Gaskrieg, Völkerrecht, Geheimrüstung
Zur Frage der Beschränkung von bakteriologischen und chemischen Waffen in der Zwischenkriegszeit
von Hartmut Stiller
Trotz der Haager Landkriegsordnung von 1899, in der sich einige Staaten dem Verbot unterwarfen, „Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten“1, kam es am 22. April 1915 an der deutsch-französischen Grenze zur Anwendung einer neuen, folgenreichen Waffe. Dieser Ersteinsatz der Gaswaffe von deutscher Seite setzte einen Rüstungswettlauf in Gang, dem fortan kein Einhalt mehr zu bieten war.
Die Kampfstoffe boten den Militärs, vor allem in ihrer Kombination mit der Luftwaffe, ungeahnte neue Möglichkeiten. Erstmals ließ sich wirksam die Zivilbevölkerung in das unmittelbare Kriegsgeschehen miteinbeziehen. Der Kriegsschauplatz verschob sich von der Front bis ins Hinterland hinein, dorthin, wo man das gegnerische Gebiet bislang nur mäßig anzugreifen in der Lage war.Bedenken aus humanitären Gründen wurden aus den militärischen Kreisen zerstreut. Gegenteilig bezeichnete man die neue Waffe als „human“, konnte man durch sie einen Krieg schneller beenden und somit unzählige Menschenleben retten. Man sah die Verletzungen durch Giftgase als weitaus weniger grausam an, als jene von Granaten, wodurch schließlich ganze Körperteile »abgerissen« würden. „Die Einatmung der Blausäure belästigt in keiner Weise. Man kann nicht angenehmer sterben.“2
Zudem räumte die Kriegsnotwendigkeit die letzten Zweifel an dem Einsatz chemischer Kampfstoffe vom Tisch. So schrieb Berthold von Deimling, in dessen Frontabschnitt bei Ypern das Kampfmittel erstmals auf dem Schlachtfeld erprobt wurde, rückblickend: „Aber durch das Giftgas konnte vielleicht Ypern zu Fall gebracht werden, konnte ein feldentscheidener Sieg errungen werden. Vor solch hohem Ziel mußten alle inneren Bedenken schweigen.“ 3
Doch auch die Schrecken dieser neuen Waffe steckten nach dem Weltkrieg noch allzusehr in den Köpfen der Menschen fest. So suchten die Politiker nach Kriegsende Möglichkeiten, die Gefahr eines Giftgaseinsatzes zu reduzieren.
Die Einschränkung des Einsatzes chemischer und bakteriologischer Waffen
Der Versailler Vertrag (1919)
Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag war u.a. ein Versuch der Siegermächte, die deutsche Aggressivität und Kriegsbereitschaft bis auf ein Minimum zu bändigen. Hierfür diktierten die Siegermächte dem »Kriegsschuldigen« ein Verbot der Luftwaffe, der Panzer, der schweren Artillerie und – der Gaswaffe. Der Artikel 171 geht darauf ausdrücklich ein: „Mit Rücksicht darauf, daß der Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen, sowie von allen derartigen Flüssigkeiten, Stoffen oder Verfahrensarten verboten ist, wird ihre Herstellung in Deutschland und ihre Einfuhr streng untersagt.
Dasselbe gilt für alles Material, das eigens für die Herstellung, die Aufbewahrung oder den Gebrauch der genannten Erzeugnisse oder Verfahrensarten bestimmt ist.“4
Im Unterschied zu der Haager Landkriegsordnung von 1899 strebte man nun eine Beschränkung des Bestandes in Form eines Verbotes der Herstellung und der Einfuhr chemischer Waffen sowie deren Voraussetzungen an, nicht nur deren Anwendung. Aber dieser neue Gedanke blieb ein auf Deutschland beschränkter Einzelfall.
Diese Bestimmung war das einzige rechtskräftige völkerrechtliche Übereinkommen, das ein Verbot der Herstellung von C-Waffen beinhaltete. Doch das einseitige Abrüstungsdiktat blieb nicht problemlos, es forderte den Widerstand der militärischen Kreise Deutschlands heraus.
Der Vertrag von Washington (1922)5
1922 rangen sich Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien und die USA auf der Washingtoner Konferenz dazu durch, den Gebrauch erstickender, giftiger oder anderer Gase sowie aller ähnlichen Flüssigkeiten zu verbieten. Jedoch waren deren Herstellung sowie der Handel mit chemischen Waffen nicht in dieses Verbot einbezogen, ein Faktum, welches den Washingtoner Vertrag als einen Rückschritt ins Jahr 1899 degradierte.
Dieses Abkommen wurde zwar von den genannten Staaten unterschrieben, jedoch verweigerten die Franzosen die notwendige Ratifizierung. Damit scheiterte dieser Versuch, den Giftwaffeneinsatz einzuschränken.
Das Genfer Protokoll (1925)
Unterschrieben und ratifiziert wurde dagegen das sogenannte Genfer Gaskriegsprotokoll, dessen Unterzeichnung am 17. Juni 1925 auf amerikanische Initiative hin erfolgte. Das Deutsche Reich beteiligte sich ebenso wie Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien, um nur einige Staaten zu nennen.
Auszugsweise seien hier einige Stellen des Vertrages zitiert: „Die Hohen vertragsschließenden Parteien erkennen, soweit sie nicht schon Verträge geschlossen haben, die diese Verwendung untersagen, dieses Verbot an. Sie sind einverstanden, daß dieses Verbot auch auf die bakteriologischen Kampfmittel ausgedehnt wird, und kommen überein, sich untereinander an die Bestimmungen dieser Erklärung gebunden zu betrachten.“ 6
Ziel des Genfer Protokolls war es zudem, möglichst viele Staaten von der Notwendigkeit des Unterzeichnens zu überzeugen, was ihnen bis heute auch gelang.7
Erstmals wurden hier auch die B-Waffen in das Verbot mit einbezogen. B-Waffen teilen sich in biologische und bakteriologische Waffen auf. Biologische Stoffe werden zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt und sind daher auch weitgehend erlaubt.
Das Genfer Gaskriegsprotokoll hatte aber wiederum den Nachteil, daß es die Herstellung entsprechender Stoffe nicht verbot, lediglich deren Ersteinsatz ächtete. Eine »defensive Vorbereitung« blieb also weiterhin möglich.
Erst durch die Abkopplung von den C-Waffen konnten die Staaten am 16. Dezember 1971 eine Übereinstimmung über ein Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen (sowie deren Vernichtung) erzielen.
Die Geheimrüstung in der Weimarer Republik (1919 – 1933)
In einem Schreiben vom 6. Dezember 1926 an den Reichswehrminister Geßler sprachen die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Hermann Müller-Franken und Otto Wels bedenkliche Aktionen der Reichswehr an: Die »Gefu« (Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen m.b.H.8) habe „der chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg (…) den Auftrag gegeben, in Trozk, Gouvernement Samara (Rußland) eine Fabrik zur Erzeugung von Kriegsgiftgasen einzurichten. Diese Einrichtung erfolgte in den Jahren 1923 bis 1926. Die Fabrik gliedert sich in folgende Abteilungen: Chlorerzeugung, CO-Erzeugung, Phosgen-Erzeugung und Lost-Erzeugung.“ 9
Diese bedenklichen Betätigungen der Reichswehr reichten bis in das Jahr 1919 zurück. Allgemeine Empörung über die strengen Bestimmungen des Versailler Vertrages, vor allem über das Diktat der einseitigen Abrüstung, die »Verlockungen« der »neuen Waffe« und schließlich der Einzug der Franzosen in das Ruhrgebiet (1923) bekräftigten die unzufriedenen Kreise im Deutschen Reich darin, daß man das Hintergehen der Vorschriften als legitime Notwehr ansehen könnte. Da die Siegermächte nicht zur eigenen chemischen Abrüstung bereit waren, spukte die eigene Machtlosigkeit bei einem feindlichem Angriff um so heftiger in den Köpfen des Militärs herum. Die daraus gezogene Rechtfertigung, sich schützen zu dürfen, beinhaltete bald die Legitimation, dies auch mit eigenen Waffen zu tun. Die Militärs strebten daher nach einer engeren Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. Durch die Fortentwicklung der chemischen Waffe erhoffte sich die Reichswehr zudem, den Mangel an konventioneller Rüstung ausgleichen zu können.
Durch taktisches Geschick gelang es, beachtliche Bestände aus dem Ersten Weltkrieg zu retten. In Breloh bei Munster, wo die Restbestände von fertigen und halbfertigen Gaskampfstoffen unter Aufsicht der Alliierten zusammengetragen wurden, kam es am 24. Oktober 1919 zu einer folgenreichen Explosion in einer der drei Breloher Fabriken. In den darauffolgenden Jahren mußten Aufräumarbeiten angeordnet werden, von denen man die alliierten Kontrollkommissionen mit dem Hinweis auf den hohen Zerstörungsgrad und den Gefahren vor Ort gezielt fernzuhalten verstand.
Langjähriger Leiter der Aufräumungsarbeiten in Breloh war Dr. Hugo Stoltzenberg, der in den folgenden Jahren darum bemüht war, mit der bereitwilligen Unterstützung der militärischen Stellen einen erneuten Aufbau einer fabrikatorischen Basis für Gaskampfstoffe zu erreichen. Dieser Neuaufbau wurde notwendig, da der ehemalige Produzent, der IG-Farben-Konzern, unter internationaler Kontrolle stand und die alten Anlagen hauptsächlich im entmilitarisierten Rheinland angesiedelt waren.
Während die Bemühungen der US-Regierung 1925 zur Unterzeichnung des Genfer Gaskriegsprotokolls führten, zwang die reale Politik dem Ganzen groteske Züge ab: In Marokko tobte der erste aero-chemische Krieg der Spanier gegen die Rif-Kabylen.10 Seit 1921 nahmen dort die Aufstände der Einwohner kriegerische Ausmaße an. Da die Spanier, die sich mit Frankreich das Protektorat teilten, gegen die engagierte Kampfkraft der Aufständischen kaum über wirksame Mittel verfügten, griffen sie schon bald mit der »neuen Wunderwaffe« an. Zunächst ließen sie sich »harmlosere« Kampfstoffe wie Tränengas und Nasenreizstoffe aus Frankreich liefern, doch hatte Frankreich bei der Produktion vom weitaus stärker wirkendem Lost erhebliche Probleme. Daher war Spanien auf der Suche nach einem neuen Handelspartner und fand diesen sehr bereitwillig im Deutschen Reich. Stoltzenbergs Fabrik wurde am 10. Juni 1922 dazu verpflichtet, in Spanien eine Fabrik zu bauen, die täglich mindestens eine Tonne Lost, 1,5 Tonnen Phosgen und 1,25 Tonnen Dick produzieren sollte. Bis die Fabrik fertiggestellt war, überbrückte Stoltzenberg den Giftgasbedarf durch umfangreiche Lieferungen aus eigener Herstellung.
Als weiteren ausländischen Partner fand die Reichswehr die sowjetische Regierung. Da eine Kampfstoffproduktion im Reich stets die Gefahr beinhaltete, daß die alliierten Kontrollkommissionen davon Wind bekämen, gleichzeitig auch ein erneuter Vorstoß nach Mitteldeutschland spätestens seit der Ruhrbesetzung nicht mehr auszuschließen war, versuchte man die deutsche Kampfstofferprobung und -herstellung den Eingriffsmöglichkeiten der Entente zu entziehen. Die Russen waren der ideale Partner, da sie nur über ein geringes technisches »Know-how« in der Waffentechnik verfügten, dafür aber genügend Naturschätze besaßen. Hier konnte man sich hervorragend ergänzen, besaß man in Deutschland schließlich ausreichend viele Wissenschaftler und technische Geräte. Allein durch diese Aktivitäten wäre die Reichswehr im Kriegsfalle in der Lage gewesen, ihren legalen Bestand konventioneller Artilleriemunition um mehr als das Doppelte mit Giftgasgranaten aus russischer Fabrikation vermehren zu können.
Trotz vieler Schwierigkeiten, die an dieser Stelle nicht näher erläutern werden können, blieb diese »Beziehung« mit Rußland bis ins Jahr 1933 bestehen; erst Hitler kündigte aus politisch-ideologischen Beweggründen die russisch-deutsche Zusammenarbeit.
Diese lange Zusammenarbeit ist deshalb interessant, da Stoltzenbergs Aktivitäten in Rußland 1926 in einer großangelegten Pressekampagne bloßgelegt wurden, was sogar den Sturz der Regierung Marx mitauslöste. Die Reichswehr trennte sich zwar von Stoltzenberg, setzte aber in enger Kooperation mit der Großchemie ihre Aktivitäten in Rußland fort.
Anfang der 30er Jahre erschien eine große Anzahl von Texten und Materialien im Deutschen Reich, die den Gaskrieg vermehrt in das Bewußtsein der Bevölkerung bringen sollte. Eines der wesentlichen Ziele war es, die Bevölkerung über einen potentiell bevorstehenden Gaskrieg zu informieren und entsprechende Rettungsmaßnahmen vorzubereiten (z.B. Ausbildung von Sanitätern etc.). Dabei wurde dem Bürger das Bild eines völlig wehrlosen Deutschland vermittelt, welches ohne Gasschutz kaum einen feindlichen Angriff mit Kampfstoffen überstehen könne. Dadurch erreichte man taktisch geschickt eine allgemeine Besorgnis und daraus folgend das Einverständnis der Menschen, sich verstärkt um Schutzmöglichkeiten zu bemühen. Im Zuge des staatlich geförderten Ausbaus des Luftschutzes, der nach dem Luftfahrtsabkommen vom 24.5.1926 auch den Deutschen erlaubt war, wurde zu diesem Zweck die »Deutsche Luftschutzliga e.V.« gegründet.
Der erfolglose Kampf der Gaskriegsgegner
Ich sah im Traum von Militär-
flugzeugen ein dichtes Gewimmel.
Sie stiegen auf, mehr, mehr, immer mehr.
Sie verfinsterten Sonne und Himmel.
Sie führten mit sich, in meinem Traum,
Giftbomben und ähnlichen Segen.
Mit denen wollten im feindlichen Raum
Sie eine Großstadt belegen.
Sie ordneten sich, die todbringende Schar,
In schwierigstem Wenden und Drehen.
Der Giftangriff sollte offenbar
In kunstvollster Form geschehen.
Und sieh, als endlich die ganze Wehr
Aufstieg zur Abendröte.
Erschien, gebildet aus Militär-
flugzeugen, am Himmel Goethe.
Dieses Gedicht »Deutschland 1932« von Lion Feuchtwanger, das einen Gasangriff aus der Luft auf eine Großstadt behandelt, erschien 1932 in der Zeitschrift »Die Weltbühne«. Es spiegelt die Angst vor einem neuen Zukunftskrieg wieder, einem Zukunftskrieg, der vorwiegend aus Gasangriffen aus Flugzeugen auf die Zivilbevölkerung bestehen sollte. Diese Vorstellung bewegte den »Mann auf der Straße« auf das heftigste, schließlich waren den meisten Menschen noch die Schrecken des Ersten Weltkrieges präsent.
Noch unter den direkten Erfahrungen aus den Kriegsjahren erklärte der Völkerbund 1920, daß die Anwendung von Kampfgasen der Haager Landkriegsordnung und damit auch dem Völkerrecht widerspreche. Eifrig wurde daher geprüft, ob ein Appell an die Wissenschaftler aller Länder, ihre Forschungen über giftige Gase und ähnliche Fragen zu veröffentlichen, um die Möglichkeiten des Gebrauchs solcher Waffen in einem zukünftigen Krieg zu vermindern, Erfolg versprechen würde.
Bereits 1922 kam man wieder davon ab und errichtete statt dessen einen Spezialausschuß, der sich über die möglichen Folgen eines Einsatzes chemischer Waffen informieren sollte.
Dessen Bericht wurde Gegenstand der Debatten in der Versammlung des Jahres 1924. „Die Versammlung forderte den Rat auf, für eine möglichst große Verbreitung und Publizität dieses Berichtes zu sorgen. Der Rat hat sich jedoch weiterer Maßnahmen zu dieser Frage enthalten, weil er der Auffassung war, daß die feierliche Resolution der Versammlung schon Publizität genug bedeute.“ 11
Nach 1924 wurde dieses Problem nicht mehr oder nur am Rande auf den offiziellen Sitzungen des Völkerbundes behandelt.
Erst in den 30er Jahren wurde er anläßlich einiger Verletzungen der Verbote wieder damit konfrontiert, z.B. während des japanisch-chinesischen Krieges (1932-1938). Auch Italien wendete während seines Krieges gegen Äthiopien Giftwaffen an (1936).
Seit dem Weltkrieg richteten sich dagegen viele Organisationen gegen die chemischen Waffen. Das Internationale Rote Kreuz appellierte schon während des Krieges an die kriegführenden Parteien und später an den Völkerbund, den Einsatz von erstickenden Gasen zu verbieten.
Am 10. bis 15. Dezember 1922 fand in Haag ein Weltfriedenskongreß statt, der gemeinsam vom Internationalen Gewerkschaftsbund und einigen pazifistischen Gruppen organisiert wurde und in dessem Verlauf der Beschluß gefaßt wurde, daß man alles tun müsse, um die Fabrikation und den Transport von Kriegspotential zu verhindern. Edo Flimmen, der damalige Sekretär der Amsterdamer Internationale, erklärt später: „Die Mobilmachung gegen einen Krieg muß mit derselben Präzision organisiert werden können wie die Mobilmachung, die 1914 die Länder in Heerlager verwandelte. (…) Wenn die Regierungen mit Krieg drohen, müssen die Arbeiter die chemischen Fabriken, in denen die tödlichen modernen Waffen hergestellt werden, verlassen; die Eisenbahner müssen den Transport der Truppen verweigern, die Bergleute keine Kohlen für die Rüstungsindustrie liefern. Die Führer in jedem Lande müssen sich über die konkreten Maßnahmen Klarheit verschaffen, die im Falle eines drohenden Krieges zu ergreifen sind, sie müssen verstehen, daß die Träger des Widerstandes gegen den Krieg nicht die Parlamente sein können, sondern die organisierte Masse selbst. (…)“ 12
Die Widerstandsorganisationen forderten also eine öffentliche Kontrolle der Rüstungsindustrie. Wenngleich diese Ideen Illusionen waren, da die Arbeiter unter einem zu großen Druck standen, um einen derartigen Generalstreik durchzuführen, und die breite Masse der hochqualifizierten Wissenschaftler und Ingenieure kaum für die Friedensbewegung zu gewinnen waren, wenngleich diese Forderungen also kaum durchführbar waren, so wurden hier erstmals die Kampfmittel der Arbeiterschaft, die Arbeitsverweigerung und der Generalstreik, in die Überlegungen der Friedensbewegung einbezogen.
Ein Beispiel für besonderes Engagement auf Seiten der Giftgasgegner war Gertrud Woker13, eine Schweizer Chemikerin, die dazu überging, zahlreiche eindrucksvolle Initiativen zur systematischen Aufklärung über die Gefahren von chemischen Kriegswaffen ins Leben zu rufen. In vielen Aufsätzen, mit Flugzetteln, Büchern und Vorträgen trat sie den allzu durchsichtigen Argumenten der Giftgaspropagandisten entgegen und bewies mit Hilfe ihrer fachlichen Kompetenz, daß Gasverletzungen nicht so harmlos seien, wie oft behauptet, sondern im Gegenteil recht qualvoll.
Ihr Ziel beschrieb sie einmal selbst folgendermaßen: „Ein kleines Buch – Onkel Toms Hütte – hat einmal Tausenden von Negersklaven die Freiheit gegeben. Warum sollte es nicht auch möglich sein, die Sklaven des Militarismus zu befreien durch weiter nichts als der Darstellung von Tatsachen – ganz alltägliche Tatsachen aus der modernen Kriegsführung.“ 14
Gertrud Woker war Mitvorsitzende des schweizer Zweiges der »Internationalen Frauenliga für Forschung und Freiheit«, einer Initiative, welche international zu einer systematischen Aufklärung über die Gefahren der chemischen Kriegswaffen beitragen wollte.
Als die Reichsregierung15 zusammen mit dem »Reichsverband Deutscher Industrieller« 1926 die »Deutsche Luftschutzliga e.V.« gründete, bildete sich als deren Gegenpol die pazifistisch ausgerichtete Anti-Gaskriegsbewegung. Sie glaubte an keine Schutzmöglichkeiten in einem zukünftigen Krieg und kämpfte daher für eine Abrüstung und ein generelles Verbot von Kriegen. Das Desinteresse in der Bevölkerung aber wuchs immer mehr, je weiter die schrecklichen Erlebnisse des Weltkrieges zurücklagen. Die Friedensbewegungen erreichten nur einen Teil der Bevölkerung und hatten kaum Rückhalt in ihr.
Hinzu kam, daß ihre Argumente oft wirklichkeitsfremd waren. Es war kaum möglich, Chemiker und Ingenieure für die Friedensbewegung zu gewinnen. Die ausführenden Arbeiter ihrerseits standen unter einem zu großen Druck, als daß sie gegen ihre Vorgesetzten Stellung beziehen konnten. Kritiklos übernahm man Kriegsbilder von den Gaskriegsbefürwortern, wie zum Beispiel die Theorie, daß in zukünftigen Konflikten die großen Massenheere aufgelöst würden.16 Zwischen den einzelnen Organisationen mangelte es an ausreichender Koordination und somit an Effektivität. Selbst große Kongresse konnten keine bleibenden Erfolge verbuchen.
Die offizielle Propaganda hatte zudem den Vorteil, über größere finanzielle Mittel verfügen zu können, was nicht gerade unerheblich zu deren Erfolg beitrug.
Außerdem brachte die Panikmache der Friedensbewegung ein weiteres Problem mit sich: das allzu extreme Schildern grauenhafter Giftgasangriffe und sonstiger Kriegsbilder konnte die Bevölkerung dermaßen verunsichern, daß sie erst recht der schutzanbietenden »Luftschutzliga« in die Arme flüchteten. Somit spielte die Friedensbewegung dem Militär sogar ungewollt die Trümpfe zu.
Schluss
Spanien, die Sowjetunion, Italien, Jugoslawien, Japan, China, die Türkei, Rumänien, Schweden, Brasilien … – die Liste der Staaten, die allein von Deutschland nach 1923 mit chemischen Kampfstoffen beliefert wurden, ließe sich noch unschwer fortsetzen. All dies geschah selbstverständlich »geheim« und trotz alliierter Kontrolle. Waren die Auflagen gegenüber dem Deutschen Reich nicht umfassend genug oder zeigten die Siegermächte sich tolerant gegen die Verstöße? Bestraft wurde das Deutsche Reich nicht, obwohl die Aktivitäten auf verbotenem Gebiet spätestens 1923 und 1926 durch Enthüllungen und Skandale, welche in den Medien verbreitet wurden, an die Öffentlichkeit drangen.
War England als Vertreter der »Balance-of-Power-Politik« in Sorge, daß Frankreich nach der Ruhrbesetzung weiter seine Macht ausbauen könnte? Tolerierte es die Tätigkeiten der Reichswehr, damit Deutschland nicht von seinem Nachbarn »zerdrückt« würde und eine Verschiebung des internationalen Kräftegleichgewichtes entstünde?
Da Frankreich sich mit Spanien das Protektorat in Marokko teilte, liegt es nahe, daß es über die deutschen Giftgaslieferungen informiert war. Nach den Locarner Verträgen herrschte jedoch eine Entspannungsphase zwischen Frankreich und seinem östlichen Nachbarn. Man fing an, das Deutsche Reich zumindest zu akzeptieren und genoß die Aussöhnung mit dem ehemaligen Erzfeind. Wollte man daher einen erneuten Bruch mit Deutschland vermeiden, indem man schwieg?
Ein Problem war sicherlich, daß man, im eigenen Land selbst Kampfstoffe produzierend, den Deutschen gestatten mußte, Schutzmaßnahmen gegen Gaswaffen durchzuführen, was im Pariser Luftfahrtsabkommen 1926 auch geschah. Wenn man sich schützen möchte, muß man jedoch wissen, welche Gefahr drohen könnte. Daraus folgt, daß eine Forschung nach Kampfstoffen durchgeführt werden muß. Von dieser Überlegung aus fehlt nur ein kleiner Schritt, um als mögliches Abwehrmittel die Abschreckung durch genügend Angriffspotential anzusehen – ein verzwickter Teufelskreis, der die Grenze zwischen Schutz und Angriff verschwimmen läßt.
Die Frage nach dem WARUM muß jedoch auch nach innen gelenkt werden, denn auch die deutschen Politiker zogen kaum Konsequenzen aus den Enthüllungen und Skandalen. Es folgte keine verstärkte Kontrolle über die Reichswehr, man fühlte eher mit dem eigenen Militär als mit Staaten, die selber aufrüsteten. Die deutschen Politiker, über die Bestimmungen des Versailler Vertrages nicht gerade glücklich, strebten zum großen Teil nach einer Gleichberechtigung mit den anderen Staaten.
Die Anti-Gaskriegsbewegung kämpfte unerbittlich gegen die Gefahr eines Gaskrieges, jedoch wenig effektiv. Das Militär verstand es sogar, deren Horrorbilder und Schreckensszenarien sich zunutze zu machen.
Die Gaswaffe schien in den Köpfen der Menschen weithin akzeptiert zu sein. Zu große Möglichkeiten boten sich durch deren Besitz. Es fiel den Militärs sehr schwer, eine bereits vorhandene Waffe wieder verschwinden zu lassen.
Gegen die starke Lobby der für die Wirtschaft eines Landes notwendigen Industrie und der Militärs, welche die Gaswaffen für strategisch bedeutsam erklärten, konnten sich die Gegner kaum durchsetzen.
Ein Beispiel bildet die USA: Dort sprachen sich alle Präsidenten, von Wilson, Harding, über Hoover bis Roosevelt gegen die Vorbereitungen auf einen eventuellen Gaskrieg aus. Die Kritik und der Druck der Befürworter wuchs aber dermaßen (schon 1922 bei der Washingtoner Konferenz), daß die Präsidenten und der Senat dem nicht standhielten. So ratifizierte man das Genfer Gaskriegsprotokoll nicht und gestand den Gaswaffenbefürwortern zu, zumindest für die »defensive« Rüstung produzieren zu dürfen.
Ein erneuter Versuch wurde am 13. Januar 1993 durch die Unterzeichnung einer internationalen Giftwaffen-Konvention in Den Haag unternommen. Jedoch muß sich die Wirksamkeit der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« erst noch erweisen. Allein die Ratifizierung des Vertrages, an dem sich 159 Staaten beteiligten (nicht aber der Irak!), erweist sich als schwierig. Chemische Offensivwaffen dürfen nicht produziert werden, eine »defensive« Forschung bleibt aber erlaubt. Als Problem stellt sich auch die Tatsache dar, daß viele Substanzen sowohl für den militärischen Gebrauch als auch für zivile Gebrauchsgüter notwendig sind. Die umfangreichen Kontrollen lassen hoffen, jedoch wird uns erst die Zeit zeigen können, inwieweit sie effektiv genug sind.
Literatur
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Bothe, Michael, Das völkerrechtliche Verbot des Einsatzes chemischer und bakteriologischer Waffen. Köln/Bonn 1973.
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Haber, Fritz, Aus Leben und Beruf. Aufsätze. Reden. Vorträge. Berlin 1927.
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Messerschmidt, Manfred, Kriegstechnologie und humanitäres Völkerrecht in der Zeit der Weltkriege, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 41, 1987.
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Müller, Rolf-Dieter, Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen. Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Othmar Hackl und Manfred Messerschmidt. Boppard a.R. 1984.
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Riesenberger, Dieter, Der Kampf gegen den Gaskrieg, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung. Frankfurt/M. 1990, S. 250-275.
Schütz, Hans-Joachim, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984, S. 829-844.
Sondernummer: Gas, in: Die Weltbühne 1931, S. 439f.
Woker, Gertrud, Ihre autobiographische Skizze in: Elga Kern (Hrsg.), Die führenden Frauen Europas. München 1928, S. 138-169.
Woker, Gertrud, Der kommende Giftgaskrieg (= Kultur- und Zeitfragen. Eine Schriftenreihe herausgegeben von Louis Satow. Heft 18). Im Auftrage der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Leipzig 1925.
Anmerkungen
1) Die Übersetzung des französischen Textes findet sich auszugsweise bei: Hans-Joachim Schütz, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. 2. Bd., Kehl, Straßburg, Arlington 1984, S. 845. Zurück
2) Zitiert nach Fritz Haber, Zur Geschichte des Gaskrieges. Vortrag, gehalten vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages am 1. Oktober 1923, in: Fritz Haber, Fünf Vorträge aus den Jahren 1920-1923, Berlin 1924, S. 81. Zurück
3) Vgl. Berthold von Deimling, Aus der alten in die neue Zeit. Berlin 1930, S. 201, in: Hans Günter Brauch, Rolf Dieter Müller, Chemische Kriegsführung – Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare. Berlin 1985, S. 84. General der Infanterie Bertold von Deimling (1853-1944) wurde später zu einem entschiedenen Gegner des Krieges und Repräsentanten der pazifistischen Bewegung in der Weimarer Republik. Zurück
4) Zitiert nach: Rudibert Kunz, Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927. Freiburg 1990. Zurück
5) Vgl. zu diesem Kapitel auch: Hans-Joachim Schütz, Beschränkung von B- und C-Waffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, in: Jost Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung. Rüstungskontrolle. 2. Bd., S. 829-844. Zurück
6) Zitiert nach: Jost Delbrück (s. vorhergehende Anm.), S. 845 f. Zurück
7) Hans-Joachim Schütz zählt allein bis 1984 110 Staaten auf (Hans-Joachim Schütz, Beschränkung, S. 849f.). Zurück
8) Ihre Betätigung bestand in der Einrichtung von „Rüstungsindustrie in Rußland, indem deutsche Firmen dieser Branche zur Einrichtung derartiger Unternehmungen in Rußland veranlaßt“ wurden. Zurück
9) Vgl. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. KAB. Marx III und IV Dok. Nr. 138. Zurück
10) Vgl. Rudibert Kunz und Rolf-Dieter Müller, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927, Freiburg 1990. Zurück
11) Michael Bothe, Das völkerrechtliche Verbot des …, S. 96. Zurück
12) zitiert nach: Resolution – und nicht mehr? in: Die Weltbühne, 1. Hj., 1927, S. 931 f. Zurück
13) Vgl. Elga Kern (Hrsg.), Führende Frauen Europas, S. 138-169. Zurück
14) Ebda. S. 168. Zurück
15) Reichswehr und Innenministerium Zurück
16) Vgl. hierzu Riesenberger, Der Kampf gegen…, S. 268f. Zurück
Hartmut Stiller studiert Geschichte und Germanistik in Freiburg.