dienstpistole. Sie wollte nicht Mittäterin sein. In Szöllösi-Janze (1998, S.393) wird dazu ausgeführt: „Ihr Tod wird zum Protest der Friedenskämpferin gegen die zerstörerischen Konsequenzen der modernen Massenvernichtungsmittel erklärt, an deren Entwicklung ihr Mann maßgeblich beteiligt war“.1 Wahrscheinlich spielten ihre gescheiterte Ehe und daraus resultierende psychische Belastungen ebenfalls eine Rolle.

F. Haber reiste noch am Tage des Todes seiner Frau zurück an die Front und ließ seinen 13-jährigen Sohn Hermann zurück. Ob dies nur Pflichterfüllung gegenüber seiner militärischen Aufgabe oder auch Flucht vor seinem Versagen im persönlichen Bereich war, ist nur schwer einzuschätzen.

Etablierung als Massenvernichtungsmittel

Mit dem deutschen Chlorgaseinsatz waren nun alle Hemmnisse, auch seitens der Kriegsgegner, zur Ausweitung des Einsatzes von Chemikalien im Krieg beseitigt. Zunächst übernahm F. Haber im Herbst 1915 die Leitung der »Zentralstelle für Fragen der Chemie«, die ein Jahr später zu einer selbstständigen Abteilung im Allgemeinen Kriegsdepartement ausgebaut wurde. F. Haber war damit der erste Wissenschaftler, der eine Abteilung im Kriegsministerium leitete. Er war für den Einsatz von Chemikalien als Kriegsmittel verantwortlich. Seit 1916 bearbeitete das von ihm geleitete Kaiser-Wilhelm- Institut ausschließlich militärische Projekte (Gasproduktion, Entwicklung/Prüfung neuer chemischer Kampfstoffe, Gasmaskenproduktion, Gasgeschossproduktion etc.), was die Verflechtung von Wissenschaft, Heeresverwaltung und chemischer Industrie verdeutlicht.

Der chemische Krieg wurde auch bei den Entente-Mächten Bestandteil der Kriegsführung. Von einigen Hundert getesteten Verbindungen wurden im Ersten Weltkrieg 18 »mehr tödlich« und 27 »mehr reizend« wirkende Chemikalien eingesetzt (Martinetz, 1996) (siehe Abb. 1). Am Ende des Ersten Weltkrieges hatten etwa ein Drittel der Artilleriegeschosse bereits Füllungen mit toxischen Chemikalien: Etwa 113.000 Tonen Kampfstoffe, eingesetzt davon allein 52.000 von deutscher Seite (siehe Tab. 1)! Die Zahl der durch toxische Chemikalien Betroffenen wird etwas unterschiedlich angegeben, aber man kann etwa von 90.000 »Gastoten« und über einer Million »Gasvergifteten« ausgehen. Durch chronische Erkrankung Betroffene und Opfer mit Spätfolgen sind in den Zahlen nicht enthalten.

Dabei ist hervorzuheben, dass es auch im Ersten Weltkrieg durchaus Möglichkeiten gab, sich gegen den Krieg zu engagieren und als Wissenschaftler kritisch Stellung zu beziehen. Der Bund Neues Vaterland, gegründet 1914 und 1922 umbenannt in Deutsche Liga für Menschenrechte, war wohl die bedeutendste deutsche pazifistische Vereinigung im Ersten Weltkrieg. Mitglieder waren u.a. Albert Einstein, Stefan Zweig, Ludwig Quidde, Helene Stöcker, Clara Zetkin, Alfred Hermann Fried. Der Bund versuchte, durch vielfältige Kontakte zu Regierungsvertretern und internationalen Friedensorganisationen auf ein schnelles Ende des Krieges hinzuwirken. Auch F. Haber hätte sich hier engagieren können. Von verschiedenen bekannten Wissenschaftlern gab es während und nach dem Ersten Weltkrieg klare Stellungnahmen gegen den Einsatz von Chemikalien als Massenvernichtungsmittel. Beispiele sind die Nobelpreisträger Albert Einstein (1879-1955), Max Born (1882-1970), Otto Hahn (1879-1968) und Hermann Staudinger (1881-1965) (Martinetz, 1996, S.105; zur Kontroverse von Haber und Staudinger siehe Szöllösi-Janze (1998) S.447 ff). Man kann jedoch davon ausgehen, dass der größte Teil der deutschen Naturwissenschaftler zur Mitarbeit am chemischen Krieg bereit war und den Krieg als „Wettbewerb des Forscher- und Erfindergeistes“ wertete. An besonders verantwortlicher Stelle dabei stand F. Haber.

Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg

F. Haber (kurzfristig als Kriegsverbrecher geführt) erhielt 1919, wie bereits erwähnt, den Nobelpreis für Chemie 1918, was zu internationalen Protesten auch von verschiedenen prominenten Wissenschaftlern führte. Die entscheidende Frage ist, ob F. Haber aus dem Desaster und den Leiden des Ersten Weltkrieges gelernt hatte. Die Antwort lautet eindeutig Nein: Dafür steht exemplarisch seine Aussage: „Die Menschheit hat nicht die Möglichkeit gelehrt, wirksame Kriegsmittel aus der Kriegsführung auszuschließen“ (Martinetz, 1996).

Zum Umgang mit chemischen Waffen äußerte sich F. Haber vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstages 1923 uneinsichtig „Die Geschichte der Kriegskunst rechnet den Beginn des Gaskampfes am 22.4.1915, weil an diesem Tage zum ersten Male ein unbestrittener militärischer Erfolg durch die Verwendung von Gaswaffen erzielt worden ist […] dass es zum militärischen Erfolg auf dem Schlachtfelde einer Massenwirkung von Gaskampfmittel bedarf“ (Martinetz,1996, S.26).

Im Versailler Friedensvertrag von 1919 wurde Deutschland in Artikel 171 der Gebrauch, die Herstellung und die Einfuhr von chemischen Kampfstoffen verboten. Das Genfer Giftgasprotokoll von 1925, welches den Unterzeichnerstaaten u.a. den Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Stoffen verbot, ist Folge der schrecklichen Auswirkungen im Ersten Weltkrieg. Trotz dieser beiden Verträge setzten in Deutschland – basierend auf den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg –, Politik, Militär (Reichswehr) und Wissenschaft die Forschung über chemische Kampfstoffe fort – nur jetzt geheim. F. Haber half auch bei der Übertragung in den zivilen Bereich, z.B. bei der Verwendung von Cyanwasserstoff für Schädlingsbekämpfung, aus dem dann bereits 1922 das berüchtigte Zyklon B entwickelt wurde, das im Dritten Reich seine bekannte todbringende Karriere machte (Kogon, 1983). In diesem Kontext äußerte er in zynischer Weise, dass man „nicht angenehmer als durch Einatmung von Blausäure sterben“ könnte (Martinetz, 1996, S.133). In geheimen Missionen war F. Haber wahrscheinlich bis etwa 1926 für die militärischen Nutzungen toxischer Verbindungen aktiv (Stoltzenberg, 1994; Szöllösi-Janze, 1998; Schweer, 2008). Die nun in verschiedenen Ländern vorangetriebene chemische Aufrüstung, die Herstellung der phosphororganischen Kampfstoffe in Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges, die Entwicklung der sog. Binärtechnologie in den USA und verschiedene Einsätze von chemischen Kampfstoffen verdeutlichten, dass die geltenden Verträge zahnlos blieben. Erst 1997 sollte eine neue UN-Konvention über das Verbot chemischer Waffen entscheidende Abhilfe schaffen.

F. Haber heiratete 1917 zum zweien Male, diesmal die fröhliche und lebensbejahende Jüdin Charlotte Nathan. Bereits 1918 bekannte sie in einem Brief an ihren Schwiegervater die Wahrnehmung der „Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit“ durch Habers „Wucht“. Auch diese zweite Ehe endete nicht glücklich und wurde 1927 geschieden. F. Haber empfand dies als persönliches Scheitern vor sich selbst. Tragisch ist das Ende seines Sohnes Hermann aus erster Ehe: Er soll sich nach seiner Emigration in die USA 1946 das Leben genommen haben.2

Am 5. März 1933 ergriffen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. Kurz danach trat das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft, um zunächst jüdische und andere missliebige Staatsdiener zu entlassen oder in den Ruhestand zu versetzen. F. Haber versuchte, sich für seine Mitarbeiter einzusetzen. Dann kam er seiner eigenen Entlassung zuvor, indem er seinen Abschied einreichte. Seine körperliche Verfassung verschlechterte sich dramatisch, begleitet von tiefster Depression. Verbittert – auch im Stich gelassen von der I.G. Farbenindustrie AG (gegründet 1925) – verließ er Deutschland im Herbst 1933, um einem Ruf nach Cambridge zu folgen. Am 29.1.1934 verstarb F. Haber an Herzversagen.3 Das Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie wurde am 1.7.1953 der Max-Planck-Gesellschaft eingegliedert und in «Fritz-Haber-Institut der MPG» umbenannt.4

Haben wir nun etwas aus der Geschichte gelernt?

Der dunkelste Punkt im Leben von F. Haber ist die Etablierung von chemischen Kampfstoffen/Waffen als Massenvernichtungsmittel. Heute sind wegen der grausamen Folgen deutliche Fortschritte hinsichtlich der Ächtung chemischer Waffen zu beobachten, und F. Haber könnte so heutzutage nicht mehr handeln. Der Verhaltenskodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GdCh) verpflichtet seine Mitglieder u.a. „[…] Sie beachten die für ihre Arbeit und deren Ergebnisse und Wirkungen geltenden Gesetze und internationalen Konventionen und stellen sich gegen den Missbrauch der Chemie, z. B. zur Herstellung von Chemiewaffen. […]“ (www.gdch.de). Für Chemiewaffen trat das sehr umfassende und von 188 Staaten unterzeichnete »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen« (Chemiewaffenübereinkommen) 1997 in Kraft (www.opcw.org). Die Einhaltung dieser Konvention wird durch die »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« (OPCW) in Den Haag durch umfangreiche Verifikationsmaßnahmen überwacht. Wir müssen uns in der Verantwortung für unsere Wissenschaft eindeutig und klar zur Ächtung von Massenvernichtungsmitteln bekennen und gegen jeden möglicherweise auftretenden Missbrauch öffentlich auftreten.

Aus der Wissenschaftsgeschichte Chemie haben wir gelernt, dass sich bei F. Haber wie bei kaum einer anderen Persönlichkeit der Weltgeschichte in hohem Maß der Nutzen einer für die Menschheit bedeutenden Erfindung und der Missbrauch der Chemie für eine der schrecklichsten Methoden der Kriegsführung vereinen. Tragisch ist, dass er auch in seinem privaten Bereich versagte.

Initiative zur Änderung des Namens »Fritz-Haber-Institut«
der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin

2011 sind einhundert Jahre seit der Gründung des ehemaligen »Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie« und jetzigen »Fritz-Haber-Instituts« der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in Berlin vergangen. Dies ist Grund genug für eine Würdigung, aber auch für eine kritische Bestandsaufnahme. Den Anlass für diese Initiative bildet die 1953 mit der Eingliederung des Instituts in die MPG erfolgte Umbenennung in »Fritz-Haber-Institut«, die wir aus heutiger Sicht für dieses renommierte Instituts für nicht (mehr) gerechtfertigt halten.

Wir würdigen die Bedeutung des Instituts und die wissenschaftlichen Leistungen der Mitarbeiter/innen, die für Ihre Arbeiten mit zahlreichen renommierten Preisen wie z.B. durch Nobelpreise (zuletzt 2007 G. Ertl Nobelpreis für Chemie) geehrt wurden. Wir schätzen die gegenwärtigen hinreichend und kritisch überdachten Schwerpunktsetzungen in der Grenzflächenforschung, die ein sehr guter Ausgangspunkt für weitere bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse sind.

Allerdings: Bei kaum einer anderen Person der Wissenschaftsgeschichte vereinen sich in so hohem Maße der Nutzen einer für die Menschheit bedeutenden Erfindung (Ammoniaksynthese für Düngemittel) und der Missbrauch der Chemie für eines der schrecklichsten Kapitel der Kriegsführung (Anwendung chemischer Waffen) wie bei Fritz Haber (siehe nebenstehenden Artikel).

Daraus müssen wir in der Verantwortung als Wissenschaftler Konsequenzen bei der Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte ziehen. Zwangsläufig ergibt sich für uns, dass der Name des »Fritz-Haber-Instituts« heute u.a. wegen des Chemiewaffenübereinkommens von 1997 und des Verhaltenskodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker nicht mehr vertretbar ist. Als Konsequenz bleibt nur die Umbenennung des Instituts. Damit täte sich das renommierte Institut einen guten Dienst anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums.

Wenn Sie unsere Initiative zur Umbenennung des »Fritz-Haber-Instituts« unterstützten wollen, wenden Sie sich an: Dieter Wöhrle, Tel. 0421-218-63135, E-mail: woehrle@uni-bremen.de oder Wolfram Thiemann, Tel. 0421-218-63211, E-mail: thiemann@uni-bremen.de.

Literatur

Friedrich, Sabine (2007): Immerwahr. München: dtv.

Gartz, Jochen (2003): Chemische Kampfstoffe. Der Tod kam aus Deutschland. Löhrbach: The Grüne Kraft , Der Grüne Zweig 243.

Kogon, Eugen (Hrsg.) (1983): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch.

Leitner von, Gerit (1993): Der Fall Clara Immerwahr. München: C.H. Beck.

Martinetz, Dieter (1996): Der Gaskrieg 1914-1918. Bonn: Bernhard & Graefe.

Stoltzenberg, Dietrich (1994): Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Jude. Weinheim: VCH.

Szöllösi-Janze, Margit (1998): Fritz Haber 1868-1934. München: C.H. Beck.

Wietzker, Wolfgang (2008): Giftgas im Ersten Weltkrieg. Saarbrücken: VDM Verlag.

Schweer, Henning (2008): Die Geschichte der Chemischen Fabrik Stoltzenberg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Diepholz: GNT-Verlag, Diepholz.

Wöhrle, Dieter (2010): Fritz Haber und Clara Immerwahr. In: Chemie in unserer Zeit, 44, S.30-39.

Anmerkungen

1) Die IPPNW Deutschland verleiht seit 1991 die »Clara-Immerwahr-Auszeichnung«, um Personen zu würdigen, die sich in ihrem Beruf, an ihrem Arbeitsplatz ungeachtet persönlicher Nachteile aktiv gegen Krieg, Rüstung und gegen die anderen Bedrohungen für die Grundlagen menschlichen Lebens eingesetzt haben.

2) „Hermann, born in 1902, would later also commit suicide because of his shame over his father’s chemical warfare work.“; http://en.wikipedia. org/wiki/Fritz_Haber.

3) Über den Rücktritt von Fritz Haber, seinen Tod, Gedächtnisfeiern und späte Ehren: Deichmann, Ute (1996): Dem Vaterlande – solange er dies wünscht. In: Chemie in unserer Zeit, 30, S.141-149.

4) Zur Geschichte des Fritz-Haber-Instituts siehe www.fhi-berlin.mpg.de.

Dieter Wöhrle ist Hochschullehrer für Organische und Makromolekulare Chemie an der Universität Bremen. Er engagiert sich seit längerer Zeit gegen chemische Waffen. Wolfram Thiemann ist Hochschullehrer für Physikalische Chemie an der Universität Bremen. Er befasst sich auch mit Umweltchemie.

C-Waffen-Abrüstung

C-Waffen-Abrüstung

Ein unterschätztes Problem?

von Ulrike Kronfeld-Goharani

Chemische Waffen (CW), auch als chemische Kampfstoffe oder Giftgas bezeichnet, können ganz allgemein als Gifte betrachtet werden, die Funktionsstörungen, Gesundheitsschäden oder den Tod von Mensch, Tier oder Pflanze verursachen. Die Wirkung eines Giftes hängt dabei von der verabreichten Menge und Konzentration, der Löslichkeit, dem Ort und der Dauer der Einwirkung sowie vom individuellen Zustand des Opfers ab. Da CW durch ihre Sofortwirkung oder durch eine chronische Vergiftung Tausenden von Menschen Schaden zufügen können, werden sie neben den nuklearen und biologischen Waffen zur Kategorie der Massenvernichtungsmittel gezählt.

Eine Bedeutung als Massenvernichtungswaffe erlangten CW zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Frankreichs Einsatz von mit Bromessigsäureethylester gefüllten Gaspatronen an der Westfront löste unter den kriegführenden Staaten ein chemisches Wettrüsten aus. An der Entwicklung deutscher CW waren die Chemiker Fritz Haber, Walter Nernst und Gerhard Schrader1 maßgeblich beteiligt. Unter Habers Leitung wurde am 22. April 1915 nahe des belgischen Ypern Chlorgas zum Einsatz gebracht, durch das mehr als 15.000 Menschen vergiftet und 5.000 getötet wurden.2

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs konnten weder der Friedensvertrag von Versailles 1919, der Deutschland die Herstellung oder die Einfuhr von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen untersagte, noch das Genfer Protokoll von 1925,3 das den Ersteinsatz von biologischen und chemischen Waffen verbot, verhindern, dass während des Zweiten Weltkriegs intensiv an CW geforscht und aufgerüstet wurde. Besonders grausam waren dabei die im Rahmen der japanischen B- und C-Waffen-Forschung durchgeführten Menschenversuche mit Giftgasen und Bakterien in der von den Japanern besetzten Mandschurei (1937-1945).

Das Genfer Protokoll wurde zwar von allen kriegführenden Parteien eingehalten, allerdings setzten die Nationalsozialisten im zivilen Bereich Blausäure (Zyklon B) in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern zum Massenmord ein.

Während der beiden Weltkriege wurden ca. 70 Substanzen auf ihre Eignung getestet, tatsächlich zum Einsatz kamen aber nur wenige Verbindungen, von denen die wichtigsten in Tabelle 1 angegeben sind.

Tab. 1 Klassifizierung chemischer Kampfstoffe nach ihrer physiologischen Wirkung

Einteilung Kampfstoff Physiologische Wirkung
Nervenkampfstoffe 1 Sarin(GB), Soman(GD),
Tabun (GA), VX
Störung der Signalübermittlung an den Synapsen: Krämpfe, Atemlähmung;
Aufnahme auch über Haut.
Hautkampfstoffe Senfgas, auch als Lost, Yperit, Gelbkreuz, Mustard Gas bekannt (H, HD, HT), Lewisit, Lost-Lewisit-Gemische Da gut fettlöslich, Aufnahme über die Haut: Schädigung von Haut, inneren Organen; Durchdringen Kleidung, Gasmasken bieten keinen Schutz.
Blutkampfstoffe Blausäure (Zyklon B), Kohlenmonoxid, Chlorcyan, Arsenwasserstoff Störung der Sauerstoffaufnahme aus dem Blut: Innere ­Erstickung.
Lungenkampfstoffe Chlorgas, Phosgen,
Diphosgen
Schädigung der Lunge, ­Bildung von Lungenödemen.
Psychokampfstoffe BZ (Benzinsäureester),
Drogen
Führen zu vorübergehender Verwirrung.
Reizkampfstoffe CN- und CS-Gas (Tränengas), Brom- und Chloraceton Reizung der Schleimhäute der Atemwege und Augen, verursachen Hustenreiz und Tränen.
1) Sarin, Soman, Tabun und Senfgas sind Trivialnamen.
In den Klammern sind die internationalen Codes für diese Kampfstoffe angegeben.

Nach den Weltkriegen wurden C-Waffen von staatlichen Akteuren in über 30 Konflikten eingesetzt, u.a. durch Frankreich im Indochina- (1947) und Algerien-Krieg (1957), durch die USA im Korea- (1951-1952) und im Vietnam-Krieg (1961-1971) und durch den Irak gegen den Iran im Ersten Golfkrieg (1980-1988).

Der lange Weg zur Abschaffung chemischer Waffen: Das C-Waffenübereinkommen

Die Aufrüstung der beiden Supermächte in der Ära des Kalten Krieges brachte neben den nuklearen Arsenalen auch riesige C-Waffen Bestände hervor und auch andere Staaten produzierten größere Mengen dieser Waffen bis in die 1980er Jahre hinein. Gegen Ende der siebziger Jahre begannen im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz4 erste Konsultationen über die Möglichkeiten, ein international verbindliches Rechtsinstrumentarium zu schaffen, das einerseits sicherstellte, dass eine ganze Kategorie von Massenvernichtungswaffen (MVW) eliminiert wurde und andererseits einen Mechanismus schuf, der das erneute Auftauchen dieser Waffen verhinderte. Nach einem 1984 begonnenen Verhandlungsmarathon unterzeichneten am 13. Januar 1993 in Paris 130 Staaten das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ).

Das CWÜ, das am 29. April 1997 in Kraft trat, hat zum Ziel „im Interesse der gesamten Menschheit“ weltweit alle chemischen Waffen und deren Produktionsanlagen bis zum Jahr 2012 zu vernichten, um die Möglichkeit vollständig auszuschließen, dass CW jemals wieder eingesetzt werden. In Ergänzung zum Genfer Protokoll verpflichtet sich in Art. 1 jeder Vertragsstaat, unter keinen Umständen jemals chemische Waffen zu entwickeln, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu lagern oder zurückzubehalten oder chemische Waffen an einen anderen Staat unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben oder einzusetzen, und Mittel zur Bekämpfung von Unruhen nicht als Mittel der Kriegführung einzusetzen. Ferner verpflichtet sich jeder Mitgliedstaat mit Hinterlegung seiner Ratifizierungsurkunde bei den VN, vorhandene eigene CW-Bestände – auch anderswo zurückgelassene Waffen – und Produktionsanlagen zu deklarieren und innerhalb der im CWÜ festgelegten Fristen unter internationaler Aufsicht zu vernichten.5

Um eine effiziente Kontrolle der Einhaltung des Abkommens zu gewährleisten, wurde das CWÜ mit einem umfangreichen Verifikationsprotokoll ausgestattet und mit dem Inkrafttreten der Konvention die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW)6 als Teil der VN in Den Haag eingerichtet.

Aktueller Stand der allgemeinen Abrüstungsbemühungen

Aktuell sind 189 Staaten dem Abkommen beigetreten, das damit von 98 Prozent der Weltbevölkerung unterstützt wird. Auch 98 Prozent der chemischren Industrie steht unter Kontrolle des CWÜ. Nur wenige Staaten sind dem Abkommen bisher nicht beigetreten oder haben es noch nicht ratifiziert (Tab. 2).

Tab. 2 Status der Vertragsstaaten des CWÜ (April 2010)

189 Mitgliedsstaaten
98 Prozent der Weltbevölkerung
Noch nicht beigetretene Staaten
1. Angola
2. Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea)
3. Ägypten
4. Somalia
5. Arabische Republik Syrien
Staaten, die noch nicht ratifiziert haben (Beitritt)
1. Israel (13-01-1993)
2. Myanmar (Burma) (14-01-1993)

Weniger erfolgreich war bisher der eigentliche Abrüstungsprozess. War man beim Abschluss des CWÜ noch davon ausgegangen, dass eine Dekade für die Abrüstung und Vernichtung aller CW ausreichend sei, sind drei Jahre nach der ursprünglich vereinbarten Frist vom 29. April 2007 erst wenig mehr als die Hälfte vernichtet.

Außer den USA und Russlands hatten Albanien, Indien, Syrien und ein weiterer auf seiner Anonymität bestehender Staat7 den Besitz von zusammen 4.200 Tonnen CW angezeigt.8 Albanien konnte seinen ca. 16 Tonnen CW-Bestand 2007 innerhalb von 6 Monaten mittels eines Verbrennungsverfahren vernichten. Indien, das ca. 1.000 Tonnen bekannt gegeben hatte, konnte ebenso wie Südkorea die Abrüstung und Vernichtung aller chemischen Waffen beenden.9 Libyen, das ca. 23 Tonnen Senfgas besitzt, hat noch nicht mit der Vernichtung des Hautkampfstoffes begonnen, hatte aber bereits 2004 die für die CW vorgesehenen 3.563 leeren Luftbomben zerstört.10

Große Mengen an CW müssen nach wie vor weiterhin in den USA und Russland abgerüstet werden.

Stand der CW-Abrüstung in den USA und in Russland

Die USA haben 31.496 Tonnen chemischer Waffen an neun Hauptorten bekannt gegeben (Tab. 3).11 Die chemischen Agenzien wurden munitioniert und in Artilleriegranaten, Mörsergeschossen, Landminen (US M23) und Raketen (US M55) gefüllt oder in dickwandigen Stahlzylindern mit 1 Tonne Fassungsvermögen gelagert.

Tab. 3 Amerikanische CW-Bestände (Stand April 2010)

CW-Depots / Bundesstaat Anteil am
Gesamtbestand
Mengen in
Tonnen
Davon bereits
vernichtet
Gesamt:
31.496 Tonnen

Davon vernichtet:
22.677 Tonnen (72%)

Aberdeen / Maryland 5% Ca. 1.625 100%
Anniston / Alabama 7% Ca. 2.254 69%
Blue Grass / Kentucky 2% Ca. 523 Start 2018?
Johnston Atoll / Pacific Ocean 6% Ca. 2.031 100%
Newport / Indiana 4% Ca. 1.269 100%
Pine Bluff / Arkansas 12% Ca. 3.850 71%
Pueblo / Colorado 8% Ca. 2.611
Ende 2020?
Tooele / Utah 44% Ca. 13.616 88%
Umatilla / Oregon 12% Ca. 3.717 43%
Ende 2011 ?

Bereits Mitte der 1980er Jahre hatten die USA mit einem CW-Vernichtungsprogramm begonnen, das an einer kleinen Zahl von großen Müllverbrennungsanlagen angesiedelt werden sollte. Da man sich jedoch Sorgen machte hinsichtlich der Risiken eines Transportes über Straße, Schiene oder zu Wasser entschied sich die US Armee, alle CW-Bestände in situ zu vernichten. Das erforderte allerdings die Errichtung von Vernichtungsanlagen in den insgesamt neun CW-Depots.

Der erste Prototyp, das »Johnston Atoll Chemical Agent Disposal System« (JACADS) ging 1990 in Betrieb und konnte nach erfolgreicher Arbeit 2000 geschlossen werden. In Aberdeen/Maryland wurde 2003 ein Neutralisierungsverfahren angewendet und alle Senfgasbestände bis 2005 vernichtet.12 2005 wurden auch in Newport/Indiana alle Nervenkampfstoffe vernichtet.13 Im größten CW-Depot der Welt, in Tooele/Utah wurde 1996 mit der Verbrennung der CW-Bestände begonnen, von denen bis heute ca. 88 Prozent vernichtet sind.

Zwei weitere Verbrennungsanlagen wurden 2003 und 2004 in Anniston/Alabama und Umatilla/Oregon in Betrieb genommen, 2005 eine weitere in Pine Bluff/Arkansas. Im Umatilla Chemical Depot, wo bisher ca. 27 von insgesamt 2.635 Tonnen Senfgas vernichtet wurden, traten im vergangenen Sommer wiederholt Leckagen auf. Senfgas trat aus der in unterirdischen Iglus gelagerten teilweise 60 Jahre alten Munition und Stahlbehältern aus und verzögerte immer wieder den Abrüstungsprozess.14 In Pine Bluff/Arkansas werden Senfgasbestände verbrannt, derzeit sind ca. 71 Prozent des Gesamtbestandes an Haut- und Nervenkampfstoffen vernichtet.

Nach wie vor unklar ist, wann die Vernichtungsanlagen in Pueblo Chemical Depot in Colorado und Blue Grass Chemical Army Depot in Kentucky errichtet werden. In beiden Anlagen wurde sich für ein 2-Stufen-System entschieden, wobei die chemischen Kampfstoffe zunächst chemisch neutralisiert und dann die flüssigen Abfälle weiterverarbeitet werden sollen. Budgetkürzungen, nicht zuletzt auch als Folge des Afghanistan- und Irakkrieges, steigende Konstruktionskosten und Rückschläge durch Sicherheitsvorkehrungen infolge des Auftretens von Leckagen (2007 und Juni 2009: Sarin, Mai und Aug. 2009: Senfgas)15 haben den Zeitplan für die Zerstörung und Neutralisierung weiter verzögert.

Blue Grass ist das letzte Lager, wo 523 Tonnen Nerven- und Hautkampfstoffe abgerüstet werden müssen. Der Abrüstungsprozess gestaltet sich hier besonders schwierig, da M55-Raketen abgerüstet werden müssen, bei deren Zerlegung die leicht entzündlichen Raketentreibstoffe in der Vergangenheit wiederholt Brände ausgelöst hatten. Aufgrund jahrelanger Verzögerungen infolge technischer Probleme und steigender Kosten wird der Abrüstungsprozess in Blue Grass weder die im Rahmen des CWÜ gesetzte Frist 2012 für die Vernichtung aller CW noch die nationale Frist von 2017 einhalten können. Experten gehen davon aus, das die Neutralisierung der Kampfstoffe nicht vor Oktober 2018 beginnen und erst im Mai 2021 enden wird.16

Im Pueblo Chemical Depot warten immer noch 2.611 Tonnen Senfgas auf ihre Vernichtung. Obwohl die Anlage dort bereits 2002 vom Kongress genehmigt wurde, ist sie noch nicht in Betrieb gegangen. Schätzungen gehen davon aus, dass die Neutralisierung des Senfgases im Mai 2014 starten und im September 2017 beendet werden könnte.17 Bei einem Routine-Monitoring der Luft in den Iglus wurde im August 2009 Spuren von Senfgas festgestellt, das aus den dort gelagerten 105 mm Artilleriegeschossen entwichen war.18

Russland hatte nach Ratifizierung des CWÜ 1997 die ungeheure Menge von 40.700 Tonnen Chemiewaffen deklariert, verteilt auf sieben Standorte (Tab.4). Mit internationaler Unterstützung konnten bisher ca. 45 Prozent der russischen CW-Bestände abgerüstet und vernichtet werden.19 Nur in der Anlage von Gorny, wo mit deutscher, polnischer und niederländischer Unterstützung sowie Mitteln der EU eine Neutralisierungsanlage errichtet worden und 2002 in Betrieb gegangen war, konnten alle Senfgas- und Lewisitbestände bis 2005 beseitigt werden.

Tab. 4 Russische CW-Bestände

Standorte Region Anteil am
Gesamtbestand
Mengen in Tonnen Davon bereits vernichtet
(finanzielle Beteiligung)
Gesamt:
40.700 Tonnen

Davon vernichtet:
18.000 Tonnen (45%)

(Stand: Ende 2009)

Gorny Saratov 3% Ca. 1,160 100%, (2002-2005)
(D, PL, NL, EU)
Kambarka Udmurtia 16% Ca. 6,349 In Betrieb seit 2005
(D, Ch, NL, S, SF, EU)
Kizner Udmurtia 15% Ca. 6,410 In Planung (UK, Ca)
Leonidovka Penza 17% Ca. 6,880 In Planung (D)
Maradikova Kirov 17% Ca. 7,760 In Betrieb (Ru)
Pochep Bryansk 19% Ca. 6,720 In Planung (I)
Schuch’ye Kurgan 14% Ca. 5,440 In Betrieb seit Mai 2009
(US, Ca, UK, u.a.)

Von den verbleibenden sechs Standorten sind bisher nur die Anlage in Kambarka (seit 2005) und eine neue Anlage in Schuch’ye (seit Mai 2009) in Betrieb. Bereits 1994 hatte eine offizielle Delegation des US Repräsentantenhauses die CW-Lagerstätte in Schuch’ye besucht, um die notwendige Unterstützung für das russische CW Vernichtungsprogramm abzuschätzen. In Schuch’ye, dem östlichsten CW-Depot unweit der Grenze zu Kasachstan, lagern 5.540 Tonnen Nervengase in Artilleriegranaten und in SCUD- und Frog-Raketen, deren Gefechtsköpfe mit VX, Sarin, Soman und Phosgen gefüllt sind und als höchst verletzbar gegenüber Diebstahl oder Abzweigung galten. Die USA boten Hilfe an und bewilligten eines der größten Abrüstungsprojekte im Rahmen des US Cooperative Threat Reduction (CTR) Pro gramms, das ca. 50% der Kosten in Schuch’ye trägt.20

In Schuch’ye gibt es zwei Vernichtungsanlagen, eine von den USA und eine von Russland finanziert. Während die russische Anlage mit einer Auslastung von 700 Tonnen pro Jahr im Mai 2009 in Betrieb ging und derzeit eine Testphase durchläuft, soll die US-Anlage mit einer Vernichtungskapazität von 500 Tonnen pro Jahr dieses Jahr in Betrieb gehen. Schon jetzt sind erhebliche Mittel in die Errichtung der Einrichtungen zur CW-Vernichtung in Schuch’ye aufgewendet worden. Die G8-Staaten (ohne die USA) brachten 210 Mio. $ für Infrastruktureinrichtungen, Russland 254.2 Mio. $ (2007) auf. 2010 soll ein russisches Forschungsprogramm aufgelegt werden, um zu prüfen, wie das Gelände nach 2012 genutzt werden kann, etwa durch Bau einer Fabrik zur Zement- oder Ziegelproduktion oder einer Anlage zur Vernichtung toxischer Industriechemikalien.21

In der Nähe des Depots in Schuch’ye leben über 15 Dörfer verteilt ca. 40.000 Menschen. Im Rahmen der 1996 von Michael Gorbatschow ins Leben gerufenen NGO Green Cross International wurden in der Region insgesamt 8 Büros eingerichtet, mit dem Ziel, von unabhängiger Seite den Abrüstungsprozess zu beobachten und die umliegende Bevölkerung über den Vorgang und Sicherheitsrisiken durch ein breites Angebot von Seminaren, Expertengesprächen, Workshops, Broschüren, Postern u.a. zu informieren und den Abrüstungsprozess möglichst transparent zu gestalten. Nach mehr als zehnjähriger erfolgreicher Tätigkeit mussten die Büros auf Druck der russischen Regierung am 30. Juni 2009 schließen und ihre Arbeit beenden. Abrüstungsexperten wie Jonathan B. Tucker22 und Paul Walker23 bewerten das Vorgehen der russischen Regierung als Versuch, weniger Einblicke in die Abrüstungsaktivitäten bis zur im Rahmen des CWÜ neu vereinbarten Frist 2012 zu gewähren, um möglicherweise zu verschleiern, dass es die Frist nicht einhalten kann. Offiziellen russischen Angaben zufolge will Russland seine Abrüstungsverpflichtungen im Rahmen des CWÜ einhalten. Danach soll der Bau und die Inbetriebnahme von CW-Vernichtungsanlagen bis 2011 beendet und die Abrüstung aller CW bis 2012 abgeschlossen sein.24

In Maradikova ist seit September 2006 eine Vernichtungsanlage in Betrieb. Bis Juli 2009 waren hier 1.100 Kilogramm Sarin vernichtet worden.25

Zukünftige Vernichtungsanlagen in Kizner, Leonidovka, Maradikova und Pochep befinden sich noch in der Planungsphase. In Pochep beteiligt sich Deutschland im Rahmen der G8-Initiative »Global Partnership against the Spread of Weapons and Materials of Mass Destruction« mit 140 Mio. Euro am Bau einer Anlage zur Verbrennung der Reaktionsprodukte und Rückstände, die bei den Neutralisierungsverfahren der chemischen Kampfstoffe anfallen.

Allgemeine Probleme der CW-Abrüstung

Derzeit gibt es Indizien, dass die USA und Russland die Frist für die 100-prozentige Vernichtung aller gelagerten CW-Bestände, die von der Konferenz der Vertragsstaaten auf 2012 verlängert wurde, möglicherweise nicht einhalten können. Was sind die Gründe dafür?

Die technische Komplexität

Die gängigste Methode ist die Verbrennung. Problematisch sind die toxischen Emissionen, die besonders bei alten Anlagen in die Umwelt gelangen. Nach wiederholten Klagen von Umweltschutzgruppen war die US Army, die den Abrüstungsprozess in den CW-Depots durchführt, gezwungen, moderne Abscheidesysteme zu installieren und die Kampfstoffe bei höheren Temperaturen zu verbrennen, um die Masse der giftigen Rückstände zu reduzieren. Das machte wiederholt teure Nachrüstungen erforderlich und kostete Zeit. Nicht zuletzt durch Erfahrungen mit giftigen Rückständen aus der Müllverbrennung (Stichwort Dioxin) besteht in der amerikanischen Öffentlichkeit eine große Ablehnung von Verbrennungsprozessen. Dementsprechend wurden hier bereits erhebliche Mittel aufgewendet, um alternative Verfahren zur Kampfstoffbeseitigung zu finden. Einige Methoden nutzen dabei aus, dass die meisten gängigen Kampfstoffe empfindlich gegenüber Oxidationsprozessen sind. Testversuche hat es u.a. mit Wasserstoffperoxid oder superkritischem Wasser26 gegeben. Andere wenden bspw. das Verfahren der Nassveraschung an, wobei die gesamte Munition in ein Bad konzentrierter Salpetersäure gegeben wird, die zwar beides zerstört, Stahl plus Kampfstoff, aber auch große Mengen flüssigen Abfall hinterlässt.

Ein sicheres dafür aber auch teures Verfahren ist das Verbringen von Munition in eine Dekontaminationskammer, in der die Munition vollautomatisch zur Explosion gebracht wird. Durch einen kurzzeitigen (Millisekunden) sehr hohen Temperatur- und Druckanstieg werden Spreng- und Kampfstoff zersetzt. Die verbleibenden Reste werden in einem Brennofen verbrannt, der an ein Gasabscheidesystem angeschlossen ist, um mögliche Rückstände aufzufangen.

Ein besonderes Problem stellen Arsen-haltige Kampfstoffe dar. Da Arsen, das einmal in die Umwelt gelangt, dort permanent verbleibt, muss bei den Verbrennungsprozessen, bei denen sich Arsenoxid bildet, selbiges mittels Abscheidungssystemen aufgefangen werden. Giftige Rückstände müssen luftdicht in Beton oder Glas eingeschlossen und endgelagert werden.

Die steigenden Kosten

In den USA waren ursprünglich 2 Mrd. US$ für die CW-Abrüstung veranschlagt worden. 2004 beliefen sich die Ausgaben bereits auf 25 Mrd. US$.27 Erhöhte Sicherheitsauflagen, Kosten für die Suche nach Alternativen für die Verbrennungsverfahren und eine intensive Öffentlichkeitsarbeit einschließlich umfangreicher Trainingsprogramme für mögliche Unfälle in den Depots ließen die Gesamtkosten weiter ansteigen. Aktuelle Schätzungen des Department of Defense gehen derzeit von ca. 35 Mrd. US$ insgesamt aus.28

Die anfangs von Russland veranschlagten Kosten in Höhe von 3 Mrd. US$ sind inzwischen auf 8 Mrd. angestiegen. Dazu zu rechnen sind Zuwendungen in Höhe von 1 Mrd. US$ im Rahmen des Cooperative Threat Reduction (CTR) Programms und 700 Mio. US$ durch Geberländer, die auf dem G8-Gipfel in Kananaskis/Kanada, 2002 im Rahmen einer Globalen Partnerschaft beschlossen hatten, Russland bei der Vernichtung seiner CW zu helfen.

Der zeitliche Rahmen

Ursprünglich war im CWÜ für den Abrüstungsprozess ein Zeitfenster von 10 Jahren als ausreichend erachtet worden. Bereits 2000 zeigte sich, dass es einzelnen Staaten nicht gelang, die vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abkommens (29. April 1997) festgesetzten Interimstermine für die 1-prozentige (2000), 20-prozentige (2002), 45-prozentige (2004) und die 100-prozentige Vernichtung (2007) aller CW-Bestände einzuhalten. Albanien, das nur einen verhältnismäßig kleinen CW-Bestand besaß, überschritt auf Grund technischer Probleme die 2007-Frist um 2 Monate.

Die USA konnten zwar die ersten Termine einhalten, erreichten aber die für 2004 vorgesehene 45 Prozent-Marke erst 2007. Obwohl die Frist für die 100 Prozent-Marke um fünf Jahre auf 2012 angehoben wurde, werden die USA auch diese Frist nicht einhalten können. In den USA wird eine »national deadline« von 2017 diskutiert, die aber gerade wegen Pueblo und Blue Grass möglicherweise nicht einzuhalten ist. Andere Schätzungen reichen bis in die 2020er Jahre.

Russland mit den größten CW-Beständen konnte nach 3-jähriger Verlängerung den Termin für die 1-prozentige (2003) und nach 4-jähriger Verlängerung für die 20-prozentige (2007) Vernichtung einhalten.

Risiken

Mit dem immer größer werden Zeitverzug steigt die Gefahr von Leckagen. Ein Großteil der Waffen stammt aus der Ära des Kalten Krieges und ist älter als 50 Jahre. Auch die Iglus, in denen die CW eingelagert sind, weisen Alterungserscheinungen auf. In Blue Grass mussten die Betonbunker wiederholt mit grünen Plastikplanen zum Schutz gegen Regen abgedeckt werden.29 Gefahren gehen auch von der Zerlegung der Munition, insb. Raketen des Typs M55 aus, wobei die leicht entzündlichen Raketentreibstoffe in der Vergangenheit wiederholt Brände auslösten.

Gemäß dem CWÜ (Art. IV), das ausdrücklich feststellt, dass „Each State Party, during transportation, sampling, storage and destruction of chemical weapons, shall assign the highest priority to ensuring the safety of people and to protecting the environment“ betonen Russland und die USA, dass der Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt Vorrang habe.

Bisher wurden keine Todesfälle oder ernsthafte Verletzungen von einem Staat als Folge einer versehentlichen Abgabe chemischer Agenzien oder toxischer Materialien gemeldet. Gleichwohl steigt das Risiko, dass Giftgas aus den alternden Behältern und Munition entweichen kann. Trotz hoher Sicherheitsauflagen und Schutzmaßnahmen, fortwährender Kontrolle der Luft in den Iglus und den Außenanlagen ist die Besorgnis in den in der Nähe gelegenen Kommunen groß. Viele haben Notfallpläne entwickelt, Evakuierungsmaßnahmen geübt und neue Warnsysteme zur Information der Bevölkerung installiert. Die Durchsetzung all dieser Maßnahmen, die zum Teil eingeklagt wurden, führten zu zeitlichen Aufschüben und erhöhten die Kosten.

Wie könnte der CW-Abrüstungsprozess beschleunigt werden?

Einen erheblichen Zeitgewinn könnte der Transport eines Teils der Kampfstoffe aus den Depots in Blue Grass und Pueblo an andere Standorte erbringen, wo Vernichtungsanlagen bereits erfolgreich in Betrieb sind. Dies wäre allerdings nur per Gesetzesänderung zu erreichen, da jeder Transport zu Wasser und zu Lande verboten ist. Eine weitere Möglichkeit wäre die Erhöhung der Arbeitszeit in den Waffendepots. Das würde unmittelbar zwar höhere Personal- und Betriebskosten erzeugen, wäre bei kürzerer Laufzeit möglicherweise dennoch die kostengünstigere Variante. Auch die Bewilligung von mehr Mitteln für die CW-Abrüstung, die in den vergangenen Jahren Budgetkürzungen unterworfen war, könnte den Prozess vorantreiben. Hoffnungen, dass in den nächsten drei Jahren bis 2012 große technologische Fortschritte im Hinblick auf alternative Vernichtungsverfahren (effektiver, schneller, weniger toxische Rückstände) erzielt werden, sind eher gering. Dagegen steigen die Chancen dafür bei einem größeren Zeitfenster bis 2017 oder 2020.

Schlussbetrachtung

Bisher hat das Chemiewaffenabkommen den Abrüstungsprozess von CW eingeleitet und maßgeblich, wenn auch mit großer zeitlicher Verzögerung, vorangetrieben. Als Vorteil hat sich dabei der umfassende Charakter des Abkommens erwiesen – wenn man keine Waffen herstellen darf, kann man sie auch nicht einsetzen – womit ein entscheidendes Defizit der Genfer Protokolle behoben wurde. Bewährt hat sich auch der nicht diskriminierende Charakter des Abkommens, denn alle Vertragsstaaten haben gleiche Rechte und Pflichten. OPCW-Beschlüsse werden im Konsens gefasst und das Vertragswerk ist mit einem differenzierten Verifikationsregime versehen, dass die Umsetzung des Abkommens gewährleistet.

Dennoch gibt es einen wichtigen Kritikpunkt: Das CWÜ berücksichtigt nur die eingelagerten Chemiewaffen im Rahmen ehemaliger staatlicher Programme. Unberücksichtigt bleiben dagegen »alte und zurückgelassene Chemiewaffen«, die vor 1925 oder zwischen 1925 und 1946 hergestellt wurden und in derart schlechtem Zustand sind, dass sie nicht mehr als CW eingesetzt werden können (Art. II, Punkt 5) ebenso wie »zurückgelassene chemische Waffen«, die nach dem 1.1.1925 von einem Staat im Hoheitsgebiet eines anderen Staates ohne dessen Zustimmung zurückgelassen worden sind (Art. II, Punkt 6). Damit finden große Mengen CW, die etwa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in großen Mengen bspw. in der Ostsee versenkt oder von den Japanern in China zurückgelassen wurden, kaum eine öffentliche und politische Beachtung.

Insgesamt hat sich gezeigt, dass es für die Abrüstung chemischer Waffen weder eine einfache noch eine schnelle Lösung gibt. Das Ziel des CWÜ, alle CW von der Welt zu verbannen, wird noch jahrelang nicht erreicht werden. Solange bleibt die Gefahr, die von chemischen Massenvernichtungswaffen ausgeht, bestehen.

Anmerkungen

1) Direktor I.G. Farben im Werk Leverkusen (heute Bayer).

2) Vgl. Tucker, Jonathan, B.: War of Nerves, Pantheon Books, New York, 2006, S.16.

3) Auch auf den drei amerikanischen Abrüstungskonferenzen von 1919-1923 waren Erklärungen gegen den Einsatz von CW verfasst worden.

4) UN Conference on Disarmament (UNCD).

5) Ursprünglich sah das Abkommen eine Abrüstungsdekade mit Interimsterminen für eine 1%-, 20%-, 45%- und 100%-Vernichtung bis 29. April 2007 vor. Auf Antrag der Vertragsstaaten wurde die Frist um fünf Jahre auf 2012 verlängert.

6) Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons.

7) Südkorea besteht darauf inoffiziell als „Ein weiterer Mitgliedsstaat“ bezeichnet zu werden und beruft sich dabei auf den Vertraulichkeitspassus im CWÜ.

8) Paul F. Walker: Abolishing Chemical Weapons Globally: Successes and Challenges – An NGO Perspective, 24.09.2008, OPCW, im Internet unter: http://www.opcw.org/news/news/article/abolishing-chemical-weapons-globally-successes-and-challenges-an-ngo-perspective/ (Zugriff 22.10.2009).

9) Global Security Newswire, 29.04.2009.

10) Paul F. Walker: Abolishing Chemical Weapons Globally: Successes and Challenges, a.a.O.

11) Für weitere Informationen über die amerikanischen CW-Lagerstätten vgl. die offizielle Seite der U.S. Army Chemicals Materials Agency (CMA): www.cma.army.mil.

12) Vgl http://www.globalsecurity.org/wmd/facility/edgewood.htm.

13) Vgl. http://www.globalsecurity.org/wmd/facility/newport.htm.

14) Vgl. Hermiston Herald, 7.7.2009; Tri-City Herald, 22.7.2009.

15) Vgl. Associated Press, 27.11.2008, Global Security Newswire, 18.8.09.

16) Los Angeles Times, 22.08.2009, GSN, 22.07.2009.

17) Vgl. Channel 9 News, CO, 19.8.09.

18) CMA News Release, 24.08.2009.

19) Vgl. RIA Novosti, 03.03.2010.

20) Vgl. Global Green 05.05.2009.

21) Vgl. Global Security Newswire 14.8.2009.

22) Jonathan B. Tucker ist Mitarbeiter des Washington D.C. Büros des James Martin Center for Nonproliferation Studies (CNS) des Monterey Institute of International Studies.

23) Dr. Paul F. Walker ist Direktor des Legacy Programs von Global Green USA.

24) Vgl. RIA Novosti, 03.03.2010.

25) Vgl. RIA Novosti, 1.12.2008.

26) Wasser bei hoher Temperatur und hohem Druck.

27) Vgl. Kronfeld-Goharani, U.; Walker, P.: Stand und Perspektiven der Chemiewaffenkonvention, in: Die Zukunft der Rüstungskontrolle, Nomos-Verlag, 2005, S.248.

28) Vgl. Global Security Newswire, 22.7.09.

29) Los Angeles Times, 23.08.2009.

Dr. Ulrike Kronfeld-Goharani ist Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Friedens- und Konfliktforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Chemische Waffen in Terroristenhand?

Chemische Waffen in Terroristenhand?

von Ulrike Kronfeld-Goharani

Seit Beginn der 1990er Jahre ist weltweit eine Zunahme immer gewalttätigerer Terroranschläge mit wachsenden Opferzahlen zu beobachten. Die Anschläge vom 11. September 2001 waren dabei der Höhepunkt einer Entwicklung, die die bekannten Formen des nationalistisch-separatistischen Terrorismus (IRA, PLO, ETA, PKK) oder den auf die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gerichteten (RAF, Rote Brigaden) der 1970er und 1980er Jahre weit hinter sich ließ. Nie zuvor hatte ein Terroranschlag solch hohe Opferzahlen gefordert oder vergleichbare wirtschaftliche Schäden angerichtet. Erstmals in der Geschichte stufte der UN-Weltsicherheitsrat die Anschläge von New York und Washington als „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Ordnung“ ein. Der »neue« Terrorismus zeichnet sich durch einen zunehmend globalen und transnationalen Charakter aus mit weltweit verbreiteten und untereinander vernetzten Terrorgruppen. Terrornetzwerke vom Typ der religiös-fundamentalistisch geprägten Al-Qaida sind heute in der Lage, komplexe Operationen zu planen und auch simultan durchzuführen.1 Aber wie groß ist die Gefahr, dass sie auch Massenvernichtungswaffen einsetzen? Während Sicherheitsexperten heute kaum mehr daran zweifeln, dass Terroristen unkonventionelle Waffen einsetzen würden, wenn sie darüber verfügten, gehen die Meinungen über die Einschätzung, wie leicht es für Terroristen ist, derartige Waffen herzustellen oder sich zu beschaffen, weit auseinander.

Chemische, biologische, radiologische oder nukleare Waffen haben das Potenzial, Tausende von Menschen durch einen einzigen Angriff zu töten. Ihr Einsatz oder bereits die Androhung damit verleiht dem Terrorismus eine Komponente von strategischer Bedeutung, da das mit diesen Waffen zu erzielende Schadensausmaß eine Dimension erreichen könnte, wie sie bisher nur im Falle regulärer Kriegshandlungen möglich gewesen wäre. Fragen, ob und auf welche Art Terrornetzwerke sich chemische Waffen beschaffen könnten, sind daher von großer sicherheitspolitischer Bedeutung.

Chemischer Terror

Chemische Waffen, auch als chemische Kampfstoffe oder Giftgas bezeichnet, sind super-toxische Chemikalien, die zu Funktionsstörungen, Gesundheitsschäden oder Tod von Menschen, Tieren oder Pflanzen führen. Moderne C-Waffen, die als Gas, Dampf, Flüssigkeit, Aerosol oder als feiner Staub ausgebracht werden können, zählen zur Kategorie der Massenvernichtungswaffen, da sie durch ihre Sofortwirkung oder durch eine chronische Vergiftung Tausenden von Menschen Schaden zufügen können.

Von den heute bekannten ca. 45 Millionen chemischen Verbindungen sind etliche Tausend toxisch, aber nur ca. 70 Verbindungen wurden bisher als Kampfstoffe eingesetzt. Von Bedeutung ist nur eine geringe Zahl von weniger als 10 Verbindungen, die häufig nach ihrer physiologischen Wirkung unterschieden werden in

Nervenkampfstoffe: Sarin, Soman, Tabun, VX;

Hautkampfstoffe: Senfgas (auch als Lost, Yperit oder Gelbkreuz bezeichnet), Lewisit und Lost-Lewisit-Gemische;

Blutkampfstoffe: Blausäure (Zyklon B), Kohlenmonoxyd, Chlorcyan (Arsenwasserstoff);

Lungenkampfstoffe: Chlorgas, Phosgen, Diphosgen;

Reizkampfstoffe: CN- und CS-Gas (Tränengas), Brom- und Chloraceton;

Psychokampfstoffe: BZ (Benzinsäureester), LSD, Heroin und andere Drogen.

Chemische Waffen wurden erstmals von 1915 an in großem Maßstab im Ersten Weltkrieg eingesetzt, wo sich bereits die Nachteile dieser Waffenkategorie zeigten: Bei ungünstiger Windrichtung waren auch die eigenen Truppen gefährdet. Vermutlich haben diese ersten negativen Erfahrungen die damaligen Weltmächte von einem C-Waffen-Einsatz im Zweiten Weltkrieg abgehalten, obwohl in allen beteiligten Kriegsstaaten massiv in diesem Bereich geforscht und aufgerüstet wurde. Eine Ausnahme bildete Japan, das chemische und biologische Waffen gegen China einsetzte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen C-Waffen in mehreren Konflikten zum Einsatz, z. B. als Entlaubungsmittel im Vietnamkrieg (1961-1971) oder Lost und Tabun gegen den Iran im Irak-Iran-Krieg (1980-1988). Unbestätigt sind Berichte über den sowjetischen Einsatz von C-Waffen in Afghanistan (1980-1983) und durch bosnische Serben im Bosnien-Krieg (1995).2

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wurden eine Reihe von Ereignissen bekannt, bei denen Anschläge mit chemischen Waffen durchgeführt oder zumindest geplant wurden (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Bekannt gewordene geplante oder durchgeführte Anschläge mit chemischen Waffen
1945 Drei Mitglieder einer jüdischen Gruppe verseuchen Brotlaibe mit arsenhaltiger Mixtur in einem Gefängniscamp nahe Nürnberg. 2.000 Gefangene erkranken.3
1974 In den USA werden im Haus eines Mannes, der bereits mehrere Anschläge mit konventionellen Explosivstoffen verübt hatte, Chemikalien gefunden, darunter 25 Pfund Sodiumzyanid.1995Mitglieder der Aum Shinrikyo-Sekte setzen in fünf U-Bahnen Tokios Sarin frei. Bei dem Anschlag sterben zwölf Menschen, mehr als 1.000 werden verletzt.
2002 In aufgefundenen Dokumenten der für die Bali-Anschläge (12. Oktober 2002) verantwortlichen Terrorgruppe Jemaah Islamiyah wird der Einsatz so genannter Chem-Bio-Waffen beschrieben.
2004 Ein Chemieanschlag einer dem Terrornetzwerk Al-Qaida nahe stehenden Zelle in Jordaniens Hauptstadt Amman wird vereitelt.
Jan. 2005 Der ukrainische Präsidentschaftskandidat Juschtschenko erkrankt an einer Dioxinvergiftung. Das Gift soll in einem Geheimlabor des KGB entwickelt worden sein und es soll sich um eine biologische Waffe mit Spätwirkungen handeln.4
Mai 2005 Eine französische Al-Qaida-Zelle soll einen CW-Angriff auf den US-Marinestützpunkte Rota in Spanien geplant haben.5
Juni 2005 Eine islamistische, Al Qaida zugerechnete Gruppe soll im April 2004 geplant haben, eine toxische Wolke (Hydrogenperoxid) nach Jordanien zu schicken.6
Nov. 2006 Der ehemalige KGB-Agent Litvinenko stirbt in London an einer Polonium-Vergiftung, für die der russische Geheimdienst verantwortlich gemacht wird.

Um den Einsatz von C-Waffen in der Welt zu bannen und diese Waffenkategorie abzuschaffen, wurde 1993 die Chemiewaffenkonvention (CWC) unterzeichnet, die die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und den Einsatz chemischer Waffen verbietet und die Mitgliedsstaaten innerhalb bestimmter Fristen zur Abrüstung ihrer C-Waffen-Arsenale verpflichtet. Der CWC sind inzwischen 183 Staaten der Welt beigetreten. Sie wird damit von 98 Prozent der Weltbevölkerung unterstützt, nur sieben Staaten sind noch nicht beigetreten. Für die Vernichtung aller C-Waffen wurde in der Phase der Verhandlungen ein Zeitrahmen von zehn Jahren als ausreichend erachtet. Zehn Jahre nach dem Inkrafttreten der CWC 1997 sind aber erst ein Drittel der rund 71.000 Tonnen deklarierter C-Waffen abgerüstet. Während die USA 2007 die 45-Prozent-Marke der in der CWC vereinbarten Fristen7 erreichte, waren es in Russland erst 22 Prozent von 40.700 Tonnen. Da das ursprüngliche Ziel nicht erreicht wurde, alle C-Waffen und Anlagen zu deren Herstellung bis 2007 zu vernichten, wurde eine neue Frist für das Jahr 2012 festgesetzt. Dieses Ziel muss eingehalten werden, denn solange diese Waffenkategorie nicht vollständig abgerüstet und vernichtet ist, besteht das Risiko, dass chemische Waffen aus den bestehenden Arsenalen illegal entwendet werden.

Die Möglichkeit des Diebstahls von chemischen Waffen

Im Gegensatz zu den amerikanischen Depots, die gut bewacht werden, gelten die russischen als schlechter gesichert. Kritisch betrachtet wird die Situation in Schutschje, wo in 14 großen Lagerräumen auf zwei Meter hohen Holzregalen Granaten eingelagert sein sollen, die mit 5.400 Tonnen Sarin, Soman und VX gefüllt sind. Diese Mengen reichten aus, um die Weltbevölkerung mehrere Male auszurotten.8

Die Abzweigung von C-Waffen wäre aber nur durch Kooperation zwischen den Bediensteten einer CW-Lagerstätte, Forschungsstätte oder Produktionsanlage und den Mittelsmännern bzw. Terroristen selbst möglich und würde die Korrumpierung mehrerer Angestellter voraussetzen. Das Risiko, das von diesen Anlagen ausgeht, kann deshalb als relativ gering angesehen werden. Auch die illegale Entwendung aus Vernichtungsanlagen erscheint als eher unwahrscheinlich, da diese im Zuge der Vernichtung einem permanenten Monitoring und Bilanzierungs-Prozess unterliegen.

Geringer sind die Sicherungsmaßnahmen für chemische Waffen in Lagerstätten für alte (Old Chemical Weapons) bzw. zurückgelassene Waffen (Abandoned Chemical Weapons).9 Sie lassen die Möglichkeit eines Diebstahls leichter erscheinen. Die Zwischenlagerung dieser Munition reicht von simpler Lagerung im Freien bis zur Aufbewahrung in unterirdisch angelegten Wannen oder verpackt in thermisch-abgedichteten Spezialbehältern, um ein Austreten von Kampfstoff aus der oftmals korrodierten Munition zu verhindern. Auch in Nord- und Ostsee wurden mehrere tausend Tonnen Giftgas versenkt.

Einige gewichtige Faktoren sprechen aber gegen die Entwendung derartiger Munition: Nach jahrzehntelanger Lagerung befindet sie sich, häufig noch mit einem Zünder versehen, in schlechtem äußeren Zustand. Die Reinheit des Kampfstoffes kann durch chemische Degradations- oder Polymerisationsprozesse abgenommen haben, so dass er sich nicht mehr als effektive Waffe eignen würde. Der Umgang mit dieser Munition würde ein erhebliches Risiko bedeuten. Ein Gefahrenmoment ist allerdings, dass in manchen Lagerstätten die genaue Zahl der Munition nur schwer ermittelt werden kann. Ein Fehlen von Kampfstoffmunition bliebe hier wahrscheinlich unentdeckt.

Die eigene Herstellung von chemischen Waffen

Die Herstellung von chemischen Waffen stellt heute kein unüberwindliches Hindernis mehr dar. Die Technologie ist seit mehr als 50 Jahren bekannt und in der offen zugänglichen Literatur oder im Internet dokumentiert. Hinzu kommt, dass der Personenkreis mit relevanter Expertise in den vergangenen Jahren enorm gestiegen ist und auch Personen aus Ländern, denen früher der Zugang zu dieser Technologie verwehrt war, mittlerweile an westeuropäischen oder amerikanischen Universitäten ausgebildet wurden.

Ein guter Chemiker kann eine ganze Reihe von Kampfstoffen relativ einfach herstellen, wenn er Zugang zu den Ausgangsstoffen oder Vorsubstanzen (Precursor) hat. Gerade letztere finden wegen ihres »dual use« Charakters in großen Mengen Anwendung in der chemischen Industrie.

Doch die Verfügbarkeit der Substanzen allein ist nicht ausreichend zum Bau einer C-Waffe. Eine Terrorgruppe muss über geeignete finanzielle Reserven verfügen, um qualifiziertes Fachpersonal anzuwerben und zu bezahlen, Laborbedarf zu beschaffen und geheime Produktionsanlagen zu errichten. Gelingt es, eine chemische Waffe erfolgreich herzustellen, sind Tests und Qualitätskontrollen notwendig. Diese müssen zwar nicht die aus militärischer Sicht hohen Anforderungen in Bezug auf Stabilität, Reinheit oder Korrosionsresistenz erfüllen, aber sie müssen doch bestimmten Mindestanforderungen genügen, um als Massenvernichtungswaffe effizient zu sein: Sie müssen in geeigneten Behältern lagerbar und resistent gegen atmosphärischen Wasserdampf und Sauerstoff sein und den Explosionskräften mit starker Hitzeentwicklung widerstehen können, ohne sich zu zersetzen und unwirksam zu werden. Ferner müssen geeignete Mechanismen zur Ausbringung der Waffe entwickelt werden.

Um diese Herausforderungen zu bewältigen, sind mehrere Jahre Entwicklungsarbeit erforderlich. Dass dies kein Hinderungsgrund ist, haben die Anschläge der Aum Shinrikyo-Sekte gezeigt. Deren Mitglieder hatten am 20. März 1995 gegen acht Uhr morgens in fünf U-Bahnen in der Stadtmitte von Tokio nahezu zeitgleich elf mit Sarin gefüllte, luftdicht verschweißte Plastiktüten mit den angeschärften Spitzen ihrer Regenschirme aufgestochen. Bei dem Anschlag starben zwölf Menschen, mehr als 1.000 wurden verletzt. Vor allem die schlechte Qualität der Waffe – das Sarin hatte einen geringen Reinheitsgrad – verhinderte eine höhere Opferzahl.10

Der Vorteil des Diebstahls einer C-Waffe läge darin, dass Terroristen über eine vermutlich einwandfrei funktionierende Waffe verfügen könnten, da alle Waffen im Rahmen von staatlichen Programmen lange Testreihen durchlaufen haben, um Qualität und Effizienz zu steigern und die Möglichkeit für das Versagen der Waffen zu reduzieren.

Anschläge mit chemischen Waffen

Immer wieder wird auch die Möglichkeit diskutiert, dass Terroristen einen Anschlag auf ein C-Waffen-Depot, einen Chemikalientransport oder eine chemische Produktionsanlage verüben könnten. Die Koordinaten der großen C-Waffen-Lager in den USA und in Russland sind gut bekannt. Bei Anschlägen auf diese militärischen Einrichtungen würden hochtoxische Substanzen freigesetzt. Aus Angst vor Anschlägen auf oder Unfällen mit Chemiewaffentransporten wurden in den USA frühere Pläne, C-Waffen zentral zu vernichten, wieder aufgegeben und eigene Vernichtungsanlagen an jedem C-Waffen-Depot errichtet.

Fachleute warnen auch immer wieder vor einem Angriff auf eines der weltweit 6.000 großen Chemiewerke. Durch frei werdende Giftstoffe könnten unter Umständen bis zu zwei Millionen Menschen getötet oder verletzt werden. Anschläge dieser Art wären allerdings sehr schwer kalkulierbar. Eine Vorstellung, welche Folgen ein derartiger Anschlag haben könnte, lassen die beiden Chemiekatastrophen von Seveso und Bhopal erahnen:

Am 10. Juli 1976 wurde in Seveso, ca. 30 Kilometer von Mailand entfernt, bei einer Reaktorexplosion eine große Menge dioxinhaltiger Dampf über die Stadt freigesetzt und über benachbarte Gemeinden getrieben, in dessen Folge ein Vögel- und Kleintiersterben in der Umgebung einsetzte und über 180 Menschen an Chlorakne erkrankten. 70.000 Tiere mussten notgeschlachtet, mehr als 40 Häuser abgerissen und die obere Bodenschicht in der Umgebung abgetragen und deponiert werden. Erst 1984, acht Jahre später, waren alle Dekontaminationsarbeiten abgeschlossen.11

Am 3. Dezember 1984 wurden im Werk der Union Carbide of India Limited in Bhopal 40 Tonnen Methylisocyanat (MIC) freigesetzt. Die leicht flüchtige Verbindung, die schon in geringen Konzentrationen Haut- und Schleimhautverletzungen, Augenschädigungen und Lungenödeme hervorrufen kann, trieb in einer Giftgaswolke dicht über dem Boden durch ein angrenzendes Elendsviertel. Die genaue Anzahl der Opfer dieses schweren Chemieunfalls ist nicht bekannt. Die Zahl der unmittelbaren Todesopfer wird auf ca. 5.000-10.000, die der chronisch Geschädigten auf über 200.000 geschätzt.12

Die größte Gefahr geht vermutlich von Anschlägen mit selbst hergestellten oder illegal erworbenen C-Waffen aus. Da nicht-staatlichen Akteuren zur Ausbringung der Waffen keine ausgereiften Trägermittel mit einem hohen Verteilungskoeffizienten zur Verfügung stehen, ist die Ausbringung von Chemiewaffen in geschlossenen Räumen, Tunneln, Klimaanlagen usw. die wahrscheinlichere und gefährlichere Angriffsvariante.

Um größtmögliche mediale Beachtung zu erzielen, werden terroristische Anschläge häufig da verübt, wo große Menschenmengen zusammentreffen: auf Marktplätzen, in Bahnhöfen, an Veranstaltungsorten oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie die Zuganschläge in Madrid (11. März 2004) und in London (7. Juli 2005) gezeigt haben.

Immer wieder diskutiert wird auch die Möglichkeit, dass chemische Anschläge auf Lebensmittel oder die Trinkwasserversorgung verübt werden. Die Vergiftung des Trinkwassers mit klassischen chemischen Kampfstoffen ist relativ unwahrscheinlich, da dies mit toxischen Industriechemikalien wesentlich einfacher realisierbar wäre. Durch die routinemäßige Überwachung der Trinkwasserqualität würde eine größere Verunreinigung schnell entdeckt. Außerdem müsste eine relativ hohe Konzentration einer giftigen Substanz in ein Trinkwasserreservoir eingebracht werden, damit trotz Verdünnung noch eine erhebliche Schädigung bei Genuss des Wassers aufträte. Voraussetzung für die Vergiftung von Lebensmitteln wäre, dass diese nicht mit den Substanzen chemisch reagieren und dass sich Geruch, Geschmack und Aussehen nicht verändern. Der Anschlag würde sonst schnell bemerkt. Deshalb erscheint es als nicht wahrscheinlich, dass Terroristen, die einen massenvernichtenden Anschlag mit größtmöglicher medialer Beachtung planen, auf solche Methoden zurückgreifen.

Fazit

Bisher ist es nur der Sekte Aum Shinrikyo gelungen, eine selbst entwickelte chemische Waffe bei einem Terroranschlag einzusetzen. Dies ist ein Indiz dafür, dass moderne transnational operierende Terrororganisationen bereit sind, Massenvernichtungswaffen einzusetzen und auch in der Lage sind, Anschläge mit massenvernichtender Wirkung auszuführen. Doch noch sind die Hürden sehr hoch, solche Waffen zu erwerben. Die zielgerichtete, kontrollierte Vernichtung der gelagerten Chemiewaffen muss beschleunigt werden und Russland muss dabei weiterhin massiv unterstützt werden. Die Vereinbarung, bis 2012 alle Chemiewaffen zu vernichten, muss unbedingt eingehalten werden, denn nur dann gibt es eine wirkliche Sicherheit vor dem Zugriff terroristischer Gruppen.

Anmerkungen

1) Vgl. Schneckener, Ulrich: Netzwerke des Terrors. Charakter und Strukturen des transnationalen Terrorismus, SWP-Studie, Berlin, Sept. 2002, S.5 ff.

2) Tucker, Jonathan, B.: Toxic Terror. Assessing Terrorist Use of Chemical and Biological Weapons, BCSIA Studies in Int'l Sec., Monterey Institute of Int'l Studies, MIT Press, 2001, S. 4.

3) Ebd., S.17.

4) ChemBio Weapons and WMD Terrorism News Archive, 11.04.2005.

5) The Daily Nonproliferator, 04.05.2005.

6) Monterey Herald, 24.06.2005.

7) Vereinbart waren Fristen für die 1-, 20-, 45- und 100-prozentige Vernichtung.

8) Financial Times, 15.11.2005.

9) In der CWC werden »Alte chemische Waffen« definiert als Waffen, die vor 1925 oder zwischen 1925 und 1946 hergestellt wurden und sich in einem derart schlechten Zustand befinden, dass sie nicht mehr als C-Waffen eingesetzt werden können. »»Zurückgelassene chemische Waffen« sind Waffen, die nach dem 1. Januar 1925 von einem Staat im Hoheitsgebiet eines anderen Staates ohne dessen Zustimmung zurückgelassen wurden.

10) Tucker, Jonathan, B.: Toxic Terror, a.a.O., S.218 ff.

11) Süddeutsche Zeitung, 10.07.2006.

12) Nach Angaben des Umweltinstituts München, im Internet unter http://umweltinstitut.org/schadstoffbelastung/15-jahre-bhopal/15-jahre-bhopal-154.html.

Dr. Ulrike Kronfeld-Goharani ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Friedensforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Kiel.

Außen- und Militärpolitik transparenter machen

Außen- und Militärpolitik transparenter machen

Wissenschaft und Öffentlichkeit müssen mitbestimmen

von Paul F. Walker

Außen- und Militärpolitik, insbesondere zu Fragen von Krieg und Frieden, werden von herrschenden Eliten entworfen und umgesetzt, Wissenschaft und Öffentlichkeit werden bisher kaum oder gar nicht einbezogen. Über teure Waffenbeschaffungsprogramme, wie das 45 Milliarden Dollar kostende B-52-Bomberprogramm oder das 50 Mrd. Dollar verschlingende Forschungsprogramm für den »Krieg der Sterne«, wird jährlich im US-amerikanischen Kongreß ohne nennenswerte Beteiligung von außen, abgesehen von Lobbyisten der interessierten Forschungsstätten und Industrie, abgestimmt. Öffentliche Bedenken und Kontrollen spielten und spielen bei den großen Stationierungsvorhaben der Streitkräfte im Ausland, z.B. in Haiti, Ruanda, Bosnien, Somalia, keine Rolle. Auch die Aufsicht des Kongresses wurde in manchen Fällen ausgesetzt. Ein Großteil des derzeitigen jährlichen Militärhaushaltes der USA von 268 Mrd. Dollar wird ohne öffentliche Debatte und Kontrolle beschlossen.

Die selbst in einer so starken Demokratie wie den USA weitverbreitete Ansicht, Außen- und Militärpolitik seien zu komplex, wichtig und esoterisch, um sie der Öffentlichkeit zu überlassen, könnte eine wichtige Ursache für diesen Zustand sein. Die mühsame Entscheidungsfindung wird erfahrenen und seit Jahren in die Politikgestaltung einbezogenen Experten überlassen. Ein weiterer Aspekt könnte der Glaube an Elitesysteme sein, der annimmt, daß exklusive Prozesse der Entscheidungsfindung einfacher und effektiver seien. Zumindest in den Augen traditioneller Bürokraten kompliziert die Einbeziehung von Experten von außen und der Öffentlichkeit die anstehenden Fragen nur unnötig.

Doch im Laufe der Geschichte gab es zahlreiche Fälle, in denen wissenschaftliche und öffentliche Ratschläge und Hinweise weitreichende Fehlentscheidungen der Regierung verhinderten, bereits vollzogene Entscheidungen neu zur Debatte stellten und schwierige politische und wirtschaftliche Programme erst durchsetzungsfähig machten.

Hierfür einige Beispiele:

  • Sowohl die Behauptung einer »Bomber-Lücke« 1955 als auch die einer »Raketen-Lücke« 1960, mit denen sich die USA als in Bomber- und Raketenbestand der Sowjetunion weit unterlegen darstellte, konnten nach und nach als Fehlinterpretationen der Geheimdienste entlarvt werden. Besonders interessant ist der Fall der »Bomber-Lücke«, die auf der Zahl der strategischen Bomber beruhte, die ein US-amerikanischer Spion in Moskau am 1. Mai über dem Roten Platz gezählt hatte und die die US-amerikanische Luftwaffe veranlaßte, die Produktion der Langstreckenbomber zu forcieren, um mit dem Gegner im Kalten Krieg gleichzuziehen. Einige Jahre und Hunderte von Bombern später wurde in neuen, z.T. von Außenseitern durchgeführten Untersuchungen festgestellt, daß sich hinter den Bombern vom Roten Platz nur eine Schwadron verbarg, die über Moskau kreisend wieder und wieder über die Parade zum 1. Mai geflogen war.
  • Anfang der sechziger Jahre waren es Wissenschafter, Mediziner und Zahnärzte, die in Kinderzähnen einen erhöhten Strontium 90-Gehalt feststellten und daraufhin die Öffentlichkeit über diese Tatsache informierten, weitere wissenschaftliche Untersuchungen anregten. Sie verstärkten den politischen Druck für eine Unterzeichnung des »Begrenzten Teststoppvertrages« von 1963.
  • Ein knappes Jahrzehnt später scheiterte das bedeutende US-amerikanische Vorhaben, ein Schutzschild gegen ballistische Raketen (ABM, anti-ballistic missiles) für das Land aufzubauen – die einzige aufgebaute Abfangeinrichtung arbeitete nicht einmal eine Woche – nachdem Außenseiter mit sorgfältig erarbeiteten und weitreichenden Kritiken nachweisen konnten, daß das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Programms sehr ungünstig war. Leider waren auch hier, wie in zahlreichen anderen Fällen, bereits Milliarden von Dollar ausgegeben worden, bevor das Programm aufgegeben wurde.
  • In den späten siebziger Jahren, unter der Regierung Jimmy Carter, versuchte die US-amerikanische Luftwaffe, 200 interkontinentale ballistische MX-Raketen auf riesigen Lastwagen zu stationieren. Sie sollten zu einem System mobiler Basen in den Bundesstaaten Utah und Nevada aufgebaut werden. Dieses Großprojekt, das wahrscheinlich zehnstellige Milliardenbeträge von Dollar und ungeheure Mengen an Zement, Wasser und Land verschlungen hätte, wurde vorgeschlagen, um der von den Nuklearstrategen befürchteten wachsenden atomaren Erstschlagskapazität der Sowjetunion begegnen zu können. Es wurde angenommen, daß viele der MX-Raketen, die ständig zwischen tausenden von Raketengaragen in der Wüste hin- und herbewegt werden sollten, jeden Erstschlag überstehen und für einen Vergeltungsschlag zur Verfügung stehen würden. Zahlreiche Wissenschafter, Umweltschützer und andere Angehörige der akademischen Gemeinschaft engagierten sich in weitreichenden öffentlichen Untersuchungen, Debatten und Kritiken des Programms. Es wurde z.B. nachgewiesen, daß die Hitze, die die atomar bestückten Raketen in ihren Verstecken oder auf Lastwagen abgeben würden, den jeweiligen Standort für Infrarotsatelliten sichtbar machen würde. Die Luftwaffe behauptete daraufhin, alle Garagen und LKWs würden mit Klimaanlagen ausgestattet. Doch in weiteren Untersuchungen durch die Öffentlichkeit konnte nachgewiesen werden, daß die Klimaanlagen selbst aufspürbare Hitzesignale abstrahlen würden. Weitere strittige Punkte befaßten sich mit dem Wasserverbrauch in der Wüste, den Umweltschäden an tausenden von Quadratkilometern Land und der Spionageanfälligkeit des Programms. Nach mehreren Jahren heftiger öffentlicher Debatten wurde das Projekt mobiler Basen für MX-Raketen aufgegeben, womit dem Steuerzahler die Ausgabe von Milliarden von Dollar und der Regierung Carter ein wahrhaft unnötiges und möglicherweise destabilisierendes Militärprogramm erspart blieben.

Es gab in der Geschichte viele weitere Beispiele, in denen Außen- und Militärpolitik durch wissenschaftliche und öffentliche Beteiligung positiv beeinflußt wurden, doch zwei aktuelle Innovationsprogramme verdienen hier noch besondere Erwähnung:

Die seismische Verifikation unterirdischer Atomtests

Zum einen geht es um die seismische Verifikation unterirdischer Atomtests. Den Lesern wird wohl bewußt sein, daß der »Begrenzte Teststoppvertrag« von 1963, der Atomtests in der Atmosphäre, unter Wasser und im Weltraum untersagt, die meisten Atomtests in den Untergrund trieb. Seismische Verifikationstechniken stehen daher im Mittelpunkt wenn bestimmt werden muß, wer wann eine nukleare Vorrichtung welcher Größe testet. Seismische Meßtechniken werden zudem ein wichtiger Teil des neuen »Umfassenden Teststoppvertrages« (CTBT) sein, der von den USA und Rußland noch ratifiziert werden muß.

Mitte August dieses Jahres, als die Debatte um die Ratifizierung des CTBT in Washington und Moskau langsam in Gang kam (der US-amerikanische Senat hatte kurz zuvor, im April, die Chemiewaffenkonvention ratifiziert), beschuldigten mit militärischen seismologischen Überwachungsanlagen arbeitende Aufklärungsexperten der US-Regierung die Russen, in der arktischen Region einen geheimen Nukleartest durchzuführen. Hätte dies zugetroffen, wäre dieser Test ein Bruch des seit langem eingehaltenen russischen Moratoriums zu Atomtests gewesen; allein die Anschuldigung hatte einen ernstzunehmenden schädlichen Einfluß auf die Aussichten des CTBT, vom US-amerikanischen Senat ratifiziert zu werden und spielte in die Hände der rechten Teststoppgegner.

Doch in den letzten Jahren wurde weltweit ein unabhängiges Netz bescheidener seismischer Lauschanlagen aufgebaut. Dieses »Incorporated Research Institutions for Seismology« oder IRIS genannte Netz wurde z.T. vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium finanziert, um sich eine zweite Verifikationsschiene für den bevorstehenden »Umfassenden Teststoppvertrag« vorzubehalten. Die erste seismische Verifikationsschiene wird eine wesentlich geringere Zahl teurer seimischer Abhörstationen umfassen, die rund um die Uhr arbeiten und Daten in Echtzeit an zentrale Verarbeitungseinrichtungen schicken. Das IRIS-Netz ist viel bescheidener, weltweit werden die seismischen Daten Tage oder Wochen nach den tatsächlichen Messungen von Studenten abgefragt und weitergeleitet. Andererseits macht allein die Größe des IRIS-Netzes mit einigen hundert Stationen, die wiederum Zugang zu einigen zehntausend weiteren zivilen Einrichtungen rund um den Globus haben, es möglich, begründete Schlußfolgerungen zu Fragen atomarer unterirdischer Tests zu ziehen.

Im Oktober stellten Wissenschaftler, die mit den von IRIS gelieferten Daten arbeiteten, fest, daß es sich bei dem verdächtigen Vorfall vom 16. August zweifelsfrei um ein Erdbeben handelte. Dr. Paul Richards und Dr. Won-Young Kim, zwei auf die Verifikation von Atomtests spezialisierte Seismologen des Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia Universität, schrieben in der Zeitschrift Nature, daß das seismische Beben sich viele Kilometer südöstlich der Atomtestanlagen Novaya Zemlya im Karasee, einem Arm des nördlichen Polarmeeres, ereignet hatte. Die zuerst von einer Station in Finnland aufgezeichneten seismischen Daten ähnelten jenen bekannter Erdbeben in der Region.

Dr. Greg van der Vink, Direktor des seismologischen Verbundes IRIS, nannte die Untersuchung „einen Triumph“ unabhängiger und ziviler Forschung zu derart militärisch relevanten Daten. Ohne diese Entlarvung staatlicher Behauptungen eines russischen Atomtests hätten die US-amerikanischen Regierungsstellen die Chancen für die Ratifizierung des CTBT und für ein dauerhaftes Verbot von Atomtests vielleicht in Frage gestellt.

Auch diese unabhängigen, von Außenseitern durchgeführten Untersuchungen zu seismischen, mit Atomtests in Verbindung stehenden Fragen haben Vorläufer. 1993 etwa entdeckte eine interessierte Gruppe der Öffentlichkeit, daß China eine Testeinrichtung für einen neuen Atomtest vorbereitete. Die Öffentlichkeit, die daraufhin zu dem chinesischen Test hergestellt wurde, förderte den Aufbau seismischer Meßeinrichtungen und den öffentlichen Druck für einen Teststopp.

Chemiewaffenvernichtung

Im Zusammenhang mit der Vernichtung von Chemiewaffen zeigt sich ein zweites und aktuelles Beispiel, welch entscheidende Rolle Bürger und Wissenschaftler bei der Entscheidungsfindung in der Außen- und Militärpolitik spielen können. Die seit Dutzenden von Jahren verhandelte, jetzt von mehr als 150 Staaten aus allen Teilen der Welt unterzeichnete Chemiewaffenkonvention verbietet die Forschung zu, die Produktion, Lagerung und den Einsatz von Chemiewaffen und verlangt die vollständige Vernichtung chemischer Wirkstoffe und Munition binnen zehn Jahren. Die Vereinigten Staaten begannen vor einem Jahrzehnt mit der Forschung zu Vernichtungstechnologien und haben bis heute zwei große Verbrennungsanlagen aufgebaut, einen Prototyp auf dem pazifischen Johnson-Atoll und eine zweite in Tooele in Utah. In der pazifischen Verbrennungsanlage wurden bereits chemische Waffen verbrannt, die kürzlich aus Deutschland und Okinawa abgezogen wurden, während in der Verbrennungsanlage von Tooele mit Wirkstoffen aus dem Lager in Utah, einer von acht Einrichtungen in den USA, begonnen wurde.

Öffentliche Ablehnung und wissenschaftliche Bedenken wegen der Risiken der Verbrennung für die allgemeine Gesundheit und die Umwelt sind zwei der Problemkreise, die mit diesem Programm verbunden sind. Während die US-amerikanische Armee auf andere Staaten wie Deutschland verweist, die alte Chemiewaffenbestände verbrennen, und behauptet, daß beide Verbrennungsanlagen sämtlichen in Frage kommenden gesundheitsbezogenen und Sicherheitsstandards entsprechen, weisen mehrere Gouverneure und Kongreßabgeordnete auf zeitweilig auftretende Freisetzungen von Wirkstoffen, Dioxinen und Furanen, aus der Verbrennungsanlage im Pazifik sowie auf die Unfähigkeit der Epidemologie hin, gesicherte Erkenntnisse über die langfristigen, kumulativen gesundheitlichen Wirkungen minimaler Dosen von Wirkstoffen und Giften in der Luft bereitzustellen. Infolge dieser Bedenken wurden in Utah zivilrechtliche Klagen und Prozesse angestrengt. Zudem haben bis heute vier ausgesprochen glaubwürdige »whistleblowers« (Insider, die geheime, kritische Informationen an die Öffentlichkeit weitergeben) die Sicherheit der Anlage in Tooele öffentlich in Frage gestellt.

U.a. wegen dieser Bedenken hinsichtlich der Vernichtung chemischer Waffen hat der US-amerikanische Kongreß 1996 ein »Alternative Technology«-Programm (AltTech II) geschaffen, das der Erforschung, Entwicklung und Demonstration von Technologien dienen soll, die nicht auf Verbrennung basieren. Im Rahmen dieses Prozesses lud der Leiter des AltTech II-Programms zu einem »nationalen Dialog« interessierter Gruppen ein. Wissenschaftler, Umweltschützer, staatliche Vermittler, vor Ort betroffene Aktivisten, Vertreter des Bundesstaates und nationale Umweltschutzorganisationen, die sich mit der Vernichtung von Chemiewaffen befassen, sollen gemeinsam die Kriterien erörtern und festlegen, anhand derer neue, alternative Technologien bewertet werden. Die »Dialogue on Assembled Chemical Weapons Assessment« oder DACWA genannte Gesprächsgruppe traf sich in einem Zeitraum von sechs Monaten viermal für jeweils ein bis drei Tage und vereinbarte erst kürzlich ein Treffen mit einem neuen Beratungskomitee zu alternativen Vernichtungstechnologien an der Nationalen Akademie der Wissenschaften.

Der Dialog hat 35 Mitglieder und hat bereits sehr deutlich gemacht, daß eine tatsächliche und nicht nur symbolische Einbeziehung von Betroffenen und Beteiligten schwierige Entscheidungsfindungsprozesse zu kontroversen Projekten erleichtern kann. Beide Seiten, Gegner und Befürworter der Verbrennung, sind einbezogen und alle Mitglieder des Dialogs erkennen an, daß Chemiewaffen vernichtet werden müssen, daß die Verbrennung bis heute strittig ist und daß es daher schwierig ist, den Zeitplan und Haushaltsvorgaben einzuhalten sowie, daß die Entwicklung von Alternativen letztendlich der Konsensbildung zugute kommt.

Fazit

In der Vergangenheit wurden schwierige und kontroverse Entscheidungen entweder durch Klassifizierung oder das Prozeßdesign offiziell unter Verschluß gehalten. Jetzt wird deutlich, daß die aktive öffentliche Teilhabe u.a. der wissenschaftlichen Gemeinschaft, der regionalen und lokalen Wählerschaften und der allgemeinen Interessengruppen nicht nur hilfreich, sondern notwendig ist. Auf den ersten Blick mag Transparenz in der Entscheidungsfindung und Konsensbildung, der alle Beteiligten vertrauen und in deren Verlauf sie ein originäres Interesse an dem Prozeß und dem Ergebnis erlangen, zwar schwierig und teuer sein, aber langfristig verhindert solch ein Prozeß zeitraubende gerichtliche Verfahren, politische Mißstimmungen und manchmal schwerwiegende Fehlentscheidungen.

Regierungen müssen für ihre Taten verantwortlich gemacht werden, und Teilhabe der Öffentlichkeit und wissenschaftliche Zweifel und Analysen sind ein Schlüssel hierzu. So werden bedeutende politische Entscheidungsfindungsprozesse zu Erfahrungen, in denen alle gewinnen und nicht alle verlieren oder einige gewinnen und andere verlieren.

Übersetzung aus dem Englischen: Marianne Kolter.

Paul F. Walker ist Politikwissenschaftler und Geschäftsführer von Global Green USA, einer Mitgliedsorganisation des Internationalen Grünen Kreuzes. Er war Mitglied des Armed Services Committee des Repräsentantenhauses der USA.

Gaskrieg, Völkerrecht, Geheimrüstung

Gaskrieg, Völkerrecht, Geheimrüstung

Zur Frage der Beschränkung von bakteriologischen und chemischen Waffen in der Zwischenkriegszeit

von Hartmut Stiller

Trotz der Haager Landkriegsordnung von 1899, in der sich einige Staaten dem Verbot unterwarfen, „Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten“1, kam es am 22. April 1915 an der deutsch-französischen Grenze zur Anwendung einer neuen, folgenreichen Waffe. Dieser Ersteinsatz der Gaswaffe von deutscher Seite setzte einen Rüstungswettlauf in Gang, dem fortan kein Einhalt mehr zu bieten war.

Die Kampfstoffe boten den Militärs, vor allem in ihrer Kombination mit der Luftwaffe, ungeahnte neue Möglichkeiten. Erstmals ließ sich wirksam die Zivilbevölkerung in das unmittelbare Kriegsgeschehen miteinbeziehen. Der Kriegsschauplatz verschob sich von der Front bis ins Hinterland hinein, dorthin, wo man das gegnerische Gebiet bislang nur mäßig anzugreifen in der Lage war.Bedenken aus humanitären Gründen wurden aus den militärischen Kreisen zerstreut. Gegenteilig bezeichnete man die neue Waffe als „human“, konnte man durch sie einen Krieg schneller beenden und somit unzählige Menschenleben retten. Man sah die Verletzungen durch Giftgase als weitaus weniger grausam an, als jene von Granaten, wodurch schließlich ganze Körperteile »abgerissen« würden. „Die Einatmung der Blausäure belästigt in keiner Weise. Man kann nicht angenehmer sterben.“2

Zudem räumte die Kriegsnotwendigkeit die letzten Zweifel an dem Einsatz chemischer Kampfstoffe vom Tisch. So schrieb Berthold von Deimling, in dessen Frontabschnitt bei Ypern das Kampfmittel erstmals auf dem Schlachtfeld erprobt wurde, rückblickend: „Aber durch das Giftgas konnte vielleicht Ypern zu Fall gebracht werden, konnte ein feldentscheidener Sieg errungen werden. Vor solch hohem Ziel mußten alle inneren Bedenken schweigen.“ 3

Doch auch die Schrecken dieser neuen Waffe steckten nach dem Weltkrieg noch allzusehr in den Köpfen der Menschen fest. So suchten die Politiker nach Kriegsende Möglichkeiten, die Gefahr eines Giftgaseinsatzes zu reduzieren.

Die Einschränkung des Einsatzes chemischer und bakteriologischer Waffen

Der Versailler Vertrag (1919)

Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag war u.a. ein Versuch der Siegermächte, die deutsche Aggressivität und Kriegsbereitschaft bis auf ein Minimum zu bändigen. Hierfür diktierten die Siegermächte dem »Kriegsschuldigen« ein Verbot der Luftwaffe, der Panzer, der schweren Artillerie und – der Gaswaffe. Der Artikel 171 geht darauf ausdrücklich ein: „Mit Rücksicht darauf, daß der Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen, sowie von allen derartigen Flüssigkeiten, Stoffen oder Verfahrensarten verboten ist, wird ihre Herstellung in Deutschland und ihre Einfuhr streng untersagt.

Dasselbe gilt für alles Material, das eigens für die Herstellung, die Aufbewahrung oder den Gebrauch der genannten Erzeugnisse oder Verfahrensarten bestimmt ist.“4

Im Unterschied zu der Haager Landkriegsordnung von 1899 strebte man nun eine Beschränkung des Bestandes in Form eines Verbotes der Herstellung und der Einfuhr chemischer Waffen sowie deren Voraussetzungen an, nicht nur deren Anwendung. Aber dieser neue Gedanke blieb ein auf Deutschland beschränkter Einzelfall.

Diese Bestimmung war das einzige rechtskräftige völkerrechtliche Übereinkommen, das ein Verbot der Herstellung von C-Waffen beinhaltete. Doch das einseitige Abrüstungsdiktat blieb nicht problemlos, es forderte den Widerstand der militärischen Kreise Deutschlands heraus.

Der Vertrag von Washington (1922)5

1922 rangen sich Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien und die USA auf der Washingtoner Konferenz dazu durch, den Gebrauch erstickender, giftiger oder anderer Gase sowie aller ähnlichen Flüssigkeiten zu verbieten. Jedoch waren deren Herstellung sowie der Handel mit chemischen Waffen nicht in dieses Verbot einbezogen, ein Faktum, welches den Washingtoner Vertrag als einen Rückschritt ins Jahr 1899 degradierte.

Dieses Abkommen wurde zwar von den genannten Staaten unterschrieben, jedoch verweigerten die Franzosen die notwendige Ratifizierung. Damit scheiterte dieser Versuch, den Giftwaffeneinsatz einzuschränken.

Das Genfer Protokoll (1925)

Unterschrieben und ratifiziert wurde dagegen das sogenannte Genfer Gaskriegsprotokoll, dessen Unterzeichnung am 17. Juni 1925 auf amerikanische Initiative hin erfolgte. Das Deutsche Reich beteiligte sich ebenso wie Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien, um nur einige Staaten zu nennen.

Auszugsweise seien hier einige Stellen des Vertrages zitiert: „Die Hohen vertragsschließenden Parteien erkennen, soweit sie nicht schon Verträge geschlossen haben, die diese Verwendung untersagen, dieses Verbot an. Sie sind einverstanden, daß dieses Verbot auch auf die bakteriologischen Kampfmittel ausgedehnt wird, und kommen überein, sich untereinander an die Bestimmungen dieser Erklärung gebunden zu betrachten.“ 6

Ziel des Genfer Protokolls war es zudem, möglichst viele Staaten von der Notwendigkeit des Unterzeichnens zu überzeugen, was ihnen bis heute auch gelang.7

Erstmals wurden hier auch die B-Waffen in das Verbot mit einbezogen. B-Waffen teilen sich in biologische und bakteriologische Waffen auf. Biologische Stoffe werden zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt und sind daher auch weitgehend erlaubt.

Das Genfer Gaskriegsprotokoll hatte aber wiederum den Nachteil, daß es die Herstellung entsprechender Stoffe nicht verbot, lediglich deren Ersteinsatz ächtete. Eine »defensive Vorbereitung« blieb also weiterhin möglich.

Erst durch die Abkopplung von den C-Waffen konnten die Staaten am 16. Dezember 1971 eine Übereinstimmung über ein Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen (sowie deren Vernichtung) erzielen.

Die Geheimrüstung in der Weimarer Republik (1919 – 1933)

In einem Schreiben vom 6. Dezember 1926 an den Reichswehrminister Geßler sprachen die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Hermann Müller-Franken und Otto Wels bedenkliche Aktionen der Reichswehr an: Die »Gefu« (Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen m.b.H.8) habe „der chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg (…) den Auftrag gegeben, in Trozk, Gouvernement Samara (Rußland) eine Fabrik zur Erzeugung von Kriegsgiftgasen einzurichten. Diese Einrichtung erfolgte in den Jahren 1923 bis 1926. Die Fabrik gliedert sich in folgende Abteilungen: Chlorerzeugung, CO-Erzeugung, Phosgen-Erzeugung und Lost-Erzeugung.“ 9

Diese bedenklichen Betätigungen der Reichswehr reichten bis in das Jahr 1919 zurück. Allgemeine Empörung über die strengen Bestimmungen des Versailler Vertrages, vor allem über das Diktat der einseitigen Abrüstung, die »Verlockungen« der »neuen Waffe« und schließlich der Einzug der Franzosen in das Ruhrgebiet (1923) bekräftigten die unzufriedenen Kreise im Deutschen Reich darin, daß man das Hintergehen der Vorschriften als legitime Notwehr ansehen könnte. Da die Siegermächte nicht zur eigenen chemischen Abrüstung bereit waren, spukte die eigene Machtlosigkeit bei einem feindlichem Angriff um so heftiger in den Köpfen des Militärs herum. Die daraus gezogene Rechtfertigung, sich schützen zu dürfen, beinhaltete bald die Legitimation, dies auch mit eigenen Waffen zu tun. Die Militärs strebten daher nach einer engeren Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. Durch die Fortentwicklung der chemischen Waffe erhoffte sich die Reichswehr zudem, den Mangel an konventioneller Rüstung ausgleichen zu können.

Durch taktisches Geschick gelang es, beachtliche Bestände aus dem Ersten Weltkrieg zu retten. In Breloh bei Munster, wo die Restbestände von fertigen und halbfertigen Gaskampfstoffen unter Aufsicht der Alliierten zusammengetragen wurden, kam es am 24. Oktober 1919 zu einer folgenreichen Explosion in einer der drei Breloher Fabriken. In den darauffolgenden Jahren mußten Aufräumarbeiten angeordnet werden, von denen man die alliierten Kontrollkommissionen mit dem Hinweis auf den hohen Zerstörungsgrad und den Gefahren vor Ort gezielt fernzuhalten verstand.

Langjähriger Leiter der Aufräumungsarbeiten in Breloh war Dr. Hugo Stoltzenberg, der in den folgenden Jahren darum bemüht war, mit der bereitwilligen Unterstützung der militärischen Stellen einen erneuten Aufbau einer fabrikatorischen Basis für Gaskampfstoffe zu erreichen. Dieser Neuaufbau wurde notwendig, da der ehemalige Produzent, der IG-Farben-Konzern, unter internationaler Kontrolle stand und die alten Anlagen hauptsächlich im entmilitarisierten Rheinland angesiedelt waren.

Während die Bemühungen der US-Regierung 1925 zur Unterzeichnung des Genfer Gaskriegsprotokolls führten, zwang die reale Politik dem Ganzen groteske Züge ab: In Marokko tobte der erste aero-chemische Krieg der Spanier gegen die Rif-Kabylen.10 Seit 1921 nahmen dort die Aufstände der Einwohner kriegerische Ausmaße an. Da die Spanier, die sich mit Frankreich das Protektorat teilten, gegen die engagierte Kampfkraft der Aufständischen kaum über wirksame Mittel verfügten, griffen sie schon bald mit der »neuen Wunderwaffe« an. Zunächst ließen sie sich »harmlosere« Kampfstoffe wie Tränengas und Nasenreizstoffe aus Frankreich liefern, doch hatte Frankreich bei der Produktion vom weitaus stärker wirkendem Lost erhebliche Probleme. Daher war Spanien auf der Suche nach einem neuen Handelspartner und fand diesen sehr bereitwillig im Deutschen Reich. Stoltzenbergs Fabrik wurde am 10. Juni 1922 dazu verpflichtet, in Spanien eine Fabrik zu bauen, die täglich mindestens eine Tonne Lost, 1,5 Tonnen Phosgen und 1,25 Tonnen Dick produzieren sollte. Bis die Fabrik fertiggestellt war, überbrückte Stoltzenberg den Giftgasbedarf durch umfangreiche Lieferungen aus eigener Herstellung.

Als weiteren ausländischen Partner fand die Reichswehr die sowjetische Regierung. Da eine Kampfstoffproduktion im Reich stets die Gefahr beinhaltete, daß die alliierten Kontrollkommissionen davon Wind bekämen, gleichzeitig auch ein erneuter Vorstoß nach Mitteldeutschland spätestens seit der Ruhrbesetzung nicht mehr auszuschließen war, versuchte man die deutsche Kampfstofferprobung und -herstellung den Eingriffsmöglichkeiten der Entente zu entziehen. Die Russen waren der ideale Partner, da sie nur über ein geringes technisches »Know-how« in der Waffentechnik verfügten, dafür aber genügend Naturschätze besaßen. Hier konnte man sich hervorragend ergänzen, besaß man in Deutschland schließlich ausreichend viele Wissenschaftler und technische Geräte. Allein durch diese Aktivitäten wäre die Reichswehr im Kriegsfalle in der Lage gewesen, ihren legalen Bestand konventioneller Artilleriemunition um mehr als das Doppelte mit Giftgasgranaten aus russischer Fabrikation vermehren zu können.

Trotz vieler Schwierigkeiten, die an dieser Stelle nicht näher erläutern werden können, blieb diese »Beziehung« mit Rußland bis ins Jahr 1933 bestehen; erst Hitler kündigte aus politisch-ideologischen Beweggründen die russisch-deutsche Zusammenarbeit.

Diese lange Zusammenarbeit ist deshalb interessant, da Stoltzenbergs Aktivitäten in Rußland 1926 in einer großangelegten Pressekampagne bloßgelegt wurden, was sogar den Sturz der Regierung Marx mitauslöste. Die Reichswehr trennte sich zwar von Stoltzenberg, setzte aber in enger Kooperation mit der Großchemie ihre Aktivitäten in Rußland fort.

Anfang der 30er Jahre erschien eine große Anzahl von Texten und Materialien im Deutschen Reich, die den Gaskrieg vermehrt in das Bewußtsein der Bevölkerung bringen sollte. Eines der wesentlichen Ziele war es, die Bevölkerung über einen potentiell bevorstehenden Gaskrieg zu informieren und entsprechende Rettungsmaßnahmen vorzubereiten (z.B. Ausbildung von Sanitätern etc.). Dabei wurde dem Bürger das Bild eines völlig wehrlosen Deutschland vermittelt, welches ohne Gasschutz kaum einen feindlichen Angriff mit Kampfstoffen überstehen könne. Dadurch erreichte man taktisch geschickt eine allgemeine Besorgnis und daraus folgend das Einverständnis der Menschen, sich verstärkt um Schutzmöglichkeiten zu bemühen. Im Zuge des staatlich geförderten Ausbaus des Luftschutzes, der nach dem Luftfahrtsabkommen vom 24.5.1926 auch den Deutschen erlaubt war, wurde zu diesem Zweck die »Deutsche Luftschutzliga e.V.« gegründet.

Der erfolglose Kampf der Gaskriegsgegner

Ich sah im Traum von Militär-
flugzeugen ein dichtes Gewimmel.
Sie stiegen auf, mehr, mehr, immer mehr.
Sie verfinsterten Sonne und Himmel.
Sie führten mit sich, in meinem Traum,
Giftbomben und ähnlichen Segen.
Mit denen wollten im feindlichen Raum
Sie eine Großstadt belegen.
Sie ordneten sich, die todbringende Schar,
In schwierigstem Wenden und Drehen.
Der Giftangriff sollte offenbar
In kunstvollster Form geschehen.
Und sieh, als endlich die ganze Wehr
Aufstieg zur Abendröte.
Erschien, gebildet aus Militär-
flugzeugen, am Himmel Goethe.

Dieses Gedicht »Deutschland 1932« von Lion Feuchtwanger, das einen Gasangriff aus der Luft auf eine Großstadt behandelt, erschien 1932 in der Zeitschrift »Die Weltbühne«. Es spiegelt die Angst vor einem neuen Zukunftskrieg wieder, einem Zukunftskrieg, der vorwiegend aus Gasangriffen aus Flugzeugen auf die Zivilbevölkerung bestehen sollte. Diese Vorstellung bewegte den »Mann auf der Straße« auf das heftigste, schließlich waren den meisten Menschen noch die Schrecken des Ersten Weltkrieges präsent.

Noch unter den direkten Erfahrungen aus den Kriegsjahren erklärte der Völkerbund 1920, daß die Anwendung von Kampfgasen der Haager Landkriegsordnung und damit auch dem Völkerrecht widerspreche. Eifrig wurde daher geprüft, ob ein Appell an die Wissenschaftler aller Länder, ihre Forschungen über giftige Gase und ähnliche Fragen zu veröffentlichen, um die Möglichkeiten des Gebrauchs solcher Waffen in einem zukünftigen Krieg zu vermindern, Erfolg versprechen würde.

Bereits 1922 kam man wieder davon ab und errichtete statt dessen einen Spezialausschuß, der sich über die möglichen Folgen eines Einsatzes chemischer Waffen informieren sollte.

Dessen Bericht wurde Gegenstand der Debatten in der Versammlung des Jahres 1924. „Die Versammlung forderte den Rat auf, für eine möglichst große Verbreitung und Publizität dieses Berichtes zu sorgen. Der Rat hat sich jedoch weiterer Maßnahmen zu dieser Frage enthalten, weil er der Auffassung war, daß die feierliche Resolution der Versammlung schon Publizität genug bedeute.“ 11

Nach 1924 wurde dieses Problem nicht mehr oder nur am Rande auf den offiziellen Sitzungen des Völkerbundes behandelt.

Erst in den 30er Jahren wurde er anläßlich einiger Verletzungen der Verbote wieder damit konfrontiert, z.B. während des japanisch-chinesischen Krieges (1932-1938). Auch Italien wendete während seines Krieges gegen Äthiopien Giftwaffen an (1936).

Seit dem Weltkrieg richteten sich dagegen viele Organisationen gegen die chemischen Waffen. Das Internationale Rote Kreuz appellierte schon während des Krieges an die kriegführenden Parteien und später an den Völkerbund, den Einsatz von erstickenden Gasen zu verbieten.

Am 10. bis 15. Dezember 1922 fand in Haag ein Weltfriedenskongreß statt, der gemeinsam vom Internationalen Gewerkschaftsbund und einigen pazifistischen Gruppen organisiert wurde und in dessem Verlauf der Beschluß gefaßt wurde, daß man alles tun müsse, um die Fabrikation und den Transport von Kriegspotential zu verhindern. Edo Flimmen, der damalige Sekretär der Amsterdamer Internationale, erklärt später: „Die Mobilmachung gegen einen Krieg muß mit derselben Präzision organisiert werden können wie die Mobilmachung, die 1914 die Länder in Heerlager verwandelte. (…) Wenn die Regierungen mit Krieg drohen, müssen die Arbeiter die chemischen Fabriken, in denen die tödlichen modernen Waffen hergestellt werden, verlassen; die Eisenbahner müssen den Transport der Truppen verweigern, die Bergleute keine Kohlen für die Rüstungsindustrie liefern. Die Führer in jedem Lande müssen sich über die konkreten Maßnahmen Klarheit verschaffen, die im Falle eines drohenden Krieges zu ergreifen sind, sie müssen verstehen, daß die Träger des Widerstandes gegen den Krieg nicht die Parlamente sein können, sondern die organisierte Masse selbst. (…)“ 12

Die Widerstandsorganisationen forderten also eine öffentliche Kontrolle der Rüstungsindustrie. Wenngleich diese Ideen Illusionen waren, da die Arbeiter unter einem zu großen Druck standen, um einen derartigen Generalstreik durchzuführen, und die breite Masse der hochqualifizierten Wissenschaftler und Ingenieure kaum für die Friedensbewegung zu gewinnen waren, wenngleich diese Forderungen also kaum durchführbar waren, so wurden hier erstmals die Kampfmittel der Arbeiterschaft, die Arbeitsverweigerung und der Generalstreik, in die Überlegungen der Friedensbewegung einbezogen.

Ein Beispiel für besonderes Engagement auf Seiten der Giftgasgegner war Gertrud Woker13, eine Schweizer Chemikerin, die dazu überging, zahlreiche eindrucksvolle Initiativen zur systematischen Aufklärung über die Gefahren von chemischen Kriegswaffen ins Leben zu rufen. In vielen Aufsätzen, mit Flugzetteln, Büchern und Vorträgen trat sie den allzu durchsichtigen Argumenten der Giftgaspropagandisten entgegen und bewies mit Hilfe ihrer fachlichen Kompetenz, daß Gasverletzungen nicht so harmlos seien, wie oft behauptet, sondern im Gegenteil recht qualvoll.

Ihr Ziel beschrieb sie einmal selbst folgendermaßen: „Ein kleines Buch – Onkel Toms Hütte – hat einmal Tausenden von Negersklaven die Freiheit gegeben. Warum sollte es nicht auch möglich sein, die Sklaven des Militarismus zu befreien durch weiter nichts als der Darstellung von Tatsachen – ganz alltägliche Tatsachen aus der modernen Kriegsführung.“ 14

Gertrud Woker war Mitvorsitzende des schweizer Zweiges der »Internationalen Frauenliga für Forschung und Freiheit«, einer Initiative, welche international zu einer systematischen Aufklärung über die Gefahren der chemischen Kriegswaffen beitragen wollte.

Als die Reichsregierung15 zusammen mit dem »Reichsverband Deutscher Industrieller« 1926 die »Deutsche Luftschutzliga e.V.« gründete, bildete sich als deren Gegenpol die pazifistisch ausgerichtete Anti-Gaskriegsbewegung. Sie glaubte an keine Schutzmöglichkeiten in einem zukünftigen Krieg und kämpfte daher für eine Abrüstung und ein generelles Verbot von Kriegen. Das Desinteresse in der Bevölkerung aber wuchs immer mehr, je weiter die schrecklichen Erlebnisse des Weltkrieges zurücklagen. Die Friedensbewegungen erreichten nur einen Teil der Bevölkerung und hatten kaum Rückhalt in ihr.

Hinzu kam, daß ihre Argumente oft wirklichkeitsfremd waren. Es war kaum möglich, Chemiker und Ingenieure für die Friedensbewegung zu gewinnen. Die ausführenden Arbeiter ihrerseits standen unter einem zu großen Druck, als daß sie gegen ihre Vorgesetzten Stellung beziehen konnten. Kritiklos übernahm man Kriegsbilder von den Gaskriegsbefürwortern, wie zum Beispiel die Theorie, daß in zukünftigen Konflikten die großen Massenheere aufgelöst würden.16 Zwischen den einzelnen Organisationen mangelte es an ausreichender Koordination und somit an Effektivität. Selbst große Kongresse konnten keine bleibenden Erfolge verbuchen.

Die offizielle Propaganda hatte zudem den Vorteil, über größere finanzielle Mittel verfügen zu können, was nicht gerade unerheblich zu deren Erfolg beitrug.

Außerdem brachte die Panikmache der Friedensbewegung ein weiteres Problem mit sich: das allzu extreme Schildern grauenhafter Giftgasangriffe und sonstiger Kriegsbilder konnte die Bevölkerung dermaßen verunsichern, daß sie erst recht der schutzanbietenden »Luftschutzliga« in die Arme flüchteten. Somit spielte die Friedensbewegung dem Militär sogar ungewollt die Trümpfe zu.

Schluss

Spanien, die Sowjetunion, Italien, Jugoslawien, Japan, China, die Türkei, Rumänien, Schweden, Brasilien … – die Liste der Staaten, die allein von Deutschland nach 1923 mit chemischen Kampfstoffen beliefert wurden, ließe sich noch unschwer fortsetzen. All dies geschah selbstverständlich »geheim« und trotz alliierter Kontrolle. Waren die Auflagen gegenüber dem Deutschen Reich nicht umfassend genug oder zeigten die Siegermächte sich tolerant gegen die Verstöße? Bestraft wurde das Deutsche Reich nicht, obwohl die Aktivitäten auf verbotenem Gebiet spätestens 1923 und 1926 durch Enthüllungen und Skandale, welche in den Medien verbreitet wurden, an die Öffentlichkeit drangen.

War England als Vertreter der »Balance-of-Power-Politik« in Sorge, daß Frankreich nach der Ruhrbesetzung weiter seine Macht ausbauen könnte? Tolerierte es die Tätigkeiten der Reichswehr, damit Deutschland nicht von seinem Nachbarn »zerdrückt« würde und eine Verschiebung des internationalen Kräftegleichgewichtes entstünde?

Da Frankreich sich mit Spanien das Protektorat in Marokko teilte, liegt es nahe, daß es über die deutschen Giftgaslieferungen informiert war. Nach den Locarner Verträgen herrschte jedoch eine Entspannungsphase zwischen Frankreich und seinem östlichen Nachbarn. Man fing an, das Deutsche Reich zumindest zu akzeptieren und genoß die Aussöhnung mit dem ehemaligen Erzfeind. Wollte man daher einen erneuten Bruch mit Deutschland vermeiden, indem man schwieg?

Ein Problem war sicherlich, daß man, im eigenen Land selbst Kampfstoffe produzierend, den Deutschen gestatten mußte, Schutzmaßnahmen gegen Gaswaffen durchzuführen, was im Pariser Luftfahrtsabkommen 1926 auch geschah. Wenn man sich schützen möchte, muß man jedoch wissen, welche Gefahr drohen könnte. Daraus folgt, daß eine Forschung nach Kampfstoffen durchgeführt werden muß. Von dieser Überlegung aus fehlt nur ein kleiner Schritt, um als mögliches Abwehrmittel die Abschreckung durch genügend Angriffspotential anzusehen – ein verzwickter Teufelskreis, der die Grenze zwischen Schutz und Angriff verschwimmen läßt.

Die Frage nach dem WARUM muß jedoch auch nach innen gelenkt werden, denn auch die deutschen Politiker zogen kaum Konsequenzen aus den Enthüllungen und Skandalen. Es folgte keine verstärkte Kontrolle über die Reichswehr, man fühlte eher mit dem eigenen Militär als mit Staaten, die selber aufrüsteten. Die deutschen Politiker, über die Bestimmungen des Versailler Vertrages nicht gerade glücklich, strebten zum großen Teil nach einer Gleichberechtigung mit den anderen Staaten.

Die Anti-Gaskriegsbewegung kämpfte unerbittlich gegen die Gefahr eines Gaskrieges, jedoch wenig effektiv. Das Militär verstand es sogar, deren Horrorbilder und Schreckensszenarien sich zunutze zu machen.

Die Gaswaffe schien in den Köpfen der Menschen weithin akzeptiert zu sein. Zu große Möglichkeiten boten sich durch deren Besitz. Es fiel den Militärs sehr schwer, eine bereits vorhandene Waffe wieder verschwinden zu lassen.

Gegen die starke Lobby der für die Wirtschaft eines Landes notwendigen Industrie und der Militärs, welche die Gaswaffen für strategisch bedeutsam erklärten, konnten sich die Gegner kaum durchsetzen.

Ein Beispiel bildet die USA: Dort sprachen sich alle Präsidenten, von Wilson, Harding, über Hoover bis Roosevelt gegen die Vorbereitungen auf einen eventuellen Gaskrieg aus. Die Kritik und der Druck der Befürworter wuchs aber dermaßen (schon 1922 bei der Washingtoner Konferenz), daß die Präsidenten und der Senat dem nicht standhielten. So ratifizierte man das Genfer Gaskriegsprotokoll nicht und gestand den Gaswaffenbefürwortern zu, zumindest für die »defensive« Rüstung produzieren zu dürfen.

Ein erneuter Versuch wurde am 13. Januar 1993 durch die Unterzeichnung einer internationalen Giftwaffen-Konvention in Den Haag unternommen. Jedoch muß sich die Wirksamkeit der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« erst noch erweisen. Allein die Ratifizierung des Vertrages, an dem sich 159 Staaten beteiligten (nicht aber der Irak!), erweist sich als schwierig. Chemische Offensivwaffen dürfen nicht produziert werden, eine »defensive« Forschung bleibt aber erlaubt. Als Problem stellt sich auch die Tatsache dar, daß viele Substanzen sowohl für den militärischen Gebrauch als auch für zivile Gebrauchsgüter notwendig sind. Die umfangreichen Kontrollen lassen hoffen, jedoch wird uns erst die Zeit zeigen können, inwieweit sie effektiv genug sind.

Literatur

AKTEN der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Kab. Marx III. und IV.

Bothe, Michael, Das völkerrechtliche Verbot des Einsatzes chemischer und bakteriologischer Waffen. Köln/Bonn 1973.

Brauch, Hans Günter, Der chemische Alptraum oder gibt es einen C-Waffen-Krieg in Europa. Berlin/Bonn 1982.

Brauch, Hans Günter, Müller, Rolf-Dieter, Chemische Kriegsführung – Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare. Berlin 1985.

Delbrück, Jost (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung. Kriegsverhütung. Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984.

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Groehler, Olaf, Der lautlose Tod. Einsatz und Entwicklung deutscher Giftgase von 1914 bis 1945. (Ost-) Berlin 1978.

Haber, Fritz, Aus Leben und Beruf. Aufsätze. Reden. Vorträge. Berlin 1927.

Haber, Fritz, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920 – 1923. Berlin 1924.

Harris, Robert, Paxmann, Leremy, Eine höhere Form des Tötens. Die geheime Geschichte der B- und C-Waffen (engl. Titel: A Higher Form of Killing). Aus dem engl. übersetzt von Gernot Barschke. Düsseldorf/Wien 1983.

Kunz, Rudibert, Müller, Rolf-Dieter, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927. Freiburg 1990.

Messerschmidt, Manfred, Kriegstechnologie und humanitäres Völkerrecht in der Zeit der Weltkriege, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 41, 1987.

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Müller, Rolf-Dieter, Die deutschen Gaskriegsvorbereitungen 1919-1945. Mit Giftgas zur Weltmacht? in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1, 1980.

Müller, Rolf-Dieter, Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen. Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Othmar Hackl und Manfred Messerschmidt. Boppard a.R. 1984.

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Riesenberger, Dieter, Der Kampf gegen den Gaskrieg, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung. Frankfurt/M. 1990, S. 250-275.

Schütz, Hans-Joachim, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984, S. 829-844.

Sondernummer: Gas, in: Die Weltbühne 1931, S. 439f.

Woker, Gertrud, Ihre autobiographische Skizze in: Elga Kern (Hrsg.), Die führenden Frauen Europas. München 1928, S. 138-169.

Woker, Gertrud, Der kommende Giftgaskrieg (= Kultur- und Zeitfragen. Eine Schriftenreihe herausgegeben von Louis Satow. Heft 18). Im Auftrage der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Leipzig 1925.

Anmerkungen

1) Die Übersetzung des französischen Textes findet sich auszugsweise bei: Hans-Joachim Schütz, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984, S. 845. Zurück

2) Zitiert nach Fritz Haber, Zur Geschichte des Gaskrieges. Vortrag, gehalten vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages am 1. Oktober 1923, in: Fritz Haber, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920-1923, Berlin 1924, S. 81. Zurück

3) Vgl. Berthold von Deimling, Aus der alten in die neue Zeit. Berlin 1930, S. 201, in: Hans Günter Brauch, Rolf Dieter Müller, Chemische Kriegsführung – Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare. Berlin 1985, S. 84. General der Infanterie Bertold von Deimling (1853-1944) wurde später zu einem entschiedenen Gegner des Krieges und Repräsentanten der pazifistischen Bewegung in der Weimarer Republik. Zurück

4) Zitiert nach: Rudibert Kunz, Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927. Freiburg 1990. Zurück

5) Vgl. zu diesem Kapitel auch: Hans-Joachim Schütz, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung. Rüstungskontrolle. 2. Bd., S. 829-844. Zurück

6) Zitiert nach: Jost Delbrück (s. vorhergehende Anm.), S. 845 f. Zurück

7) Hans-Joachim Schütz zählt allein bis 1984 110 Staaten auf (Hans-Joachim Schütz, Beschränkung, S. 849f.). Zurück

8) Ihre Betätigung bestand in der Einrichtung von „Rüstungsindustrie in Rußland, indem deutsche Firmen dieser Branche zur Einrichtung derartiger Unternehmungen in Rußland veranlaßt“ wurden. Zurück

9) Vgl. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. KAB. Marx III und IV Dok. Nr. 138. Zurück

10) Vgl. Rudibert Kunz und Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927, Freiburg 1990. Zurück

11) Michael Bothe, Das völkerrechtliche Verbot des …, S. 96. Zurück

12) zitiert nach: Resolution – und nicht mehr? in: Die Weltbühne, 1. Hj., 1927, S. 931 f. Zurück

13) Vgl. Elga Kern (Hrsg.), Führende Frauen Europas, S. 138-169. Zurück

14) Ebda. S. 168. Zurück

15) Reichswehr und Innenministerium Zurück

16) Vgl. hierzu Riesenberger, Der Kampf gegen…, S. 268f. Zurück

Hartmut Stiller studiert Geschichte und Germanistik in Freiburg.

CBW-Chronologie 1992

CBW-Chronologie 1992

von Redaktion

Die folgende Chronologie beruht auf der »Rolling Chronology« der »Sussex-Harvard Information Bank«, die von Dr. Julian P. Perry Robinson (Universität Sussex) erstellt wird sowie auf Recherche- und Archivarbeit des »Informationsdienstes zur Abrüstung chemischer und biologischer Waffen«, Berlin.

9. Januar 1992

Der russische Delegationsleiter bei den Genfer CW-Verhandlungen Batsanov erklärt, daß sich sämtliche chemische Waffen und CW-Produktionsanlagen der ehemaligen Sowjetunion auf dem Territorium Rußlands befänden. Rußland sei allerdings nicht in der Lage, für eine sichere Vernichtung der chemischen Waffen zu sorgen und sei deshalb auf technische und finanzielle Hilfe der USA angewiesen. (FR, 10.1.92)

22. Januar 1992

Der Direktor des US-Geheimdienstes CIA, Robert Gates, erklärt in einer Anhörung des Senats, daß die meisten größeren Staaten des Nahen Ostens über Entwicklungsprogramme chemischer Waffen verfügten. Einige dieser – namentlich nicht genannten – Staaten besäßen bereits chemische Waffen.

23. Januar 1992

Der Deutsche Bundestag verabschiedet mit den Stimmen der Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP eine Novelle zum Außenwirtschaftsgesetz. Danach können illegale Rüstungsexporte mit Gefängnis bis zu fünf Jahren und dem Einzug der Gewinne aus solchen Geschäften bestraft werden. Das Zollkriminalinstitut kann künftig Telefone und Briefverkehr von verdächtigen Firmen und Personen überwachen. Außerdem wird für den 1. April 1992 die Einrichtung eines Bundesausfuhramtes für die Exportkontrolle beschlossen, das aus dem bisherigen Bundesamt für Wirtschaft hervorgeht. Die Anzahl der dort Beschäftigten wird sich von 337 auf 430 erhöhen. Mit diesen Maßnahmen soll der Export sog. Dual-use-Güter besser kontrolliert werden können. (FAZ, 24.1.92)

29. Januar 1992

Die ARD-Tagesthemen berichten, daß die DDR bis 1965 in großem Maßstab Giftgas aus dem Zweiten Weltkrieg unweit der dänischen Insel Bornholm versenkte.

13. Februar 1992

Der Leiter des russischen Atomwaffenprogramms, Viktor Michailow, sagt gegenüber der schwedischen Zeitung »Dagens Nyheter«, Rußland erwäge den Einsatz von Atomsprengsätzen zur Vernichtung von chemischen Waffen. Atomenergie sei billig und wirksam, allerdings bestünde die Gefahr von Rißbildungen im Gestein, wodurch Radioaktivität austreten könne. (FR, 14.2.92)

13. Februar 1992

Zum Abschluß einer zehntägigen Inspektionsreise in den Irak erklärt der Leiter des UN-Teams, Matthias Jopp, daß neben Firmen aus anderen westlichen Industrienationen auch bundesdeutsche Unternehmen am Bau der Produktionsanlagen für Chemiewaffen beteiligt waren. Allerdings habe es „keinerlei Beteiligung der deutschen chemischen Industrie gegeben, wie es vielfältig immer gemeldet wird “, sondern nur von Baufirmen. (FAZ, 14.2.92)

10. Februar 1992

Nach Informationen des US-Magazins »Defense Week« wird sich der Abschluß der Vernichtung der unitären chemischen Waffen der USA um weitere drei Jahre hinauszögern. Im Zusammenhang mit dem Binärwaffenprogramm der USA war 1986 beschlossen worden, die alten Chemiewaffen (etwa 40.000 Tonnen) bis 1994 zu vernichten. Nachdem dieser Termin bereits mehrmals verschoben worden war, wird nun mit einem Abschluß der Vernichtung nicht vor dem Jahr 2000 gerechnet. Die Kosten für die Vernichtung werden mindestens 7,5 Milliarden US-Dollar betragen. (Defense Week, 10.2.92)

20. Februar 1992

Bundesaußenminister Genscher fordert vor der Genfer Abrüstungskonferenz, noch in diesem Jahr eine Konvention zum Verbot chemischer Waffen abzuschließen. (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 21.2.92)

1. März 1992

Nach Ansicht des Leiters der russischen Meeresschutzgruppe, Piotr Barabolja, gehe von den etwa 400.000 Tonnen deutscher Giftgasmunition, die nach 1945 auf Befehl der Alliierten in der Ostsee versenkt worden sind, eine „ungeheuere Gefahr “ aus. Die Giftgasgranaten seien vielfach von einst 20 Millimetern Dicke auf drei Millimeter durchgerostet. Barabolja kündigte an, daß deutsche und russische Wissenschaftler demnächst gemeinsam die Situation untersuchen würden. (FR, 2.3.92)

5. März 1992

Der schleswig-holsteinische Umweltminister Heidemann hält eine Bergung von Giftgasgranaten aus der Ostsee für kaum durchführbar. Es gebe momentan keine einzige Technik, die eine Bergung ermöglichen würde ohne Menschen zu gefährden. (FR, 6.3.92)

10. März 1992

Bundesverkehrsminister Krause will von einer Arbeitsgruppe untersuchen lassen, welche Giftgasmengen sich in der Ostsee befinden. Der Arbeitsgruppe sollen auch Experten des Bundesumweltministeriums und der Umweltministerien der Küstenländer angehören. (SZ, 11.3.92)

11. März 1992

In Brüssel beginnt eine Tagung, auf der über Aufgaben und Statut des geplanten »Internationalen Zentrums für Technik und Wissenschaft in Moskau« beraten wird, das von der Europäischen Gemeinschaft, den USA, Japan und Rußland gemeinsam finanziert werden soll. Zweck des Technologiezentrums ist es, die Abwanderung von Wissenschaftlern zu verhindern, die in der Sowjetunion an der Entwicklung und Herstellung von chemischen, biologischen und atomaren Waffen arbeiteten. Auf diese Weise soll die Weiterverbreitung dieser Waffen und der entsprechenden Trägertechnologien verhindert werden. Die Kosten für das Zentrum werden mit 100 Millionen US-Dollar veranschlagt. Bisher wurden von den USA und der EG jeweils 25 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt. Die Teilnehmer des Treffens stimmten darin überein, daß das Technologiezentrum möglichst rasch errichtet werden soll. (FAZ, 12.3.92)

13. April 1992

Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« berichtet, daß die Inspektoren der Vereinten Nationen im Irak hauptsächlich von bundesdeutschen Firmen gebaute Anlagen entdeckt haben. Die Namen der einzelnen Firmen könnten nicht genannt werden, da die Berichte der UN-Inspektoren geheimgehalten werden. (Der Spiegel, 13.4.92)

27. April 1992

In Darmstadt beginnt ein Prozeß gegen zehn Manager und Techniker bundesdeutscher Unternehmen. Ihnen wird vorgeworfen, zwischen 1982 und 1988 durch illegale Ausfuhren von Industrieanlagen, Werkzeugen und Chemikalien in den Irak zu dessen Aufrüstung mit chemischen Waffen beigetragen zu haben. In dem Prozeß, der auf zwei Jahre angesetzt wurde, muß den Exporteuren nachgewiesen werden, daß sie von dem Verwendungszweck der gelieferten Güter gewußt hatten. Dieser Nachweis wird wegen des sog. Dual-use-Charakters der Güter nicht ohne weiteres zu erbringen sein. Erst aufgrund eines Gutachtens des schweizer Professors Richardz, der zu dem Schluß kommt, daß die gelieferten Anlagen nur für eine Kampfstoffherstellung in Frage kommen, konnte die Staatsanwaltschaft überhaupt Anklage erheben. (taz 27.4.92)

4. Mai 1992

Der Vorsitzende Richter im Darmstädter »Irak-Giftgas-Prozeß« Alfred Pani übt deutliche Kritik an der Haltung der Bundesregierung, die vom Gericht um Hilfe gebeten worden war. So wurde ein Rechtshilfeersuchen, das von den Richtern beim Generalsekretär der Vereinten Nationen sowie beim Auswärtigen Amt angestrengt worden war, um an Informationen über Erkenntnisse der Inspektoren hinsichtlich der Beteiligung bundesdeutscher Unternehmen am Aufbau der Giftgasproduktion im Irak zu gelangen, immer noch nicht beantwortet. (FR, 5.5.92)

4. – 6. Mai 1992

Bei einem Treffen der Australischen Gruppe – einem Zusammenschluß von 22 westlichen Industriestaaten – in Paris werden zusätzliche Exportkontrollen im Bereich chemischer und biologischer Waffen beschlossen.

22. Mai 1992

Die »Chemische Rundschau« veröffentlicht ein Interview mit dem Leiter eines UN-Inspektionsteams, dem deutschen Fregattenkapitän Matthias Jopp. Auf die Frage nach der Beteiligung deutscher Unternehmen an der CW-Produktion im Irak antwortete Jopp: „Ich weiß, daß mehrere deutsche Firmen komplette Anlagen zu einer Stätte in der Nähe von Samarra (dem irakischen CW-Zentrum) geliefert haben. Wir haben sie vor Ort vorgefunden, teilweise noch mit Firmenschildern versehen. (…) Die Anlagen bei Samarra sind im Endeffekt alle von deutschen Firmen gebaut worden. Sowohl die Produktionsstätten als auch die Lagerbunker.“ (Chemische Rundschau, Nr. 21, 22.5.92)

27. Mai 1992

In einem Interview mit der Moskauer Zeitung »Komsomolskaja Prawda« erklärt Präsident Jelzin, daß der Ausbruch einer Milzbrand-Epidemie in Swerdlowsk im Jahre 1979 auf geheime militärische BW-Programme zurückzuführen sei. Nach entsprechenden Anschuldigungen der US-Regierung hatte die sowjetische Regierung in den vergangenen Jahren wiederholt behauptet, es hätte sich um einen natürlichen Ausbruch dieser Seuche gehandelt, wie er etwa durch den Verzehr von milzbrandverseuchtem Fleisch hervorgerufen werden könne. (Komsomolskaja Prawda, 27.5.92)

3. Juni 1992

Im »Irak-Giftgas-Prozeß« sorgt das Exklusiv-Interview Jopps mit der »Chemischen Rundschau« für großen Unmut. Der Richter weist darauf hin, daß dieser zwar gegenüber den Medien Details bekannt gebe, jedoch nicht vor Gericht als Zeuge vernommen werden könne. Obwohl Jopp als wichtiger Zeuge für den Prozeß angesehen wird, bekommt er von den Vereinten Nationen, ebenso wie die anderen deutschen Mitglieder der Inspektionsteams, nach wie vor keine Aussagegenehmigung. Das Gericht befürchtet, daß möglicherweise „beweiserhebliches Material “ von den Vereinten Nationen und von der deutschen Bundesregierung zurückgehalten wird. (FAZ, 4.6.92)

In Washington werden zum ersten Mal offizielle Zahlen der CW-Bestände bekanntgegeben. Danach verfügen die USA über 31.400 Tonnen an unitären Kampfstoffen, von denen 3.400 Tonnen in „Artilleriegeschossen, Sprühtanks und Bomben “ als „verwendungsfähig “ bezeichnet werden. Über die Bestände an binären chemischen Waffen werden keine Angaben gemacht. Weiter heißt es, daß die NATO-Verbündeten, außer Frankreich, über keine chemischen Waffen verfügten. (Arms Control Impact Statement, Fiscal Year 1993)

12. Juni 1992

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen veröffentlicht den Report eines Inspektionsteams, daß die zahlreichen Vorwürfe über den Einsatz von chemischen Waffen in Mosambik zu untersuchen hatte. Nach dem Bericht konnte der Einsatz von chemischen Waffen nicht nachgewiesen werden, u.a. da zwischen dem Zeitpunkt des angeblichen Einsatzes und der Untersuchung der Anschuldigungen zu viel Zeit verstrichen sei. (Report of the mission dispatched by the Secretary-General to investigate an alleged use of chemical weapons in Mozambique, S/24065 vom 12.6.92)

20. Juni 1992

Der Vorsitzende des »Komitees beim Präsidenten der Russischen Föderation für Probleme der Übereinkommen über chemische und biolgische Waffen« Kunzewitsch sagt in einem Interview, die Vernichtung der chemischen Waffen der früheren Sowjetunion werde mindestens 10 Milliarden US-Dollar kosten. (Inside the Pentagon, 25.6.92)

24. Juni 1992

Die US-Regierung erklärt in ihrem jährlichen Bericht an den US-Kongreß über die Einhaltung von Rüstungskontrollabkommen unter anderem: „Obwohl es zahlreiche Berichte über den Einsatz von chemischen Waffen im früheren Jugoslawien gegeben habe, konnte von der US-Regierung keine Evidenz für diese Berichte festgestellt werden.“ (US Arms Control and Disarmament Agency, „Adherence to and compliance with agreements“, 24.5.92, S. 5)

11. Juli 1992

Nach einem Treffen mit dem finnischen Präsidenten Koivisto erklärt der russische Präsident Jelzin hinsichtlich der in der Ostsee versenkten chemischen Munition, daß diese in einem „kritischen Zustand“ sei. „Innerhalb von zwei, drei oder vier Jahren könnte eine Tragödie vom Ausmaß Tschernobyls auf uns zukommen. Wir haben uns darauf verständigt, eine internationale Kommission zu bilden, die ein Programm zur Bergung und Vernichtung dieser chemischen Waffen entwickeln soll. “ (ITAR-TASS World Service, 11.7.1992)

22. Juli 1992

Der stellvertretende Leiter der Chemischen Truppen der GUS Jewstajew beziffert die Kosten für eine völlige Entsorgung der in der Ostsee versenkten chemischen Munition auf mindestens 22 Milliarden US-Dollar. (Rossijskaja Gazeta, 22.7.92)

28. Juli 1992

UN-Generalsekretär Boutros-Ghali veröffentlicht einen Bericht über Inspektionen, die Anfang Juli in Aserbaidschan durchgeführt wurden. Die Inspektoren sollten Anschuldigungen überprüfen, armenische Streitkräfte hätten chemische Waffen eingesetzt. Es konnten jedoch keinerlei Beweise für einen derartigen Einsatz erbracht werden. (FAZ, 30.7.92)

9. August 1992

Eine Regierungssprecherin gibt bekannt, daß auf Veranlassung der Bundesregierung bei Zypern ein Frachter mit Chemikalien gestoppt wurde, der nach Syrien unterwegs war. Das deutsche Schiff hatte Trimethyl-Phosphit aus Indien an Bord, ein Vorprodukt für Nervengase, das in Syrien für die Produktion eines Pestizids verwendet werden sollte. (FR, 10.8.92)

19. August 1992

Indien und Pakistan – die beide verdächtigt werden, über chemische Waffen zu verfügen – unterzeichnen ein bilaterales Abkommen über ein völliges Verbot dieser Waffen. (FAZ, 20.8.92)

31. August 1992

Die Vereinten Nationen haben etwa ein Jahr nach Ende der Dritten Überprüfungskonferenz der B-Waffenkonvention erst von 33 der über 120 Vertragsstaaten Erklärungen über Daten erhalten, die den Vertrag betreffen. Während der Dritten Überprüfungskonferenz war ein Austausch der Daten als Vertrauensbildende Maßnahme vereinbart worden.

3. September 1992

Nach über zwanzig Jahren beenden die 39 Delegationen der Genfer Abrüstungskonferenz die Verhandlungen über ein umfassendes Verbot chemischer Waffen. Der endgültige Vertragsentwurf, der 193 Seiten umfaßt, wird im Konsens verabschiedet und den Vereinten Nationen in New York zur Billigung zugeleitet. (siehe Artikel in diesem Heft)

6. September 1992

Das deutsche Unternehmen LURGI, an dem MBB und damit auch Daimler Benz beteiligt sind, schließt einen Kooperationsvertrag mit einer russischen Firma über eine Zusammenarbeit bei der Vernichtung der chemischen Waffen der früheren Sowjetunion ab. Auch die Firma Uhde, eine Höchst-Tochter, sowie die Unternehmen Diehl und Köhler haben ihr Interesse an entsprechenden Vereinbarungen bekundet. Zuvor hatte sich eine russische Delegation, der auch Anatoli Kunzewitsch angehörte, auf Einladung von LURGI in der Kampfmittelbeseitigungsanlage im niedersächsischen Munster über das dort angewandte Verbrennungsverfahren informiert. Die Anlage in Munster wurde von LURGI entwickelt und hergestellt. (Trust and Verify, September 92)

9. – 14. September 1992

In Biesenthal, nahe Berlin, findet ein internationaler Workshop statt, bei dem ein Programm über »Vakzine für den Frieden« verabschiedet wird. Im Rahmen dieses Programms soll die bisherige Schutzforschung im B-Waffenbereich in Maßnahmen zu weltweiten Schutzimpfungen unter der Verantwortung der Vereinten Nationen umgewidmet werden. Somit könnte diese Forschung aus der Domäne des Militärischen herausgenommen und für friedliche Zwecke eingesetzt werden. (Erhard Geissler, „Vaccines for peace: an international program of development and use of vaccines against dual-threat agents “, in: Politics and Life Sciences, Nr. 2 (August) 1992, S. 231-243)

23. September 1992

In einem Interview mit dem Regierungsorgan »Rosijskije Westi« erklärt der Vorsitzende des »Komitees für Probleme der chemischen und biolgischen Waffen« Kunzewitsch, die Sowjetunion habe auch nach der Ratifizierung der BW-Konvention weiterhin in diesem Bereich geforscht und produziert. Erst als die Vereinten Nationen im Jahr 1985 einen Bericht über die Einhaltung der Konvention anforderte, seien diese Aktivitäten eingeschränkt worden. Jedoch seien die Tätigkeiten erst 1992 endgültig eingestellt worden. (FR, 24.9.92)

24. September 1992

Im Irak beginnt die Vernichtung der chemischen Waffen in einer Anlage in Muthanna, das unter dem Namen »Samarra« als CW-Produktionszentrum bekannt wurde. 350 Liter des Nervengases GB werden mit Hilfe von Hydrolyse-Verfahren unschädlich gemacht. Nach Auskunft des Leiters einer UN-Inspektionsgruppe sind fast alle irakischen Chemiewaffen nach Muthanna transportiert worden. (FR, 30.9.92)

1. Oktober 1992

Der US-Kongreß verlängert den Zeitraum für die Vernichtung der unitären chemischen Waffen der USA bis 31.12.2004. (102nd Congress, 2nd Session, House of Representatives, Report 102-966, National Defense Authorization Act for Fiscal Year 1993: Conference Report to Accompany HR 5006, 1.10.92)

6. Oktober 1992

Das Mannheimer Landgericht verurteilt den ehemaligen Mitgeschäftsführer der Imhausen Chemie GmbH, Hans-Joachim Renner, dem eine Beteiligung an Planung und Bau der Chemiefabrik im libyschen Rabta vorgeworfen wurde, wegen Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung. (taz, 7.10.92)

3. November 1992

Vor dem Landgericht Mannheim beginnt der vierte Prozeß um die Beteiligung bundesdeutscher Unternehmen an Planung und Bau einer Kampfstoffanlage im libyschen Rabta. Der frühere Geschäftsführer der Salzgitter Industriebau (SIG), Andreas Böhm, soll wegen der Zusammenarbeit mit der Imhausen Chemie GmbH bei Exporten nach Libyen gegen das Außenwirtschaftsgesetz verstoßen haben. Der Prozeß erhält seine besondere Brisanz durch die Tatsache, daß sich die SIG zum damaligen Zeitpunkt im Besitz der Bundesrepublik Deutschland befand. (FAZ, 4.11.92)

9. November 1992

Wie der Leiter eines Inspektionsteams der Vereinten Nationen mitteilt, wurde im Irak mit der Verbrennung von Senfgas begonnen, das etwa drei Viertel des irakischen Chemiewaffenarsenals ausmacht. Täglich sollen etwa 3,5 Tonnen vernichtet werden, so daß der Vernichtungsprozeß in etwa einem Jahr abgeschlossen werden könnte. (FR, 11.11.92)

9. November 1992

Im Unterauschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestags findet eine Anhörung zu »Neue Waffentechnologien unter dem Aspekt der vorbeugenden Rüstungskontrolle« statt, bei der auch zu Fragen der chemischen und biologischen Waffen Stellung bezogen wird.

12. November 1992

Der Politische Auschuß der Vereinten Nationen verabschiedet den Entwurf der CW-Konvention, der von 146 Staten eingebracht worden war, im Konsens. (FR, 13.11.92)

30. November 1992

Die Vollversammlung der Vereinten Nationen billigt einstimmig den Entwurf der CW-Konvention. Die Konvention wird während einer internationalen Konferenz in Paris vom 13. bis 15. Januar 1993 zur Unterzeichnung ausliegen. (SZ, 2.12.92)

16. Dezember 1992

Die Bundesrepublik Deutschland und Rußland schließen ein Abkommen über Abrüstungshilfe ab. Darin verpflichtet sich die Bundesregierung, unentgeltliche Hilfe bei der Vernichtung von chemischen Waffen im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation zu leisten. Die „Vertragsparteien einigen sich auf konkrete Maßnahmen, die zum Ziel haben, der russichen Seite eine möglichst baldige, verläßliche und sichere Eliminieurng dieser Waffen unter angemessener Berücksichtigung der Unversehrtheit der Umwelt zu ermöglichen“. (Bulletin der Bundesregieurng, 22.12.92)

Die neue Chemie-Waffen-Konvention

Die neue Chemie-Waffen-Konvention

Ein umfassendes Vertragswerk zur Ächtung eines Massenvernichtungsmittels

von Dieter Wöhrle

Die neue Konvention zum umfassenden Verbot chemischer Waffen ist endlich Realität. Dieter Wöhrle, der sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit seit Jahren gegen chemische Waffen einsetzt, berichtet über wesentliche Inhalte der Konvention und arbeitet dazu auch Historie und Umfeld auf.

Seit dem Ersten Weltkrieg wurden chemische Waffen d.h. chemische Verbindungen als Kampfstoffe und die dazu gehörende Waffentechnologien systematisch entwickelt und in großen Mengen produziert. Die Möglichkeit eines Einsatzes dieser Kriegsmittel verbreitete in der Zivilbevölkerung stets Angst und Schrecken. Dieses soll entsprechend dem Wortlaut und Ziel einer neuen Chemie-Waffen Konvention bald der Vergangenheit angehören. In Genf wurde nach über 20 Jahren Verhandlungen (über 600 Sitzungen) in der »Conference of Disarmament« und seinem »Ad Hoc Committee on Chemical Weapons« eine neue Konvention bestehend aus Report, Anhängen und Anlagen auf 234 Seiten (mit dem Vertragstext auf 193 Seiten) erarbeitet, im November 1992 von der UNO Generalversammlung übernommen und am 15.1.93 in Paris von Vertretern von 130 Staaten unterzeichnet. Die Konvention – von unbegrenzter Dauer – tritt 180 Tage nach der als letzten Schritt noch ausstehenden Ratifizierung durch die Parlamente oder Regierungen von mindestens 65 Staaten aber wegen der komplexen Vorbereitungen frühestens am 1.1.1995 in Kraft. Schon im Titel der Konvention kommen die vorgesehenen umfassenden Regelungen, die nicht nur die Verwendung in militärischen Auseinandersetzungen verbieten, zum Ausdruck:

„Draft Convention on the Prohibition of the Development, Production, Stockpiling and Use of Chemical Weapons and Their Destruction“

In seinen Ausführungsbestimmungen ist die Konvention als Jahrhundertwerk im Bemühen um Abrüstung zu bezeichnen und weist uns einen vielversprechenden Weg in das 21. Jahrhundert. Die chemischen Waffen werden umfassend definiert und Verifikationsregelungen greifen tief in das Herz der chemischen Industrie. Beginnend im Ersten Weltkrieg ließen sich Wissenschaftler und Chemische Industrie von militärischer Seite mißbrauchen. Dieses wird bei konsequenter Umsetzung der Konvention, zum Vorteil auch des Ansehens der Chemie in der Öffentlichkeit, der Vergangenheit angehören.

Zunächst soll kurz der lange und schwierige Weg zu dieser Konvention aufgezeigt und die aktuelle Situation erläutert werden, ehe auf Konvention und die Notwendigkeit ihres Abschlusses eingegangen wird.

Wie es dazu kam: Substanzen als Massenvernichtungsmittel

Berichte über die kriegerische Verwendung giftiger Gase, Dämpfe und Rauche (z.B. schwefel- und arsenhaltige Verbindungen) reichen bis in das Altertum zurück. Schon die Römer sagten: „Armis bella, non venis geri.“ (Krieg soll mit Waffen ausgetragen werden, aber nicht mit Giften.) Der bekannte Berliner Toxikologe Lewis Lewin schrieb in seinem Buch „Die Gifte der Weltgeschichte“: „Mit der in Europa wachsenden Gesittung wuchs auch eine instinktive Scheu vor dem Gifte als Kriegsmittel: Römer und Griechen, Feldherrn, Dichter, Philosophen und Geschichtsschreiber konnten nicht genug warnende Worte finden, um schon nur den Gedanken als Beleidigung menschlicher Würde und Gesittung zurückzuweisen, daß man seinen Feind durch heimtückisch beigebrachtes Gift oder im offenen Kampf durch schwirrenden Pfeil als Giftträge töten sollte“1. Völkerrechtlich interessant ist ein 1675 in Straßburg zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich abgeschlossener Friedensvertrag, der u. a. eine Festlegung zum Verbot „giftiger Kugeln“ enthält. Erwähnt werden soll noch eine im Rahmen des amerikanischen Bürgerkrieges 1863 festgelegte Kriegsverordnung: „Wer Gifte verwendet, stellt sich damit außerhalb des Rechts und jedes Kriegsbrauchs.“ Auch die Petersburger Deklaration von 1868 und die Brüsseler Landkriegsdeklaration von 1874 weisen auf den Mißbrauch technischer Mittel hin. Das Aufblühen der chemischen Industrie als Wirtschaftsfaktor ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts ermöglichte die Großproduktion chemischer Elemente und Verbindungen. Damit wurde von allen Industriemächten der mögliche Einsatz von Giftstoffen ernsthaft diskutiert und dessen Verbot in den Konferenzen von Den Haag 1899 und 1907 präzisierter im Vergleich zu den bisherigen Verordnungen festgehalten. So heißt es im Artikel 23 zum IV. Haager Abkommen von 1907 (sogen. Haager Landkriegsordnung): „Abgesehen von den durch Sonderverträgen aufgestellten Verboten, ist namentlich untersagt: a) die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen; b) der Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötig Leiden zu verursachen … .“ Es ist bemerkenswert, daß alle europäischen Staaten und auch die USA dieses Abkommen unterzeichnet haben. Diese Ächtung lediglich Gebrauch/Verwendung betreffend verhinderte dann überhaupt nicht, daß mit dem weiteren raschen Aufschwung der chemischen Industrie in vielen Staaten (in Deutschland in den Konzernen der Farbenindustrie) daran gearbeitet wurde, den miltärischen Einsatz von Giften zu ermitteln. Im Ersten Weltkrieg wurden dann erstmals industriell in großen Mengen hergestellte Chemikalien als Kampfstoffe verfügbar und großflächig eingesetzt. In einer SIPRI-Monographie wird der Weg der chemischen Waffen bis in die 70er Jahre detailliert aufgearbeitet2. Eine regelmäßig erscheinende Zeitschrift berichtet detailliert über die aktuelle Situation.

Ausgehend von der Situation im Ersten Weltkrieg kann die Entwicklung der chemischen Waffen bis in die heutige Zeit in drei Phasen unterteilt werden.

1. Phase: Einführung als Massenvernichtungsmittel im Ersten Weltkrieg.

132.000 Tonnen Kampfstoffe wurden produziert und 113.000 Tonnen wurden eingesetzt. Die Kampfstoffe umfassen 45 verschiedene Verbindungen (18 »mehr« tödliche und 27 »mehr« reizende). Die Bilanz waren 91.000 Tote (d.h. jeder 10. Getötete) und 1.200.000 Verletzte durch chemische Kriegsführung2. In den chemischen Waffenarsenalen haben sich bis heute nur wenige Verbindungen gehalten wie z.B. 2,2'-Dichlordiethylsulfid (HD, S-Lost, Yperit, Mustard-Gas) und das Ende des Krieges entwickelte Lewisit. Die Namen großer Wissenschaftler sind mit der Entwicklung der Kampfstoffe (z.B. F. Haber) und dem Engagement gegen diesen Mißbrauch verknüpft (z.B. H. Staudinger)2,4.

Die Verwendung von C-Waffen im Ersten Weltkrieg war nicht kriegsentscheidend. Die schrecklichen Leiden der Betroffenen waren ein Anlaß für das Genfer Protokoll von 1925: „Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie bakteriologischen Mitteln im Kriege.“ Dieser Vertrag, eigentlich eine Wiederholung der erwähnten Haager Landkriegsordnung und bis heute von über 100 Staaten ratifiziert, bezieht sich wieder nicht auf die Entwicklung, Produktion und jegliche Art der Verifikation chemischer Waffen. Damit konnten sich die C-Waffen substanziell und technologisch weiter entwickeln.

2. Phase: Stabilisierung als Massenvernichtungsmittel in den 20er Jahren bis Ende des Zweiten Weltkrieges.

Zu geringe Seßhaftigkeit, zu schnelle Hydrolyse der reaktiven Verbindungen im Gelände, nicht ausreichende Giftigkeit (d.h. der mengenmäßig zu große Einsatz im Gelände) führten auf Basis der im Ersten Weltkrieg gemachten Erfahrungen in vielen Ländern zum Aufbau großer Forschungs- und Enwicklungseinrichtungen für bessere Kampfstoffe (z.B. Edgewood Arsenal in USA, Porton Down in England, Chalai-Meudon, Satory, Entresin in Frankreich, Italien das Servizio Chimico Militare, in Deutschland in verschiedenen Chemiefirmen, Japan in der Nähe von Tokyo). In dieser Zeit entwickelte und produzierte Kampfstoffe sind – insbesondere die auf deutscher Seite – zunächst aus der Insektizidforschung hervorgegangenen phosphororganischen Tabun (1936), Sarin (1938) und Soman (1944) sowie die N-Loste und auf Alliierter Seite als Gegenreaktion das ebenfalls phosphororganische DFP (Diisopropylfluorphosphorsäureester) zu erwähnen. Deutschland verfügte am Ende des Zweiten Weltkrieges über 12.000 t Tabun, 400 t Sarin, etwa 50 t Soman und umfangreiche Vorräte an »klassischen« Kampfstoffen Phosgen, S-Lost, N-Lost und den arsenorganischen Giften Clark I, II. Die britischen und amerikanischen Vorräte bestanden neben DFP primär aus Losten und Phosgen. Zum Einsatz dieser hochtoxischen Verbindungen kam es aus verschiedenen Gründen nicht2,4. Auch die jede Menschenwürde verachtende Tötung von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern durch Zyklon B (Cyanwasserstoff unter Zusatz geringer Mengen Reizstoff adsorbiert auf Kieselgur) und zahllose Menschenvesuche mit Kampfstoffen dürfen nicht vergessen werden5.

3. Phase: Zunahme der Verbreitung; Spezialisierungen im verbindungs- und waffentechnischen Bereich durch zunächst Ost-West- und dann Nord-Süd-Konflikt.

Zwischen 1952 und 1953 wurden an drei Orten – durch Tammelin in Schweden, Ghosh in England, Schrader bei Bayer – neue phosphororganische Nervenkampfstoffe, die sogen. V-Kampfstoffe, entdeckt, von denen das VX in größeren Mengen produziert wurde. Dazu kamen weitere Erkenntnisse über Toxine als chemische Waffen (Toxine: toxische Substanzen natürlichen Ursprungs wie Pilz-, Bakterien- oder Schlangengift; Toxine können auch synthetisch hergestellt werden und sind den chemischen Kampfstoffen zuzurechnen)4,6. Die Tabelle zeigt, daß die Toxizitätswerte der Kampfstoffe mit fortschreitender Zeit ihrer Entwicklung immer kleiner wurden. Waffentechnologisch haben die binärer chemischer Waffen eine gefährliche technologische Entwicklung eingeleitet9,10. Der letzte Schritt der Kampfstoffsynthese vollzieht sich durch Mischung zweier Komponenten nach Abschuß der Granate oder Abwurf der Bombe. Konsequenz ist, daß die weniger toxischen Schlüsselprodukte durch den zivilen Bereich der Industrie bereitgestellt werden können, Lager- Handhabungs- und Entsorgungsprobeme weitgehend entfallen. 1954 wurde in den USA mit der Entwicklung binärer Granaten auf der Basis von Sarin und Bomben auf der Basis von VX begonnen. Die Produktion wurde inzwischen eingestellt.

Bestandsaufnahme

Die Zahl der C-Waffen besitzenden Länder hat zugenommen: 6 Länder in den 60er Jahren und heute 20-30 Länder. C-Waffen sind, soweit Grundstoffe, Anlagenteile und Know-how zur Verfügung stehen, ein preiswertes militärisches Mittel: Angriff auf eine 1 km² Fläche kosten mit konventioneller Munition ca. 2000, mit Kernwaffen ca. 800, dagegen mit C-Waffen nur 600 US-Dollar12. Mit C-Waffen belegtes Gelände ist auch nur einige Stunden bis Tage verseucht. Die Verbreitung der Binär-Technologie würde der Weiterverbeitung Tür und Tor öffnen. Obwohl chemische Waffen bisher nie einen Krieg wirklich entschieden haben, ist die Angst in vielen Staaten vor den Folgen des Einsatzes der Kampfstoffe (grausamer Tod, oft lebenslanges Leiden durch chronische Erkrankungen und Spätfolgen) mitentscheidend für viele Länder, die neue Konvention zu unterzeichnen. Betroffen ist in jedem Fall die ungeschützte Zivilbevölkerung und nicht so sehr der Soldat einer modern ausgerüsteten Armee: Bei Ausbringung von 4 t Sarin über 6 km wird bei einer Windgeschwindigkeit von 3m/s eine Fläche von 30 km² belastet. Werden Schutzmasken/-kleidung vor dem Auftreten der Kampfstoffwolke angezogen, so werden keine Todesfälle und 5% Geschädigte zu erwarten sein. Ungeschützt ergeben sich ca. 80% Todesfälle und 20% Geschädigte12 (zum umfassenden Angebot von Geräten für Schutz des Militärs s. 11). Behandlungen mit Antagonisten und Antidoten ist bei vergifteten Personen in Realita kaum leistbar8,10. Zuletzt wurden in größeren Mengen C-Waffen im Krieg Irak-Iran (1980-88) eingesetzt. Die Bilder der Kurdenstadt Halabja, wo am 17.3.88 bei einem C-Waffen Angriff Iraks ca. 5000 Menschen (75% Kinder und Frauen) umkamen, sind nicht vergessen3 (Irak hat als einer der wenigen Länder am 15.1.93 in Paris die neue Konvention nicht unterzeichnet!).

Heute werden weltweit etwa 90.000 bis 100.000 t Kampfstoffe (munitioniert und in Kanistern) bevorratet (ca. 40.000 t in Rußland, 28.000 t in den USA). Dabei handelt es sich auf jeden Fall um (genaue Angaben weiterer Verbindungen sind erst nach Inkraftreten der Konvention möglich) (Überblick über Kampfstoffe s.13, 14):

  • Nervengifte: Tabun, Sarin, Soman, VX
  • Hautgifte: S-Lost, N-Loste, Lewisit
  • Lungengifte: Chlorpikrin, Phosgen
  • Zellatmungs-, Zellstoffwechselgifte: Blausäure, Chlorcyan
  • Psychogifte: ev. Bz
  • Reizstoffe: CN, CS, ev. CR, Clark, Adamsit

Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums würden nur noch 7% der Bestände weitgehend den gegenwärtigen Anforderungen entsprechen. Die Amerikaner haben zuletzt 1969 produziert, die russischen Vorräte sind ev. noch älter. Dies bedeutet, daß durch die zunehmenden Gefahren bei der Lagerung und Handhabung auf jeden Fall d.h. mit und ohne die neue Konvention eine Vernichtung der Bestände erfolgen muß.

Toxizidätsdaten einiger Kampstoffe7), 8)
Kampfstoff* Konzentrations-Zeitprodukt
in mg.min/m3 bei Einwirkung als Aerosol oder Gas. Bei 50 % der betroffenen Personen
Tödliche Menge
in mg/kg bei z.B. percutaner Anwendung
Kampf /
Aktionsun- fähigkeit
Tod
ECt50 ICt50 LD50
Blausäure
(WK 1)
3000 1000 1
Phosgen
(WK 1
120 3200
Lewisit
(WK 1)
20 1200 0,5
S-Lost
(WK 1)
100 1500 0,2
Tabun
/1936)
100 150 0,08
Sarin
(1938)
15 100 0,025
Soman
(1944
25 70 0,01
VX
/1953)
5 10 0,007
Botulinus 0,001 0,02
Toxin A (oral)
* in Klammern: Entwicklung / Einsatz als Kampfstoff

Damit ist eigentlich die Notwendigkeit, zu einer neuen umfassenden Konvention zu gelangen, hinreichend begründet.

Der Weg zur neuen Konvention wurde durch weitere Vereinbarungen vorgegeben:

1975 UNO „Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung von bakteriologischen und Toxinwaffen“. Nicht verboten wurde der Bereich Forschung, und besonders nachteilig ist die im Vergleich zur neuen C-Waffen-Konvention fehlende Verifikation. In der Präamble der B-Waffen-Konvention ist der Hinweis enthalten, daß „…wirksame Maßnahmen auch für das Verbot der Entwicklung, Produktion und Lagerung chemischer Waffen…“ vorangetrieben werden sollen. Seit 1969 ist chemische Abrüstung eines der beiden Haupttheman des Genfer UN Committee of Disarmament (CD). Dieses wurde zur effektiveren Arbeit 1980 mit einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe verbunden seit 1982 mit einem erweiterten Mandat versehen. Biliaterale Vehandlungen zwischen den USA und der UdSSR/Rußland haben den Weg weiter geebnet (z.B. Abkommen die C-Waffen in 10 Jahren auf Restmengen von jeweils 3000 t zu reduzieren).

Von deutscher Seite gingen nach dem Zweiten Weltkrieg positive Initiativen aus: WEU Protokoll Nr. III über Rüstungskontrolle von 1954, in dem sich die Bundesrepublik verpflichtet, „…Atomwaffen, chemische und biologische Waffen in ihrem Gebiet nicht herzustellen…“. Vor-Ort-Kontrollen wurden mit dem Ziel der Überprüfung der Nichtherstellung in der chemischen Industrie durchgeführt. Damit wurde ein neuer Weg, die Verifikation, erstmals beschritten. Exportkontrolle von 35 Chemikalien als C-Waffen-Rohstoffe oder -Schlüsselprodukte16 (teilweise identisch mit der »Australischen Initiative«, ein Zusammenschluß von 20 Industrieländern zur Exportkontrole von diesen Chemikalien). Entscheidende Initiativen von deutscher Seite in dem CD Ad-hoc Committee durch ihren letzten Vorsitzenden A. Ritter von Wagner

Die neue C-Waffen Konvention: Grundsätzliche Regelungen

Die Konvention listet nicht-erlaubte und erlaubte Tätigkeiten auf.

Jeder Vertragsstaat wird niemals etwas unternehmen („undertakes never under any circumstances“): zur Entwicklung, Produktion, Erwerbung, Lagerung, direkten bzw. indirekten Weitergabe chemischer Waffen, zur Verwendung chemischer Waffen in jeder Art von militärischen Konflikten, zur Unterstützung von Tätigkeiten jeglicher Art, die durch die Konvention nicht erlaubt sind.

Nicht verboten sind: industrielle, landwirtschaftliche, forschungsmäßige, medizinische, pharmazeutische oder andere friedliche Zwecke; Schutzzwecke gegen C-Waffen; militärische Zwecke, nicht im Zusammenhang mit C-Waffen; nationale Regelungen zu Reizkampfstoffen (als Mittel zur Kriegsführung aber nicht erlaubt). Die Hoffnung, Reizkampfstoffe in nationalen Konflikten zu verbieten, hat sich nicht erfüllt.

Einzelheiten werden in 24 Artikeln und 3 Anhängen detailliert ausgeführt:

  • Definition der CW (Artikel II)
  • Deklaration bestehender Bestände (Artikel III)
  • Zeitplan für Abbau der CW und Anlagen (Artikel IV, V)
  • Maßnahmen, Aufgaben und nicht unter den Vertrag fallende Aktivitäten der Unterzeichnerstaaten (Artikel VI, VII, X, XI)
  • Aufbau und Aufgaben der Internationalen Organisation für das Verbot der CW (Artikel VIII, IX, XII, XIV)
  • Verifikationsregelungen (Artikel IX)
  • Änderungsvorschläge zur Konvention (Artikel XV)
  • Erfaßte Chemikalien (Anhang 1)
  • Einzelheiten zu Deklaration, Abbau und Verifikation (Anhang 2)
  • Schutz vertraulicher Informationen (z.B. aus der Industrie) (Anhang 3)

Geltende Regelungen, wie das Genfer Protokoll von 1925 und die B-Waffen-Konvention von 1975, werden nicht angetastet.

Definition chemischer Waffen

Die Definition von C-Waffen war in den vielen Jahren der Abrüstungsbemühungen immer ein schwieriger Punkt. Die Konvention orientiert sich nun klar einzelnen Zweckkriterien im Zusammenhang mit folgenden Punkten:

  • toxische Chemikalien – verursachend Tod, zeitweise Außergefechtsetzung, permanente Schädigung von Mensch und Tier – und ihre Vorprodukte;
  • damit verbundene Munition und Ausbringungsmittel;
  • damit verbundene sonstige Ausrüstungsgegenstände.

Binäre C-Waffen und ihre Schlüsselprodukte, Reizstoffe und Toxine werden damit ebenso erfaßt wie Produktionsanlagen. Leider wurde das bereits 1979 von den USA und der UdSSR eingebrachte und detailliert festgelegte Toxizitätskriterium wieder fallen gelassen, welches die Chemikalien mit LCt50–und LD50-Werten (s. Tab. 1) in supertoxisch-tödliche, sonstige tödliche und sonstige schädliche Verbindungen klassifiziert. Damit wäre die Aufnahme neuer Verbindungen in den sogenannten Listen (Schedules, s. weiter unten) mit eindeutigen Produktionsverboten oder -kontrollen erleichtert. Herbizide werden leider nicht mit aufgenommen, es wird aber in der Präambel auf internationale Verbote des Gebrauchs dieser Verbindungen hingewiesen (s. auch 15).

Deklaration und Beseitigung vorhandener chemischer Waffen und Produktionsanlagen

30 Tage nach Vertragsbeitritt eines Staates müssen deklariert werden (genauere Pläne teilweise nach 90 Tagen):

  • chemische Waffen (Art, Menge der Verbindungen und Munition, geographische Lage der CW). Dies betrifft auch alte C-Waffen, hergestellt vor 1925 und zwischen 1925 und 1946, die auch beseitigt werden müssen;
  • Produktionsanlagen für chemische Waffen ab 1946 (Art, genaue Lage der Anlagen) mit einer Produktionshöhe von mehr als 1 t pro Jahr.

Die Beseitigung aller deklarierten Bestände beginnt bei den C-Waffen 2 Jahre und den Anlagen 1 Jahr nach Vertragsratifizierung und zieht sich in bestimmten Abschnitten mit jährlichem Vorlegen der Pläne über 10 Jahre hin (in Ausnahmefällen 15 Jahre). Diese Maßnahmen stehen unter Vor-Ort-Kontrolle der Internationalen Organisation.

Die Beseitigung vorhandener Bestände ist technisch gelöst, aber nicht ohne Probleme. Die zwischen 90.000 – 100.000 t gelagerten Vorräte, dürfen laut Konvention nicht ins Meer oder aufs Land geschüttet bzw. offen verbrannt werden. Spezielle Anlagen müssen gebaut werden.

Für die Beseitigung der chemischen Kampfstoffe bestehen folgende Möglichkeiten:

  • Verbrennung bei hohen Temperaturen mit Rauchgaswäsche,
  • Hydrolyse der reaktiven Bindungen und Deponierung der entstandenen Produkte,
  • Rückführung in den zivilen Produktionsprozeß unter ev. chemisch gezielter Umwandlung.

Die Rückführung in den zivilen Produktionsprozeß sollte bei Verbindungen wie Cyanwasserstoff und Phosgen eine geeignete Möglichkeit sein. Die Methode wurde auch bei den Losten und phosphororganischen Verbindungen diskutiert17, ist aber wegen der Gefahren bei der Durchführung und dem Aufbau entsprechender Anlagen ein Problem. Photochemische und biochemische Abbauprozesse sind bisher nicht technisch umgesetzt. Die Hydrolyse schafft das Problem anschließender Deponierung. Die Methode der Wahl ist nach Ansicht des Autors, insbesondere bei Losten und phosphororganischen Verbindungen die oxidative Verbrennung bei hohen Temperaturen mit Rauchgaswäsche (für HCl, HF, SO2, P4O10)18,19. Umfangreiche Studien und Gutachten wurden von amerikanischer Seite vorgelegt18, aber auch kritisch gesehen (mögliche Dioxinfreisetzung)20. Die einzige Großanlage ist von den Amerikanern auf dem Johnston-Atoll in Betrieb genommen worden19. Für die Beseitigung chemischer Waffen werden dort 4 Verbrennungsvorgänge verwendet: chemische Kampfstoffe, kontaminierte Explosivteile, kontaminierte Restteile, Vorratsbehälter/Tanks von nicht munitionierten Kampfstoffen. Die Kosten dieser Anlage betrugen 240 Mill. US-Dollar. Weitere 8 Anlagen sind auf dem amerikanischen Festland in Planung18. Eine bessere Methode, halbtechnisch in den USA erprobt, verspricht die Kryofraktur für munitionierte Kampfstoffe zu werden. Hier wird die C-Waffe insgesamt mit flüssigem Stickstoff gekühlt, zerkleinert und das Gemisch in einem Schritt verbrannt. Die einzige größere Anlage in Rußland – in Chapayevsk – mit einer Kapazität von 300 – 400 t Kampfstoffen pro Jahr, arbeitend als Hydrolyse mit heißem Ethylenglykol/2-Aminoethanol, mußte wegen Anwohnerprotesten stillgelegt werden. Rußland verfügt z.Z. über keine großtechnische Beseitigungsanlage. Die Entsorgung chemischer Kampfstoffe ist etwa 10mal so teuer wie ihre Herstellung. Man rechnet für 1 t etwa 120.000 DM an Kosten. Rußland wurde am Rande der Konferenz in Paris von deutscher Seite sowohl finanzielle als auch technische Hilfe im Rahmen eines neu gegründeten deutsch-russischen Gemeinschaftsunternehmens angeboten. In Udmurtien, wo etwa 7.000 t Lewisit lagern, ist eine Anlage vorgesehen, die nach dem Vorbild einer kleineren Verbrennungsanlage in der »Wehrwissenschaftlichen Dienststelle der Bundeswehr für ABC-Schutz« in Munster arbeitet

Zu kontrollierende Verbindungen bzw. Verbindungsklassen und Anlagen

Parallel zum Abbau und danach werden einschneidende Verifikationen durchgeführt. Diese beziehen sich natürlich auf die wie oben definierten chemischen Kampfstoffe insgesamt, betreffen aber mehr im Detail einzelne chemische Verbindungen oder Verbindungsklassen. Interessant sind drei Listen (Schedules) von Chemikalien (29 einzelne Verbindungen und 14 Substanzklassen), welche die Kampfstoffe selbst und wichtige Vorprodukte betreffen. Die drei Schedules sind im Wortlaut, wie in der Konvention enthalten, im folgenden aufgeführt.

Im Anhang 1 der Konvention sind unter anderem drei Listen enthalten, welche die Kampfstoffe selbst und wichtige Vorprodukte erfassen. Einige der Substanzen sind hier zusammengestellt:

Schedule 1

Toxische Substanzen: O-Alkyl-alkyl-fluorphosphonsäuren (z.B. Sarin, Soman); O-Alkyl-N,N-dialkylaminocyanphosphorsäure (z.B. Tabun); O-Alkyl-S-[2-(dialkylamino)ethyl]-alkyl-thiophosphonsäuren (z.B. VX); S-Lost (und verwandte Verbindungen); Lewisite; Stickstoff-Lost (und verwandte Verbindungen); Saxitoxin; Ricin. Vorstufen: Alkyldifluorphosphonsäuren; O-Alkyl-O-[2-dialkylamino)ethyl]-alkyl-phosphonit (z.B. QL); Chlorsarin; Chlorsoman.

Schedule 2

Toxische Substanzen: Amiton (O,O-Diethyl-S-[2-(diethylamino)ethyl]phosphorothiolat); PFIB (1,1,3,3,3-Pentafluor-2-[trifluormethyl]-1-propen); BZ (3-Chinuklidinbenzilat). Vorstufen: zahlreiche Phosphorstickstoff-Verbindungen, z.B. N,N-Dialkylaminophosphorsäure-dihalogenide, aber auch Arsentrichlorid und Thiodiglykol.

Schedule 3

Toxische Substanzen: Phosgen, Chlorcyan, Blausäure, Trichlornitromethan (Chlorpikrin). Vorstufen: u.a. Phosphoroxychlorid, Phosphortri- und -pentachlorid. Schwefelmono- und dichlorid, Thionylchlorid und Triethanolamin.

Der Schedule 1 bezieht sich auf Kampfstoffe selbst, für die es – fast – keinen zivilen Bedarf gibt. Enthalten sind unter (9) und (10) die Schlüsselprodukte für Sarin und VX in binären chemischen Waffen und auch unter (7) und (8) Toxine. Für medizinische, pharmazeutische und Schutzzwecke darf nur die Gesamtmenge von 1 t vorhanden sein, und Produktionsraten von mehr als 10 kg pro Jahr dürfen nur in einer erlaubten Anlage stattfinden. Für 100 g Mengen gelten Sonderregelungen. Die Frage ist natürlich, ob basierend auf den Erfahrungen mit kleinen Anlagen in einem Land nicht auch Mißbrauch getrieben werden kann. Die Meinung des Autors dieses Artikels ist, daß auf die 25 Chemikalien bzw. Substanzklassen des Schedule 1 grundsätzlich verzichtet werden sollte.

Die Schedules 2 und 3 enthalten Chemikalien mit sogen. dual use. Hier gibt es keine Produktionsbegrenzung, aber eine strenge quantitative Kontrolle der deklarierten produzierten Menge. Schedule 2 führt einige Kampfstoffe und insbesondere wichtige Schlüsselprodukte mit geringer ziviler Produktionshöhe auf. Je nach Verbindung besteht bei einer Produktionshöhe von 1 kg, 100 kg bzw. 1 t pro Jahr bezogen auf eine Anlage (»plant site«) Deklarationspflicht. Bei zehnfach höherer Produktion erfolgen on-site Inspektionen.

Schedule 3 führt in großem Umfang zivil genutzte Chemikalien auf, die früher als Kampfstoffe verwendet wurden oder Kampfstoffvorprodukte darstellen. Hier liegt die Deklarationspflicht bei 30 t pro Jahr pro »plant site«, verbunden mit einer Inspektion bei einer Produktion von über 200 t pro Jahr.

Für die gefährlichsten Kampfstoffe werden mehrere Synthesebausteine erfaßt, und damit ist ein recht dichtes Netz der Kontrollen vorgegeben:

  • bei der 4-stufigen Synthese von VX nach dem Newport-Verfahren sind es einschließlich VX insgesamt 5 Verbindungen,
  • bei S-Lost ausgehend von Thiodiglykol einschließlich S-Lost 3 Verbindungen.

Während die Weitergabe der Schedule 1 Chemikalien an andere Länder verboten ist, gibt es für die Weitergabe der Schedule 2, 3 Chemikalien an Nicht-Vertragsstaaten besondere Regelungen.

Bedeutend für einen möglichen Mißbrauch bei anderen nicht in den Listen enthaltenden Chemikalien als Kampfstoffe oder entsprechende Vorprodukte sind die folgenden Maßnahmen. Alle Anlagen (»plant sites«) mit einer Jahresproduktion von über 200 t einer organischen Chemikalie oder von über 30 t einer P-, S-, F-enthaltenden Chemikalie unterliegen der Deklaration (Ausnahme: reine Kohlenwasserstoffe und Explosivstoffe). Die P-, S-, F-Verbindungen produzierenden Anlagen können bei mehr als 200 t pro Jahr kontrolliert werden.

Die Kontrollen gehen also sehr weit in den zivilen Bereich der chemischen Industrie hinein. Daher ist verständlich, daß ein strenges Sicherheitsregime d.h. Maßnahmen zur Geheimhaltung für die erhaltenen Daten und Dokumente vereinbart wurde. Generell sind nur allgemeine Angaben politischen Inhalts öffentlich. Andere Angaben unterliegen Genehmigungsverfahren (Anlage 3 der Konvention über Protection of Confidential Information).

Die Konvention gibt keine expliziten Restriktiven für den internationalen Handel mit Anlagen bzw. Anlagenteilen vor, die im »dual-use« (zivil, militärisch) verwendet werden könnten. Ein Vertragsstaat „sollte sich verpflichtet sehen“ Kontrollmaßnahmen und entsprechende Schritte gegen »dual-use« Anlagen, Anlagenteile und Chemikalien einzuleiten. Konkret heißt dies: Alle bereits erwähnten Aktivitäten im Zusammenhang mit C-Waffen sind umfassend verboten. Wenn aber ein Vertragsstaat im löblichen Sinne einer zivilen Verwendung Dinge an einen Nicht-Vertragsstaat verkauft und dieser das dann für die Produktion von C-Waffen mißbraucht, so liegt eine nicht erfaßbare Rechtslage im Sinne des Vertrages vor. Erinnert sei an die Verkäufe von Anlagenteilen aus Deutschland nach Libyen und Irak. Hier können z.Z. nur nationale Regelungen der Vertragsstaaten weiterhelfen. Für Experten ist es zweifelsfrei möglich zwischen Anlagen für zivile Produktion, z.B. von phosphororganischen Pestiziden und militärische Produktion z.B. der Nervenkampfstoffe zu unterscheiden21.

Die internationalen und nationalen Überwachungsorgane

Die internationale Kontrollbehörde (Organization for the Prohibition of Chemical Weapons – OPCW) wird ihren Sitz in Den Haag haben. Diese Behörde soll etwa 1000 Bedienstete bei jährlichen Kosten in der Größenordnung von 150 Millionen Dollar22 beschäftigen. Die OPCW wird in ihrer wichtigsten Struktur aus folgenden Organen bestehen:

  • Generalkonferenz (Conference of the State Parties) als höchstes Organ mit jährlichem Treffen aller Vertragsstaaten. Die Aufgabe besteht u.a. in der Überwachung des Exekutivrates, der Umsetzung der Konvention und Regularien zur OPCW.
  • Exekutivrat (Executive Council) als ausführendes Organ mit 41 Ländern als Mitglieder. Er übernimmt die wesentlichen Leitungsfunktionen bei der Durchführung von Kontroll- und Inspektionsaufgaben. Hier laufen die Kontakte zu den nationalen Behörden der einzelnen Staaten und den Regierungen. Die Arbeit des Technischen Sekretariats wird kontrolliert.
  • Technisches Sekretariat (Technical Secretariat), ein Inspektorat und einen wiss. Beirat enthaltend, für die tägliche Arbeit der unterschiedlichen Verifikationen, geleitet von einem Generaldirektor mit umfassenden Vollmachten und Aufgaben.

Die Vertragsstaaten müssen eine nationale Behörde (in Deutschland in der Rüstungskontrollabteilung des auswärtigen Amtes) gründen, die für die staatlichen Kontakte zur OPCW und anderen Vertragsstaaten verantwortlich ist und für die Umsetzung der Bestimmungen der Konvention zu sorgen hat.

Die komplexe Verifikation und mögliche Sanktionen

Die von dem Technischen Sekretariat der OPCW durchzuführenden umfassenden Maßnahmen stehen im Zusammenhang mit der Deklaration und Vernichtung vorhandener C-Waffen und Anlagen bzw. der komplexen Verifikation zur Nichtherstellung, Lagerung, Gebrauch, Weitergabe und beinhalten genaue Regelungen. Zwei Arten von Kontrollen -nach Beseitigung der C-Waffen und Anlagen werden durchgeführt:

  • Routinekontrollen zur Verifikation der Nichtherstellung (Routine Verification). Erhaltene Daten aus den Vertragsstaaten werden durch on-site-Inspektionen kontrolliert. Dies betrifft auch die Kontrolle jährlicher Berichte der Vertragsstaaten über chemische Schutzzwecke.
  • Verdachtskontrollen auf Forderungen eines Staates gegen einen anderen Staat (on-site Challenge Inspections). Hier kann jeder Ort, wo ein Verdacht zur Nichteinhaltung der Konvention vorliegt, kontrolliert werden. Spätestens 120 Stunden nach Verdachtsvorwürfen eines Staates gegen einen anderen Staat hat sich dieser zunächst detailliert zu äußern. 12 Stunden, nach dem der Exekutivrat die Forderung nach einer Inspektion erhalten hat, hat er über die Durchführung zu entscheiden, die im Falle einer 2/3-Entscheidung des Exekutivrates sofort unter genauen Regeln – z.B. Geheimhaltungsschutz anderer Einrichtungen – vom Technischen Sekretariat durchgeführt wird. Bestätigen sich die Verdächtigungen, so hat die betreffende Seite sofort Maßnahmen zur Abwendung einzuleiten.

In besonders schwerwiegenden Fällen der Verletzung und Nichterfüllung der Maßnahme ist der Weltsicherheitsrat und die Generalversammlung der UNO einzuschalten, die Sanktionen beschließen kann. Werden Vorwürfe gegen Nicht-Vertragsstaaten vorgebracht, so gehen diese zum Generalsekretär der UNO.

Zu guter Letzt

Regelungen zur Änderung der Konvention und Aufnahme weiterer Verbindungen in die Schedules sind nach einem bestimmten Verfahrensablauf gegeben. Wenn nicht anders möglich, so entscheidet die Generalversammlung mit 2/3-Mehrheit. Die Generalkonferenz beruft alle 5 Jahre eine spezielle Sitzung ein, in der die Umsetzung der Konvention und wissenschaftlichen Entwicklungen erörtert werden – auch, um die Konvention auf den aktuellen Stand zu bringen.

Nichts ist ohne Kosten. Die Vernichtung vorhandener Bestände an C-Waffen und Anlagen sowie der Unterhalt der nationalen Behörde hat jeder Staat selbst zu tragen. Diese Kosten gehen in die Milliarden. Die OPCW wird entsprechend dem Finanzanteil der Länder in der UNO geregelt.

Um die Konvention, die wie eingangs erwähnt, am 1.1.1995 in Kraft treten könnte, in ihren komplexen Regelungen auf die Umsetzung vorzubereiten und die OPCW einzurichten, hat ein Vorbereitungskommittee bereits jetzt seine Arbeit aufgenommen.

Trotz aller mit Recht vorgetragener Euphorie zum Vertrag sollte nicht vergessen werden, daß noch einige Lücken im Vertrag zu sehen sind: keine nationale Ächtung der Reizkampfstoffe, keine Erfassung ökologischer Kriegsführung (Herbizide), keine automatische Aufnahme neuer hochtoxischer Verbindungen in die Schedules, nur nationale Kontrollen von Anlagenteilen für möglichen »dual use«.

Ein grausames Massenvernichtungsmittel, daß die Chemie und dessen Ansehen in der Öffentlichkeit mit Recht schwer belastet, kann der Vergangenheit angehören. 130 Staaten haben in Paris unterzeichnet und damit den Willen bekundet, die Konvention auch durch ihre Regierungen zu ratifizieren. Ein Mißbrauch wird durch diese Konvention im schlimmsten Fall immer noch möglich, aber sehr schwer durchzuführen sein. Parteien, Organisationen, Industrie und die Friedensbewegung sollten ihre Forderungen weitgehend als erfüllt ansehen und mit Nachdruck für die Umsetzung der Konvention eintreten. Goethes Worte im „Zauberlehrling“: „Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los“ dürfen anders gewählt werden: „Die ich rief, die Geister, werd' ich nun los“!

Der Beitrag stellt eine leicht geänderte Version des Aufsatzes Die neue Chemie-Waffen-Konvention in Nachr. Chem. Tech. Lab., Märzheft, 1993 dar.

Anmerkungen

1) L. Lewin: Die Gifte der Weltgeschichte, Springer-Verlag, 1920. Reprographischer Nachdruck: Gerstenberger Verlag, Hildesheim, 3. Auflage 1984. Zurück

2) Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): The Problems of Chemical and Biological Warfare, 6 Bde. Stockholm, Almquist and Wiksell, 1971-1975. Die Geschichte der chemischen Waffen ist aufgezeichnet in: The Rise of CB Weapons, Vol. 1, 1973. Zurück

3) Chemical Weapons Convention Bulletin, Quarterly Journal of the Harvard-Sussex-Program on CBW Armament and Arms Limitation, Federation of American Scientists, 307 Massachusetts Avenue NE, Washington DC 20002, USA. Zurück

4) W. Dosch und P. Herrlich (Hrsg.): Ächtung der Giftwaffen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1985 Zurück

5) E. Kogon (Hrg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1986. Zurück

6) E. Geissler: Biological and Toxin Weapons Today, SIPRI, Oxford University Press, 1986. Zurück

7) World Health Organization: Healths Aspects of Chemical and Biological Weapons, Genf 1970. Zurück

8) Verschiedene Artikel über Chemical Defence in: Chemistry in Britain 1988, 657 – 691. Zurück

9) Kh. Lohs und D. Martinetz, Z. Chem. 26, 233 (1986). Zurück

10) D. Wöhrle und D. Meissner, Nachr. Chem. Tech. Lab. 37, 254 (1989). D. Wöhrle: Chemische Waffen. Gibt es einen Weg zurück?, Informationsdienst 1, 22 (1989). Zurück

11) T.J. Gander (Hrg.): Jane’s NBC Protection Equipment, 1988 – 89, Jane’s Information Group, Coulsdon, Surrey CR3 2NX, UK 1988. Zurück

12) Weltföderation der Wissenschaftler: Chemische Waffen und die Folgen ihrer Anwendung, 6 Endsleigh Street, London WC 14 ODX 1986. Zurück

13) Kh. Lohs: Synthetische Gifte, Militärverlag der DDR, Leipzig 1974. Zurück

14) R. Klimmek, L. Szinicz und N. Weger: Kampfstoffe, Wirkung und Therapie, Hippokrates Verlag, Stuttgart 1985. Zurück

15) B. Luber: When the Trees become the Enemy, G. Olms Verlag, Hildesheim 1990. Zurück

16) Sonderdruck des Verbandes der Chemischen Industrie: Für ein weltweites Verbot chemischer Waffen, Frankfurt, 12.1.89. E. Merck: Drogen- und C-Waffenrohstoffe, Darmstadt, 7.5.91. Zurück

17) Kh. Lohs und D. Martinetz: Entgiftung und Vernichtung chemischer Kampfstoffe, Militärverlag Berlin, 1983. Zurück

18) Program Manager for Chemical Demilitarization: Chemical Stockpile Environmental Impact Statement, January 1988, Vol. 1 – 3, Aberdeen Proving Ground, Md 21010-5401. Zurück

19) L.R. Ember: Chem. Eng. News 68, Nr. 33, 9 – 19 (1990). Zurück

20) Greenpeace Review of the »Johnston Atoll Chemical Agent Disposal System«, Washington 1990. Zurück

21) H. Leyendecker und R. Rickelmann: Exporteure des Todes. Deutscher Rüstungshandel im Nahost, Steidl-Verlag, Göttingen 1990. Zurück

22) A. Ritter von Wagner: Interview in Chemische Rundschau Nr. 31, S. 2 vom 31.7.92. Zurück

Prof. Dr. Dieter Wöhrle ist Chemiker an der Universität Bremen.