Die Lage im Donbass


Die Lage im Donbass

Noch ein eingefrorener Konflikt?

von Agnieszka Legucka

Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sind Georgien, Aserbaidschan, Armenien, Moldawien, die Ukraine und auch die Russische Föderation von eingefrorenen Konflikten betroffen, die sich auf die innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Lage im jeweiligen Land ebenso auswirken wie auf die Nachbarländer. Die Autorin beschreibt den Konflikt im Donezbecken (Donbass) der Ostukraine, der bereits mehr als drei Jahre anhält, aus ihrer Sicht. Sie stellt die These auf, dass auch dieser Konflikt einfriert, da sich die Ukraine und Russland nicht über die Zukunft der Region einigen können.

Ein eingefrorener Konflikt ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Auseinandersetzung zwar nicht mehr mit Waffen ausgetragen wird, es jedoch auch nicht gelingt, die Konflikt­ursachen zu lösen. Gleichzeitig bildet sich im umstrittenen Gebiet ein Quasi-Staat heraus, welcher Unterstützung von einer starken Drittpartei erhält, die den Konflikt für ihre eigenen außenpolitischen Ziele nutzt (Kolstø 2006, S. 725).

Die eingefrorenen Konflikte im postsowjetischen Raum durchlaufen in der Regel drei Phasen: die Chaosphase (bewaffneter Konflikt), die Verhandlungs- und Waffenstillstandsphase und die eingefrorene Phase, in welcher sich der Quasi-Staat mit Hilfe einer externen Macht konsolidiert. Diese letzte Phase setzt nicht unbedingt einen Waffenstillstand voraus, es reicht auch ein Abflauen der bewaffneten Auseinandersetzung und eine zumindest informelle Grenzziehung zwischen Separatisten und Mutterstaat (Solak 2009, S. 234).

Die Definition eines eingefrorenen Konflikts ist manchmal unscharf. Manche Wissenschaftler*innen verwenden eher den Begriff »anhaltender« Konflikt (protracted conflict), wenn es auf beiden Seiten noch regelmäßig zu militärischen Auseinandersetzungen und zu Todesopfern, inklusive Zivilist*innen, kommt, wie beispielsweise in Bergkarabach (Secerieru 2013, S. 2). Aktuell werden im post-sowjetischen Raum vier Konflikte als eingefroren bezeichnet. In all diesen Konflikten fanden kriegerische Auseinandersetzungen um umstrittene Gebieten statt: Bergkarabach (1988-1994) (siehe dazu den Text von Azer Babayev auf S. 18), Südossetien (1991-1992) und Abchasien (1992-1994) (siehe dazu den Text von Oliver Wolleh auf S. 21) sowie Transnistrien (1991-1992). In der Folge dieser militärischen Auseinandersetzungen erklärten Abchasien und Südossetien ihre Unabhängigkeit von Georgien, Transnistrien von Moldawien und Berg­karabach von Aserbaidschan (Legucka 2013, S. 100-123).

Seit Anfang 2014 spielt sich auf dem Gebiet der Ukraine ein weiterer Konflikt ab, der »einzufrieren« droht. Hier geht es um die »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk im Donbass-Gebiet, im Osten der Ukraine, deren Grenzen weiterhin militärisch umkämpft sind.

Die Annexion der Krim wird von einigen Wissenschaftler*innen missverständlich als »eingefrorener Konflikt« bezeichnet (Racz 2016). Dieser Fall stellt sich jedoch anders dar. Zum einen ist die Halbinsel seit 2014 unter De-facto-Kontrolle und -Jurisdiktion von Russland, einem völkerrechtlich anerkannten Staat und Mitglied des Europarates. Zum anderen handelt es sich bei der Krim nicht um einen Quasi-Staat, den Russland zur Ausweitung seines außenpolitischen Einflusses nutzt, sondern um ein von der Russischen Föderation besetztes Gebiet. Russland beansprucht die Krim als integralen Bestandteil seines Hoheitsgebietes, weshalb auch keine Friedensgespräche stattfinden. Die Definition für einen eingefrorenen Konflikt passt hier also nicht.

Der Fall Ukraine

Die drei oben beschriebenen Phasen für das Entstehen eines eingefrorenen Konflikts im postsowjetischen Raum treffen aber auf die Ostukraine zu. Militärische Auseinandersetzungen begannen im Donbass im März 2014. Das war die Zeit des Chaos – die erste Phase, die Herausbildung eines Quasi-Staates. Nach einmonatigen Kämpfen wurde am 7. April die Volksrepublik Donezk (Donezkaja narodnaja respublika, DNR) und am 27. April die Volksrepublik Lugansk (Luganskaja narodnaja respublika, LNR) ausgerufen. Russland verfolgte ursprünglich das Projekt »Novorossija« (Neurussland), welches etliche Gebiete im Süden und Osten der Ukraine umfassen sollte, jedoch scheiterte. Daher begann Russland, sich für eine lokale Vertretung der Donbass-Region bei den Friedensgesprächen stark zu machen und legitimierte die DNR und die LNR dadurch als reguläre Konfliktparteien – die zweite Phase des Konflikts. So wollte Russland nicht nur das Vorgehen des ukrainischen Militärs beeinflussen, sondern vor allem Präsident Petro Poroschenko an den Verhandlungstisch zu den Minsker Abkommen zwingen. Wladimir Lukin, in den 1990er Jahren Botschafter der Russischen Föderation in den Vereinigten Staaten und 2014 wiederholt als Vermittler sowie als russischer Menschenrechtsbeauftragter in der Ukraine tätig, sagte: „Vergiss die DNR und die LNR. Ziel [der Gegenoffensive vom August 2014] ist es, Poroschenko klar zu machen, dass er nicht die Oberhand gewinnen wird [… Der Kreml] wird so lange Truppen schicken, bis Poroschenko das versteht und sich mit denjenigen an den Verhandlungstisch setzt, die Putin dort sehen will.“ (Charap 2016, S. 2)

Im Vergleich zu anderen Konflikten im postsowjetischen Raum hat Russland im Donbass größere Mühe, als Mediator und Stabilisierungskraft aufzutreten. Dank seiner Teilnahme an den Friedensgesprächen im Normandie-Format (Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland), bei denen es um die Umsetzung der Abkommen Minsk I und II geht, kann Russland jedoch Vorschläge unterbreiten, wie die Lage im Donbass gelöst werden kann. Russland wirbt für eine dezentralisierte und föderale Ukraine, in der die regionalen Organe erheblichen Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik hätten. Die Führungsspitze der Ukraine lehnt dies jedoch ab, da sie befürchtet, die regionalen Vertreter des Donbass beeinträchtigten eine unabhängige Russlandpolitik. Daher wird Russland wohl die Minsker Abkommen nur halbherzig unterstützen und dafür sorgen, dass möglichst wenige der Vereinbarungen umgesetzt werden. Parallel dazu wird Russland die Verwaltungsgremien der DNR und LNR unterstützen und ausstatten. In diesem Sinne erließ der russische Präsident am 18. Februar 2017 ein Dekret zur Anerkennung von Dokumenten und Urkunden, welche von den Regionalverwaltungen im Donbass ausgestellt werden. Damit signalisiert Russland die De-facto-Legimitierung dieser Regionalverwaltungen – möglicherweise läutet dies Konfliktphase drei und somit einen weiteren eingefrorenen Konflikt ein.

Im September 2017 schlug der russische Präsident Putin zwar eine Blauhelm-Mission der Vereinten Nationen im Donbass-Gebiet vor, aber auch dabei geht es wohl vorrangig darum, die Demarkationslinie zwischen den von der Ukraine und den Separatisten beherrschten Gebieten festzuklopfen.

Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf ganz Mittel- und Osteuropa. Auf der Krim sind etwa 24.000 russische Soldation stationiert, und im Südlichen Militärdistrikt [einem von vier strategischen Kommmandos der russischen Streitkräfte; R.H.] stehen etwa 72.000 Soldaten bereit, die jederzeit Richtung Donbass marschieren könnten (Dyner 2016). Auch wenn viele den Konflikt momentan als »eingefroren« einstufen, ist die Sorge vor einer erneuten Eskalation groß. Die Nachbarstaaten fürchten eine russische Aggression und bauen ihre Streitkräfte und ihr Verteidigungspotential entsprechend aus. Auf dem NATO-Gipfel in Warschau im Juli 2016 wurde eine verstärkte Präsenz der NATO an der so genannten Ostflanke des Bündnisses beschlossen. Seit Januar 2017 sind in Polen, Rumänien und den baltischen Staaten multinationale Kampftruppen mit je 1.000 Soldaten stationiert. Diese Truppenverstärkung der NATO empörte Russland dermaßen, dass es seinerseits mit einer Verlagerung zusätzlicher Waffen in den Oblast Kaliningrad reagierte und mit »Sapad-17« das größte je in Westrussland und Belarus stattgefundene Manöver abhielt.

Fazit

Die Sicherheit in Mittel- und Osteuropa hängt davon ab, eine Lösung für die diversen eingefrorenen Konflikte zu finden. Diese wirken insgesamt destabilisierend, beinträchtigen die Beziehungen zwischen den Nachbarstaaten und stärken die Position Russlands, welches die einzelnen Konflikte für eigene außenpolitische Ziele instrumentalisiert. Infolgedessen wird die gesamte Region zunehmend militarisiert, was zu einem Wettrüsten führt, Sicherheitsdilemmata erzeugt und sogar die Gefahr befördert, dass Streitkräfte nicht nur ausgebaut werden, sondern auch zum Einsatz kommen.

Bei vier Konflikten im postsowjetischen Raum waren seit den frühen 1990er Jahren externe Akteure (Vereinte Nationen, OSZE und Russland) an den Friedensprozessen beteiligt. Dennoch dauern diese Konflikte aus vielfältigen Gründen an. Einerseits wurde Russland in den Friedensprozessen bzw. den Verhandlungen über Gebietszugehörigkeiten selbst zum Teil des Problems und scheint im Hinblick auf die andauernden Konflikte einem strategischen Paradigma zu folgen, das als »kontrollierte Instabilität« bezeichnet werden kann. Auf der anderen Seite konsolidiert in den Kriegen und Konflikten die jeweilige politische Elite des Mutterstaats ihre Postion und nutzt die Situation, um Reformen zu verschieben und Probleme im Inneren zu ignorieren.

Der Lage in der Ukraine kommt daher große Relevanz zu, da der Krieg einerseits das Land ökonomisch schwächt; in mancherlei Hinsicht wird der Staatenbildungsprozess im Land aber auch gestärkt und die politische Elite der Ukraine dazu gezwungen, interne Reformen anzustoßen, von denen die Gesellschaft langfristig profitieren könnte. Vieles hängt also vom Willen ab, Reformen tatsächlich durchzuführen, und von der Unterstützung der Europäischen Union.

Literatur

Charap, S., (2016): Russia’s Use of Military Force as a Foreign Policy Tool – Is There a Logic? Ponars Eurasia, Policy Memo No. 443, October 2016.

Dyner, A.M. (2016): Russia Beefs Up Military Potential in the Country’s Western Areas. Polish Institute of International Affairs, Bulletin 35-2017; pism.pol.

Kolstø, P. (2006): The Sustainability and Future of Unrecognized Quasi-States. Journal of Peace Research, Vol. 43, Issue 6.

Kosienkowski, M. (2008): Quasi-panstwo w stosunkach miedzynarodowych [Quasi-states in international relations]. Stosunki Miedzynarodowe [International Relations], No. 3-4/2008, S. 38).

Legucka, A. (2013): Geopolityczne uwarunkowania i konsekwencje konfliktów zbrojnych na obszarze poradzieckim [Geopolitical factors and consequences of the military conflicts on the Post-Soviet area]. Warszawa: Difin.

McDerrmott, R.N. (2016): Brothers disunited – Russia’s use of military power in Ukraine. In: Black, J.L.; Johns, M. (eds): The Return of the Cold War – Ukraine, the West and Russia. London, New York: Routledge.

Racz, A. (2016): The frozen conflicts of the EU’s Eastern neighbourhood and their impact on the respect of human rights. Brussels: European Parliament, Directorate-General for External Policies-Policy Department.

Secrieru, S. (2013): Protracted Conflicts in the Eastern Neigbourhood – Between Averting Wars and Building Trust. Istanbul: Kadir Has Üniversitesi, Neighbourhood Policy Paper, No. 6.

Solak, J. (2009): Moldawia Republika na trzy peknieta – Historyczno-spoleczny, militarny i geopolityczny wymiar »zamrozonego konfliktu« o Naddniestrze [Moldova Republic cracked in three parts – The historical-social, military and geopolitical dimension of the »frozen conflict« of Transnistria]. Torun: Europejskie Centrum Edukacyjne.

Dr. habil. Agnieszka Legucka ist am Polish Institute of International Affairs (pism.pl) Expertin für post-sowjetische Sicherheitsfragen und für russische Außenpolitik. Außerdem ist sie Mitglied der Fakultät Business and International Relations der Vistula University in Warschau.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Ålands Autonomie


Ålands Autonomie

Implikationen für eine friedliche Bearbeitung ethnischer Konflikte

von Felix Schulte

Das Åland-Archipel, gelegen inmitten des Bottnischen Meerbusens, gehört zu den reichsten Regionen in Europa, ist fester Bestandteil regionaler Kooperationsnetzwerke und strengt sich an, ein ebensolcher im Institutionengeflecht der Europäischen Union zu sein. Das Autonomiestatut von 1920/21 machte Åland zu einem Friedensprojekt sondergleichen. Dabei standen die Vorzeichen in der Geburtsstunde des finnischen Nationalstaates alles andere als günstig: Auf dem Festland tobte ein Bürgerkrieg, Nationalisten machten ihren Anspruch auf die Inselgruppe geltend, und die Åländer*innen selbst forderten die Wiedervereinigung mit ihrem Mutterland Schweden. Ähnliche Ausgangslagen führten vielerorts zu langen und blutigen Bürgerkriegen. Welche Lehren lassen sich also aus der Beschäftigung mit Åland, diesem Musterbeispiel ethnischer Konfliktregulierung, ziehen?

Der zentralen Lage inmitten der Ostsee ist es geschuldet, dass die Åland-Inseln das geopolitische Interesse der mächtigen Anrainerstaaten tangierten.

Im 12. Jahrhundert wurde Åland Teil des neugegründeten schwedischen Reiches, das sich auch über das heutige Finnland erstreckte. Mit der Niederlage im Großen Nordischen Krieg von 1721 verlor Schweden seine Vormachtstellung im Norden Europas. Åland fiel 1714 unter russische Besatzung. Zwar wurden die Inseln mit den Verträgen von Nystadt (1721) und Åbo (1743) kurzzeitig wieder an Schweden zurückgegeben, doch im Zuge der napoleonischen Koalitionskriege verbündete sich das Zarenreich unter Alexander I. mit Frankreich gegen Großbritannien und das mit diesem verbündeten Schweden. Im Jahr 1809 musste das schwedische Reich schließlich ganz Finnland mitsamt den Åland-Inseln an Russland abtreten. Nach über 650 Jahren endete die schwedische Periode.

In der russischen Periode wurden die Inseln zu einem wichtigen Glied der Landes-Verteidigungslinie. Der für den neuen Zentralstaat Russland verlustreiche Krimkrieg, in dessen Verlauf die Inseln durch alliierte Truppen erobert wurden, endete 1856 mit einer Demilitarisierung der Inseln. Der Erste Weltkrieg ließ die Vereinbarung allerdings zur Makulatur verkommen. Noch während der Krieg tobte, begann die russische Februarrevolution. Diese führte im Großherzogtum Finnland zu turbulenten Entwicklungen und leitete schließlich die Unabhängigkeitsbewegung ein. Am 6. Dezember 1917 erklärte das finnische Parlament die Unabhängigkeit. Für Åland begann die finnische Periode.

Der erneute, nun im nationalistischen Gewand daherkommende, Fahnenwechsel ließ die Åländer um ihre schwedische Sprache und Kultur fürchten. Es entstand eine Bewegung für die Wiedervereinigung mit dem Mutterland Schweden. Der Patronagestaat betrachtete die knapp vor der eigenen Küste liegenden Inseln in ausländischer Hand als Sicherheitsrisiko und verlangte, sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufend, die Angliederung der Inseln. In einem selbst initiierten Referendum stimmte eine große Mehrheit der Åländer*innen für eine Wiedervereinigung (Eriksson, Johannson, Sundback 2006). Als während des finnischen Bürgerkriegs Schweden Truppen zum Schutz der åländischen Bevölkerung entsandte und die Anführer der »Åland-Bewegung« des Hochverrats beschuldigt wurden, standen die Ostseeanrainer kurz vor einem zwischenstaatlichen Krieg.

Finnland beharrte auf seiner territorialen Integrität und staatlichen Souveränität. Schweden versuchte vergeblich, den Konflikt auf die Tagesordnung der Pariser Nachkriegskonferenz zu bringen, um ihn, ähnlich wie die Schleswig-Frage, durch eine Volksabstimmung zu eigenen Gunsten zu entscheiden. Im Alleingang beschloss das finnische Parlament im Mai 1920 ein erstes Autonomiegesetz, das auf den Widerwillen der Åländer*innen stieß, die ihre Sezessionsbestrebungen forcierten. Eine weitere Konflikteskalation wurde durch britische Vermittlungsbemühungen verhindert, die zu einem weltpolitischen Novum führten: Der Völkerbund sollte die Minderheitenfrage entscheiden. Dieser fällte im Juni 1921 die Entscheidung: Åland bleibt integraler Bestandteil Finnlands. Gleichzeitig musste der Zentralstaat den Inseln weitreichende Autonomierechte gewähren. Zudem blieben die Inseln demilitarisiert und erhielten neutralen Status (Suksi 2011).

Åland ist heute das weltweit einzige Gebiet, das demilitarisiert, neutral und autonom zugleich ist. Das »Åland Agreement« vom 27. Juni 1921 besiegelte den Sonderstatus, der Eingang in das finnische Rechtssystem fand und bislang zwei größeren Reformen unterzogen wurde. Da der Autonomiestatus seitdem unterbrochen besteht, hat Åland zugleich die älteste Territorialautonomie der Welt. Das Autonomiemodell stellte sich als Kompromiss zwischen dem Souveränitätsanspruch Finnlands, den machtpolitischen Forderungen des schwedischen Patronagestaats und der kulturellen Identität der lokalen Bevölkerung dar. Die für die asymmetrische Akteurskonstellation passgenaue Lösung wurde von allen Seiten akzeptiert. Zwar taten sich die Åländer, die in den Verhandlungen ohne Stimme geblieben waren, lange Zeit schwer mit dieser Lösung. Der organisierte Widerstand wurde jedoch schnell zum stillen Protest, der peu à peu in Akzeptanz überging (Ackrén 2011; Åkermark 2013). Heute sind die Åländer stolz auf »ihren«» Sonderstatus.

Aus der historisch-retrospektiven Betrachtung erscheinen drei Bedingungen besonders günstig für die gefundende Regelung gewesen zu sein:

  • Aufgrund des kompromissbereiten Verhaltens der Konfliktparteien eskalierte der Konflikt nicht. Dies ermöglichte eine rasche Versöhnung.
  • Externe Akteure traten als Vermittler auf. Im Rahmen einer Schlichtung wurde die Konfliktdynamik durchbrochen.
  • Der Zentralstaat entwickelte sich rasch zu einem demokratischen Rechtsstaat, der die åländische Selbstregierung akzeptierte und förderte.

Kurzprofil der åländischen Autonomie

Mit dem Autonomiestatut wurde Åland ein nicht einseitig kündbarer Sonderstatus zuteil, der exekutive Gesetzgebungskompetenzen beinhaltet. Damit sind die Kriterien einer Territorialautonomie erfüllt. Åland hat eigene, vom finnischen Staat unabhängige Institutionen. Das Parlament (lagting) besteht aus 30 Abgeordneten, die alle vier Jahre nach Verhältniswahlrecht gewählt werden. Aus der Legislative geht eine fünf bis achtköpfige Regierung hervor. Ein Gouverneur vertritt den finnischen Staat im politischen System. Dieser wird vom Staatspräsidenten in Abstimmung mit dem Regionalparlament ernannt. Er sitzt der »Åland Delegation« vor, die aus je zwei Vertretern der finnischen Regierung und des åländischen Parlaments zusammengesetzt ist. Die Delegation fungiert als Vermittlungsinstanz und Streitschlichtungsgremium zwischen den Entitäten.

Åland bildet bei nationalen Wahlen einen eigenen Wahlkreis und entsendet einen Abgeordneten, der sich unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit traditionell der Schwedischen Volkspartei, dem Sprachrohr der schwedischen Minderheit auf dem Festland, anschließt. Die Gesetzgebungskompetenzen Ålands sind exklusiv und im Autonomievergleich äußerst weitreichend. Die regionale Legislative kann grundsätzlich in allen Bereichen gesetzgebend tätig werden, die nicht ausdrücklich dem finnischen Staat vorbehalten sind (siehe Tab. 1). Der Staatspräsident besitzt ein Vetorecht und kann im Falle einer Kompetenzüberschreitung nach einer Stellungnahme des Obersten Gerichtes eine Gesetzesvorlage der Autonomie ablehnen.

Ausschließliche ­Gesetzgebungsbereiche Ålands

Ausschließliche ­Gesetzgebungsbereiche ­Finnlands

• Bildung, Kultur, Denkmalpflege

• Gesundheits- und Sozialwesen

• Öffentliche Ordnung und Sicherheit

• Wirtschaftsförderung, Umweltschutz

• Kommunalrecht und –steuern

• Miet- und Pachtregelungen

• Postdienst

• Rundfunk und Fernsehen

• Handelsschifffahrt

• Land- und Forstwirtschaft, Fischerei

• Verfassungsrecht

• Außen- und Sicherheitspolitik

• Das zentrale Banken- und Gerichtswesen

• Ein Großteil des Zivil- und Arbeitsrechts

• Steuerpolitik

Tabelle 1: Kompetenzen Ålands und Finnlands im Vergleich (Finnisches Parlament 1991/2004)

Zur Erfüllung seiner Aufgaben erhält Åland eine jährliche Transferzahlung in Höhe von 0,45 Prozent der staatlichen Einnahmen und erhebt regionale Steuern (Gamper und Pan 2008, S. 148). Das für Åland ausreichende, für Finnland gleichzeitig kaum belastende Finanzierungssystem ist das Rückgrat der insularen Selbstregierung und Nährboden der stabilen Wirtschaft und des hohen Lebensstandards.

Zwar obliegt dem Zentralstaat die Außenpolitik, doch agiert auch die autonome Regierung auf internationaler Ebene. Seit 1970 entsendet Åland zwei Delegierte in den Nordischen Rat. Åland ist Mitglied der Ostseeparlamentarierkonferenz und Teil der finnischen Vertretung in Brüssel. Ein weiteres Lagting-Mitglied vertritt die Autonomie im Ausschuss der Regionen. Das Autonomiestatut verlangt die Zustimmung der autonomen Regierung, falls ein internationales Abkommen die regionalen Kompetenzen berührt. Dies setzte die Zustimmung Ålands zum EU-Beitritt Finnlands voraus, die in einem Zusatzprotokoll mit einigen Sonderregelungen resultierte.1

Fundament der Autonomie ist der Schutz der kulturellen Identität. Während in Finnland Finnisch und Schwedisch offizielle Amtssprachen sind, gilt auf Åland nur Schwedisch als Behördensprache. Der wichtigste Grundpfeiler des Minderheitenschutzes ist das Konzept der Regionalbürgerschaft (hembygdsrätt), das die Inseln vor einer »Finnisierung« schützen und den Sonderstatus garantieren soll. Die Regionalbürgerschaft ist Voraussetzung, um auf Åland politische Rechte auszuüben, Liegenschaften zu erwerben oder ein Gewerbe zu betreiben. Sie steht finnischen Staatsangehörigen zu, die in einem Test ausreichende Schwedisch-Kenntnisse und eine fünfjährige Wohndauer auf Åland vorweisen können oder ein Elternteil mit Regionalbürgerschaft haben. Auch sind die Åländer auf ihrem demilitarisierten Gebiet von der Wehrpflicht befreit.

Auch für diese Regelungen lassen sich günstige Bedingungen ableiten:

  • ein hoher Grad an Autonomie, der über eine ausreichende Finanzierung dem Verlangen nach kultureller Selbstbestimmung Rechnung trägt;
  • eine internationale Einbindung der Autonomie, die für eine Manifestation des Sonderstatus sorgt.

Übertragbarkeit auf andere Autonomiesysteme

Sind diese Rahmenbedingungen generell positive Einflussfaktoren für die Regulierung ethnischer Problemlagen durch Autonomiesysteme? Eine Analyse sämtlicher konfliktregulierender Autonomiesysteme liefert Antworten.

Ein Autonomiesystem gilt als erfolgreich, wenn der ethnische Konflikt auf dem entsprechenden Territorium friedlich beigelegt wurde und die Autonomieinstitutionen eine Lebensdauer von mindestens fünf Jahren aufweisen. Es finden sich weltweit 19 vergleichbare Arrangements, von denen zehn als erfolgreich eingeordnet werden können (siehe Tab. 2).

Geringes ­Konfliktniveau 1

Externe Akteure 2

Demokratischer Rechtsstaat 3

Hoher ­Autonomiegrad 4

Internationale ­Einbindung 5

Erfolg

Aceh

Nein

Ja

Nein

Ja

Ja

Erfolgreich

Åland

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Erfolgreich

Atlantikregionen

Nein

Ja

Nein

Nein

Nein

Gescheitert

Baskenland

Nein

Nein

Ja

Ja

Ja

Erfolgreich

Bodoland

Nein

Nein

Ja

Nein

Nein

Gescheitert

Bougainville

Nein

Ja

Nein

Ja

Nein

Erfolgreich

Chittagong

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Gescheitert

Gagausien

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Erfolgreich

Gilgit-Baltistan

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Gescheitert

Guna Yala

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein

Erfolgreich

Jammu Kaschmir

Nein

Nein

Ja

Nein

Nein

Gescheitert

Katalonien

Ja

Nein

Ja

Ja

Ja

Erfolgreich

Korsika

Nein

Nein

Ja

Nein

Ja

Erfolgreich

Kurdistan

Nein

Nein

Nein

Ja

Ja

Gescheitert

Mindanao

Nein

Ja

Nein

Nein

Nein

Gescheitert

Neukaledonien

Nein

Nein

Ja

Ja

Ja

Erfolgreich

Nordirland

Nein

Ja

Ja

Ja

Ja

Gescheiter

Sansibar

Nein

Nein

Nein

Ja

Ja

Gescheitert

Südtirol

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Erfolgreich

Tabelle 2: Abgleich Autonomiefälle mit abgeleiteten Erfolgsbedingungen

Anmerkungen

1) Der Konflikt war vor Einrichtung der Autonomie nicht gewaltsam (HIIK 2016).

2) Internationale Organisationen waren an den Friedensverhandlungen direkt beteiligt.

3) Die Autonomie wurde in einem demokratischen (bzw. sich rasch demokratisierenden) Staat eingerichtet (V-Dem Institute 2016; World Justice Project 2016).

4) Es wurden vergleichsweise weitgehende Kompetenzen übertragen (Schulte 2017).

5) Die Autonomie wurde in regionale/internationale Organisationen/Kooperationen aufgenommen.

Besonders erfolgsversprechend erscheint die Kombination aus geringem Konfliktniveau, hohem Autonomiegrad und einer raschen internationalen Einbindung zu sein. Einen ähnlichen Weg wie Åland beschritten auch Guna Yala (Panama), Gagausien (Moldawien) und Südtirol (Italien). In all diesen Fällen führte nach einem Konflikt geringer Intensität ein hoher Autonomiegrad, der mit externer Hilfe implementiert wurde, in einem demokratischen Umfeld zu einem erfolgreichen ethnischen Regulierungsmodell. Die Hilfe externer Akteure erscheint nicht notwendig, wenn ein demokratischer Rechtsstaat besteht und die Autonomie rasch internationale Anerkennung findet. Dies trifft für die spanischen (Katalonien, Baskenland) und französischen (Korsika, Neukaledonien) autonomen Regionen zu, deren Vorgeschichten (mit Ausnahme Kataloniens) weitaus blutiger verlief. Die Fälle Bougainville (Papua-Neuguinea) und Aceh (Indonesien) weisen darauf hin, dass Autonomien auch nach höchst gewaltsamen Bürgerkriegen funktionieren können. Die Hilfe externer Akteure und die Übertragung weitreichender Kompetenzen scheint auszureichen, selbst wenn keine konsolidierte Demokratie vorliegt.

Ein Blick auf die gescheiterten Fälle macht deutlich, dass ein hohes Konfliktniveau dann die Achillesferse der Konfliktregulierung ist, wenn keine der anderen Rahmenbedingungen positiv wirken kann. Allen gescheiterten Autonomien ging ein Gewaltkonflikt voraus.

Der Globalvergleich macht deutlich, dass aus dem Fall Åland drei Lehren zu ziehen sind:

1. Im Falle asymmetrisch-ethnischer Konfliktlagen, die einer Autonomielösung zugänglich sind, muss das Autonomieangebot frühzeitig erfolgen. Beinhaltet dieses ausreichende Selbstregierungskompetenzen und wird die Autonomie im Rahmen einer Aufnahme in internationale Netzwerke schnell durch externe Akteure anerkannt, so hat die Autonomie gute Erfolgschancen.

2. Bei bereits eskalierten Konflikten erscheint neben einem hohen Autonomiegrad auch die Hilfe externer Akteure notwendig zu sein. Dies sind Stellschrauben, an denen relativ einfach anzusetzen ist.

3. Ein demokratisch- rechtsstaatliches Umfeld und die internationale Integration der Autonomie lassen sich als positiv wirkende Rahmenbedingungen begreifen, die stabilisierend wirken.

Åland ist ein Paradebeispiel, das sich zu studieren lohnt. Mut macht, dass Autonomielösungen zur Herstellung einer friedlichen Koexistenz nicht alle identifizierten Voraussetzungen benötigen zu scheinen. Sie sind allerdings, das zeigen aktuelle Entwicklungen in Katalonien und Irakisch-Kurdistan, auch kein Patentrezept. Angesichts von über hundert Autonomie- und Sezessionskonflikten weltweit (HIIK 2016) scheint das Studium erfolgreicher und gescheiterter Maßnahmen im Sinne der Friedensförderung allemal geboten.

Anmerkung

1) Einige EU-Bestimmungen, wie z.B. die Zollunion (Steuerharmonisierung, Heimatrecht), haben für Åland keine Geltung. Es besteht eine Steuergrenze zwischen Åland und dem Rest der EU.

Literatur

Ackrén, M. (2011): Successful Examples of Minority Governance – The Cases of the Aland Islands and South Tyrol. Report from the Aland Islands Peace Institute, Nr. 1.

Åkermark, S.S. (2013): Internal Self-Determination and the Role of Territorial Autonomy as a Tool for the Resolution of Ethno-Political Disputes. International Journal on Minority and Group Rights, Vol. 20, Issue 1, S. 5-25.

Gamper, A.; Pan, C. (2008): Volksgruppen und Regionale Selbstverwaltung in Europa. Wien: Nomos.

Eriksson, S.; Johannson, L.I.; Sundback, B. (2006): Islands of Peace – Åland’s Autonomy, Demilitarisation and Neutralisation. Mariehamn: Åland Islands Peace Institute

Finnisches Parlament (1991): Act on the Autonomy of Åland (1991/1144); finlex.fi/fi/laki/kaannokset/1991/en19911144.pdf.

Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung/HIIK (2016): Konfliktbarometer 2016. Heidelberg: HIIK.

Schulte, F. (2017): The more, the better? Assessing the scope of regional autonomy as a key condition of ethnic conflict regulation. International Journal on Minority and Group Rights (im Erscheinen)

Suksi, M. (2011): Sub-State Governance through Territorial Autonomy – A Comparative Study in Constitutional Law of Powers, Procedures and Institutions. Berlin and Heidelberg: Springer.

Varieties of Democracy/V-Dem (2016): V-Dem. Varietes of Democracy. Global Standards, Local Knowledge. v-dem.net/en/.

World Justice Project (2016): WJP Rule of Law Index 2016. Washington, D.C.: The World Justice Project.

Felix Schulte ist Doktorand und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Er forscht zu kulturellen Konflikten und Möglichkeiten der institutionellen Konfliktregulierung.

Zivilgesellschaft und Konfliktlösung

Zivilgesellschaft und Konfliktlösung

Überlegungen zum Konzept der Volksdiplomatie

von Cécile Druey

Bewaffnete Konflikte, vor allem diejenigen, die sich über eine lange Zeitperiode erstrecken, werden nicht selten mit dem dramatisch klingenden englischen Beinamen »protracted« oder »verschleppt« beschrieben. Ihnen beizukommen ist besonders schwierig. So wurde in der Friedensarbeit der vergangenen Jahrzehnte ein breites Spektrum an Instrumenten entwickelt, die nachhaltige Rahmenbedingungen dafür schaffen wollen, dass die Gewalt nicht wieder aufflammt. Innerhalb des riesigen Feldes der Friedensförderung konzentriert dieser Beitrag sich auf Mediations- und Dialogprozesse und auf die Rolle der Zivilgesellschaft in diesen – was natürlich nicht heißt, dass dies die einzigen Werkzeuge sind, die zum Aufbau des Friedens benötigt werden.

Eine nützliche Verständnishilfe für den Beitrag von Dialog und Mediation zum Frieden ist das Track- oder Schienen-Modell. Dieses wurde Anfang der 1980er Jahre vom US-Diplomaten Joseph Montville entwickelt und unterscheidet zunächst zwei verschiedene Ebenen oder »Tracks« von Friedensinterventionen: Offizielle bzw. staatlich getriebene Friedensbemühungen finden auf Track 1 statt; die inoffiziellen, nicht-staatlichen bewegen sich auf Track 2 (Montville and Davidson 1981). In den folgenden Jahrzehnten wurde Montvilles Modell um weitere Ebenen der Friedensförderung ergänzt, insbesondere um Track 3, der öfters auch als »Volksdiplomatie« bezeichnet wird.

Ziele, Akteure und methodische Ansätze der verschiedenen Tracks in Mediations- und Dialoginitiativen unterscheiden sich stark. Dennoch sollten sie nicht als Gegensätze zueinander gesehen werden, sondern als einander ergänzend.

Interventionen auf Track 1 sind ein Werkzeug der klassischen Friedensvermittlung, eine „Technik des staatlichen Handelns, [die] im Wesentlichen ein Prozess ist, bei dem die Kommunikation von einer Regierung direkt an den Entscheidungsapparat eines anderen gerichtet ist“ (Said and Lerche 1995, S. 69). Auf dieser Ebene ist die Zivilgesellschaft meist nicht vertreten. Vielmehr werden hier offizielle Vertreter*innen der Konfliktparteien an einen Tisch gebracht, wobei die Treffen in der Regel von externen Mediator*innen einberufen werden, die selber wiederum offiziell handeln, d.h. als Repräsentant*innen eines Staates oder einer multilateralen Organisation. Ziel dieser offiziellen Prozesse ist es, Gewalt zu stoppen und eine Einigung zu spezifischen, für die Konfliktparteien wichtigen Themen zu erzielen, beispielsweise zu Territorialfragen. Idealerweise mündet eine solche Vermittlung in einer offiziellen, für die Parteien rechtlich verbindlichen Vereinbarung.

Offizielle Friedensgespräche, besonders wenn sie ins Stocken geraten, werden nicht selten ergänzt durch informelle, vertrauliche Verhandlungen zwischen einflussreichen Vertreter*innen der Konfliktparteien, die jedoch nicht zwingend selber an offiziellen Gesprächen teilnehmen. Hier kann auch die Zivilgesellschaft vertreten sein. Das Ziel solcher Track-1,5-Aktivitäten ist es, Vertrauen aufzubauen, Antworten auf knifflige Fragen zu finden und Möglichkeiten für Kompromisse auszuloten. Die Verhandlungen sind jedoch weder offiziell noch rechtlich bindend, weshalb die Teilnehmenden auch weniger unter Druck geraten.

Vermittlungsinitiativen auf Track 2 finden parallel zu Regierungsgesprächen statt und wurden von den Vordenkern des Konzepts als inoffizielle, informelle Interaktion zwischen Mitgliedern von Gegnergruppen oder Nationen“ definiert, die beabsichtigen, „Strategien zu entwickeln, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und menschliche und materielle Ressourcen in einer Weise zu organisieren, die einer Beilegung des Konflikts förderlich ist“ (Montville 1990, S. 162). Initiativen auf Track 2 bringen zivilgesellschaftliche Führungspersönlichkeiten aus den Konfliktparteien zusammen, wie ehemalige Politiker*innen, religiöse Führungspersönlichkeiten, Künstler*innen, Gelehrte etc. (Herbert Kelman, zitiert in Chigas 2003, S. 5). Vermittlungsprozesse auf Track 2, wie auch auf Track 3, ersetzen die formelleren Kontakte auf Track 1 nicht, sondern ergänzen diese.

Das Konzept der Track 3- oder Volksdiplomatie ist nach und nach als analytisches Konzept entstanden, nachdem die Zivilgesellschaft allmählich als wichtiges, eigenständiges Element der Friedens­förderung in der Forschung Beachtung fand (Paffenholz 2010). Diana Chigas (2003) beschreibt Volks- oder Bürgerdiplomatie als „inoffizielle Bemühungen von Drittparteien und Leuten aus allen Lebensbereichen und -sektoren, um nach Wegen zu suchen, wie Frieden in gewaltsamen Konflikten gefördert werden kann“. Track 3-Aktivitäten werden nicht immer von solchen auf Track 2 unterschieden. Jedoch ist dies in verschiedener Hinsicht sinnvoll.

Erstens unterscheiden sie sich aufgrund ihrer politischen Autorenschaft und der Machtverhältnisse. Track 3-Initiativen sind »von unten« (bottom-up) organisiert, wohingegen Dialoge unter Eliten (Track 2) oft regierungsnah und »von oben« verordnet sind (top-down). Nicht zuletzt aufgrund dieser »bottom-up«-Ausrichtung und ihrer kritischen Haltung der Regierung gegenüber befinden sich Vertreter*innen der Volksdiplomatie vor allem in autoritären und gewaltsamen Konflikt-Kontexten oft in der Opposition zu ihrer eigenen politischen Führung und sind deren Repressionen ausgesetzt. Das heißt, »Volksdiplomat*innen« identifizieren sich oft weniger mit einer bestimmten Konfliktpartei, als vielmehr mit einer grenzübergreifenden Idee oder eine Sache.

Zweitens unterscheidet sich die Volksdiplomatie vom Track 2 in ihren Akteuren. »Grassroots«-Diplomat*innen vertreten nicht die Eliten, sondern »normale« Nichtregierungsorganisationen, religiöse Gruppen, Berufsgattungen etc., die direkt vom Konflikt betroffen sind. Dialoginitiativen auf Track 3 können sehr spezifisch sein, d.h. spezifischen Konfliktfolgen oder Akteuren gewidmet sein. Der Schweizer Diplomat Jean-Nicolas Bitter nennt solche Initiativen der praxisbezogenen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit »Diapraxis«, wobei er gleichzeitig die Wichtigkeit des kontext-spezifischen Handelns herausstreicht: Worte allein reichen nicht aus, um individuelle Beziehungen zu schaffen oder zu transformieren, noch um Brücken zu bauen und zwischengesellschaftliche Konflikte zu transformieren. [] Diapraxis – Dialog durch Praxis – muss man unterschiedlich definieren und anwenden, je nach Konflikt-Kontext, in dem sie angewendet wird.“ (Bitter 2011, S. 65)

Wirkungsmöglichkeiten und Grenzen der einzelnen Tracks

Initiativen auf Track 3 und Track 2 streben in der Regel kein Produkt (z. B. ein Waffenstillstandsabkommen) an, wie dies auf Track 1 der Fall ist. Vielmehr wollen sie auf den Prozess einwirken, der langfristig zum Frieden führen soll. Dies wird in der Fachliteratur auch als »peace constituencies« oder »Friedenskreise« bezeichnet und meint jene den Frieden unterstützenden Haltungen oder Tendenzen in der Gesellschaft, die für eine nachhaltige Stabilisierung und Versöhnung wichtig sind (Kriesberg 2001; Chigas 2003).

Initiativen der Friedensarbeit kommen je nach Track in unterschiedlichen Stadien eines Friedensprozesses zum Einsatz und haben verschiedene Aufgaben. Auf Track 2 und 3 werden beispielsweise Problemlösungs- und Dialog-Workshops durchgeführt, an denen einzelne Vertreter*innen der Konfliktparteien teilnehmen. Diese dienen dem Austausch von Daten, informieren die Parteien über die Ansichten der anderen Seite und helfen, über die Lösung gemeinsamer Probleme nachzudenken, die als Folge des Konflikts entstanden sind (zerstörte Infrastruktur, zerrissene Beziehungsnetze, usw.) (Kelman 1977). Des Weiteren wird in der eigenen Gesellschaft an der öffentlichen Meinung gearbeitet, wobei breitere Teile dazu gebracht werden sollen, „das Gefühl der Opferrolle unter den einzelnen Parteien abzubauen“ und „das Bild vom Feind mit neuer Menschlichkeit zu füllen“ (Montville 1990, S. 163). Schließlich können auf zivilgesellschaftlicher Ebene auch konfliktlinienübergreifende Projekte der praktischen Zusammenarbeit vorangetrieben werden – beispielsweise im Bereich Staatsaufbau oder humanitäre Hilfe.

Offizielle wie auch inoffizielle Vermittlungsbemühungen haben ihren eigenen Wert und können einander nicht ersetzen. Vielmehr sollten die verschiedenen Arten und Tracks als komplementär zueinander angesehen werden: Der Frieden muss aus einer »top-down«-, gleichzeitig aber auch aus einer »bottom-up«-Perspektive aufgebaut werden. Genau das ist aber leider oft nicht gegeben. Akteure der einzelnen Tracks sehen sich als Konkurrent*innen, behindern sich in ihrer Arbeit und/oder spielen sich gegeneinander aus. So besteht beispielsweise für auf Track 3 engagierte Gruppen das Risiko, dass sie aufgrund von Repressionen durch die Regierung, aber auch infolge ihres eigenen Oppositionsdenkens isoliert und in ihrer friedenspolitischen Wirkung marginalisiert werden. Die zivilgesellschaftliche Friedensarbeit braucht Unterstützung aus den höherliegenden Tracks, um ihre Wirkung voll entfalten zu können. Gleichzeitig reichen auf Track 1 verhandelte Abkommen nicht aus, einen dauernden Frieden zu schaffen, weil sie sich oft auf technische und militärische Aspekte konzentrieren und den Konflikt in seiner emotionalen und gesellschaftspolitischen Dimension nicht erfassen. Das heißt, ein auf Regierungsebene vereinbarter »juristischer Frieden« braucht die zivilgesellschaftlichen Tracks, um in die Bevölkerung hineingetragen, mit der Gesellschaft verhandelt und schlussendlich von dieser umgesetzt zu werden. Umso wichtiger ist es, dass die einzelnen Tracks um ihre eigenen Wirkungsmöglichkeiten und Grenzen wissen und die Zusammenarbeit suchen.

Fallstudie post-sowjetischer Raum

Im Süden der ehemaligen Sowjetunion ist die Dichte an »verschleppten« Konflikten besonders groß, wobei sie sich hier noch einen weiteren Beinamen erworben haben, nämlich den der »frozen« oder »eingefrorenen Konflikte«. Neil MacFarlane definiert diese als „Konfliktsituationen, in denen keine aktiven, breiteren Konflikthandlungen stattfinden (obwohl es zu kleiner Gewaltanwendung kommen kann) und es eine dauerhafte, gemeinsam vereinbarte Waffenruhe gibt, aber wo Bemühungen um politische Einigung und Frieden scheitern“ (MacFarlane 2009, S. 23).

Bei den »eingefrorenen« Konflikten des post-sowjetischen Raums ist auf Track 1 zwar ein Friedensabkommen zustande gekommen, das jedoch vor allem die militärische Sicherheit im Auge hat und nicht oder nur ungenügend auf einen Wiederaufbau politischer, sozio-kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Konfliktparteien ausgerichtet ist. Im georgisch-abchasischen Konflikt beispielsweise sorgten die Abkommen von Sotschi (1993) und Moskau (1994) zwar für militärische Befriedung und richteten friedenssichernde Missionen ein. Jedoch wurde die Beilegung des Konflikts auf anderen Ebenen ausgeklammert – insbesondere die heikle Frage des politischen Status Abchasiens und die psycho-soziale Aufarbeitung der auf beiden Seiten begangenen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung.1 Unter anderem weil den Friedensbemühungen an der zivilgesellschaftlichen Basis zu wenig Raum gegeben wird und die verfeindeten Bevölkerungsgruppen absichtlich immer stärker voneinander isoliert werden, köchelt der Konflikt zwischen Abchas*innen und Georgier*innen seit den 1990er Jahren weiter, je nachdem auf kleinerer oder größerer Flamme (Zemskov-Züge 2016).

Ein anderes Merkmal der »eingefrorenen Konflikte« im post-sowjetischen Raum ist ihre starke Abhängigkeit von den geo-strategischen Interessen der russischen Regierung. Diese Abhängigkeit wird als Druckmittel gegen andere sowjetische Nachfolgestaaten benutzt, um deren wirtschaftliches, ideologisches und sozio-kulturelles Abdriften Richtung Westen zu verhindern. Sehr gut ist dies am jüngsten Beispiel des Donbass-Konflikts zu beobachten, der u.a. deshalb lanciert wurde, damit die pro-europäischen Kräfte, die während des Maidan-Aufstandes die Oberhand hatten, in der Ukraine nicht das letzte Wort haben. Als Resultat dieser Entwicklung macht sich in breiten Teilen des Landes wieder autoritäres Gedankengut breit; ob dieses nun von pro-russischen oder pro-ukrainischen Kräften verbreitet wird, ist zweitrangig.

Die Zivilgesellschaft ist doppelt betroffen von der »Eingefrorenheit« der Konflikte, in denen sie lebt. Einerseits haben diese tiefe sozio-kulturelle Gräben geöffnet und zu einer Radikalisierung der Gesellschaften auf allen Seiten beigetragen; vor diesem Hintergrund sind volksdiplomatische Bemühungen besonders gefordert, weil andere Formen der Friedensbemühungen dieser Art von Konflikt gar nicht beikommen können (Brunova-Kalisetskaya 2015). Andererseits stehen gerade die zivilgesellschaftlichen Akteure aufgrund politischer Radikalisierung, geopolitischer Interessen und zunehmend autoritärer Regierungsformen im post-sowjetischen Raum immer mehr unter Druck; dies führt nicht selten zu einem Angriff der Führungseliten auf inner- und zwischen-gesellschaftliche Formen der Volksdiplomatie als »unpatriotisch« oder sogar »die eigenen Nationalinteressen verratend«, und dient als willkommener Anlass, unerwünschte zivilgesellschaftliche Akteure mundtot zu machen.

Das heißt, in den »eingefrorenen« Konflikten des post-sowjetischen Raums bewegen sich die nach Frieden suchenden Teile der Zivilgesellschaft in einem Teufelskreis. Wohl sind sie dringend gefordert, weil nur sie eine Versöhnung und nachhaltige Stabilisierung der Situation herbeiführen können. Gleichzeitig sind sie aber stark geschwächt und stehen unter Beschuss von innen (nationalistische Radikalisierung) und außen (staatliche Repression), was sie an der Ausübung eben dieser friedensstiftenden Rolle hindert. Ob und wie es der Zivilgesellschaft gelingt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, werden die kommenden Jahre zeigen.

Anmerkung

1) Siehe dazu Wolleh, O. (2017): Der nachhaltige Weg zur Vertrauensbildung – Geschichtsdialog in Georgien, Abchasien und Südossetien, auf S. 21.

Literatur

Bitter, J.N. (2011): Diapraxis in Different Contexts – A Brief Discussion with Rasmussen. Politorbis, Vol. 52, No. 2, S. 65-69.

Brunova-Kalisetskaya, I. (2015): Dialog Ne S Vragom, a S Chelovekom (Dialogue Not with the Enemy, but with Human Beings). Histor!ians, 12.9.2015; historians.in.ua.

Chigas, D. (2003): Track II (Citizen) Diplomacy. Beyond Intractability, August 2003; beyondintractability.org.

Kelman, H. (1977): The Problem-Solving Workshop in Conflict Resolution. In: Berman, M.; Johnson, J.E. (eds.): Unofficial Diplomats. New York: Columbia University Press.

Kriesberg, L. (2001): Mediation and the Transformation of the Israeli-Palestinian Conflict. Journal of Peace Research, Vol 38, No. 3, S. 373-92.

MacFarlane, S. (2009): Frozen Conflicts in the Former Soviet Union – The Case of Georgia/South Ossetia. In: Institute for Peace Research and Security Policy at the University of Hamburg/IFSH (eds.): OSCE Yearbook 2008. Baden-Baden: Nomos, S. 23-34.

Montville, J. (1990): The Arrow and the Olive Branch – A Case for Track Two Diplomacy. In: Volkan, V.; Julius, D.; Montville, J. (eds.): The Psychodynamics of International Relationships. Lexington, Mass: Lexington Books, S. 161-175.

Montville, J.; Davidson, W. (1981): Foreign Policy according to Freud. Foreign Policy, No. 45, S. 145-157.

Paffenholz, T. (ed.) (2010): Civil Society & Peacebuilding – A Critical Assessment. Boulder: Lynne Rienner Publishers.

Said, A.; Lerche, C. (1995): Concepts of International Politics in Global Perspective. New Jersey: Prentice Hall.

Zemskov-Züge, A. (2016): Contrary Memories – Bases, Chances and Constraints of Dealing with the Past in Georgian-Abkhaz Dialogue. Prague: European Consortium for Political Research (ECPR) General Conference, Charles University, Prag, 7-10 September 2016; ecpr.eu.

Cécile Druey lebt als freischaffende Historikerin in Bern (Schweiz) und arbeitet im Bereich der Konflikt- und Friedensforschung, unter anderem für die schweizerische Friedensstiftung swisspeace und die Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung OWEN in Berlin.

Eingefrorene Tragödie


Eingefrorene Tragödie

Der Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan ist kaum lösbar

von Jakob Rösel

Schon bei der Sezession Pakistans von Indien 1947 wurde die Region Kaschmir von Bürgerkrieg und Vertreibungen erfasst. Der Kampf um die nationale Zugehörigkeit der muslimischen Mehrheit wird bis heute blutig ausgetragen. Die Situation ist verfahren: Indien reagiert auf alle Autonomiebestrebungen mit harter Repression, Pakistan nutzt den Konflikt für eigene Zwecke.

Der Kaschmir-Konflikt teilt mit dem Konflikt um Israel seine Langlebigkeit, seine Unlösbarkeit und seine großen geopolitischen und potentiell nuklearen Implikationen. Allerdings wird er vom »eurozentrischen« Westen seit 70 Jahren unterschätzt. Russland wurde von Winston Churchill einmal charakterisiert als ein Rätsel, behütet von einem Mysterium, umringt von einem Geheimnis. Kaschmir wäre dann ein Dilemma, am Beginn einer Sackgasse mit einem unausweichlichen Resultat, einer Tragödie.

Kaschmir ist ein Dilemma, weil zwei Konkurrenten, Pakistan und Indien, einmal als islamischer, einmal als säkularer Staat zur moralisch-ideologischen Selbstlegitimierung Kaschmir für sich beanspruchen müssen. Es ist eine Sackgasse, weil diese Konkurrenz nach vier Kriegen und 70 Jahren der Konfrontation kaum Spielraum für dritte Wege, Übergangslösungen, Kompromisse lässt. Und zuletzt ist es eine Tragödie, weil die okkupierte Bevölkerung, die muslimische Mehrheit Kaschmirs, stets Widerstand leisten wird. Dagegen ist der stärkere Akteur, die Regierungs- und Besatzungsmacht Indien, bereit, diesen Widerstand um jeden Preis zu unterdrücken.

Wie konnte es dazu kommen?

Der indische Bundessstaat Jammu und Kaschmir ist aus einem von einer Hindu-Dynastie beherrschten Königreich hervorgegangen. Es wurde im 19. Jahrhundert von der kolonialen East India Company gegen Zahlung einer hohen Anerkennungsprämie bestätigt und anschließend für geostrategische Aufgaben benutzt: eine perfekte imperiale Camouflage. Am Ende des 19. Jahrhunderts umfasste das Königreich ein Terrain von der Größe Großbritanniens und stand formal unter der Herrschaft der Dogra-Dynastie. Die beiden Hauptstädte waren Jammu im überwiegend hinduistischen Süden sowie Srinagar im fast vollständig muslimischen Hochtal von Kaschmir.

Die von Nehru offiziell, von Gandhi »charismatisch« geführte Kongressbewegung entfaltete etwa seit 1920 Massenwirkung und wurde eine politische Partei. Sie forderte ein unabhängiges, säkulares Indien. Aus einer von den Briten angeregten muslimischen Honoratiorenassoziation, der Muslimliga, entstand 1936 eine muslimische Massenpartei, nach dem Modell des Kongress, aber in Feindschaft zu ihm. Die Muslimliga sprach von einem Indien der zwei Nationen, einer Hindu-Nation und einer paritätischen Muslim-Nation. Seit Beginn des Zweiten Weltkrieges forderte sie dafür ein »Pakistan« (Akronym für Punjab-Kaschmir-Sindh-Belutschistan).

Gerade für das riesige und vielschichtige Jammu und Kaschmir wurde dieser Konflikt bedeutsam. Es entstand eine »Jammu und Kaschmir Muslimkonferenz«, die wenig später von Sheikh Abdullah in »National Conference« umbenannt wurde. Abdullah wollte den Widerstand gegen die Dogra-Rajas vereinen. Er sympathisierte seinerzeit mit den Idealen des Kongress und kannte Nehru. Im Winter 1945/46 zeigte eine indische Wahl die Polarisierung an. Der Kongress repräsentierte nun die überwältigende Mehrheit der Hindus. Die Muslimliga hatte die Masse der Muslime hinter sich. Für Jinnah, den Führer der Muslimliga und Wortführer Pakistans, war nun ein Separatstaat unabwendbar. Noch 1946 wurden die Gewaltkreisläufe, die Massaker zwischen Hindus und Muslimen, unkontrollierbar (siehe dazu iz3w 355 über Separatismus, S. 16ff.).

Louis Mountbatten wurde als letzter britischer Generalgouverneur nach Neu-Delhi entsandt. Er sollte das »Endgame« beschleunigen, denn bis zur Jahresmitte 1947 sollte Indien unabhängig und zugleich geteilt sein: in Indien und in West- und Ostpakistan. Damit rückte ein weiteres Problem in das Zentrum der Entscheidungen: Was soll mit den Fürstenstaaten geschehen? Wohin gehen Jammu und Kaschmir?

Das Dilemma

Für Jinnah und die Muslimliga entschied die Religionszugehörigkeit der Mehrheit darüber, ob ein Gebiet Pakistan oder Indien zugeschlagen wird. Pakistan sollte ein Staat für die Muslime werden. Kaschmir als ein mehrheitlich muslimisches Fürstentum an der Grenze gehört für sie natürlicherweise dazu. Für die indische »One Nation«-Theorie bestand ein gegenläufiger Zwang. In der säkularen Nation gab es außer der Inselgruppe der Lakkadiven kein Gebiet mit muslimischer Mehrheit. Kaschmir wurde damit zur Bestätigung des für den Bestand des multireligiösen Indiens unersetzbaren Säkularismus: Auch die Muslime gehören zu uns. Die Zugehörigkeit von Kaschmir stand für Nehru auch demokratisch außer Frage. Der politische Sprecher der Bevölkerung, Sheikh Abdullah, hatte die Muslimkonferenz zur National Conference umbenannt. Die Führer beider Parteien saßen zum Zeitpunkt des »Endgame of Empire« im Gefängnis und waren befreundet.

Die beiden künftigen Staaten, Indien und Pakistan, die säkulare und die muslimische Nation, mussten also aus Gründen ihrer raison d’être auf der Herrschaft über Kaschmir bestehen. Nach dem Teilungsplan des Generalgouverneurs Mountbatten gingen die muslimischen Mehrheitsprovinzen im Westen, Sindh und die North-West Frontier Province, an Pakistan. Das Schicksal Belutschistans wurde 1948 im Rahmen einer pakistanischen Militärintervention erledigt. Die riesigen, bevölkerungsreichsten Provinzen Punjab im Westen und Bengalen im Osten mussten geteilt werden, weil sie jeweils zu einer Hälfte von Hindus und einer Hälfte von Muslimen bewohnt waren. Der Ostpunjab ging an Indien und Ostbengalen bildete Ostpakistan, das künftige Bangladesch. Massenhaft flüchteten Hindus und Sikhs aus dem Westpunjab nach Indien und umgekehrt Muslim*innen aus dem Ostpunjab nach Pakistan. Zwölf Millionen Menschen wurden vertrieben. Die Zahl der Toten kennt niemand; Schätzungen schwanken zwischen einer halben Million und einer Million.

In Punch/Kaschmir begannen im Herbst 1947 Pahari- und Paschtunenkrieger für die muslimische Mehrheitsseite mit der kriegerischen Eroberung kaschmirischer Gebiete. Im Gegenzug drängten Sikh-Eliteregimente die Paschtunen wieder zurück. Nachdem im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Waffenstillstand ausgehandelt wurde, wurde die disparate Front bald zur »Line of Control«, zur neuen De-facto-Grenze. Im Südwesten verlor Indien dabei ein Zehntel des Hochtals und von Jammu. Dieses Gebiet bildet das pakistanische Azad Kashmir. Im Norden waren die Verluste weit größer. Wesentliche Teile der geostrategisch wichtigen Grenze zu China fielen nun an Pakistan, welches wiederum ein beachtliches Terrain nördlich der höchsten Karakorum-Gipfel an China abtrat. Des Weiteren fielen die immensen Eiswüsten, weite Strecken der Indus-Gebirgstäler sowie Gilgit und Baltistan an Pakistan. Dort liefern sich seither indische und pakistanische Truppen auf dem 5.000 Meter hoch gelegenen Gletscher Gefechte, bei Atemnot, in unerbittlicher Kälte. Mit China im Rücken kann das kleine Pakistan die indische Großmacht beliebig provozieren. 1962 besiegte China Indien in einem Grenzkrieg und drängte es entlang des verbliebenen östlichen Grenzverlaufs zurück.

Insgesamt hat Indien rund 40 Prozent der Kaschmirregion verloren. Zugleich tappte Nehru innenpolitisch in eine Falle: Um dem »Beitritt« Kaschmirs zu Indien eine demokratische Legitimation zu verschaffen, versprach er eine Volksabstimmung. Seiner Freundschaft mit Sheikh Abdullah sicher, glaubte er 1948, dass der Sheikh und die National Conference künftig den demokratischen Prozess bestimmen und eine proindische Volksabstimmung gewinnen würden. Sheikh Abdullah aber sollte in den kommenden Jahren zum Quälgeist Nehrus, seiner Tochter Indira Gandhi und seines Enkels Rajiv Gandhi werden.

Die Sackgasse

Noch im Überschwang des Beitritts kam der indische Kongress Sheikh Abdullah entgegen. Die Dogra-Monarchie wurde zügig abgeschafft, der neue Bundesstaat Jammu und Kaschmir erhielt außerordentliche Privilegien: Seine Fahne wehte stets neben der Nationalflagge. Bundesgesetze galten hier nur, wenn sie zuvor vom Regionalparlament ebenfalls verabschiedet wurden. Die Urteile des obersten Verfassungsgerichts galten nicht für den Bundesstaat. Mit diesen einzigartigen Sonderrechten schaffte sich der Sheikh ein Sprungbett für eventuelle weitere Autonomieforderungen. Es dauerte Jahre, bis diese Privilegien partiell zurückgenommen werden konnten.

Diese Rücknahme produzierte ein anderes Dilemma: Mit ihr verengte sich der Spielraum für Autonomiekonzessionen, also Konfliktlösungen. Autonomiekonzessionen könnten einen Präzedenzfall für die übrigen Bundesstaaten schaffen. Sheikh Abdullah errichtete derweil seine eigene »National Conference«-Vorherrschaft und brach eine vermeintlich sozialistische Revolution vom Zaun, von der vorrangig seine Familie und Parteigefolgschaft profitierten. Sein Sohn Farooq führte die Partei zunächst erfolgreich weiter.

Bis Ende der 1980er Jahre trat die Kaschmirpolitik auf der Stelle. Es gab keine Volksabstimmung. Stattdessen behauptete Neu-Delhi, dass die regelmäßig abgehaltenen Provinz- und Nationalwahlen das Äquivalent einer proindischen Abstimmung wären. Hinzu komme, dass Pakistan 40 Prozent des Gebiets besetzt halte und dort eine freie Volksabstimmung nicht zulasse oder nicht garantieren könne. Auch an den vielfachen Wahlmanipulationen, Stimmen- und Abgeordnetenkäufen von allen Seiten änderte sich in den kommenden drei Jahrzehnten wenig. Der Protest der Kaschmiri für mehr Autonomie oder für Unabhängigkeit blieb noch friedlich, allerdings nahm er zunehmend außerparlamentarische Formen an.

Während dieser fast vier Jahrzehnte wurden zwei Kriege zwischen Pakistan und Indien geführt, ein direkter 1965 und indirekt der Bangladesch-Krieg von 1971. Mit dem für Pakistan verheerenden Kriegsausgang nutzte Indien seine Position und diktierte Pakistan einen »Bilateralismus«. In der Folge sollte die Kaschmirfrage zukünftig nur zwischen Indien und Pakistan verhandelbar sein, ohne Einmischung etwa der Vereinten Nationen. Das Trauma der Abtrennung Bangladeschs setzte zugleich auf pakistanischer Seite die Suche nach neuen Bündnispartnern und Waffen frei. Zunächst Staatspräsident Bhutto, dann sein Nachfolger, der Putschist Zia-ul-Haq, suchten die finanzielle Unterstützung Saudi-Arabiens und importierten dessen sunnitischen Fundamentalismus. Sie vertieften die Allianz mit China und fädelten für die US-Regierung von Nixon/Kissinger die Liaison zwischen Peking und Washington ein. Vor allem aber trieben sie heimlich durch Einkauf, Spionage und Schmuggel eine eigene Atomrüstung voran, die seit 1998 von Erfolg gekrönt ist. Die Konsequenzen des Sezessionskriegs 1971 lenken die Verhandlungen um Kaschmir also endgültig in eine Sackgasse.

Dabei liegen seit den 1950er Jahren drei Lösungsansätze auf dem Tisch: erstens das Plebiszit, zweitens die Idee der vier regionalen Plebiszite, drittens die Anerkennung der »Line of Control« als legitime internationale Grenze. Zum ersten: Ein Plebiszit wäre nur sinnvoll, wenn alle Bewohner*innen zwischen »Unabhängigkeit«, »zu Pakistan« oder »zu Indien« wählen können. Aber die Unabhängigkeit Kaschmirs wird von Indien und Pakistan kategorisch ausgeschlossen. Eine »Indien oder Pakistan«-Wahl wird von Indien blockiert – mit dem Hinweis, das besetzte pakistanische Azad Kashmir könne nicht frei wählen, während die seit 1953 im Hochtal abgehaltenen Parlamentswahlen Plebiszit genug seien. Pakistan hingegen ließe eine »Indien oder Pakistan«-Entscheidung eventuell zu, je nach politischer Wetterlage.

Zum zweiten Lösungsansatz: Der kanadische UN-Vermittler Owen Dixon hatte die Idee zu vier regionalen Plebisziten, die der ethnischen und politischen Vielfalt Rechnung trügen: im zu 60 Prozent buddhistischen Ladakh, im zu zwei Drittel hinduistischen Jammu, im nahezu vollständig islamischen Azad Kashmir und Gilgit/Baltit-Territorium und im zu 90 Prozent muslimischen Hochtal. Da Jammu und Ladakh für Indien, jedoch der seit 1948 okkupierte Westen für Pakistan votiert hätten, hätte das Vierer-Plebiszit das Problem vorsortiert und auf das Hochtal begrenzt. Allerdings mit der gleichen Blockade wie bei Option 1: Indien hätte weder ein unabhängiges noch ein pakistanisches Hochtal akzeptiert und Pakistan kein indisches. Somit bleibt nur die dritte Option des »aufgeklärten Eigeninteresses«: die Anerkennung der seit 1948 bestehenden »Line of Control«. Doch vor allem Indien würde niemals abschließend den Verlust von mehr als 40 Prozent des ehemaligen Fürstentums akzeptieren.

In den Jahrzehnten seit 1971 (Phase des »Bilateralismus«) und 1998 (Pakistans Nuklearbewaffnung) hat sich die Konfrontation verhärtet. Für den pakistanischen Militärstaat blieb die Forderung nach der Befreiung der Kaschmir-Muslime unverzichtbar. Die indische Annexion des Hochtals demonstriert fortdauernd die existenzielle Bedrohung Pakistans und legitimiert damit die Vorherrschaft des Militärs. Für die seit 1999 auch hindunationalistisch ausgeprägten Großmachtambitionen Indiens gilt wiederum das Gegenteil: Begrenzte Konzessionen an kaschmirische Autonomiebestrebungen wären ein Zeichen der Schwäche. Das gilt nach außen gegenüber Pakistan und China ebenso wie nach innen gegenüber den Oppositionsparteien und Hindu-Wähler*innen, vor allem im Gebietsteil Jammu. Dadurch werde die Einheit Indiens bedroht.

Hinzu kommt, dass der Weg der kleinen Konzessionen diskreditiert ist: 1975 war unter großem Pomp ein »Kashmir Accord« zwischen Indira Gandhi und Sheikh Abdullah ausgehandelt worden. Dieser Accord ermöglichte es Sheikh Abdullah, wieder in das Amt des Chief Ministers zurückzukehren und in Jammu und Kaschmir eine Autokratie zu errichten. Er fabulierte über Zusammenschlüsse wie Azad Kaschmir mit Kaschmir. Alle Minister schworen ihm einen persönlichen Treueeid. Er brachte den Kongress, die Hindumehrheit in Jammu und die Buddhisten in Ladakh gegen sich auf. Der Tod des »Löwen« 1982 war für den Kongress eine Erlösung. Seitdem hält Neu-Delhi nichts von auch nur begrenzten Autonomieexperimenten. Der Konflikt radikalisierte sich zur Tragödie.

Die Tragödie

Zum Zeitpunkt des Todes von Sheikh Abdullah hatten junge Kaschmiris der National Conference den Rücken gekehrt. Sie galt ihnen als obsolet, korrupt und opportunistisch. Bereits 1977 hatte sich im Exil eine Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF) gegründet. Sie wurde in den 1980er Jahren zum Experimentierfeld einer nicht nur außerparlamentarischen, sondern bald auch militärisch-terroristischen Opposition. Vor allem die pakistanische Diktatur von Zia-ul-Haq, dessen übermächtiger Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) sowie die politische Stütze Zias, die islamfundamentalistische Jamaat-e-Islami Partei, griffen in den Widerstand ein. Die entscheidende Zäsur war das Ende des antisowjetischen Dschihad 1987 in Afghanistan, also die Demobilisierung der »fundamentalistischen Internationale«, etwa der saudi-arabischen, libyschen oder tschetschenischen Mudschaheddin. Diese Krieger stellten für Pakistan ein innenpolitisches Problem dar.

Jamaat-e-Islami und ISI fanden eine Lösung: Die Krieger wurden nicht mehr nach Westen über die Khaibergrenze, sondern nunmehr nach Osten über die »Line of Control« nach Kaschmir geschickt. Von einem Dutzend seit längerem in Pakistan und Azad Kashmir operierenden Terrorgruppen weitergereicht, ausgebildet und mit Waffen versehen, wurden sie ins Hochtal geschickt. Entsprechend radikalisierte sich nun der Widerstand gegen die indische Besatzungsmacht, die Regionalparteien und die innenpolitischen »Verräter«. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob ein eigener, spezifisch kaschmirischer militanter Widerstand politisch rationaler und weniger tödlich gewesen wäre. Der pakistanische Faktor veränderte alles. Den pakistanischen oder internationalen Kombattanten ging es um das Große und Ganze. Einer der Anführer, Azam Inquilabi, erklärte: „Wir haben gesehen, wie das kleine Land Afghanistan gegen eine Supermacht kämpfte, sie zum Rückzug zwang, ihren Niedergang und ihre Auflösung auslöste. Wir sahen, wie am Ende fünf neue islamische Staaten entstanden. Weshalb sollten wir das Gleiche nicht in Kaschmir mit Indien versuchen?“ (Schofield 2002, S. 126)

Diese eigentlich marginalen islamistischen Akteure wollten eine unüberbrückbare Kluft zwischen Hindus und Muslim*innen schaffen. Dies zeigte sich auch bei anderen vergangenen Terrorangriffen auf das indische Parlament, auf das Taj Mahal Hotel in Mumbai und weitere spektakuläre Ziele. Der Zweck der Terrorstrategie ist es, die Panik der Hindus zu schüren, eine kollektive Vergeltung seitens der indischen Sicherheitskräfte und am Ende den Glaubens- und Bürgerkrieg herbeizuführen. Die Dschihadisten kannten und befürworteten den Preis an Menschenleben, den die indische Repression fordert. Denn vor der Haustür Pakistans, im (Ost-) Punjab, hatte die Regierung Indira Gandhi in den 1980er Jahren die Sezessionsbewegung der Sikhs niedergeschlagen, mit mindestens 60.000 toten Zivilist*innen. ISI und Jamaat, bald flankiert von zwei weiteren fundamentalistischen Parteien, sowie die von ihnen geförderten Terrorgruppen trugen im Hochtal ebenfalls ihre Rivalitäten aus. Sie bedrohten und töteten jene Kaschmiris, Journalist*innen, Politiker*innen und Intellektuellen, die ihre Methoden – Geiselnahme, Autobomben, Selbstmord­attentate – oder ihre pro-pakistanische Haltung und Finanzierung kritisierten.

Dieser neue, seit 1987 einsetzende und bis heute andauernde »Dreißigjährige Krieg« kann hier nur grob skizziert werden. Die erste genuin kaschmirische Aufstandsorganisation, die JKLF, war bald fraktioniert, von pakistanischen Gruppen dominiert und diskreditiert. Die Vermehrung der Terrorgruppen und ihre brutale Konkurrenz steigerten das Chaos und die Repression. 1993 entstand eine All Parties Hurriyat Conference, eine Dachorganisation von 26 Gruppierungen unterschiedlichster Orientierung. Terrorgruppen existierten Seite an Seite mit kaschmirischen Kultur-, Partei- oder Propagandaorganisationen. Zweimal gespalten und wiedervereinigt, galt diese von Pakistan und ISI geförderte Dachorganisation als reine »Adressenkartei«. Für Indien ist die »Conference« kein Ansprechpartner. Indien hat aber auch keinen anderen gefunden – oder gesucht.

Vielmehr verfolgt Neu-Delhi seit fast 30 Jahren eine Komplementärstrategie formaler »demokratischer« Repräsentation, ergänzt durch Repression. Die regionale Politik stützt sich auf ein Vierparteiensystem: Die National Conference wird dynastisch vom Enkel Abdullahs, Omar, geleitet. Daneben stehen die regionale Kongresspartei; eine starke hindu-nationale, auf die Jammu-Hindus gestützte BJP [Indische Volkspartei] und eine Abspaltung der indischen Kongresspartei, die dynastisch geleitete PDP [People’s Democratic Party]. Seit 1947 haben elf Regionalwahlen stattgefunden. Seit 2014 regiert eine PDP/BJP-Koalition. Diese formale Kontinuität (elf Regierungen in 65 Jahren) und Stabilität (fünf Familien stellen 16 der 19 Chief Minister) verdeckt die inzwischen unüberwindbare Polarisierung zwischen Hindus und Muslim*innen. Vor allem verschwimmt dabei die Entfremdung zwischen den Muslim*innen, insbesondere der Jugend, und dem indischen Staat.

Auf Ladenschließungen, Straßenblockaden, gewalttätige Proteste sowie insbesondere auf Terroranschläge antwortet Neu-Delhi stets mit Repression. Dabei kann die Großmacht auf die Ressourcen des weltweit drittgrößten Armee- und Sicherheitsapparates zurückgreifen. Zwischen 200.000 und 300.000 Soldaten und Sicherheitskräfte sind im Hochtal stationiert. Über genaue Zahlen und die Kosten, vor allem an Menschenleben, herrscht Ungewissheit. Die Opfer­angaben schwanken zwischen 30.000 und 60.000 Toten. Sicher ist, dass Indien auch künftig diesen Preis in Kauf nehmen wird.

Die Zahl, die Identitäten und die Ziele der Aufstandsbewegungen sind unüberschaubar. Die Spaltungen und Fusionen sowie vielfältige interne Machtkämpfe haben zu einem Schattenkrieg im Schattenkrieg geführt. Einzelne Fraktionen arbeiten für den indischen Geheimdienst und Sicherheitsapparat. Die Grenzen zwischen ethnonationalistischem Irredentismus [Bestrebungen für einen Anschluss an das Mutterland; W&F], Islamismus, Kaschmir-Patriotismus, Mafiatum und bezahltem Verrat sind fließend.

Status quo zu beider Vorteil

Die große Politik, vorrangig der indischen BJP-Regierungen, hat sich von dem unlösbaren Problem abgewendet und verhandelt, wenn überhaupt, über Verbesserungen der Verkehrs-, Wirtschaft- und Handelsbeziehungen zwischen den beiden Staaten. Aber auch Initiativen im »erleichterten Grenzverkehr« werden durch Terroranschläge sabotiert. Sie demonstrieren der indischen Seite stets auf das Neue, dass das pakistanische Militär, ISI, Jamaat-e-Islami und die Terrorgruppen jenseits politischer Kon­trolle stehen. So zettelte das pakistanische Militär unter dem späteren Militärdiktator Pervez Musharraf 1999 einen vierten Krieg um Kaschmir, den Kargil-Krieg an, während Regierungschef Nawaz Sharif in erfolgversprechenden Verhandlungen mit der BJP-Regierung stand.

Seitdem ist das Interesse Indiens selbst an einer minimalen Verhandlungsstrategie geschwunden. Der Status quo, die fortdauernde Tragödie bildet damit nach sieben Jahrzehnten die goldene Mitte, in der die innenpolitischen und geostrategischen Interessen der beiden Kontrahenten konvergieren. Er verschafft der indischen Großmacht innenpolitische Ruhe (keine Autonomiepräzedenz) und schützt ihre geostrategischen Ambitionen. Dem pakistanischen Militär dient der Konflikt als Nachweis für die Unverzichtbarkeit seiner Schutzherrschaft. Zudem kann das Militär nur im Kaschmirkonflikt mit minimalem Einsatz und Risiko den übermächtigen Gegner nach Belieben düpieren.

Literatur

Lamb, A. (1991): Kashmir – A Disputed Legacy, 1846-1990. Hertingfordbury: Roxford Books.

Schofield, V. (2002): Kashmir in Conflict – India, Pakistan and the Unending War. London: I.B. Tauris

Jakob Rösel ist Autor des Buches »Pakistan – Kunststaat, Militärstaat und Krisenstaat«. (Berlin: LIT). Der Artikel wurde für iz3s, Juli/August 2017 geschrieben; eine Langfassung findet sich auf iz3w.org, Ausgabe 361.
W&F dankt dem Autor und dem Informationszentrum Dritte Welt für die Nachdruckrechte.

Frozen conflict – ein trügender Schein?


Frozen conflict – ein trügender Schein?

Der Fall Bergkarabach

von Azer Babayev

Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Kriegs gelten viele ethno-territoriale Konflikte im postsowjetischen Raum als »eingefroren«, als nicht geregelt. Mehr noch: Im August 2008 lenkte der unversehens ausgebrochene Krieg um Südossetien die internationale Aufmerksamkeit erneut auf die Konflikt- und Kriegsträchtigkeit in der östlichen EU-Nachbarschaft. Hinzu kommt die jüngst reaktivierte Erfahrung in der Region, wie schnell ethnische Gewaltkonflikte »kreiert« werden können, wie im Fall der Krim und der Ostukraine. Darüber hinaus demonstriert das Beispiel Bergkarabach, wie ein langwieriger Friedensprozess ständig ins Leere läuft. Die massive Gewalteskalation an der Frontlinie im April 2016, die mehr als 200 Todesopfer forderte, zeigte einmal mehr, dass dieser Konflikt alles andere als militärisch eingefroren ist. Es wurde auch deutlich, wie leicht die »eingefrorenen Konflikte« der Region »auftauen« können, weshalb der jetzige Status quo auf Dauer brandgefährlich und unhaltbar ist.

Beim ethno-territorialen Konflikt um Bergkarabach handelt es sich typischerweise um eine früher autonome Provinz mit einer ethnischen Minderheit, die – unzufrieden mit den ihr eingeräumten Rechten – ihre staatliche Sezession anstrebt. Zwar wurde im gemeinsamen Handeln mit einem Patronagestaat (Armenien) bereits eine Abspaltung aus dem bestehenden Mutterstaat (Aserbaidschan) gewaltsam militärisch vollzogen, jedoch hat das bislang keine Legitimation durch einen völkerrechtlichen Vertrag und keine internationale Anerkennung erfahren. Im Sinne eines politischen Kompromisses streiten sich die Kontrahenten nach wie vor darüber, ob Bergkarabach mit einem Autonomiestatut innerhalb Aserbaidschans bleiben oder eine unabhängige Entität werden soll.

Es hat vielfältige Gründe, dass in den laufenden Friedensverhandlungen bislang keine substanziellen Fortschritte erzielt wurden: angefangen von unvereinbaren Forderungen und Gerechtigkeitsvorstellungen der Antagonisten über tief verwurzelte gegensätzliche Identitätsfaktoren, die sich in dem Konflikt immer wieder bestätigen und neu aufladen, bis hin zu genuinen Machtinteressen der involvierten externen Akteure.

Gerechtigkeit, nationale Identität und Feindbilder

Hinter dem bisherigen Misserfolg lassen sich vor allem äußerst gegensätzliche Positionen der Konfliktparteien vermuten. Sie sind im Wesentlichen mit unvereinbaren Gerechtigkeitsvorstellungen verbunden, bei denen die Kontrahenten in der Regel zu absoluten Lösungen tendieren. So vertreten Armenien und Aserbaidschan unversöhnliche Positionen in der politischen Status-Frage des ursprünglichen sowjetischen Autonomen Gebiets Bergkarabach, die sie seit dem Waffenstillstand von 1994 als nicht verhandelbar erklären. Auf armenischer Seite ist die so genannte historische Gerechtigkeit von besonderer Bedeutung, die mit der Unabhängigkeit Bergkarabachs bzw. dessen Anschluss an Armenien wiederhergestellt werden solle, nachdem der Sowjetführer Stalin die Bergregion im frühen 20. Jahrhundert willkürlich Aserbaidschan zugeschlagen habe. Außerdem berufen sich die Armenier auf das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Aserbaidschan hingegen pocht auf sein völkerrechtlich und von der internationalen Staatengemeinschaft anerkanntes Recht auf seine staatlich-territoriale Integrität, die es wiederherzustellen gelte. Zudem hält es die Okkupation weiter Teile seines Staatsgebiets (außer Bergkarabach sieben umliegende Bezirke) für rechtswidrig, zumal aus diesem Gebiet die aserischen Bewohner*innen von den Armenier*innen vertrieben wurden. Es stehen sich also zwei Prinzipien gegenüber: das Recht auf nationale Selbstbestimmung und das Recht auf die territoriale Integrität eines international anerkannten Staates. In den unvereinbaren Gerechtigkeitsvorstellungen besitzt jedes der Prinzipien absolute Priorität.

Auch spielen identitäre Faktoren, wie etwa die in den jeweiligen Gesellschaften herrschenden Ideen, Werte, Normen und religiösen Überzeugungen, eine wichtige Rolle. Mit ihnen legitimieren die Konfliktparteien – sozial sinnstiftend – ihre Interessen und radikalen Positionen. Hinzu kommt, dass das Ringen um die Identitätsfragen oft in gewaltsame Konflikte zu münden droht. Denn anders als bei politischen Fragen ist es äußerst schwierig, dabei Kompromisse auszuhandeln, zumal wenn sich die im Konflikt stehenden Völker soziokulturell stark unterscheiden, wie gerade im Südkaukasus.

Im Falle Bergkarabachs scheinen unversöhnliche nationale Identitäten und insbesondere gesellschaftlich tief verankerte gegenseitige Feindbilder der armenischen und der aserbaidschanischen Seite eine Kompromissfindung beträchtlich zu erschweren. Dabei haben sich die Grundlagen der gegenseitig (erz-) feindlichen Nationalidentitäten lange vor dem aktuellen Konflikt gebildet und sind somit historischer Natur. So mobilisierten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die armenisch-aserbaidschanischen bürgerkriegsähnlichen Unruhen beide Völker für ihre jeweilige nationale Mission. Beiderseits geschaffene Feindbilder wurden in dieser Phase zu einem maßgeblichen Einflussfaktor der nationalen Orientierung in der Region. Religiöse Differenzen taten ein Übriges.

Des Weiteren fallen genuine Machtinteressen der in den Konflikt involvierten externen Akteure ins Gewicht. Vor allem ist darauf hinzuweisen, dass im frühen 20. Jahrhundert armenisch-aserbaidschanische Spannungen von den russischen Kolonialbehörden im Sinne einer »divide et impera«-Politik (teile und herrsche) angestachelt wurden. Das Zarenreich wollte den wachsenden armenischen Nationalismus schwächen, der bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mit einer nationalistischen Partei institutionelle Gestalt angenommen hatte. Es ist nicht verwunderlich, dass heute viele Beobachter den Schlüssel zur Beilegung des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts wiederum in russischer Hand sehen.

Externe Akteure und Vermittlungsversuche

Auch fällt auf, dass sich der Bergkarabach-Konflikt nicht nur zwischen zwei Staaten abspielt, sondern eng verflochten ist mit Interessen, machtpolitischen Zielen und normativen Vorstellungen externer Akteure. Gerade der Kaukasus ist seit Jahrhunderten in hohem Maße eine durch äußere Mächte mitgeprägte und -gestaltete Region. Mit seinen Rohstoffressourcen und seiner militärisch-strategischen Lage hat er heute große geostrategische Bedeutung für so unterschiedliche Akteure wie Russland, die USA, die Europäische Union, Iran und die Türkei. Der Friedensprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan wird dadurch erheblich komplizierter, denn die beiden Antagonisten können ihren Konflikt nicht allein lösen, sondern müssen auch den Interessen der involvierten externen Akteure Rechnung tragen.

Konkret lässt sich dabei das Verhalten Russlands, der USA und auch der EU auf jeweils eigene politische, strategische oder ökonomische Ziele zurückführen. Die Bedeutung des kaspischen Raums mit seinen Rohstoffreserven sowie dessen Nähe zu den sicherheitspolitisch brisanten Ländern Afghanistan, Iran und Irak bestimmen das Interesse der USA an der Region. Das Engagement der EU kann man als Teil einer Integrationskonkurrenz zwischen Moskau und Brüssel um die Länder des postsowjetischen Raums interpretieren. Dies wurde im Sommer 2013 besonders deutlich, als sich Armenien nach dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen mit der EU unter Moskauer Druck völlig überraschend für einen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion entschied. Hinzu kommt eine wichtige Nuance, die Bergkarabach von anderen ethnischen Konflikten unterscheidet: die Tatsache, dass es geopolitisch in »niemands Vorgarten, aber jedermanns Hinterhof« liegt.1

Gleichwohl scheinen die sonst in mehrfacher Hinsicht unterschiedlichen Großmachtinteressen Russlands auf der einen und der USA und der EU auf der anderen Seite nicht allzu inkompatibel zu sein. Im Gegensatz zu den Konflikten in Georgien (Abchasien und Südossetien) sowie zur Annexion der Krim und den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ostukraine, die der Westen und Russland ganz unterschiedlich interpretieren und entsprechend diametral entgegengesetzte Strategien und Lösungswege verfolgen, sind die Haltungen beider Seiten zum Bergkarabach-Konflikt und zu dessen Bearbeitung bislang nicht offen konfrontativ.

Noch vor dem Waffenstillstand 1994 begann auch eine internationale Mediation zur Konfliktbeilegung, seit 1997 unter Vermittlung der »Minsker Gruppe« der OSZE, die von Frankreich, Russland und den USA und damit von drei der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen geleitet wird. Diese schlug bislang mehrere Friedenspläne vor. Zuerst verfolgte man den Ansatz einer Stufenlösung: Die Minsker Gruppe sollte ein politisches Rahmenabkommen erreichen, dann sollte eine Konferenz in Minsk in einer zweiten Etappe den Status Bergkarabachs bestimmen. Die Ko-Vorsitzenden gingen jedoch bald dazu über, umfassende Paketabkommen vorzuschlagen, die auch die Klärung der Statusfrage beinhalteten. Der Vorschlag vom Juni 1997 umfasste ein solches Paket, das jedoch zu keinem Erfolg führte. Auch von 1998 bis 2001 versuchten die Unterhändler mit einer modifizierten Paketlösung zu einer Einigung zu gelangen, die für die strittige Region einen von Aserbaidschan und Bergkarabach gemeinsamen verwalteten Staat (joint rule) bzw. einen territorialen Austausch zwischen Aserbaidschan und Armenien vorsah.

Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen in Key West (Florida) 2001 wurde offensichtlich, dass eine Einigung über den endgültigen Status von Bergkarabach aufgrund des vorherrschenden Misstrauens kaum möglich ist. Das Beharren auf einer Paketlösung würde darauf hinauslaufen, den Konflikt langfristig einzufrieren. Deshalb verfolgen die Vermittler seitdem wieder eine Stufenlösung, die es ermöglichen soll, die Statusfrage vorerst auszuklammern. Konkret suchen beide Seiten seit 2007 im Rahmen der »Madrider Grundprinzipien« nach Möglichkeiten, eine Einigung zu erzielen, wie der Status in Zukunft bestimmt werden soll, aber diese Entscheidung selbst zu verschieben, während zunächst andere Aspekte umgesetzt werden sollen.2

Verschiedene Kompromissmodelle

Vor dem Hintergrund des bislang ausbleibenden Fortschritts stellt sich die entscheidende Frage, wo es Annäherungsmöglichkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie Kooperationsmöglichkeiten der relevanten internationalen Akteure mit Blick auf umsetzbare Kompromissmodelle geben könnte, zumal sich die beiden Antagonisten allein nicht einigen können, wie die jüngste Eskalation einmal mehr offenbart hat. Dabei handelt es sich wie bei anderen ethno-territorialen Konfliktregulierungen im Kern darum, den zunächst unauflöslich scheinenden Gegensatz von zwei völkerrechtlichen Prinzipien aufzulösen: territoriale Integrität versus Selbstbestimmung. Friedenspolitisch und -theoretisch besteht die zentrale Herausforderung darin, zwischen beiden Prinzipien unter den gegebenen Bedingungen eine vernünftige Balance herzustellen.

Wie gelang es in anderen, ähnlich gelagerten Konflikten, diesen antagonistischen Gegensatz wenn nicht aufzulösen, so doch so zu transformieren, dass es zu einer dauerhaften Regulierung des Konflikts kommen konnte? In der Spannbreite möglicher Regelungen in der bisherigen internationalen Praxis können verschiedene Kompromissmodelle zwischen den sich widersprechenden Prinzipien staatliche Souveränität und nationale Selbstbestimmung identifiziert werden, etwa konditionierte Unabhängigkeit, Autonomie (self rule), Föderation (self rule plus shared rule), Konföderation (joint rule), Kondominium sowie internationales Mandat oder Protektorat. Hinzu kommen auch zahlreiche Sub- bzw. Mischtypen solcher Kompromissregelungen. Gerade im Falle Bergkarabach könnte also nach den vielen vergeblichen – aber letztlich konventionellen – Lösungsversuchen der bisherigen Verhandlungen auch etwas Unorthodoxes gefragt sein, um einen für alle Seiten tragfähigen Kompromiss zu finden.

Insgesamt könnte ein vermehrtes Engagement externer Akteure, etwa eine Stärkung der Minsker Gruppe, prinzipiell eine Beilegung des Konflikts erleichtern, wenn nicht gar ermöglichen. Voraussetzung dafür ist aber, dass die eigenen Kerninteressen dieser externen Akteure auf Dauer in Richtung einer friedlichen Regelung weisen. Dabei lässt sich konkret fragen, ob das Großmachtverhalten der externen Hauptakteure – auch wenn sie nicht offen konfliktverschärfende gegensätzliche Ziele verfolgen –, eine konstruktive bzw. friedliche Konfliktbearbeitung verhindern und wo sich reale Kooperationsmöglichkeiten für die Konfliktbeilegung bieten.

Anmerkungen

1) Biber, E. (2013): The Roles of Iran and Turkey in the Nagorno-Karabakh Conflict. In: Hopmann, P.T.; Zartman, I.W. (eds): Nagorno-Karabakh – Understanding Conflict. Baltimore: Johns Hopkins University, School for Advanced International Studies, S. 139-153, hier 139.

2) Siehe dazu ausführlich International Crisis Group (2005): Nagorno-Karabakh – A Plan for Peace. Europe Report N°167, S. 11.
Die Madrider Prinzipien sind vertraulich und der Öffentlichkeit nur in einer verkürzten Form bekannt. Als „ein vernünftiger Kompromiss auf Basis der Prinzipien der Schlussakte von Helsinki, d.h. Nichtanwendung von Gewalt, territoriale Integrität und gleiche Rechte und Selbstbestimmung der Völker,“ geht es hier um folgende konfliktspezifische Grundprinzipien: Rückkehr der Bergkarabach umgebenden Gebiete unter aserbaidschanische Kontrolle; ein Interimstatus für Bergkarabach, einschließlich Garantien für Sicherheit und Selbstregierung; ein Verbindungskorridor zwischen Armenien und Bergkarabach; eine zukünftige Festlegung des endgültigen Rechtsstatus von Bergkarabach durch eine rechtlich bindende Willensäußerung; ein Rückkehrrecht für alle Binnenvertriebenen und Flüchtlinge zu ihren früheren Wohnorten; internationale Sicherheitsgarantien einschließlich einer Peacekeeping-Mission.

Azer Babayev ist Assistant Professor of Political Science an der ADA University in Baku und assoziierter Forscher an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).

Der nachhaltige Weg zur Vertrauensbildung

Der nachhaltige Weg zur Vertrauensbildung

Geschichtsdialog in Georgien, Abchasien und Südossetien

von Oliver Wolleh

Die georgisch-abchasischen und georgisch-südossetischen Kriege der frühen 1990er Jahre stellen in vielerlei Hinsicht »Urkatastrophen« dar. Sie veränderten den gesamten politischen, sozialen, kulturellen und nicht zuletzt emotional-psychologischen Raum im Südkaukasus. Eine Reflexion und die intellektuelle Bewältigung dieser gewaltsamen Vergangenheit sind Voraussetzung eines jeden umfassenden Versöhnungsprozesses, wenn das Ziel darin besteht, die Bevölkerungen der Konfliktregionen für einen dauerhaften Frieden, gute Nachbarschaft und die Bereitschaft zur Annäherung zu gewinnen.

Vor dem Hintergrund der großen europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts erscheinen die georgisch-abchasischen und georgisch-südossetischen Kriege vordergründig als klein und eher unbedeutend. Setzt man die Verluste und Folgen jedoch mit der Bevölkerungszahl in Bezug, so sind diese Kriege ohne Weiteres mit den Folgen des Ersten Weltkrieges vergleichbar. Der Krieg 1992/93 in und um Abchasien forderte 10.000 Tote und führte kurzfristig zur Flucht und Vertreibung der kompletten georgischen Bevölkerung Abchasiens, welche mit rund 240.000 Menschen zu diesem Zeitpunkt 46 % der Bevölkerung ausmachte. Trotz der teilweisen Rückkehr der georgischen Bevölkerung, vorwiegend in die östliche Gal/i-Region1 Abchasiens, sind bis heute rund 200.000 Georgier*innen nicht zurückgekehrt. Der georgisch-südossetische/russische Krieg des Jahres 2008 hat den in den 1990er Jahren erlittenen Traumatisierungsgrad der in Südossetien lebenden Bevölkerung noch um ein Vielfaches verdichtet. Eine Aufarbeitung und (selbst-)kritische Reflexion dieser Kriege und der mit ihn einhergehenden Gewalttaten sind Voraussetzung für eine mögliche Annäherung der Bevölkerungen der Konfliktregionen.

Die Vergangenheitsdiskurse und ihre Auswirkungen

Die vergangenheitsbasierte Annäherung war bis vor Kurzem noch durch sich gegenseitig ausschließende Diskurse in einerseits der georgischen Gesellschaft und andererseits der abchasischen und südossetischen Gesellschaft belastet. Die Art und Weise, wie die Geschichte der Konflikte in Georgien kolportiert wurde, hat die Gräben zwischen der georgischen Seite und den abchasisch/südossetischen Akteuren über die Jahrzehnte nicht verringert.

Eine detailliertere Analyse der Diskurse ist vonnöten, um die Entfaltung der mit ihnen verbundenen kontraproduktiven Wirkungs- und Wahrnehmungsketten zu verstehen. Insbesondere drei Elemente waren für das bis zum georgischen Regierungswechsel 2012 vorherrschende Konfliktverständnis bestimmend:

  • die Leugnung der inter-ethnischen Konfliktdimension (Harmonie-Narrativ);
  • die Alleinschuld Russlands für die Kriege der frühen 1990er Jahre und deren Verlauf (Fremdschuld-Narrativ);
  • die Annahme, dass ein modernisiertes Georgien sich als das attraktivere Gesellschafts- und Staatenmodel etablieren und eine Magnetwirkung auf die abtrünnigen Konfliktregionen ausüben wird (Vorbild-Narrativ).

Der innergeorgische Diskurs sieht die Ursachen der zurückliegenden Kämpfe überwiegend außerhalb des Landes (Fremdschuld). Das Verhältnis zu der abchasischen und südossetischen Minderheit wird nahezu durchgängig als harmonisch und freundschaftlich bezeichnet (Harmonie-Narrativ). Die Konflikt­eskalation der frühen 1990er Jahre wird überwiegend Russland angelastet oder einer kleinen Elite in Abchasien und Südossetien, welche als »Handlanger Russlands« agiert hätten. Dies geht soweit, dass die georgische Seite den georgisch-abchasischen und den georgisch-südossetischen Krieg von 1992/93 als georgisch-russischen Krieg definierte und definiert, welcher auf georgischem Boden geführt wurde. Konsequenterweise wurde und wird seit nunmehr 24 Jahren betont, dass sich Teile des Landes »unter russischer Okkupation« befänden.

Demgegenüber war und ist die abchasische und südossetische Konfliktinterpretation durch die Betonung der inter-ethnischen Differenzen geprägt, wobei häufig auf eine lange Periode georgischer Dominanz und Diskriminierung verwiesen wird. Der Gegensatz zu Georgien und Georgier*innen wird ferner durch ein Fremdschuld-Narrativ ergänzt, das den Ausbruch der Gewalt und die Kriege der frühen 1990er Jahre alleine Georgien und der sie unterstützenden georgischen Bevölkerung in Abchasien bzw. Südossetiens anlastet. Darüber hinaus hat der über Jahre unter den Präsidenten Schewardnadse und Saakaschwili proklamierte Kurs einer möglichen militärischen Friedenserzwingung, falls eine vertragliche Einigung nicht zu erreichen wäre, die Basis für jegliche Form ernsthafter Vertrauensbildung unterminiert.

Die Konsequenz dieser dominanten Narrative ist, dass der georgische Diskurs kein Verständnis für die Notwendigkeit von Vertrauensbildung mit den Bevölkerungen der Konfliktgebiete beinhaltete. Vertrauensbildung zwischen den Bevölkerungsgruppen wurde über Jahrzehnte nicht als notwendig gesehen, da es im Prinzip keinen Konflikt zwischen den Bevölkerungen gab oder gibt. Der Prozess der Wiedervereinigung sollte im Rahmen der Modernisierung Georgiens durch die Magnetwirkung erfolgen (Vorbild-Narrativ). Ein attraktives Georgien, so das propagierte Konzept, würde über kurz oder lang Abchasien und Südossetien aus der russischen Umklammerung lösen.

Andere Akzente der neuen georgischen Regierung

Die georgische Regierungskoalition des Wahlbündnisses »Der georgische Traum«, die seit 2012 im Amt ist, setzte neue politische Akzente und distanzierte sich in wichtigen Bereichen vom früheren Kurs der Regierung Saakaschwili.2 Die Rahmenbedingungen für eine Annäherung an die Konfliktgebiete verbesserten sich dadurch deutlich.

  • Die georgische Koalitionsregierung »Georgischer Traum« ist die erste Regierung seit dem Ende der Sowjetunion, welche sich von Anbeginn an und ohne Einschränkung für eine politische und nicht-militärische Beilegung der Konflikte ausgesprochen hat. Damit hat sie eine Grundvoraussetzung für die Schaffung von Vertrauen erfüllt, sowohl für zivilgesellschaftliche als auch staatliche Akteure.
  • Im Gegensatz zur Vorgängerregierung ist die neue Regierung um eine Normalisierung der Beziehungen mit Russland bemüht und geht erkennbar auf russische Interessen und Befindlichkeiten ein. Auch wenn der Normalisierungsprozess bei weitem noch nicht abgeschlossen ist, gibt es doch Erfolge zu verzeichnen, darunter die Wiederaufnahme von Flugverbindungen und von Wirtschaftsbeziehungen.
  • Darüber hinaus hat sich die Meinungs- und Pressefreiheit in Georgien gegenüber den Saakaschwili-Jahren grundlegend verbessert, sodass gesellschaftliche Gruppen und Persönlichkeiten keine politischen Sanktionen zu fürchten haben, wenn sie sich in Kooperation mit Abchas*innen und Südosset*innen um die Aufarbeitung der Gewalthandlungen der Vergangenheit bemühen.

Neben diesen allgemeinen Entwicklungen hat die neue Regierung aber auch zu subtileren Formen der Distanzierung zu dem oben beschriebenen, früher dominierenden Konfliktverständnis gefunden. So kann die Umbenennung des für die Konfliktregulierung zuständigen Ministeriums von »Ministerium zur Reintegration der besetzten Gebiete« in »Ministerium für Versöhnung« als ein wichtiger symbolischer Akt verstanden werden, der den Gedanken der Aussöhnung zum Leitprinzip des Umgangs miteinander erhebt und nicht die (Re-) Integration.3

Diese seit 2012 eingeleiteten politischen Veränderung öffnete auch die Tür zu einem veränderten öffentlichen Diskurs hinsichtlich der Konflikte, ihrer Ursachen und der Konsequenzen in der georgischen Gesellschaft. Erstmals scheint eine konstruktivere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich, da die daran Interessierten und Beteiligten keine politischen Repressionen befürchten müssen.4 Gleichzeitig fällt es der georgischen Regierung und Zivilgesellschaft nicht leicht, sich aus den Fesseln existierender Stereotypen zu befreien, und man bleibt teilweise dem oben beschriebenen Diskurs verhaftet.

Vor allem das Vorbild-Narrativ, dass ein europäisches Georgien eine »Sogwirkung« auf die Bevölkerung der Konfliktregionen entfalten würde, erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit. Ferner konnte das unter Saakaschwili erlassene »Gesetz über die besetzten Gebiete« bislang nicht nennenswert revidiert werden. Das Gesetz stellt die wirtschaftliche Kooperation mit abchasischen und südossetischen Unternehmen unter Strafe und stellt die rechtliche Grundlage für ein Wirtschaftsembargo gegenüber den Konfliktgebiete dar. Damit ist der klassische Ansatz des »Wandels durch Handel« bei der möglichen Neugestaltung der Beziehungen für zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie für internationale Geldgeber blockiert. Ein System umfassender wirtschaftlicher Kontakte mit den Konfliktregionen könnte, so die Sorge auf der georgischen Seite, als staatliche Anerkennung Abchasiens oder Südossetiens interpretiert werden. Ein System status-neutraler Kooperation wurde somit nicht etabliert.5 Darüber hinaus basiert die erhoffte »Sogwirkung« Georgiens auf der impliziten Prämisse, dass sich Georgien wirtschaftlich attraktiver entwickelt als die abtrünnigen Gebiete. Eine Normalisierung der Handelsbeziehungen mit Abchasien oder Georgien würde, so die Befürchtung, diese Sogwirkung relativieren.

Das dominierende georgische Verständnis eines Annäherungs- oder Normalisierungsprozesses mit den Konfliktregionen ist somit nicht durch den Gedanken der »Versöhnung« oder »Vergangenheitsbewältigung« geprägt und birgt insofern auch keinen emotionalen Appell, der in der abchasischen oder südossetischen Bevölkerung auf Resonanz stoßen könnte. Dies gilt sowohl für gesellschaftliche Akteur*innen als auch für die politische Elite. Appelle georgischer Politiker*innen richten sich traditionell an die abchasischen oder ossetischen »Brüder und Schwestern« in den Konfliktgebieten und lösen bei den Angesprochenen im besten Fall verständnisloses Kopfschütteln, wenn nicht gar angewidertes Abwenden aus.

Dialogprogramme ja, aber in engen Grenzen

Vor allem seit dem erneuten georgisch-südossetischen Krieg 2008 bemühen sich verschiedene nationale Akteure sowie die internationale Gemeinschaft um die Schaffung eines Systems der Vertrauensbildung in Georgien. Neben nationalen Geldgebern sind vor allem die Europäische Union und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) mit eigenen Programmen aktiv. Ihr gemeinsamer »Confidence Building Early Response Mechanism« (COBERM)6 fördert insbesondere Projekte, welche (direkte) soziale Begegnungen (people to people), zumeist im neutralen Ausland, sowie Dialogvorhaben und gemeinsame Trainingsveranstaltungen unterstützen. Die Struktur und Ausrichtung der Aktivitäten sind durch Dynamiken geprägt, welche die Wirkungsebene dieser Maßnahmen beschränken. Anbei seien nur einige genannt.

  • Organisator*innen von Dialogen/Begegnungen werden von abchasischer und südossetischer Seite oft genötigt, diese als regionale und multilaterale Formate durchzuführen. Dies führt dazu, dass jede Partei nur mit ein bis zwei Teilnehmer*innen vertreten ist, und die Bandbreite an Teilnehmer*innen erschwert es, interessante Folgeprozesse zu initiieren.
  • Alle Aktivitäten finden im (neutralen) Ausland statt. Damit aber sind die Reise- und Unterbringungskosten für diese Veranstaltungen erheblich, und die zeitraubende An- und Abreise schließt beruflich eingebundene Personen oder ältere Menschen aus der Begegnung faktisch aus.
  • Es findet in den Konfliktregionen praktisch kein Ergebnistransfer von den Treffen in die Gesellschaft statt, da es angesichts der überwiegend ablehnenden öffentlichen Meinung keine Foren für die Kommunikation über diese Treffen gibt. Da vor allem junge Leute in die friedensbildenden Maßnahmen integriert sind, diese aber weder über eine starke soziale Stellung verfügen noch die Macht besitzen, die öffentlichen Meinung zu beeinflussen, bleiben die transformativen Effekte bislang fast ausschließlich auf die Teilnehmenden und die persönliche Ebene begrenzt.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit wird in diesen Maßnahmen weitestgehend ausgeklammert. Organisatoren wie Geldgeber konzentrieren sich lieber auf emotional weniger belastete Themen, die sie gerne als »neutral« bzw. »zukunftsorientiert« bezeichnen, wie Ökologie, Kultur, Dialog oder Humanität. Vor dem Hintergrund der Brutalität der zurückliegenden Kriege erscheint jedoch aus abchasischer und südossetischer Perspektive eine gemeinsame Zukunft ohne Aufarbeitung der Vergangenheit praktisch ausgeschlossen. Darüber hinaus wird das Ziel der (möglichen) Annäherung auf georgischer Seite explizit mit dem Ziel der Integration der Konfliktgebiete verbunden. Dies wird jedoch auf Seiten der Bevölkerungen und Autoritäten in den Konfliktregionen abgelehnt, welche die internationale Anerkennung ihrer Staatlichkeit anstreben. Die explizite funktionale Verknüpfung eines möglichen Annäherungsprozesses mit dem politischen Ziel der »Reintegration« hat zur Folge, dass alle gesellschaftlichen Aktivitäten im Bereich der »people-to-people«-Annäherung auf abchasischer und südossetischer Seite von der Mitte der Gesellschaft mit Misstrauen betrachtet werden. Dies ist vor allem bei älteren Bevölkerungsgruppen der Fall.

Auf georgischer Seite wurde und wird diese Skepsis, Zurückhaltung oder gar Verweigerung einer Annäherung oftmals als Konsequenz »russischer Einflussnahme« interpretiert. Im Lichte des Harmonie-Narratives werden nach georgischer Lesart die »Brüder und Schwestern« an der Begegnung und Kooperation mit Georgien gehindert. Da die innergesellschaftliche Dimension des Ursprungs des Konfliktes nicht gekannt, erkannt oder gar negiert wird, erklären georgische Analytiker immer wieder den mangelnden Fortschritt in der Beziehungsentwicklung als ein Produkt externer, d.h. russischer Einflussnahme. Die öffentliche Meinung der lokalen Bevölkerung in den Konfliktgebieten ziehen sie kaum bzw. gar nicht in Betracht und stellen diese als eine »propagandistische Projektion« dar.

Die Vergangenheitsbewältigung als ein Leitprinzip eines umfassenden Annäherungssystems zu vermeiden, birgt die Gefahr der Delegitimierung jener Begegnungs- und Friedensinitiativen, die sich um Annäherung bemühen, jedoch die harten Themen der gewaltsamen Vergangenheit ignorieren.

Vergangenheitsbewältigung als Leitmotiv der Annäherung

In Anbetracht der zentralen Bedeutung der Vergangenheitsbewältigung für eine Öffnung des Annäherungssystems hat die in Berlin ansässige Berghof Foundation vor vier Jahren ihre Dialog-Aktivitäten vor Ort deutlich auf die Aufarbeitung der Gewalterfahrungen ausgerichtet.7

Durch die Erhebung biografischer Interviews in Georgien, Abchasien und Südossetien wurde die Basis für Diskussionsgruppen in den Konfliktregionen und Georgiens gelegt. In diesen Gruppen erhalten Menschen unter Führung von durch Berghof Foundation ausgebildeten »Insider Facilitators« die Möglichkeit, die Konflikt- und Kriegserinnerungen von Menschen aus ihrer und aus der anderen Gesellschaft zu hören und zu diskutieren. Die Diskussionsrunden streben die Vermittlung zentraler Werte und Praktiken für Dialoge und Begegnungen zwischen den Menschen der Konfliktregionen an. Die Vermittlung von Werten, wie Zuhören, Verstehen und Empathie, erfolgt in diesen Diskussions-Workshops, welches wir als ein Format des »indirekten Dialog« bezeichnen und das ganz bewusst auf die direkte Begegnung vieler Menschen der unterschiedlichen Seiten verzichtet. Die Etablierung einer Diskussionskultur, in der die Erfahrungen und Aussagen von Individuen in Form biografischer Interviews im Zentrum stehen, ist ein wichtiger Beitrag zur Demokratisierung in einem durch Pauschalisierungen gekennzeichneten Kontext. Die Veranstaltungen werden als intergenerationelle Diskussionsrunden gestaltet, in denen Jung und Alt gemeinsam die Erzählungen der Interviewten diskutieren und so einen Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen fördern.

Diese Diskussionsveranstaltungen stoßen auf wachsendes Interesse und erfreuen sich großer Akzeptanz. Während wir im Jahre 2015 noch 52 Diskussions-Workshops innerhalb Georgiens und Abchasiens durchführten, waren es im Jahre 2016 bereits 200 mit rund 3.300 Teilnehmern, eine Zahl, die wir im Jahr 2017 noch einmal steigern konnten.

Neben diesem Netzwerk an lokalen Diskussions-Workshops konnte das Kaukasusprogramm der Berghof Foundation auch in den öffentlichen Medien eigene Formate etablieren, welche die selbstreflexive Erinnerung an Kriege und an den Konfliktverlauf in den Mittelpunkt stellen. So unterhalten wir seit dem Jahr 2015 in Sochum/i, der Hauptstadt Abchasiens, den »Biografischen Salon«. In diesem Talkshow-Format sprechen Menschen über ihre Erfahrungen mit Krieg und Konflikt. In Zusammenarbeit mit dem abchasischen TV Sender »Abasa TV« wird das Programm monatlich in ganz Abchasien ausgestrahlt.8 Während in den Anfängen des Programmes nur Abchas*innen im Salon auftraten, treten mittlerweile auch in Abchasien lebende Georgier*innen und Menschen, die heute in Georgien leben, auf.9 Mit der Ausrichtung auf die vielschichtige Betrachtung und Reflexion der Vergangenheit ist es der Berghof Foundation und ihren Partnern gelungen, eine dauerhafte Präsenz in einem konventionellen Massenmedium zu erlangen.

Auch auf der georgischen Seite ist es uns gelungen, der breiteren georgischen Öffentlichkeit die Bedeutung der Konflikt- und Kriegsentwicklung deutlich zu machen. Dort unterhält die Berghof Foundation das Radioprogramm »Schnittpunkt«, welches zusammen mit Radio Free Europe in georgischer Sprache wöchentlich 40 Minuten ausgestrahlt wird.10 Auch hier stehen georgische, abchasische und südossetische Erinnerungen im Zentrum des Programms, welche von Expert*innen diskutiert ­werden, die intellektuell und emotional in der Lage sind, diese Erinnerungen sachkundig, respektvoll und gehaltvoll zu diskutieren. Das Programm ermöglicht vielen Menschen innerhalb Georgiens zum ersten Mal seit Jahrzehnten, das Ausmaß des Leids, welches alle direkt Betroffenen der Konflikte erlitten haben, zu hören und zu erfassen. Während es sich bei den Expert*innen/Diskutant*innen in den Anfängen des Programms ausschließlich um Georgier*innen handelte, konnten in diesem Jahr auch abchasische Diskussionspartner*innen zu der Radiosendung zugeschaltet werden. Dies ist das erste Mal seit dem Jahr 2006, dass abchasische Expert*innen an einem georgischen Medienformat teilnehmen.

Die Arbeit der Berghof Foundation belegt eindeutig, dass sowohl die georgische als auch die abchasische Gesellschaft prinzipiell offen für die selbstkritische Reflexion der Vergangenheit sind. Sie sind nicht nur bereit, den Gedanken der anderen Gesellschaft zuzuhören, sie sind auch bereit, sich in der jeweils anderen Gesellschaft für einen ernsthaften und offenen Diskurs einzusetzen. Hierin liegt die Chance für wirkungsvollen Dialog und Annäherung.

Ausblick

Der (selbst-)kritische Blick in die Vergangenheit eröffnet neue Anknüpfungspunkte zwischen den Menschen und stößt auf breite soziale Akzeptanz, welche zumindest in Abchasien und Georgien nicht die Öffentlichkeit zu scheuen braucht. Dennoch sind auch hier die Möglichkeiten bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Eine der wichtigsten Ressourcen für einen erweiterten vergangenheitsbasierten georgisch-abchasischen Annäherungsprozess wird bislang für die Friedensarbeit noch wenig genutzt: die heute in Abchasien lebende ethnisch georgische Bevölkerung innerhalb der Gal/i-Region und der Otschamtschira-Region, welche als »Migrelen« bezeichnet werden. Anders als die heutigen georgischen »internen Vertriebenen« konnten diese Menschen nach dem Krieg nach Abchasien zurückkehren, auch weil diese Bevölkerungsgruppe sich nicht an den Kämpfen der Jahre 1992/93 beteiligt hatte. Sie machen rund 30 % der heutigen abchasischen Bevölkerung aus und haben die Freiheit, zwischen den Seiten zu pendeln. Die in Abchasien lebende georgische Bevölkerung ist daher ein natürliches Bindeglied (connector) zwischen den Gemeinschaften. Als Bewohner Abchasiens kennen sie die Verhältnisse vor Ort sehr genau, haben den Krieg hautnah miterlebt und haben ein realistisches Verständnis der Hindernisse einer umfassenden Annäherung zwischen den Gemeinschaften.

Als Mittler zwischen den Welten kann die georgische Bevölkerung Abchasiens eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung und der Vermittlung der gewaltsamen Vergangenheit einnehmen. Gleichzeitig ist die Einnahme der Rolle des Mittlers für diese Menschen nicht unproblematisch, da Migrelen innerhalb Abchasiens auch als ein potenzieller (georgischer) Feind im Inneren gesehen werde. So sind Migrelen fast völlig vom öffentlichen abchasischen Leben ausgeschlossen und in den Medien, wie TV oder Radio, praktisch nicht präsent. Nach Einschätzung des Autors ist die systematische Einbindung der georgischen Bevölkerung Abchasiens eine der zentralen Herausforderungen hinsichtlich der Etablierung einer breiten vergangenheitsbezogenen Dialogkultur in der Region. Aus diesem Grund hat die Berghof Foundation seit 2015, finanziert vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa, Projekt Zivile Konfliktbearbeitung/zivik), das Projekt »History in Action« gestartet, welches den Fokus auf den abchasisch-migrelischen Dialog innerhalb Abchasiens legt.

Die Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit ist in Südossetien genauso dringlich wie in Abchasien. Bedingt durch den Krieg 2008 ist der Grad der Traumatisierung der Bevölkerung dort deutlich stärker als in Abchasien. Es ist daher bislang nicht gelungen, in Südossetien neben den lokalen Diskussions-Workshops öffentliche Medienformate zu dem Thema zu etablieren. Eine Möglichkeit, die breitere südossetische Gesellschaft zu erreichen, wird darin liegen, abchasischen Aktivist*innen, die Erfahrungen in der Aufarbeitung der Vergangenheit gesammelt haben, ein größeres Aktionsfeld innerhalb Südossetiens zu verschaffen.

Vergangenheitsbewältigung kann maßgeblich dazu beitragen, Vertrauen zu bilden und die Grundlage für eine breite und nachhaltige Akzeptanz vertrauensbildender Maßnahmen in Abchasien, Südossetien und in Georgien zu schaffen. Dies gilt umso mehr, da inzwischen ein Verbund georgischer, abchasischer und südossetischer zivilgesellschaftlicher Organisationen vorhanden ist, die bereit sind, gemeinsam den Dialog um die Vergangenheit zu beginnen und ihn kons­truktiv und empathisch führen wollen.

Anmerkungen

1) Abchasen nennen diese Region in der Regel »Gal«, während Georgier*innen sie als »Gali« bezeichnen. Aus diesem Grund wird hier die Schreibweise Gal/i verwendet. Dasselbe gilt für die Bezeichnung der Hauptstadt Abchasiens als Sochum/i.

2) Zu den Rahmenbedingungen der Annäherung vor 2012 siehe Oliver Wolleh (2011): Vom Dialog zum öffentlichen Handeln. Friedensforum 3/2011.

3) Paata Zakareishvili (2016): About the modest results of a unilateral peace policy. Jam News, 30.5.2016.

4) Siehe dazu Cécile Druey (2017): Zivilgesellschaft und Konfliktlösung – Überlegungen zum Konzept der Volksdiplomatie, auf S. 32.

5) Oliver Wolleh (2009: Nachgang zum Georgienkrieg – Chancen einer Status-neutralen Annäherungsstrategie für Abchasien und Südossetien. Wissenschaft & Frieden 2-2009, S. 49-52.

6) United Nations Development Program/UNDP (o.J.): Confidence Building Early Response Mechanism (COBERM); ge.undp.org.

7) Berghof Foundation (o.J.): Kaukasus; berghof-foundation.org.

8) Link zum TV-Programm »Biografischer Salon« der Berghof Foundation auf der Webseite von Abasa TV, Sochum/i: abaza.tv/spec/?SID=57.

9) Berghof Foundation (o.J.): Erweiterter Austausch – Gäste aus Georgien im Biographischen Salon; berghof-foundation.org.

10) Link zum Radioprogramm »Schnittpunkt« der Berghof Foundation auf der Webseite von Radio Liberty, Tiflis: radiotavisupleba.ge/z/20244.

Dr. Oliver Wolleh ist Direktor des Südkaukasus-Programms der Berghof Foundation in Berlin. Er leitet die Projekte »Through History Dialogue towards Future Cooperation«, »History in Action« und »Memory and History in Azerbaijan and Karabakh«.

De-facto-Staaten

De-facto-Staaten

Prekäre Staatlichkeit und eingefrorene Konflikte

von David X. Noack

Im Zuge der Nationenbildung seit Ende des 18. Jahrhunderts bildeten sich immer wieder so genannte stabilisierte De-facto-Regime. Sie entstanden vor allem durch den Zerfall größerer Staaten, durch post-koloniale Konflikte und infolge zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen. Solche Staaten stehen bis heute im Zentrum eingefrorener Konflikte, weisen nach der Drei-Elemente-Lehre des Staatsrechtlers Georg Jellinek (1851-1911) alle Merkmale eines Staates auf, werden jedoch nicht allgemein international anerkannt. Dieser unklare rechtliche Status verursacht nach wie vor in den De-facto-Staaten selbst, den Mutterstaaten – von denen sich die De-facto-Regime abspalteten – und auch international erhebliche Probleme. Da keine Kampfhandlungen stattfinden, sind die Konflikte aber nicht »heiß«, sondern eingefroren – aber nicht gelöst.

Georg Jellinek schrieb in seinem 1900 erstmals veröffentlichten Werk »Allgemeine Staatslehre«, ein Staat müsse ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt besitzen (Jellinek 1905). Nach dieser Definition existieren heute neben den 193 Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, noch mindestens zehn weitere Staaten, die in verschiedenen Abstufungen in die internationale Staatengemeinschaft und Weltökonomie eingebunden sind.1 Diese De-facto-Staaten machen deutlich, dass nicht nur die von Jellinek benannten Elemente (Jellinek‘sche Trias) ein konstituierendes Kennzeichen von Staatlichkeit sein können.

Vertraglich kodifiziert wurde dieser Umstand bei der Siebten Internationalen Konferenz Amerikanischer Staaten. 1933 beschlossen die Abgesandten von 20 Staaten des amerikanischen Doppelkontinents, dass ein weiterer Aspekt hinzukommen müsse: „Der Staat als Subjekt des internationalen Rechts sollte folgende Eigenschaften besitzen: (a) eine ständige Bevölkerung; (b) ein definiertes Staatsgebiet; (c) eine Regierung; und (d) die Fähigkeit, in Beziehung mit anderen Staaten zu treten.“ (Seiler 2005, S. 49, Fn. 354) Was in der »Konvention von Montevideo« noch ziemlich theoretisch klang, stellte sich in den folgenden Jahrzehnten als praktischer Leitfaden heraus: Staaten werden heute in »allgemein anerkannt« und »allgemein nicht anerkannt« unterschieden.

Bei den allgemein nicht anerkannten De-facto-Regimen kommt hinzu, dass sich über kürzere oder längere Zeit ein anderer Staat als Garantiemacht herausschält, der den De-facto-Staat ökonomisch, politisch und militärisch stützt und damit den eingefrorenen Konflikt verstetigt. Der Grad der Patronage dieses Staates ist durchaus unterschiedlich. Dessen unbenommen ist aber festzustellen, dass nahezu alle De-facto-Regime aus kulturellen, politischen und sozioökonomischen Sollbruchstellen hervorgingen, die in den Mutterländern existierten.

Ein kurzer Blick auf die Geschichte

Die Versprechen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker von US-Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) im Westen und Wladimir Lenin (1870-1924) im Osten führten in den Jahren 1917 bis 1919 zu vielen Staatsgründungen. Die wenigsten konnten sich dauerhaft halten. Auch legten das Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten sowie der russische Revolutionsführer keine klaren Maßstäbe bei dem »Recht auf Unabhängigkeit« an. Während sich die US-Regierung am Ende des Ersten Weltkriegs für die Eigenständigkeit der Tschechoslowakei einsetzte, besetzten US-Truppen die Karibikrepubliken Haiti und Dominikanische Republik (Castor 1974). Auf der anderen Seite akzeptierte die sowjetische Regierung rasch die Unabhängigkeit Finnlands, verleibte sich aber die eigenständigen Kaukasusrepubliken sowie das autonom organisierte Zentralasien ein.

Der Völkerbund wurde nach dem Ersten Weltkrieg 1919 im Kontext des Versailler Vertrags gegründet und schuf auf globaler Ebene erstmals einen Mechanismus, mit welchem die britische und die französische Regierung der internationalen Staatengemeinschaft einen Rahmen geben wollten. Dem Bund gehörte keineswegs die Gesamtheit der damals allgemein anerkannten Staaten an (die Vereinigten Staaten z. B. traten nie bei), er wurde also nicht zur Norm. Überdies entstanden jenseits des Bundes weitere Staaten, die nach modernen Kriterien als De-facto-Regime gelten würden.2

Der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg brachte den Beginn einer von den USA dominierten Weltordnung mit sich. 1945 wurden die Vereinten Nationen (UNO) gegründet, durch welche die internationalen Beziehungen bis heute kanalisiert werden; kurz darauf löste sich der Völkerbund auf. Der endgültige Durchbruch der Vereinten Nationen kam mit dem Ende der Systemkonfrontation 1989-1991. Nicht nur die neu gebildeten Staaten in Osteuropa und Zentralasien, sondern auch diverse Staaten des Pazifiks, die beiden Koreas und westeuropäische Kleinstaaten traten Anfang der 1990er Jahre der Organisation bei. Die neutrale Schweiz folgte sogar erst 2002, womit der letzte damals allgemein anerkannte Staat Mitglied der Vereinten Nationen wurde.

Während seitdem die Vereinten Nationen die Norm darstellen, gibt es weiterhin internationale Beziehungen jenseits dieser Organisation. Der älteste Staat außerhalb des UN-Gefüges ist Taiwan (Republik China). 1971 beschloss die UN-Vollversammlung, nicht länger die Vertreter Taiwans, sondern die der Volksrepublik China anzuerkennen (Resolution 2758). 1979 nahmen die Vereinigten Staaten diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik auf, und im gleichen Jahr verabschiedete der US-Kongress den »Taiwan Relations Act«, der die Beziehungen zwischen Washington und Taipeh bis heute regelt. Im selben Jahrzehnt hoben türkische Besatzungstruppen in Nordzypern ein eigenes De-facto-Regime aus der Taufe. Nachdem die Türkei Zypern 1974 völkerrechtswidrig überfallen hatte, besetzte das NATO-Land circa ein Drittel der Insel. Aus den Besatzungsbehörden ging 1983 die Türkische Republik Nordzypern hervor, die bis heute lediglich von einem UN-Mitglied anerkannt wird: der Türkei selbst.

Außerdem entstand in den 1970er Jahren die Demokratische Arabische Republik Sahara (Westsahara). Nachdem die Kolonialmacht Spanien das Gebiet 1975 in die Unabhängigkeit entlassen hatte, marschierten marokkanische Truppen in die Provinz ein und annektierten einen Großteil des Gebiets.3 Mithilfe Algeriens, des traditionellen Konkurrenten Marokkos in der Region, etablierte die sahaurische Befreiungsfront Polisario ein Staatswesen, welches sich bis heute auf die nicht-annektierten Gebiete sowie auf Flüchtlingslager in Algerien konzentriert.

Mit dem Ende des realsozialistischen Blocks 1989-1991 sowie der Desintegration der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens entstanden nicht nur viele neue allgemein anerkannte Staaten in Europa und Zentralasien, sondern auch einige De-facto-Regime.4 So erklärten beispielsweise Gagausien (Moldau), die Tschetschenische Republik Itschkerien (Russland) und die Republika Srpska (Bosnien-Herzegowina) ihre Unabhängigkeit. Einige dieser für längere Zeit existierenden De-facto-Regime wurden gewaltsam zerschlagen oder in politische Lösungen gezwungen. Mit einer Bombardierungskampagne zwangen beispielsweise die NATO-Regierungen die politische Führung der Republika Srpska 1995 zu einem politischen Kompromiss, und die russische Armee zerschlug Itschkerien im Jahr 1999.

Eines der wenigen Positivbeispiele bei der Bewältigung von Konflikten mit stabilisierten De-facto-Regimen ist Gagausien im Süden der Republik Moldau. Die gagausische politische Führung, welche die Region vier Jahre lang unabhängig von der Zentralregierung kontrolliert hatte, einigte sich mit der moldauischen politischen Führung auf eine Autonomielösung mit weitgehenden politischen und kulturellen Sonderrechten (Chinn and Roper 1998).

Über die inzwischen wieder zerschlagenen De-facto-Staaten hinaus entstanden 1990/1991 noch diverse andere, die sich stabilisieren konnten. Diese reichen von Somaliland am Horn von Afrika bis nach Transnistrien, einem kleinen Landstrich zwischen der Republik Moldau und der Ukraine.

Eigenschaften stabilisierter De-facto-Staaten

Viele Staaten jenseits der Vereinten Nationen beanspruchen zwar alle Eigenschaften der Jellinek‘schen Trias, dennoch stellt sich die Frage, inwieweit bei näherer Betrachtung diese Kriterien – Staatsvolk, Staatsgrenzen und Staatsgewalt – tatsächlich oder in vollem Umfang erfüllt sind.

Die Gründung vieler De-facto-Regime ging mit Vertreibungen einher, so im Zusammenhang mit dem Krieg um Bergkarabach (1989-1994) (zu Bergkarabach siehe den Text von Aser Babajev auf S. 18). Aufgrund der ethnischen Säuberungen leben bis heute 623.000 Flüchtlinge im Mutterland Aserbaidschan. Abchasien hat durch den Unabhängigkeitskrieg gegen Georgien 1992/1993 etwa die Hälfte der Bevölkerung verloren und aus dem Kosovo wurden bereits 1999 circa 100.000 Serben vertrieben (Finn 1999). Es stellt sich also die Frage, ob die vertriebenen Teile der Bevölkerung dem jeweiligen Staatsvolk noch hinzuzählen sind. Ohne diese Frage zu klären, können die eingefrorenen Konflikte nicht gelöst werden.

Bei den meisten De-facto-Regimen ist auch das Staatsgebiet nicht gesichert. So beansprucht die Regierung Westsaharas das gesamte von Marokko annektierte Gebiet, kontrolliert aber nur einen Bruchteil davon. Die kosovarische Regierung wiederum beansprucht das gesamte Gebiet der einstigen jugoslawischen autonomen Provinz Kosovo und Metochien, kontrolliert aber nicht den mehrheitlich serbisch besiedelten Norden.

Der dritte Aspekt ist die Staatsgewalt – der Faktor, der sich am schwersten messen lässt. Die De-facto-Regime beanspruchen zwar die Kontrolle über ihr jeweiliges Land. Einschränkungen werden jedoch im Kosovo und in Nordzypern besonders deutlich – beide sind von NATO-Streitmächten besetzt. Auch in den Gebieten weiterer De-facto-Regime gibt es Stützpunkte und Truppen anderer Länder, wie russische Truppen in Abchasien, Südossetien und Transnistrien oder armenische Soldaten in Bergkarabach.

Da alle der De-facto-Regime Patronagestaaten haben, die ihre Unabhängigkeit garantieren, stellt sich immer die Frage, welchen Einfluss diese »großen Brüder« haben. So kann Abchasien, dessen Armee­chef ein von Russland eingesetzter russischer Militär ist, schwerlich als unabhängig gelten. Auf der anderen Seite prägen diverse bilaterale Streitfragen die Beziehungen zwischen der russischen und der abchasischen Regierung, und sowohl die strategische Elite als auch weite Teile der Bevölkerung Abchasiens orientieren sich auf Unabhängigkeit (Frear 2014, S. 7).

In Bergkarabach, im Kosovo und in Südossetien ist dies anders, dort gibt es starke irredentistische Bewegungen, d.h. große Teile der Bevölkerungen und teilweise auch die Regierungen dieser Länder streben einen Beitritt zum Patronagestaat an – und somit die Auflösung des eigenen De-facto-Staats.

Die Frage der Souveränität stellt sich auch in der wirtschaftlichen Sphäre. So hat das Kosovo kaum eine eigene Wirtschaftspolitik. Noch unter UN-Verwaltung (1999-2008) legte die UNMIK die Grundsteine für die heutige kosovarische Volkswirtschaft. Bereits im ersten Jahr der UN-Verwaltung des Gebiets führten die Behörden die Deutsche Mark als offizielle Währung ein.5 Außerdem begannen die – vor allem westlichen – Verwalter im Jahr 2002 mit der Privatisierung des öffentlichen Eigentums. Bis dahin war ein Großteil der Wirtschaft in öffentlicher Hand gewesen (Knudsen 2013, S. 292-294). Zusätzlich trat das 2008 unabhängig erklärte Land – obwohl damals nur von einem Bruchteil aller UN-Mitglieder anerkannt – im Jahr 2009 dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank bei, was die Grundlage für eine dauerhaft institutionalisierte neoliberale Wirtschaftspolitik schuf.6 Das Kosovo sollte zu einem Vorbild eines »(neo-) liberalen Friedens« werden. Heute ist es das Armenhaus Europas (Reljic 2015).

Auch die Art der Volkswirtschaften der Nicht-UN-Länder ist höchst unterschiedlich. So ist Taiwan ein Land des globalen ökonomischen Zentrums mit einem hohen Lebensstandard.7 Transnistrien und Nordzypern sind semi-periphere Länder, die auf der einen Seite ein gewisses Industriepotenzial haben, auf der anderen Seite zu einem Großteil vom Export landwirtschaftlicher Güter (Nordzypern) bzw. dem Handel (Transnistrien) abhängen. Die meisten der stabilisierten De-facto-Regime sind jedoch nur peripher in den Welthandel integriert und exportieren ausschließlich Rohstoffe und landwirtschaftliche Güter. Im Falle Südossetiens und Westsaharas kann man kaum von einer Wirtschaft sprechen: In der von Wüsten geprägten Westsahara leben nur einige Nomadenstämme, und in Südossetien ist der zu circa 90 % mit russischen Budgethilfen finanzierte Staat der wichtigste Arbeitgeber (Gordijenko 2016).

Aufgrund der komplizierten rechtlichen Lage sind viele internationale Organisationen in den meisten De-facto-Staaten nicht präsent. Diese erhalten auch wenig Entwicklungshilfe, und internationale Konzerne investieren selten bis gar nicht in diese Volkswirtschaften. Teilweise verhängten die Mutterstaaten eine Wirtschaftsblockade über die De-facto-Regime, so Georgien gegenüber Abchasien und Südossetien oder die Ukraine gegenüber Donezk und Lugansk. Eine Ausnahme ist der Fall Transnistrien: Dort ist international vertraglich abgesichert, dass der De-facto-Staat Handel betreiben darf (Noack 2017, S. 18).

Nach der Konvention von Montevideo ist die Fähigkeit, mit anderen Staaten diplomatische Beziehungen einzugehen, ein Faktor für Staatlichkeit. Alle De-facto-Staaten pflegen diplomatische Beziehungen. Die Anzahl der UN-Staaten, welche sie anerkennen, ist hingegen höchst unterschiedlich. So wird Kosovo von 115 Staaten anerkannt, Westsahara von 84, Taiwan von 20 und Somaliland, Bergkarabach und Transnistrien von keinem.

Trotzdem pflegen die De-facto-Regime aktive Außenbeziehungen mit UN-Staaten. Taiwan beispielsweise hat über 50 inoffizielle Vertretungsbüros. Staaten wie Abchasien und Bergkarabach setzen stark auf Nichtregierungsorganisation und die tscherkessische bzw. armenische Diaspora (Frear 2014). Darüber hinaus spielen private Firmen eine Rolle in der Vertretung Abchasiens und Taiwans auf der internationalen Ebene, und gemeinnützige Organisationen helfen den Regierungen Somalilands und Westsaharas. Über all diese Kanäle sowie aktive Internetpräsenzen, Sportveranstaltungen und Städtepartnerschaften haben viele der De-facto-Regime in den vergangenen Jahrzehnten eine äußerst aktive Außenpolitik jenseits der Vereinten Nationen etabliert (Kosienkowski 2012; Frear 2014).8

Probleme stabilisierter De-facto-Regime

Das Hauptproblem stabilisierter De-facto-Regime ist der nicht endgültig geklärte Zustand. So tendieren Regierungen der Mutterstaaten immer wieder dazu, den völkerrechtlichen Schwebezustand durch Gewalt zu lösen. Ein solcher Versuch war der Angriff der georgischen Armee auf Südossetien im Jahr 2008, ein ähnlicher Versuch der Vier-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Bergkarabach im Frühjahr 2016 (Noack 2016). Diese Beispiele zeigen ebenso, dass bei einem Krieg zwischen einem teilweise anerkannten Staat und dem Mutterstaat auch der Patronagestaat in den Krieg hineingezogen werden kann. Doch auch die Regierungen der De-facto-Staaten neigen in einigen Fällen dazu, den militärischen Druck gegenüber ihren Mutterstaaten aufrecht zu erhalten, um ihren Anspruch auf Gebiete deutlich zu machen. Letzteres kann man etwa in Westsahara sehen.

Ein weiteres Problem sind die internationale Rüstungskontrolle und die Verhinderung der Verbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen. Die De-facto-Regime können nicht in internationale Rüstungskon­trollregime eingeschlossen werden. Im Falle Taiwans übernehmen die USA als Garantiemacht die Gewährleistung des atomwaffenfreien Status.9 Für die anderen De-facto-Regime gibt es keine vergleichbaren Regelungen. Immerhin: Selbst als Abchasien noch zu keinem international allgemein anerkannten Staat diplomatische Beziehungen unterhielt, besuchten Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA das Physikalisch-Technische Institut in der abchasischen Hauptstadt Suchum (NTI 2005). Dort hatten Wissenschaftler in den 1950er Jahren Teile der sowjetischen Atombomben gebaut.

Darüber hinaus führt die fehlende Anerkennung auf der Mikroebene dazu, dass die Bevölkerung nur eingeschränkt reisen kann, da ihre Pässe in vielen Ländern nicht anerkannt werden. Deshalb besitzen viele Menschen neben den Pässen der De-facto-Regime zusätzlich andere Pässe, zum Beispiel der Patronage-Staaten.

Ansätze zur Konfliktlösung und Zukunftsaussichten

Von allen eingefrorenen Konflikten um De-facto-Regime scheinen Transnistrien und Nordzypern einer Konfliktlösung am nächsten. Die unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen und der OSZE geführten Verhandlungen standen bereits öfter vor einem Durchbruch und somit der Möglichkeit, die Konflikte »aufzutauen«, scheiterten letztlich aber doch. Bei vielen De-facto-Regimen stellen sich Fragen der Reintegration der Bevölkerung, was die Frage einschließt, wie Vertriebene entschädigt werden sollen. Andererseits geht es darum, wie die rechtlichen und wirtschaftlichen Sonderentwicklungen harmonisiert werden können. Die Volkswirtschaften der De-facto-Regime entwickeln sich teilweise seit Jahrzehnten unabhängig von den Mutterstaaten, was auch in dieser Hinsicht eine Reintegration nicht ohne Weiteres möglich macht.

Das Beispiel Gagausien im Süden der Republik Moldau kann hinsichtlich einer politischen Lösung ein Vorbild sein: Die Region hat heute eine weitgehende kulturelle Autonomie mit wirtschaftlichen Sonderrechten. Die abgespaltene Provinz war damals – und ist es bis heute – vor allem landwirtschaftlich geprägt, weshalb dort die Harmonisierung der wirtschaftlichen Separatentwicklung verhältnismäßig einfach war.

Das Scheitern der Nordzypern-Verhandlungen im Sommer 2017 zeigt jedoch, dass es bei einem eingefrorenen Konflikt nicht nur vonnöten ist, die Interessen der De-facto-Regime sowie der Mutterländer zu harmonisieren, sondern dass alle involvierten Mächte ein Interesse an der Lösung des Konfliktes haben müssen. Die Gespräche zu Nordzypern schlugen unter anderen wegen der militärischen Ansprüche der türkischen Regierung fehl (Aswestopoulos 2017). Aufgrund dieser schwierigen Aushandlungsprozesse ist davon auszugehen, dass trotz des Engagements der Vereinten Nationen viele der De-facto-Staaten noch für längere Zeit weiterexistieren werden. In manchen Fällen gibt es sogar kaum Verhandlungen.

Die Beispiele Bergkarabach, Donezk und Lugansk beweisen zudem, dass es immer wieder zur militärischen Eskalation in den Gebieten der stabilisierten De-facto-Regime kommt. Die Konflikte können auch gewaltsam »auftauen«, also »heiß« werden. Das zeigt, dass hinsichtlich des internationalen Friedens, aber ebenso im Sinne der Rüstungskontrolle und der Verhinderung der Proliferation von ABC-Waffen, die Notwendigkeit besteht, die eingefrorenen Konflikte dauerhaft und nachhaltig zu lösen.

Anmerkungen

1) Abchasien, Bergkarabach, Kosovo, Nordzypern, Somaliland, Südossetien, Taiwan (Republik China), Transnistrien und Westsahara. Oft wird Palästina dazu gezählt. Die Donezker und Lugansker Volksrepubliken sind im Entstehen begriffene De-facto-Staaten (siehe dazu den Text von Agnieszka Legucka auf S. 26).

2) So existierten 1920-1924 die Sowjetischen Volksrepubliken Buchara und Chiwa, 1921-1944 die VR Tannu-Tuwa und ab 1921 die Mongolische VR. Die Mongolei ist seit 1961 UN-Mitglied.

3) Zunächst hatten Truppen Mauretaniens 1976-1979 den Süden Westsaharas besetzt.

4) Parallel dazu zerfiel auch noch der somalische Staat und Somaliland entstand.

5) Mit der Einführung des Euro in Deutschland hat das Kosovo den Euro ebenfalls als Währung übernommen.

6) Zur Weltbank siehe Solty (2014) und Solty (2015).

7) Taiwan hat einen HDI-Wert (Human Development Index) von 0,885 und liegt damit ähnlich wie Spanien (0,884).

8) Mit der »Gemeinschaft für Demokratie und das Recht der Nationen« haben Abchasien, Bergkarabach, Südossetien und Transnistrien sogar eine eigene internationale Organisation etabliert.

9) International Atomic Energy Agency, INFCIRC/158 vom 8. März 1972 als Fortführung des IAEA-Abkommens INFCIRC/133 vom 30. Oktober 1969. 1964 hatte Taiwan ein eigenes Atomwaffenprogramm gestartet, trat aber 1968 dem Nichtverbreitungsvertrag bei.

Literatur

Nuclear Threat Initiative/NTI (2005): IAEA Experts Visit Abkhazia. 26.9.2005; nti.org.

Aswestopoulos, W. (2017): Zypern – Die Verhandlungen um die Einigung der Insel sind gescheitert! heise.de, 8.7.2017.

Castor, S. (1974): The American Occupation of Haiti (1915-34) and the Dominican Republic (1916-24). The Massachusetts Review, Vol. 15, No. 1/2, S. 253-275.

Chinn, J.; Roper, S.D. (1998): Territorial autonomy in Gagauzia. Nationalities Papers, Vol. 26, No. 1, S. 87-101.

Finn, P. (1999): Refugees Want Kosovo Free of Serbs. Washington Post, 6.6.1999.

Gordijenko, I. (2016): Im Schwebezustand – Südossetien. dekoder.org, 8.6.2016.

Jellinek, G. (1905): Allgemeine Staatslehre. Berlin: Verlag von O. Häring, 2. Auflage.

Knudsen, R.A. (2013): Privatization in Kosovo – »Liberal Peace« in Practice. Journal of Intervention and Statebuilding, Vol. 7, No. 3, S. 287-307.

Kosienkowski, M. (2012): Continuity and Change in Transnistria’s Foreign Policy after the 2011 Presidential Elections. Lublin: The Catholic University of Lublin Publishing House.

Noack, D.X. (2016): Vier Tage Krieg. junge Welt, 2.6.2016.

Noack, D.X. (2017): Der Konflikt um Transnistrien 1989 bis 2016 – Politische Ökonomie, Nationalstaatswerdung und Großmachtinteressen an einem geopolitischen Brennpunkt in Su¨dosteuropa. multipolar, Vol 1, Nr. 1, S. 11-26.

Reljic, D. (2015): Kosovo braucht einen Beschäftigungspakt mit der EU. zeit.de, 15.2.2015.

Seiler, C. (2005): Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung. Tübingen: Mohr Siebeck.

Solty, I. (2014): Eine »flache Welt«. junge Welt, 31.12.2014.

Solty, I. (2015): Eine »andere Welt«. junge Welt, 2.1.2015.

David X. Noack ist Militärhistoriker und Politikwissenschaftler.

Kalter Frieden in Nordirland


Kalter Frieden in Nordirland

Vom Brexit zusätzlich bedroht?

von Corinna Hauswedell

Der nordirische Friedensprozess mit dem Belfaster Abkommen von 1998 galt vielen als Modell für eine gelungene Bearbeitung eines Gewaltkonflikts. Doch die Konfliktursachen werden weiterhin nur halbherzig adressiert, und die Belfaster Regionalregierung ist Anfang 2017 zerbrochen. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (Brexit), der beim Referendum von einer Mehrheit der Nordir*innen auch deshalb abgelehnt wurde, weil er die EU-Grenze zwischen dem Norden und dem Süden der Insel errichten würde, hätte das Potential, den ohnehin schon »Kalten Frieden« zusätzlich zu gefährden und alte Gräben wieder aufzureißen. Die schwache britische Premierministerin Theresa May muss sich nun bei der Umsetzung des Brexit ausgerechnet auf die zehn Abgeordneten der unionistischen Partei Nordirlands, DUP, stützen.

Die Situation in Nordirland wird – verglichen mit anderen andauernden Gewaltkonflikten in Europa, im asiatischen Raum oder auf dem afrikanischen Kontinent – mit der Einstufung als »eingefrorener Konflikt« nur teilweise erfasst. Die (all-) tägliche Gewalt des Bürgerkriegs (»The Troubles« von 1968-1998) ist inzwischen vielmehr einem fast 20 Jahre währenden »Kalten Frieden« gewichen: Das Belfaster Abkommen (Good Friday Agreement von 1998)1 hat einen konstitutionellen Kompromiss ermöglicht, den Paramilitarismus gezähmt, eine bedeutsame Polizeireform eingeleitet und 2007 auch eine Regierungskoalition (power sharing) zwischen den beiden radikalen Konfliktparteien, der republikanisch-irisch orientierten Sinn Fein und der unionistisch-britisch orientierten Democratic Unionist Party (DUP), auf den Weg gebracht. Wichtige Vorhaben für eine Postkonflikt-Gesellschaft in den Bereichen der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, der kulturellen Anerkennung und der Aufarbeitung der Gewaltgeschichte sind allerdings noch umstritten. Im Januar 2017 zerbrach die regionale Regierungskoalition; seither wird Belfast von seinen Beamten verwaltet, und es droht erneut die direkte Verwaltung (direct rule) aus London.

Nordirland – Modell der Ambivalenzen

Die euphemistisch als »Troubles« bezeichneten dreißig Jahre der Gewalt­exzesse zwischen vorwiegend protestantischen, probritischen Unionist*innen und vorwiegend katholischen, irisch orientierten Republikaner*innen kosteten zwischen 1968 und 1998 über 3.000 Menschen das Leben; weitere 150 Nordir*innen starben bis heute als Opfer politisch motivierter Anschläge. In dieser Zeit des Bürgerkrieges im europäischen »Mutterland der Demokratie« avancierte die Irisch-Republikanische Armee (IRA), nicht zuletzt wegen ihrer Attentate auch außerhalb Nordirlands, zur meist gefürchteten internationalen »Terrororganisation«. 1980/81 starben zehn ihrer Anhänger in einem Hungerstreik, bei dem es wesentlich um die Anerkennung der politischen Dimension des Konflikts, die ethnisch-soziale Ausgrenzung der irisch-katholischen Minderheit und die Trennung des Nordens der Insel von der Republik Irland ging.

Der Hungerstreik markierte einen Wendepunkt in der Konfliktspirale. Die Gewaltakteure, zu denen neben der IRA und der britischen Polizei und Armee auch loyalistische (britisch-treue) paramilitärische Verbände zählten, hielten eine militärische »Lösung« immer weniger für aussichtsreich. Begünstigt durch die politische Entspannung gegen Ende des Kalten Krieges, wurden Initiativen zu einer Deeskalation ergriffen. Zunächst fanden Geheimgespräche zwischen den nordirischen Republikaner*innen und den britischen Sicherheitskräften statt. Ab 1996 wurde unter intensiver Vermittlung des damaligen US-Senators George Mitchell ein komplexes Verhandlungspaket ausgearbeitet, um interne und externe Konfliktparteien, einschließlich der irischen und der britischen Regierung, an einen Tisch zu bekommen.

Der nordirische Friedensprozess galt vielen zunächst als ein erfolgreiches Modell für andere, ähnlich gelagerte Gewaltkonflikte.2 Viel wurde über die »constructive ambiguities« dieses Prozesses –das konstruktive Potential seiner Mehrdeutigkeiten – geschrieben. Beispielsweise wurde versucht, die sicherheitspolitischen Dimensionen, vor allem die Abrüstung der paramilitärischen Waffen (decommissioning), nicht zur Vorbedingung für eine demokratische Partizipation bzw. Regierungsbeteiligung zu machen.3 Die in diesem Prozess angelegte Tendenz, beim Umgang mit Konfliktursachen und bei der Nachsorge auf halbem Wege stehen zu bleiben, ist jedoch nach fast 20 Jahren unübersehbar und prägt das Klima eines »Kalten Friedens«. Richard Haass, Präsident des US Council on Foreign Relations und anlässlich der Belfaster »Flaggenproteste«4 als Vermittler tätig, warnte bereits 2013/14, „[d]ie Gewalt könnte wieder aufflammen, wenn es keinen Fortschritt im Umgang mit der Geschichte der »Troubles« gibt“.5 Er verwies damit auf den Umstand, dass aus einem verschleppten Konflikt rührende, unreflektierte Identitätsansprüche bzw. -verunsicherungen leicht in eine Art neuen »Kulturkrieg« münden können.

Wandel der Identitäten?

In Nordirland ging es schon immer um nationale Identitäten und nationales Selbstverständnis. Die Konfession ist „nur ein Merkmal, an dem sich die Mitglieder der zwei Lager erkennen: Katholiken verstehen sich als Iren, und die meisten von ihnen wählen Parteien, die dem linken Spektrum zugerechnet werden. Die mehrheitlich schottisch-stämmigen Protestanten verstehen sich als Briten und wählen zumeist konservativ bis stramm rechts […]“.6 Dem seit 2012 in Belfast laufenden »Peace Monitoring«- Projekt zufolge, das den demografischen und sozialen Wandel sowie Einstellungsveränderungen seit dem Belfaster Abkommen untersucht, sind die Selbstzuordnungen zwischen religiöser Zugehörigkeit und nationaler Identität, die der Zensus 2011 erstmals explizit erlaubte, bei Weitem nicht mehr so eindeutig, wie dies aus Untersuchungen über Haltungen und Einstellungen aus den Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 abzulesen war. Trotz eines Gesamtanteils von 48 % Protestant*innen bezeichneten sich 2013 weniger als 40 % als britisch; bei einem Anteil von 45 % Katholik*innen beanspruchten sogar nur 25 % eine irische Identität; und weniger als 20 % favorisierten ein vereinigtes Irland. Erstmals tauchte eine neue Kategorie auf: 21 % der Bevölkerung bezeichneten sich als »nordirisch« und befürworteten eine umfassendere nordirische Selbstverwaltung bzw. Autonomie.7 Diese allmähliche Erosion der Identitätszuschreibungen könnte für einen flexibleren Umgang mit den möglichen Folgen des Brexit noch Relevanz bekommen.

Abkommen für einen »Kalten Frieden«?

Es gehörte zu den Paradoxien des seinerzeit international gefeierten Belfaster Friedensabkommens, dass eine Übereinkunft zur konstitutionellen Kernfrage des Konflikts, ob der Norden der irischen Insel künftig zu Irland oder zu Großbritannien gehören sollte, relativ leicht erzielt werden konnte. Man einigte sich auf ein konsensuales Verfahren (principle of consent), das festlegte, diese Frage dem künftigen Meinungsbildungsprozess in der nordirischen Bevölkerung zu überlassen und in einem Referendum abzufragen.

Zunächst aber wurde allen nordirischen Bürger*innen die Möglichkeit gegeben, zwischen der irischen, der britischen oder der doppelten Staatsangehörigkeit zu wählen. Möglich wurde dieser politische Kompromiss, nachdem die Regierung in Dublin den Alleinvertretungsanspruch für den Norden aus der Verfassung der Republik Irland gestrichen hatte. Den irisch orientierten Republikaner*innen (vertreten durch die gemäßigte Social Democratic and Labour Party/SDLP und die radikalere, mit der IRA verbundene Sinn Fein) verlangte diese Regelung einiges ab, hätte sie sich doch als eine Rückversicherung für die Unionist*innen (die gemäßigtere Ulster Unionist Party/UUP und die radikalere DUP) interpretieren lassen und somit auch das radikale loyalistische Lager zufrieden stellen können. Die DUP, geführt von dem presbyterianischen Reverend Ian Paisley, lehnte das Abkommen jedoch als einzige Partei ab.

Dies leitete die erste krisenhafte Dekade des »Kalten Friedens« in Nordirland ein, in der sich die Ratio des Abkommens nur mühsam Bahn brechen konnte und (vorwiegend aus dem loyalistischen Spektrum) immer wieder Anschläge verübt wurden. Erst im Mai 2007, zwei Jahre nach der offiziell verifizierten Abrüstung der IRA, konnte der zweite Kerngedanke des Friedensabkommens Platz greifen: Die Macht wurde geteilt, die beiden radikalen Konfliktparteien bildeten eine gemeinsame Regionalregierung (angeführt zunächst von Ian Paisley/DUP und Martin McGuinness/Sinn Féin) und lösten so die »direct rule« aus London ab.

Innere Fragilität

Diese bemerkenswerte Konstruktion ist bis heute fragil geblieben. Neben einer Polizeireform, mittels derer die paritätische Rekrutierung von katholischen und protestantischen Offizieren und ein Ombudssystem der Überwachung polizeilicher Arbeit durch die Zivilgesellschaft eingeführt wurde, wurden zahlreiche weitere Vorkehrungen getroffen, um die konfliktträchtige Erinnerungskultur zu zähmen. Beispielsweise hat die Einführung einer »Parade Commission« zu einer gewissen Beruhigung der jährlichen »Marschsaison« beigetragen; seit 2016 werden sukzessive einige der »Peace Walls«, die die katholischen und protestantischen Belfaster Straßenzüge bis dato voneinander trennten, entfernt.8

Der Zugewinn an Sicherheit geht bisher jedoch nicht mit einem Zugewinn an Handlungsfähigkeit der gewählten Repräsentanten bei den anderen grundlegenden Themen kooperativen Zusammenlebens einher. Was in der ersten Phase nach der Umsetzung des Belfaster Abkommens als konstruktive Mehrdeutigkeit durchgehen mochte, erweist sich nun zusehends als Hindernis. Das Demokratiedefizit der Konkordanz, die keinen Raum für echte Opposition lässt, begünstigt das mentale Verharren in alten Gräben, wodurch der Konfliktinhalt fortlebt.9 Es scheint, als sei der moralische Impuls des Neuanfangs, den das Belfaster Abkommen darstellte, verbraucht.

So kehrte (der im März 2017 verstorbene) Martin McGuinness, Co-Chef der nordirischen Regionalregierung, im Januar 2017, mitten in den Brexit-Wirren, dem Belfaster Parlamentsgebäude den Rücken und erklärte die Koalition der Sinn Fein mit der DUP für gescheitert. Offenbar gab es zu viele Fälle der Patronage und Demütigungen, z.B. energiepolitische Investitionen, die vorwiegend in die Taschen unionistischer Hausbesitzer flossen, oder die Weigerungen, die im Abkommen vorgesehene Förderung der irischen Sprache materiell abzusichern und voranzutreiben. Bei den anschließenden Neuwahlen am 2. März 2017 konnte die Sinn Fein mit ihrer neuen Vorsitzenden Michelle O‘Neill große Stimmengewinne verbuchen, während die pro-britischen Parteien in Belfast erstmals seit 1998 ihre Mehrheit verloren, wenngleich die DUP unter Arlene Foster knapp stärkste Partei blieb.10 Die anschließenden Versuche einer Regierungsneubildung haben bis heute kein Ergebnis erbracht und werden durch die Tatsache erschwert, dass die DUP mit ihren zehn Sitzen im britischen Parlament seit Juni 2017 die Steigbügelhalterin für Theresa Mays gewagten Ritt durch den Brexit ist. Dass die britische Regierungsfähigkeit nun ausgerechnet von den auch in anderen Fragen radikal-konservativen DUP-Abgeordneten abhängt, schwächt in erheblichem Ausmaß die im Belfaster Abkommen geforderte Neutralität Großbritanniens. Das würde auch ohne den Brexit schwer genug wiegen und wurde von der Sinn Fein bereits kritisch adressiert.11

Durch den Brexit zum Bruch?

Verlässt Großbritannien wie geplant den europäischen Binnenmarkt und auch die Zollunion, entsteht zwischen Nordirland und der Republik Irland die einzige Landgrenze der EU zu Großbritannien. Dann müssten hier z.B. die Ein- und Ausfuhren kontrolliert werden. Es war aber gerade die bisher offene Grenze, die nach dem jahrzehntelangen Konflikt wesentlich zu einer Normalisierung des Lebens in Nordirland beitrug und die Wirtschaft stärkte: „[E]in rigider Brexit mit Infragestellung des Gemeinsamen Marktes auf der Insel würde vor allem das Leben vieler Nordiren durcheinanderbringen“, so Peter Mandelson, ehemaliger Nordirlandminister in der Regierung Tony Blair und etliche Jahre EU-Handelskommissar.12

Mit diesen ökonomischen Befürchtungen sind auch demokratiepolitische Dimensionen verbunden. Mehr als die Hälfte der Nordir*innen stimmte gegen den Brexit; bei einem inzwischen fast 50/50-Verhältnis katholischer und protestantischer Bevölkerungsteile muss also auch ein deutlicher Anteil der Protestant*innen den Brexit abgelehnt haben. Die Wiedererrichtung einer Grenze mit militärisch-polizeilicher Absicherung des Grenzverkehrs widerspricht in jeder Hinsicht dem Belfaster Abkommen – diese mehr als 300 Meilen waren schon während der »Troubles« nicht zu sichern.

Manche Nordir*innen entscheiden sich für individuelle Auswege: Die Zahl der Anträge für irische Pässe schnellte deutlich nach oben.13 Seitens der Sinn Fein nehmen die Warnungen vor den möglichen Brexit-Folgen zu, und die langjährige Dubliner Regierungspartei Fianna Fail, die bei den vorletzten Wahlen wegen ihres Austeritätskurses auf die Oppositionsbank geschickt worden war, legte im Frühjahr 2017 einen 12-Punkte-Plan für eine Wiedervereinigung vor.14

In öffentlichen Erklärungen bemühen sich die irische wie die britische Regierung aus unterschiedlichen Perspektiven um Schadensbegrenzung. Bei den bisherigen Treffen in Brüssel versprach die EU-Kommission, den »Sonderstatus« Nordirlands irgendwie zu berücksichtigen. Da aber gegenwärtig niemand weiß, wie die Bedingungen und das Procedere des Brexit wirklich aussehen werden und in welchem Zeitrahmen er umgesetzt wird, wächst vor allem die allgemeine Verunsicherung. Diese Irritation von außen könnte der »eingefrorenen« Situation, die im Inneren nach wie vor sehr fragil ist, schweren Schaden zufügen. Keine guten Aussichten in Zeiten, in denen vielerorts in Europa die Ängste „überforderter Identitäten“15 spürbar werden.

Anmerkungen

1) Der Wortlaut des Abkommens steht unter ­peaceaker.un.org/uk-ireland-good-friday98.

2) Eine ausführliche Bestandsaufnahme der ersten Jahre liefert W&F-Dossier 45: Hauswedell, C. (2004): Der nordirische Friedensprozess – ein Modell?

3) Vgl. z.B. Cox, M.; Guelke, A.; Stephen, F. (eds) (2006): A Farewell to Arms? Beyond the Good Friday Agreement. Manchester/New York: Manchester University Press, 2nd edi­tion.

4) Bei den »Flaggenprotesten« wehrten sich loyalistische Organisationen dagegen, dass der »Union Jack« – die britische Flagge – nur noch an bestimmten Tagen auf dem Belfaster Rathaus geflaggt werden sollte. Siehe dazu mehr bei Hauswedell, C. (2014): Nordirland – Sieht so Frieden aus? W&F 2-2014.

5) Richard Haass warns NI violence could re-emerge without progress. BBC.com, 12.3.2014.

6) Patalong, F. (2016): Brexit bringt Frieden in Nordirland in Gefahr. spiegel.de 26.6.2016.

7) Nolan, P. (2013): Northern Ireland Peace Monitoring Report Number Two. Belfast: Community Relations Council, S. 5 und 34/35.

8) O’Sullivan, F. (2016): The Complex Process of Demolishing Belfast’s »Peace Walls«. citylab.com, 16.8.2016.

9) Zu den Problemen der nordirischen Konkordanzdemokratie, die häufig eher die Partikularinteressen der Konfliktparteien als inte­grative plurale Lösungen befördert, vgl. auch Moltmann, B. (2013): Ein verquerer Frieden – Nordirland fünfzehn Jahre nach dem Belfast-Abkommen von 1998. Frankfurt: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK Report 5/2013.

10) Patalong, F. (2017): Protestanten verlieren Mehrheit im Parlament. spiegel.de, 4.3.2017.

11) Zaschke, C (2017): Wie Mays Machtpoker den Nordirlandkonflikt verschärft. sueddeutsche.de, 16.6.2017.

12) UK pursuing »reckless interpretation« of Brexit referendum result – Mandelson. ret.ie (Website von Raidió Teilifís Éireann), 18.9.2017.
Eindrückliche Fallbeispiele möglicher Folgen für die Menschen bei Wiedereinrichtung der Grenze finden sich bei Smith, S; Jaber, Z. (2017): Old Border, New Worries. nbcnews.com, 17.10.2017.

13) Demand for Irish passports reaches record high in 2016. Irish Times, 28.12.2016, S. 6.

14) O’Brien, C. (2017): Fianna Fáil announce they are drawing up a 12 point proposal for an United Ireland. theliberal.ie, 13.3.2017.

15) Zielcke, A. (2016): Die verunsicherte Gesellschaft. Süddeutsche Zeitung, 12.10.2016.

Corinna Hauswedell war bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und Mitherausgeberin der jährlichen Friedensgutachten (LIT-Verlag).