Einfach nur: Zensur

Einfach nur: Zensur

Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Zeiten des Krieges

von Claudia Brunner1

Nicht nur rund um den Konflikt in Israel/Palästina herrschen öffentliche Sprechverbote und Denkgebote. Doch spätestens seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat das Diskreditieren, Intervenieren und Zensurieren unliebsamer Positionen eine neue Qualität und Quantität erreicht. In der im gleichen Atemzug beschworenen offenen Gesellschaft der liberalen Demokratie werden Intellektuelle und Akademiker*innen schnell zu deren Feind*innen erklärt, wenn sich ihre Worte nicht zur „Wissenschaft als Herrschaftsdienst“ (Pappé 2011) eignen.

Im August 2023 erreichte mich eine Anfrage von Deutschlandfunk Nova: Nach einer Hörer*innenbefragung des Wissenschaftspodcasts »Hörsaal« wünsche man sich einen Vortrag zum Thema »Epistemizid«, der organisierten und massenhaften Vernichtung von Wissen, die mit Genoziden und anderen gewaltförmigen Prozessen einhergeht. Selbst ein Fan von Podcasts, sagte ich gern zu und sprach, nach Vereinbarung eines Aufnahmetermins im Landesstudio Kärnten des ORF, Ende September über mein Forschungsthema »epistemische Gewalt«: zu einem nur imaginierten Publikum sowie einem realen Tontechniker, der sich angesichts des unverhofften Crashkurses in post- und dekolonialer feministischer Wissenschaftstheorie durchaus begeistert zeigte. Auf Wunsch einer Hörerin hatte ich die Problematik am Beispiel der sogenannten Hexenverbrennung illustriert, aber auch Bezüge zu anderen Genoziden und Epistemiziden im Verlauf des sogenannten »langen 16. Jahrhunderts« hergestellt und das Konzept der epistemischen Gewalt erklärt. Nach Ende des fast einstündigen Vortrags zeigte sich die akustisch anwesende Redakteurin sehr zufrieden. Ich selbst freute mich über ein – wie mir schien – gelungenes Experiment der Wissenschaftskommunikation und war neugierig auf das fertige Produkt sowie die Resonanz im virtuellen Hörsaal.

(Nicht) hören wollen und sollen

Mitte Oktober 2023 kontaktierte mich die Redakteurin in für mich überraschend reserviertem Ton betreffend die Veröffentlichung des Beitrags. Diese könne nämlich nur erfolgen, wenn ich der Streichung eines Satzes zustimmen würde.

Bei Vorträgen zu verwandten Themen entstehen stets interessante Diskussionen, und natürlich werden kritische Fragen zu Begriffen und Konzepten oder zur Forschungsperspektive und deren politischen Implikationen an mich gerichtet. Als Diskursforscherin ist mir auch durchaus bewusst, was Michel Foucaults »Räume des Sagbaren« bedeuteten, und als Feministin ist mir klar, welche Macht in Begriffen und Konzepten steckt. Bei der redaktionellen Bearbeitung von Publikationen wird bisweilen auch aus politischen Gründen um Formulierungen gerungen. Und selbst Erfahrungen mit Störaktionen bei Konferenzen und diffamierenden Rezensionen sind mir nicht fremd. Doch meine Worte faktisch zensuriert hatte in über 15 Jahren im universitär-akademischen Feld bislang noch niemand.

Da ich im Aufnahmestudio ohne schriftliches Manuskript frei gesprochen hatte, konnte ich mir keinen Reim darauf machen, welche konkrete Formulierung als der Öffentlichkeit dermaßen unzumutbar erachtet wurde, dass ich mich Wochen später von ihr nicht nur distanzieren, sondern ihrer Löschung zustimmen sollte. Also bat ich um die Zusendung der Transkription der als problematisch erachteten Passage.

Sprechverbote, Denkgebote

Es handelte sich um einen Satz, den ich so oder ähnlich schon unzählige Male verwendet und in dem meinen Vorträgen zugrunde liegenden Buch über epistemische Gewalt ausformuliert hatte (Brunner 2020, S. 39): Um den in der akademischen Fachdebatte gängigen Begriff der anhaltenden »Kolonialität« von jenem des historischen »Kolonialismus« abzugrenzen, verwies ich auch im Podcast auf den Historiker Robert Young. Er argumentiert, dass das politische System des Kolonialismus im Allgemeinen zwar als überwunden gelte, diese Lesart jedoch beispielsweise für Angehörige der First Nations in Nordamerika, für Sahrawis in der Westsahara oder für Palästinenser*innen in den von Israel besetzten Gebieten alles andere als plausibel sei (Young 2006, S. 3). Im Konjunktiv und als eines unter mehreren Beispielen hatte ich das vor allem im deutschsprachigen Raum scheinbar Unsagbare ausgesprochen: Israel und Kolonialismus.

Bereits vor dem 7. Oktober 2023 war es wenig opportun, faktisch Offensichtliches und analytisch Plausibles an- und auszusprechen, nämlich die völkerrechtswidrige Besatzung palästinensischer Gebiete. Bis dahin hätte ich mich als Autorin selbst für diese Feststellung rechtfertigen müssen – und können. Nunmehr meinte ausgerechnet die Redaktion eines multidisziplinären Wissenschaftspodcasts, die von ihnen selbst eingeladene – und gar nicht über Israel/Palästina sprechende – Vortragende aktiv zensurieren zu müssen, um nicht selbst die gefürchtetste aller Diskreditierungen auf sich zu ziehen: Antisemitismus.

Ich habe der Zensur nicht zugestimmt und mit offiziellen Dokumenten des Auswärtigen Amts und der Vereinten Nationen sowie mit einigen Verweisen auf die internationale akademische Fachdebatte geantwortet. Darin ist das vermeintliche Unwort »(Siedler-)Kolonialismus« ein analytischer Begriff, um den anhaltenden asymmetrischen Konflikt in Israel/Palästina angemessen zu verstehen.

Zwei Monate später wurde die Sendung schließlich doch noch – wie ich annehme, zähneknirschend – mit Verlinkung zu einem weiteren und diesbezüglich ambivalenzfreien Podcast veröffentlicht.

Unerwünschte Expertise

Massivere Auswirkungen hatte die zugespitzte »Begriffsverbotspolitik« in der Schweiz. Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Forschungseinrichtung »swisspeace«, hatte im vergangenen Herbst in einer Diskussionssendung des Schweizer Fernsehsenders SRF angemerkt, dass die seit Jahrzehnten im Raum stehende Zwei-Staaten-Lösung inzwischen wohl weder für Israel noch für die Palästinenser*innen eine realistische oder wünschenswerte Option sei. Daher wäre es doch angebracht, auch wieder über Modelle einer »Ein-Staaten-Lösung« nachzudenken, die in Forschung und Politik im Übrigen seit langem diskutiert wird. Alternativen zum Status quo zu debattieren halte ich für ein gutes Recht und auch eine sinnvolle Aufgabe der Wissenschaften, um systematisch Wege der Analyse und Transformation von territorialen Konflikten ausloten zu können.

Zu einem dieser Wege der Konfliktbearbeitung zählt die Beteiligung akademischer wie politischer Akteur*innen an Friedensprozessen vor allem auf nicht-öffentlichen diplomatischen Terrains. Um dies aus der Perspektive der neutralen Schweiz weiterhin gewährleisten zu können, ergänzte Goetschel, halte er auch nichts von der geforderten Einstufung der Hamas als terroristischer Organisation, mit deren Vertreter*innen dann nicht einmal gesprochen werden dürfe, und von deren Verbot in der Schweiz. Damit hatte der renommierte Friedensforscher offensichtlich gleich zwei rote Linien des nicht nur in Deutschland zur »Staatsräson« gewordenen, reflexartig pro-zionistischen öffentlichen Diskurses überschritten.

Es folgte eine mediale Schlammschlacht, und im Handumdrehen strich der Landrat des Kantons Basel-Landschaft die bereits vereinbarten Förderbeiträge an die von Goetschel geleitete schweizerische Friedensstiftung (Neue Zürcher Zeitung 2024).

(Un-)Freiheit der Lehre

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt übt sich derweilen die Leitung der Universität Wien in der Einschränkung der Freiheit von Wissenschaft und Lehre in Bezug auf eine multiperspektivische Betrachtung Palästinas und seiner Geschichte, Kultur und Gegenwart. So wurde der Professorin Birgit Englert, die mit ihrer Habilitation über eine an der Universität Wien erlangte Lehrbefugnis – und damit über das dort auch inhaltlich frei auszuübende Recht auf Lehre – verfügt, zu Beginn des Sommersemesters 2024 untersagt, eine Ringvorlesung zum Thema „Palästina in globalen Zusammenhängen. Über Mobilitäten, Solidaritäten und Erinnerungskulturen“ in der von ihr, gemeinsam mit ihrer Kollegin Maya Rinderer, geplanten Form abzuhalten (Statement 2024a). Bereits eine Woche nach Ankündigung im Lehrveranstaltungsverzeichnis hatten sich über 50 Studierende für die Ringvorlesung angemeldet, bei der elf weitere Kolleg*innen zum Thema sprechen sollten.

Über Nacht verschwand das schon online einsehbare Vortragsprogramm von der Website der Universität Wien. Ohne öffentliche Rechtfertigung wurde von der langjährigen Mitarbeiterin der Universität Wien verlangt, zwei palästinensische Vortragende sowie ihre jüdische Co-Organisatorin aufgrund ihrer Beziehung zum antizionistischen jüdischen Kollektiv »Judeobolschewiener*innen« auszuladen. Weiters wurde gefordert, die Zahl der Teilnehmenden im Sinne eines geschlossenen Formats zu reduzieren sowie die sorgfältig geplante Ringvorlesung in kürzester Zeit auf ein Lektüre-Format umzubauen – und somit eine (universitäts-)öffentliche Debatte zu verhindern.

Da sich die Organisatorinnen ebenso wie beteiligte Vortragende gegen diesen unerhörten Eingriff in die Freiheit der Lehre und die Ausladung ihrer Kolleg*innen aussprachen, wurde die Lehrveranstaltung tatsächlich abgesagt. Ebenso beunruhigend wie das autoritäre Vorgehen des Rektorats, exekutiert durch die Vizerektorin für Lehre, scheint mir das weitgehende öffentliche Stillschweigen im Umfeld der beteiligten Institute an der Philosophisch-Kulturwissenschaftlichen sowie der Fakultät für Sozialwissenschaften. Vielen schien es, so mein Eindruck, nur um den »Sonderfall Israel/Palästina« zu gehen, zu dem man sich derzeit nicht unbedingt äußern möchte, und nicht um den deutlich sichtbar werdenden grundlegenden Eingriff in die Freiheit von Wissenschaft und Lehre.

Kurze Zeit später ergriffen auch Student*innen der Universität Wien das Wort und formulierten ein Protestschreiben (Statement 2024b), in dem nicht nur das jüngste Geschehen am Institut für Afrikawissenschaften öffentlich kritisiert wurde. Auch die durch das Rektorat verhinderte öffentliche Vortragsreihe „Against the Present: Past and Future Perspectives on Palestine (Statement 2023), die Kolleg*innen vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie gemeinsam mit der Central European University (CEU) im vergangenen Wintersemester veranstalten wollten, wurde von den Student*innen aufgegriffen. Dem Institut war die Co-Organisation der mit etablierten internationalen Akademiker*innen besetzten Vortragsreihe und die Nutzung von Räumen der Universität Wien untersagt worden, und die Ankündigung – zeitgleich mit einem allgemeinen Statement zur Lage in Israel/Palästina – ebenfalls über Nacht von der Website genommen.

Die an der Organisation beteiligten Kolleg*innen und nunmehr alleinigen Gastgeber*innen an der CEU staunten nicht schlecht, war ihrer politisch unliebsamen Universität doch erst vor wenigen Jahren von Viktor Orbáns Regierung die Verlängerung der Akkreditierung in Ungarn verweigert worden, weshalb sie heute am Standort Wien tätig sind. Vorgestern Gender Studies und Asylpolitik, gestern Ukraine, heute Palästina. An welchem Thema wird sich die inzwischen eingeübte Kultur des Diskreditierens, Intervenierens und Zensurierens als nächstes manifestieren?

Opportunismus und Repression

Wer sich mit Israel/Palästina beschäftigt, weiß schon lange Bescheid über die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Zeiten des Krieges. Wenn selbst liberale und linke Stimmen sich als Sprachrohr des ultra-rechten israelischen Kriegskabinetts verstehen und Antisemitismusvorwürfe zur Waffe gegen dissidente Positionen gemacht werden – selbst gegen regierungskritische Israelis und anti-zionistische Juden und Jüdinnen in aller Welt –, wird (nicht nur) Friedensforschung und Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, bewusst verunmöglicht. Aber auch wer in den letzten beiden Jahren beobachtet hat, wie selbst auf vermeintlich ergebnisoffenem und differenzierungskompetentem wissenschaftlichem Terrain über den Krieg in der Ukraine gesprochen werden kann, darf und soll, musste ähnliche Phänomene zur Kenntnis nehmen. Die Verengung der Diskursräume sowie die sich selbst an einzelnen Begriffen verdichtenden Sprechverbote und Denkgebote, die sich in immer drastischeren Formen auch im akademischen und universitären Feld in den liberalen Demokratien Deutschland, Österreich und der Schweiz breit machen, sind mehr als nur anlassbezogen beunruhigend.

Je weniger Widerspruch gegen autoritärer werdende (Diskurs-)Politiken wir artikulieren, und je vereinzelter wir uns dabei wähnen, umso wirksamer internalisieren wir die sich verschiebenden Grenzen des (Un-)Sagbaren in unseren Köpfen. Damit werden wir zu Gehilf*innen der vermeintlich alternativlosen Kriegslogik, der spätestens seit der Ausrufung der »Zeitenwende« selbst an Universitäten, Hochschulen und Akademien nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Denken und Empfinden untergeordnet werden soll.

Das ebenso freche wie kluge Känguru von Marc-Uwe Kling würde angesichts dieser Entwicklungen wohl von „Opportunismus und Repression“ sprechen (Kling 2009, o. S.) – und sich mit seinen roten Boxhandschuhen an den Kopf greifen.

Anmerkung

1) Danke an Helmut Krieger und die genannten Kolleg*innen für den Austausch zu dieser Thematik.

Literatur

Brunner, C. (2023): Epistemische Gewalt. Die Vernichtung von Wissen. In: Hörsaal – der Wissenschaftspodcast, Deutschlandfunk Nova, 15.12.2023.

Brunner, C. (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.

Goetschel, L. (im Interview mit Häsler, G.) (2024): Das kommt einem politischen Maulkorb für die Wissenschaft gleich. Neue Zürcher Zeitung, 4.1.2024.

Kling, M.-U. (2009): Die Känguru-Chroniken. Berlin: Ullstein.

Pappé, I. (2011): Wissenschaft als Herrschaftsdienst. Der Kampf und die akademische Freiheit in ­Israel. Hamburg: Laika.

Statement (2023): Letter in Protest of University of Vienna‘s Cancellation of Events on Palestine and Further Censorship. Online abrufbar unter: is.gd/letter_in_protest_vienna_2023.

Statement (2024a): Statement in Protest of the Removal of the »Palestine in Global Contexts« Lecture Course at the University of Vienna. Online abrufbar unter: afrika.univie.ac.at/ueber-uns/rassismuskritische-ag/proteste.

Statement (2024b): Petition zur Beendigung von Zensuren an der Universität und Wiedereinstellung von Kursen über Palästina in unseren Lehrgängen. Online abrufbar unter: is.gd/­petition_lectures_palestine.

Young, R. (2006): Postcolonialism. An Historical Introduction. Malden/Oxford/Carlton: Blackwell.

Claudia Brunner ist Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung, Universität Klagenfurt. Zu Person und Arbeitsschwerpunkten siehe www.epistemicviolence.info.

Nachgefragt: Friedenslogik in Israel-Palästina?

Nachgefragt: Friedenslogik in Israel-Palästina?

Melanie Hussak und David Scheuing im Gespräch mit Vertreter*innen der Stiftung »die schwelle«, der Nahostkommission von Pax Christi sowie dem Regional­koordinator der KURVE Wustrow in Palästina/Israel.

In diesen Tagen wird von Organisationen der Friedensarbeit vielfach eine „Friedenslogik für Israel und Palästina“ gefordert – doch was bedeutet das? Bewusstes friedenslogisches Handeln in Zeiten eskalierter Gewalt ist keine einfache Aufgabe. Denn Friedenslogik ist voraussetzungsvoll1: Sie nimmt die Problematisierung der Gewalt zum Anlass, nicht die Bedrohung durch den*die Gegner*in; sie versucht sich an dialogorientierten, zivilen Konfliktinterventionen, nicht an militärischer Verteidigung und Abschreckung; sie richtet sich an gemeinsamen Interessen und international etablierten Normen aus, nicht an partikularen Interessen; sie etabliert Selbstreflexion, nicht Selbstbestätigung ohne Selbstkritik.
W&F hat drei Friedensorganisationen zu ihrer Arbeit vor Ort befragt. Ein Gespräch über Haltungen, Prinzipien, eigene Betroffenheit und den Umgang mit »shrinking spaces«.

W&F: Frau Klasing, Herr Rossi D’Ambrosio, Frau Rösch-Metzler, angesichts der Gewalteskalation in Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg in Gaza stellt sich für viele in der Öffentlichkeit ganz unmittelbar die Frage, wie Frieden in dieser Situation, aber auch generell in Israel und Palästina hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Ihre jeweiligen Organisationen arbeiten seit vielen Jahren mit Partnerorganisationen friedenspolitisch in der Region. Wie wollen Sie mit Ihrer Arbeit beziehungsweise der Arbeit der Partnerorganisationen Frieden näherkommen?

Anette Klasing – »die schwelle«: »Die schwelle« als Friedensstiftung arbeitet zweigleisig. Zum einen machen wir Öffentlichkeitsarbeit für unsere Projekte und für unsere Friedensarbeit in Deutschland. Auf der anderen Seite sind unsere Partner, in diesem Fall seit einigen Jahren in Israel/Palästina die »Combatants for Peace«, vor Ort mit vielfältigen Aktivitäten und Programmen tätig. Unsere Stiftung wirkt mit der Öffentlichkeitsarbeit in Politik und Gesellschaft hinein, beispielsweise durch Veranstaltungen. Wichtig sind die Aktivitäten der Partner vor Ort. »Combatants for Peace« sind auch in Deutschland sehr bekannt geworden, gerade nach dem 7. Oktober. Viele Veranstaltungsformate haben Rotem Levin und Osama Illiwat in fast alle Großstädte in Deutschland geführt.

Ein wichtiges Projekt der letzten Jahre war die sogenannte »Freedom School«, die auch mit Mitteln der Europäischen Union unterstützt wurde. Die »Freedom School« hat über drei Jahre Jugendliche auf der israelischen wie auf der palästinensischen Seite durch Trainings und Seminare ausgebildet. Zunächst unilateral, das heißt israelische und palästinensische Jugendliche durchliefen getrennt die Trainings. Im weiteren Verlauf des Trainingsprogramms gab es dann gemeinsame Trainings in gewaltfreier Kommunikation, gewaltfreier Konfliktbearbeitung und der Frage des gewaltfreien Widerstands. Drei Themenbereiche, die in diesen Trainingsprogrammen hervorragend gelaufen sind. Vor dem 7. Oktober haben wir mit Rana Salman ein Gespräch geführt über die »Freedom School«. Sie war damals so froh, dass es gelungen war, Jugendliche aus der Region Nablus und Jenin für die Freedom School zu erreichen. Denn im Norden der Westbank, in Nablus und Jenin, hatte es in den letzten Monaten vor dem 7. Oktober eine durchaus aufgeladene, gewaltbereite Stimmung und Situation gegeben – verschiedenste militante Gruppen hatten sich in der Region gebildet und »Combatants for Peace« war es wichtig, auch junge Menschen dort für ihre Arbeit zu erreichen.

Das ist natürlich nur ein Ausschnitt. International bekannt geworden sind die »Joint Memorial Ceremonies«, die in den letzten Jahren in Tel Aviv stattfanden, teilweise mit Übertragungen nach Ramallah oder auch Beit Jala. Die Gedenkfeiern haben den Grundgedanken der Anerkennung der Narrative und der Opfer auf beiden Seiten, die Anerkennung der Verluste. Ich war im April 2023 bei der Gedenkfeier zu Gast und ich habe lebhaft in Erinnerung, dass die stellvertretende Direktorin der Tel Aviv Universität eine großartige Rede hielt, in der sie die israelische Gesellschaft aufforderte, das Leid der palästinensischen Bevölkerung anzuerkennen. Gesellschaft und Politik müssten anerkennen, dass es die Nakba gegeben habe und auch die Folgen sehen. Also diese großen Zeremonien, die der Opfer beider Seiten gedenken, das ist ein ganz wichtiges Moment der Arbeit unserer Partner.

Eine dritte Säule sind die humanitären und politischen Hilfen, wie die Wasserversorgung in den Beduinendörfern oder der Wiederaufbau von zerstörten Häusern. Beim letzten Besuch waren wir in einem Beduinendorf im Jordantal, wo die Partner einen Kindergarten und eine Schule wieder aufgebaut hatten, die vorher von der Armee zerstört worden waren. Diese konkreten humanitären und friedenspolitischen Hilfen sind ebenfalls ein wichtiges Instrument.

Wiltrud Rösch-Metzler – Nahostkommission Pax Christi: Pax Christi setzt sich dafür ein, dass die Menschenrechte und das Völkerrecht zuerst die wesentlichen Elemente sind, die eingehalten werden müssen. Wir sind überzeugt, dass das ein erster Schritt ist, wie man Konflikte reduzieren kann. Als Zweites setzen wir uns ein für ein Ende der Besatzung, zusammen mit unseren Partnern vor Ort. Wir setzen uns ein für gewaltfreie Konfliktlösungen – allerdings ist es schwierig, hier in der deutschen Gesellschaft nun die gewaltfreien Konfliktlösungen, die von Palästinenser*innen entwickelt wurden, zur Sprache zu bringen, es wird einem schnell Antisemitismus vorgeworfen. Drittens setzen wir uns für eine israelisch-palästinensische Verständigung ein – wir möchten, dass unsere christlichen Brüder und Schwestern aus Palästina hier ein Gesicht haben und dass sie hier beteiligt werden am christlich-jüdischen Dialog.

Dario Rossi D’Ambrosio – KURVE Wustrow Regionalkoordinator: In Palästina/Israel arbeiten wir im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes mit sechs Partnerorganisationen zusammen. Die vier schon länger etablierten Partnerschaften bestehen mit dem Frauenkollektiv in Al-Walajah, das ist ein von der Mauer umgebenes Dorf zwischen Jerusalem und Bethlehem. Dann arbeiten wir mit »Youth of Sumud« zusammen, einem Jugendkollektiv an der Basis. Drittens arbeiten wir mit dem »Human Rights Defenders Fund«, einer israelischen NGO, in der sowohl Palästinenser*innen als auch Israelis zusammenarbeiten. Und viertens mit »Zochrot«, einer israelischen NGO mit Sitz in Jaffa, ebenfalls mit gemischtem Personal. Unsere Arbeit ist die Unterstützung der Partner, wir haben keine eigene Arbeit in der Region. Die Ansätze der Partnerorganisationen sind unterschiedlich. Die Konzentration auf Graswurzelaktivismus für Gewaltfreiheit und für eine gewaltfreie Lösung des Konflikts ist der gemeinsame Nenner der Arbeit. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen den palästinensischen Partnern, die nicht einmal NGOs sind, sondern nur Gruppen von Aktivist*innen. Deren Hauptpriorität ist die Beendigung der Besatzung und die Erlangung der Selbstbestimmung als Palästinenser*innen. Das heißt in der täglichen Praxis, die Landnahme und die gewaltsame Vertreibung von palästinensischen Gemeinschaften als ersten Schritt zu stoppen. Denn ohne diesen Schutz gibt es keine Palästinenser*innen und kein palästinensisches Land mehr. Das ist also die Grundlage und Voraussetzung für jede Art von Verhandlungslösung oder politischer Lösung des Konflikts, der im Wesentlichen ein Konflikt um Land ist. Das ist jetzt sehr verkürzt, aber es ist der Kern des Problems.

Aus der Perspektive der israelischen Partner ist es ein bisschen anders. »Human Rights Defenders Fund«, zum Beispiel, konzentrieren sich stark auf die Menschenrechte als universelle Werte. Ihr Schwerpunkt liegt vor allem auf der Unterstützung von Menschenrechtsverteidiger*innen. »Human Rights Defenders Fund« arbeiten nur auf der israelischen Seite, sie verteidigen also Menschenrechtsverteidiger*innen »nur« vor israelischen Behörden und Gerichten. Ihr Hauptansatz ist die juristische Ausbildung und Rechtshilfe für Menschenrechtsverteidiger*innen. Bei »Zochrot« ist der Ansatz ein bisschen anders, weil es mehr um Bildung geht. Ich würde es zwar nicht Friedensbildung nennen, es ist mehr soziale oder historische Bildung. Der Schwerpunkt liegt auf dem Rückkehrrecht der Palästinenser*innen. Sie versuchen aber nicht nur über die Vergangenheit aufzuklären, sondern auch Bildungsarbeit über die mögliche Zukunft von Palästinenser*innen und Israelis zu machen.

Zusammengefasst reicht die Arbeit unserer Partner*innen also von Graswurzel­aktivismus gegen die Besatzung, über Sumud, also Standhaftigkeit auf dem Land, bis hin zu mehr pädagogischem und politischem Engagement für das Recht auf Rückkehr, was offensichtlich auch ein sehr heikles Thema ist, sowohl in Israel als auch in Europa.

W&F: Wie sieht die Friedensarbeit jetzt konkret inmitten des Kriegs aus? Wie können Sie oder Ihre Partnerorganisationen inmitten der Gewalteskalation zur Deeskalation beitragen und weitere Eskalation verhindern?

Rösch-Metzler: Zum einen arbeiten wir hier in Deutschland, indem wir Druck auf die Bundesregierung ausüben. Und jetzt, nach sechs Monaten Krieg, war es möglich, dass auch die Bundesregierung für einen Waffenstillstand eintritt. Das ist ein erster Schritt, so etwas zu erreichen. Diese Druckarbeit braucht sehr viel Kraft und Zeit in Deutschland. Wir machen auch Advocacyarbeit im Parlament und bei Regierungsstellen mit unseren Partnern aus Israel und Palästina. Wir suchen auch hier in Deutschland Bündnisse zu schmieden – wer vor sechs Monaten noch für einen Waffenstillstand eingetreten ist, der ist oft angegangen worden, geschmäht worden, diffamiert worden. Inzwischen kann man sagen, dass die internationale Gemeinschaft sich darauf verständigt hat, dass das notwendig ist in Gaza. Aber daran sieht man eben auch, wie lange es braucht. Man muss durchhalten, man muss auf der Straße sein. Und Reisen von unseren Partnern hier nach Deutschland ermöglichen.

Sehr wichtig ist uns auch, dass wir in einem internationalen Programm vom Weltkirchenrat tätig sind. Das ist das »Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel«, wo unsere Leute vor Ort mit den Hirten oder mit den Schulkindern mitgehen und durch ihre Präsenz dafür sorgen, dass sie nicht von Siedler*innen angegriffen werden, um die Situation einigermaßen erträglich für die Palästinenser*innen zu machen.

W&F: In den letzten Monaten vor dem Angriff der Hamas gab es auch eine große Staatskrise in Israel. Wie berichten denn Ihre Partnerorganisationen darüber? Wie hat sich in der Zwischenzeit die Friedensarbeit verändert und gab es mehr Druck auf Friedensarbeitende?

Klasing: Ja, bei den »Combatants for Peace« hat sich die Friedensarbeit deutlich verändert. Nicht vom Grundsatz und von der Haltung her – all diejenigen, mit denen wir gesprochen haben in den letzten Monaten, treten ganz entschieden weiter gemeinsam für eine gewaltfreie Transformation und für eine gerechte Friedenslösung ein. Aber konkret »on the ground« hat sich die Arbeit natürlich sehr verändert. Man muss zunächst sagen, dass unsere Partner*innen auf beiden Seiten Verluste zu beklagen haben, tatsächlich auch Menschen getötet worden sind, ihr Leben gelassen haben durch diesen Krieg. Das macht was, natürlich auch mit den Menschen der Friedensorganisationen. Wir haben absolut Respekt, dass gerade diejenigen, die direkt betroffen sind von Tod und Gewalt, so entschieden sind, aus ihrer Haltung heraus weiter mit der jeweiligen anderen Seite zu arbeiten. Ich konnte teilweise bei Webinaren dabei sein, bei denen es darum ging, sich auszutauschen, zuzuhören, ganz konkrete Erfahrungen des Verlusts und des Todes zu schildern und zu hören. Das ging sehr nah und gleichzeitig haben auch diese betroffenen Personen immer wieder bekräftigt, wie wichtig ihnen eine gewaltfreie Konfliktlösung ist. Dass sie gesagt haben: „Es geht gar nicht anders, wir müssen alles dafür tun, dass diese Gewalt sofort stoppt und dass wir wieder in die Verhandlung eintreten.“ Diese Gespräche des Zuhörens und Sprechens waren und sind ein unglaublich wichtiges Instrument im Moment.

Die grenzübergreifenden Treffen sind derzeit sehr schwierig. Ich weiß aus Bethlehem, dass das Militär selbst bis nach Bethlehem hinein dafür sorgt, dass auch Treffen innerhalb der eigenen Communities kaum noch möglich sind. So weit geht im Moment die militärische Intervention auch in kleinen Städten wie Bethlehem. Das ist der eine Punkt, an dem sich die Arbeit sehr deutlich und konkret geändert hat, weil die Bedingungen einfach gar nicht mehr zulassen.

Daher waren auch Rotem und Osama von »Combatants for Peace« viele Monate bei uns in Deutschland. Sie haben immer wieder gesagt: „Wir müssen den Diskurs in Deutschland auch mit unseren Geschichten, Narrativen und Perspektiven ändern.“ Obwohl wir als Stiftung eigentlich nicht viel mit Schul- und Bildungsarbeit zu tun haben, wurden wir mehrfach von Schulen angesprochen. Wir haben vor Weihnachten mit Rotem und Osama, und jetzt auch ohne sie, Workshops in Schulen durchgeführt, weil die Lehrkräfte sehr überfordert schienen und darum gebeten haben, durch externe Unterstützung all die aufgeladenen emotionalen Atmosphären, die zu Polarisierungen geführt haben, aufzubrechen und in Gespräche zu kommen. Ich habe gerade vorletzte Woche einen wunderbaren Workshop gemacht in einem Schulzentrum mit Jugendlichen, die sich klasse vorbereitet haben mit exzellenten Fragen. Die Jugendlichen waren am Ende sehr froh und haben gesagt: „Mensch, wir konnten ja alles sagen.“ Es waren viele junge Frauen mit libanesischer Migrationsbiographie in der Schule, die sagten: „Wir haben uns nicht getraut, vorher zu sprechen. Aber wir konnten in dem Workshop das sagen, was uns durch den Kopf geht und was uns im Magen liegt.“ Das ist ein wichtiger Auftrag, den wir auch zu leisten haben und auch leisten können.

Rossi D’Ambrosio: Bevor ich direkt auf die Frage antworte, will ich noch etwas ergänzen. Die KURVE Wustrow arbeitet nicht in Gaza. Von dem, was ich von der Situation vor Ort verstanden habe, ist die Situation jenseits des Vorstellbaren. Es geht vor allem um: Sofortigen Waffenstillstand, humanitäre Hilfe und sofortige und bedingungslose Freilassung aller Geiseln. Ich glaube nicht, dass es darüber hinaus noch etwas zu sagen gibt.

Das hängt nun natürlich auch mit den Ansätzen sowohl in Israel als auch im Westjordanland zusammen. Das ist sehr wichtig – es geht auch aus dem hervor, was Wiltrud und Annette vorhin gesagt haben – nämlich, dass Krieg keinen Unterschied zwischen Menschen macht. Es geht also offensichtlich um den Verlust auf beiden Seiten. Es scheint irgendwie trivial, aber – wenn wir mal für einen Moment die systematische Asymmetrie und das Ungleichgewicht außer Acht lassen – die Art der Ereignisse haben bewiesen, dass es am Ende des Tages für beide Seiten und für jeden auf beiden Seiten Verluste gibt.

Um auf die konkrete Frage und auf unsere Partner einzugehen: Auch wenn wir uns alle über den längeren Konflikt und systemische Probleme bewusst waren, die wir gemeinsam mit unseren Partnern seit Jahren anzugehen versuchen, schien es nun in den Medien so, als sei dieser Krieg plötzlich ausgebrochen, und das hatte einen Effekt auf die Menschen und hat viele stärker polarisiert als vorher. Diese Polarisierung in der Gesellschaft im Allgemeinen und in beiden Gesellschaften, wenn man sie denn bei aller Komplexität in zwei unterteilen will, hat den Raum für die Zivilgesellschaft schrumpfen lassen. Das geht schleichend schon seit Jahrzehnten so, würde ich sagen, aber nun nochmal deutlicher. Jede friedliche oder zur friedlichen Lösung aufrufende Handlung, das Sprechen über Menschenrechtsverletzungen, das Sprechen über antimilitaristische Positionen, Kriegsdienstverweigerung usw. − also die ganze Palette der gewaltfreien Mittel und Ansätze zur Konfliktbewältigung sind mit Unterdrückung konfrontiert. Das ist die Art und Weise, wie dieser »shrinking space« entsteht. Das passiert sowohl in Israel, im Westjordanland als auch in Europa, leider. Und besonders in Deutschland.

Was also mit unseren Partnern passiert ist: Sie haben sich auf sehr grundlegende Dinge konzentriert, um weiterzumachen. Diese allgemeine Polarisierung führte dazu, dass sich die Menschen zurückgezogen haben und versuchten, auf sich selbst aufzupassen und trotzdem Räume für den Dialog offen zu halten. Es ging dabei wirklich um die Grundbedürfnisse, sowohl die materiellen als auch die psychologischen Bedürfnisse der Aktivist*innen selbst und der Gemeinschaften, die aufgrund der Polarisierung der Gesellschaften und auch der autoritären Diskurse auf politischer Ebene mit zunehmender Gewalt konfrontiert wurden. Es gab also so etwas wie einen Rückzug oder ein Zurückweichen, weil der Druck zunahm. Die Reaktion war also: „Wir sollten versuchen, uns um uns selbst und unsere Aktivist*innengemeinschaften zu kümmern, um weitermachen zu können und immer noch zu Waffenstillstand, Frieden und Gewaltfreiheit usw. aufrufen zu können“. Es ist eine Art von heroischer Sichtweise von Friedensaktivist*innen, wenn man meint, dass sie vor allem in Zeiten der Eskalation »an der Front« sind und für ihre Anliegen kämpfen. Es ist nicht wirklich so, denn jede*r ist betroffen und besonders Friedensaktivist*innen sind meistens verschiedentlich betroffen.

Rösch-Metzler: Ich wollte gerne aufbauend auf Dario noch etwas sagen zum »shrinking space«, vor allem in Deutschland. Das ist teilweise unglaublich: Die Evangelische Akademie Frankfurt hatte auch Rotem und Osama von den »Combatants for Peace« eingeladen, hatte die Veranstaltung aufgezeichnet – und hat diese Aufzeichnung dann wieder aus dem Netz genommen, weil sie irgendwie kritisiert wurden, dass das antisemitisch sei, was dort passiert. Nur um zu illustrieren, wie schwer es ist, gewaltfreien Widerstand hier in Deutschland auch zu Wort kommen zu lassen.

W&F: Da Sie alle diese Dimension des »shrinking space« und auch die Herausforderung, sich auf einer der beiden Seiten des Konflikts positionieren oder solidarisch zeigen zu müssen, angerissen haben: Wie gehen Ihre Organisationen mit dieser Form um, »doppelt« herausgefordert zu sein – dass sie einerseits immer wieder aufgefordert werden, sich zu positionieren, und andererseits sich auch positionieren wollen?

Rossi D’Ambrosio: Die KURVE Wustrow muss sich nicht so sehr mit dieser Positionierungsfrage beschäftigen, wir können uns auf unsere Unterstützungsarbeit konzentrieren. In gewisser Weise denke ich, dass es ziemlich einfach ist: Ich glaube nicht, dass unsere Partner komplexe oder versteckte Absichten oder Positionen haben. Ich denke, es ist ziemlich klar und sogar öffentlich, was ihre Positionierung ist. Ich möchte jetzt nicht künstlich zwischen den Kontexten unterscheiden, denn auch das ist problematisch, aber offensichtlich geht es jetzt gerade in Gaza darum, eine akzeptable Situation für alle Menschen zu schaffen. Es geht also um humanitäre Grundsätze. Es geht nicht darum, dass wir nicht über Frieden oder Friedensaufbau in der Zukunft sprechen können. Es geht um die Sicherstellung menschlicher Grundbedürfnisse und im weiteren Kontext um die Grundprinzipien des Völkerrechts. Ich glaube nicht, dass es kompliziert ist. Ich denke, dass diese Anliegen, wie unser Partner »Human Rights Defenders Fund« feststellt, über Flaggen und Nationen hinausgehen. Es geht also nicht darum, Palästinenser*in oder Israeli zu sein oder um einen bestimmten nationalen Kampf. Es geht um den Schutz der Zivilbevölkerung, Punkt. Es geht nicht um palästinensische Zivilist*innen. Es geht nicht um israelische Zivilist*innen. Das ist nicht der Punkt. Es ist eine universelle Frage.

Ich glaube nicht, dass unsere Partner ein Problem damit haben, sich zu positionieren, es sei denn, es herrscht ein Klima der Kriminalisierung und der »shrinking spaces«. Denn das ist in Israel schon ein Problem, dass es eine Kriminalisierung von Friedensaktivismus gibt – beispielsweise wird Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen immer noch kriminalisiert. Der »Human Rights Defenders Fund« versucht Kriegsdienstverweigerer*innen rechtliche Hilfe und Repräsentation anzubieten. Ein Problem, das ich infolge des Ausbruchs des Konflikts und der Polarisierung der Gesellschaften schon sehen würde, ist, dass es viele Menschen gab, die vielleicht über die Besatzung sprachen oder versuchten, die Zusammenhänge auf komplexere Weise zu verstehen, die sich dann aber wegen des Ausbruchs der Gewalt zurückzogen und in ihre Komfortzone zurückkehrten und sagten: Ah, okay. Ihr wisst schon, wir gegen sie. Es gibt keinen anderen Weg.“ Es gibt also weniger Einwände gegen den Militärdienst. Das ist zum Beispiel eine der Folgen der Eskalation. Ich verstehe dieses Positionierungsproblem nicht als ein Problem mit der Arbeit und der Positionierung der Organisation selbst, sondern dass sie die Konsequenzen in der Gesellschaft sehen können; dass es immer schwieriger für die Menschen wird, wie sie diese moralische Dimension navigieren können, in der sie eigentlich kritisch darüber nachdenken wollen, was die Armee tut und in diesem emotionalen Zustand »wir gegen sie« ihre jeweilige individuelle Position finden müssen.

Klasing: Was ich sehr deutlich wahrgenommen habe in dem Gespräch mit unseren Partnern zum Thema „Wie kann man eigentlich in diesem so gewalttätigen Konflikt jetzt noch Gespräche aufrechterhalten? Wie können wir eigentlich noch Menschen erreichen?“ ist, dass diese Gespräche in den Webinaren wichtig sind, um auch die emotionalen Belastungen aufzufangen, diese besprechbar und bearbeitbar zu machen. Interessant fand ich auch im Gespräch mit Rotem in Deutschland, dass er sagte, dass man jetzt in der Lage sein muss, es aushalten zu können, angegriffen zu werden. Er wurde häufiger auf Veranstaltungen angesprochen, nach dem Motto: „Wie, du bist Israeli, du musst doch jetzt ein bisschen auch mal die Politik deines Staates vertreten.“ Die Grundüberzeugung, dass der Krieg und diese Gewalt ein falscher Weg ist, das bringt schon Gegenwind mit sich. Rotem sagte: „Ich bin Pazifist, ich nehme kein Gewehr in die Hand“.

Dieses Aushalten von Angriffen kann dann auch mal innerfamiliär zum Tragen kommen. Er hat von Konflikten berichtet, z.B. dass sein Zwillingsbruder sich genau anders verhalten hat, sich sofort nach dem 7. Oktober freiwillig gemeldet hat und dann zur Armee in den Gazastreifen gegangen ist zum Kämpfen. Dies innerhalb einer Familie aushalten zu können und nicht komplett den Bruch herbeizuführen, ist schwer. Das ist auch noch mal ein ganz anderes »Aushalten müssen« als das, was wir bei uns erleben.

Selbstverständlich hören wir als »schwelle« immer wieder: „Auf welcher Seite steht ihr denn?“ Oder: „Seid ihr mehr für die israelische oder mehr für die palästinensische Seite und Perspektive?“ Bei unserer letzten Ausstellungseröffnung »Inhabitated Spaces«, bei der viele Fotos von Kindern und Jugendlichen aus Gaza von vor dem 7. Oktober gezeigt wurden, war das Interesse auch der Medien sehr groß. Die erste Frage, die ich bekam im Interview, war dann: „Warum zeigen Sie denn hier nicht die israelische Seite?“ Natürlich kann ich erklären, dass eine Ausstellung, die schon vor dem 7. Oktober geplant wurde und das Leben von Kindern und Jugendlichen in Gaza zeigen will, nicht bedeutet, dass wir uns nicht interessieren für das, was auf der israelischen Seite los ist. Dass es nicht automatisch bedeuten muss, parallel eine Ausstellung von Bildern von Kindern und Jugendlichen im israelischen Alltag zu zeigen.

Zurück zu der Frage, wie wir mit dieser Anforderung umgehen, sich positionieren zu müssen, will ich noch sagen – und das haben ja auch Dario und Wiltrud sehr deutlich zum Ausdruck gebracht – dass wir uns für die Menschenrechte, für ein Leben in Würde und für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Aus dieser Perspektive heraus gehen wir an diese Instrumente, die wir einsetzen, ran. Aber ich denke trotz alledem, dass das, was unsere Kolleg*innen vor Ort aushalten müssen, um ein Vielfaches schwieriger ist als das, was wir an Anforderung tragen und ertragen müssen.

Rösch-Metzler: Für Pax Christi ist diese Positionierung sehr wichtig. Wir tun das in öffentlichen Stellungnahmen. Klar ist: Wir sind gegen Krieg. Und wir sind für internationales Recht. Das heißt, wir betrachten das Leid, das durch Krieg und Kriegsverbrechen auftritt. Und so positionieren wir uns auch. Jetzt haben wir uns zuletzt eingesetzt für die UNRWA, für das Flüchtlingshilfswerk der Palästinenser*innen, damit die Hilfe in Gaza eben nicht gestoppt wird, die Zuschüsse der Bundesregierung für die UNRWA nicht gestoppt werden, wie sie es beschlossen hat. Da haben wir uns zum Beispiel sehr klar positioniert.

Und wenn man so schlimme Gewalt beobachtet, dann geht es ja vielen Menschen so, dass es sie umtreibt, dass sie was tun möchten. Deshalb ist es auch wichtig, Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen. Da haben wir zum Beispiel beim Weltgebetstag der Frauen eine ganz kleine Aktion gestartet, dass man eine Unterschriftenaktion macht an die Außenministerin für einen Waffenstillstand. Es haben sehr viele Frauen unterschrieben, einfach normale Frauen, denen das auch nachgeht, dass immer weiter bombardiert wird, dass Gaza vor einer Hungersnot steht. Ja, Beteiligungsmöglichkeiten schaffen ist ein wichtiger Punkt, finde ich.

Rossi D’Ambrosio: Einen kurzen Punkt zum Thema »Defunding« möchte ich einbringen, da du, Wiltrud, es erwähnt hast – es hat mich an die Finanzierung der Zivilgesellschaft denken lassen. Das ist offensichtlich eines der wichtigsten Phänomene des »shrinking space«. Wenn die Akteure vor Ort keine extremistischen Positionen einfordern, sondern für Menschenrechte und internationales Recht und Aufruf zum Frieden und all die Werte, die in der Theorie alle europäischen Staaten auch teilen, eintreten – dann können wir eine deutliche Spannung feststellen zwischen den erklärten Werten der europäischen Staaten und der Art und Weise, wie und wen sie in verschiedenen Kontexten finanzieren. Wenn man sich anschaut, wie viele Mittel für Militärhilfe ausgegeben werden und nicht für Friedensinitiativen oder gewaltfreie Initiativen oder zivilgesellschaftliche Arbeit usw. Ich meine, wenn wir auf Zahlen schauen, dann wird schnell klar werden, dass schon die Kosten für nur einen einzigen Kampfjet bereits die zur Verfügung stehenden Geldmittel aller zivilgesellschaftlichen Organisationen übersteigen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Wir reden hier also nicht über die gleichen Dinge oder über die gleiche Fähigkeitsausstattung. Was ich sagen will, ist, dass man die strukturelle Ebene betrachten muss und dann geht es um den Möglichkeitsraum der Zivilgesellschaft. Wenn dieser Raum schrumpft und man nicht über die Dinge reden kann, wie kann man dann die Staaten beeinflussen? Das ist eine Art Kurzschluss. Deshalb ist diese Debatte über den »shrinking space« so wichtig. Denn letztendlich geht es um die internationale Verantwortung und wie man internationales Recht durchsetzen kann. Dabei geht es ganz allgemein um Staaten in ihrem Umgang mit einem anderen Staat. Es geht nicht um Israel oder Palästina. Es geht um etwas Allgemeines. Es geht um das internationale multilaterale System, das auf diesem System basiert. Wenn es keine internationale Rechenschaft gibt, die Menschenrechts-NGOs einfordern können, wie soll man dann das internationale Recht durchsetzen?

W&F: Sie alle können auf umfangreiche Erfahrungen in der Friedensarbeit in Konflikt- und Gewaltsituationen zurückgreifen. Wie fließen diese Lernerfahrungen in Ihre aktuelle Arbeit in dieser Gewaltsituation ein?

Rossi D’Ambrosio: Ich denke, es ist eine sehr einfache Antwort in dem Sinne, dass unsere Partner, mit denen wir im Zivilen Friedensdienst zusammenarbeiten, sich in Zeiten der Eskalation auf das Wesentliche besonnen haben – und sie konnten aus der Vergangenheit lernen, zum Beispiel der »Human Rights Defenders Fund«. Sie sind zum Beispiel auf juristische Schulungen bzw. Rechtshilfe für Aktivist*innen spezialisiert. In Zeiten der Eskalation kam es zu einer Zunahme der Repression und des Autoritarismus, d.h. der Unterdrückung von Menschenrechtsverteidiger*innen, was wiederum bedeutete, dass die Anfragen nach Trainings zunahmen, weil die Leute Angst hatten, was mit ihnen passieren würde. Da »Human Rights Defenders Fund« bereits über jahrelange Erfahrung mit Trainings verfügt und weiß, wie man sich gegenüber den Behörden verhält, wie man sich selbst schützen kann usw., konnten sie die Erfahrungen der vergangenen Jahre nutzen.

Das Gleiche gilt zum Beispiel für »Zochrot«. Auch das Friedenslager in Israel hat Verluste erlebt. Die Leute waren persönlich betroffen, sie hatten Freund*innen, die sie verloren haben, usw. Und dann ist es natürlich eine Sache, als Palästinenser*in oder Israeli mit dem anderen zu arbeiten, der*die seit Jahren dein*e Kolleg*in war, aber dann ist er oder sie plötzlich Teil der »anderen Gruppe«. Das ist dann eine sehr komplizierte Situation. Aber sie gingen zurück zu den Grundlagen und haben sich ausgetauscht, darüber geredet und sich wieder auf ihre Gemeinschaft und auf das Wissen verlassen, das sie in den letzten Jahrzehnten produziert haben.

Bei den palästinensischen Partnern ist es eine ähnliche Erfahrung. Natürlich sind die Grundlagen insofern anders, als es bei ihnen zu physischen Aggressionen und Übergriffen durch das israelische Militär und die Siedler*innen kam. In dieser Hinsicht ist es also eine ganz andere Erfahrung. So mussten sie einen Schritt zurücktreten und sich sammeln. Denn offensichtlich wurde die Überwachung der Menschenrechtslage und die Dokumentation sogar gefährlich. Also begannen sie, mehr humanitäre Arbeit zu leisten. Aber weil sie bereits in der Vergangenheit in ihren Gemeinden Erfahrungen gesammelt hatten – und das ist die Stärke des Graswurzelaktivismus, weil man in der Gemeinde gut verankert ist, Verbindungen hat usw. – konnten sie mehr für die Grundbedürfnisse wie Lebensmittelkörbe und Spenden bereitstellen.

Klasing: Wenn ich in die Stiftung »schwelle« hineinschaue, muss ich sagen, dass wir uns beginnend mit dem Krieg in der Ukraine, also schon im Frühjahr 2022, sehr viel Zeit genommen haben im Kuratorium und im Freundeskreis unserer Stiftung, um zu sprechen. Denn damals schon haben wir massive Erfahrungen gemacht mit Angriffen von außen, auch weil wir unser Prinzip der Gewaltfreiheit weiter aufrechterhalten haben. Wir haben anderthalb Jahre lang um Positionen gerungen, bis es uns gelungen ist, ein gemeinsames Selbstverständnispapier zu entwickeln. Das haben wir in den letzten Monaten angeschaut und uns gefragt: „Was ist von diesen Grundannahmen und Grundeinstellungen genauso wichtig, wenn wir auf diesen Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza schauen? Was sind für uns grundsätzliche Positionen, die wir auf jeden Fall beibehalten? Wo müssen wir auch Dinge noch mal modifizieren?“ Das heißt, wir haben uns mit den Essentials der Friedensarbeit beschäftigt und sehr viel diskutiert, wie schon lange nicht mehr in der Stiftung.

Was unsere Partner und die Frage nach Evaluationen betrifft: Für sie bedeutet die Frage der Cross Border Arbeit noch mal eine ganz andere Herausforderung in Zeiten des Angriffs auch aus den eigenen Gesellschaften. Also der Begriff »Verräter*in« kommt immer wieder auf beiden Seiten vor und beide Partnerseiten haben damit zu tun, dass sie auch massivst angegriffen werden. Gerade die Frage – die vor dem 7. Oktober immer virulent war – um die Normalisierung von Beziehungen, die in der palästinensischen Gesellschaft zutiefst kritisch angeschaut wurde, bei der sich viele unserer Partner immer auch erklären mussten, warum Friedensarbeit nur mit dem »Feind« auf der anderen Seite geht: hier gibt es selbstkritische Evaluationsprozesse. Da ist die Arbeit in der eigenen Zivilgesellschaft ebenso wichtig.

W&F: Frau Klasing, eine Rückfrage: Sie haben gesagt, in der Stiftung sei viel diskutiert worden. Was war denn das Ergebnis der Diskussionen? War es eine Bestärkung der bisherigen Arbeit oder kamen neue Aspekte hinzu?

Klasing: Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine gab es durchaus auch kleine, feine Nuancen der Änderung, also bspw. im Hinblick auf die Frage des Selbstverteidigungsrechts. Im Hinblick auf unsere Diskussion über Israel und Palästina würde ich sagen, dass das Kuratorium einhellig der Meinung ist, dass das, was Israel als Selbstverteidigungsrecht beschreibt – also, dass der Krieg Selbstverteidigung gegen die Hamas sei – keiner von uns mitträgt. Da sind wir schon sehr einig miteinander, dass das, was Israel dort angerichtet hat und immer noch anrichtet, weit über Selbstverteidigung hinausgeht. Es kann nicht sein, dass man kollektiv tötet, wenn man die Hamas-Attentäter finden will – da muss man schon völkerrechtliche Instrumente und Rechtswege beschreiten. Wir sehen das auch bei uns in Europa, dass in bestimmten Zusammenhängen – ich denke da z.B. an Frankreich – mittlerweile bei Attentaten gezielt getötet wird. Dieses gezielte Töten sofort »on the spot« scheint um sich zu greifen. Wir sagen, dass rechtliche und völkerrechtliche Standards auf jeden Fall gesichert werden müssen. Und dass es nicht sein kann, dass Staaten sich darüber hinwegsetzen.

W&F: Herr Rossi D’Ambrosio, Frau Klasing, Frau Rösch-Metzler, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Anmerkung

1) »Friedenslogik« als ein zu füllendes Handlungskonzept wird maßgeblich von Prof.in Dr.in Hanne-Margret Birckenbach entwickelt und über die AG Friedenslogik der PZKB vorangebracht. Siehe dazu: pzkb.de/friedenslogik. Bei W&F ist auch ein ausführliches Dossier erschienen, Dossier 75 »Friedenslogik statt Sicherheitslogik« (Beilage zu W&F 2/2014).

Israel-Gaza jenseits des Genozid-Begriffs

Israel-Gaza jenseits des Genozid-Begriffs

Massengewalt gegen Zivilist*innen jetzt beenden

von Hanna Pfeifer, Irene Weipert-Fenner und Timothy Williams

Deutsche Debatten über den Israel-Gaza-Krieg verfangen sich oft in polarisierenden Begrifflichkeiten. Das gilt insbesondere für den Streit um das Vorliegen eines Genozids. Abgesehen von der juristischen Einschätzung, die derzeit der Internationale Gerichtshof vornimmt, lenkt eine parallel laufende, polemische Diskussion um den Völkermordbegriff von den eigentlichen Handlungsprioritäten ab. Der Krieg kostete schon Zehntausende das Leben, noch viel mehr Palästinenser*innen werden an direkten und indirekten Kriegsfolgen sterben. Die Massengewalt gegen Zivilist*innen und der Entzug von Lebensgrundlagen in Gaza müssen sofort beendet werden – unabhängig davon, ob juristisch die Bedingungen für einen Genozid erfüllt sind.

Ein halbes Jahr nach den Anschlägen der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit den bis heute anhaltenden Geiselnahmen und der daraufhin begonnen israelischen Militäroffensive im Gaza-Streifen machen es die Strukturen des deutschen Kriegsdiskurses (vgl. Pfeifer und Weipert-Fenner 2023) schwer, eine angemessene sprachliche Form für begangene und mögliche Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen aller Parteien zu finden. Besonders viel politische Sprengkraft birgt in diesem Zusammenhang der Vorwurf des Genozids – vor allem, wenn er gegen Israel erhoben wird, und gerade, wenn er in Deutschland in den Raum gestellt wird.

Hier überlagern sich unterschiedliche, tradierte Motive von Exzeptionalismus: der Holocaust als Urtyp des Völkermordes, der nicht mit anderen Arten der Gewalt zu vergleichen sei; die deutsche Schuld, aus der sich eine besondere Verpflichtung zur Verteidigung Israels als „sicherem Ort für Jüdinnen und Juden“ ableite.

Die Möglichkeit eines Völkermordes durch den israelischen Staat wird im deutschen Diskurs (dazu Gunkel 2023) mal kategorisch ausgeschlossen, mal mit einem Verweis auf die genozidalen Züge der Hamas-Anschläge abgewehrt (vgl. Bundesregierung 2024; Steinke 2023). Manchmal provoziert der Vorwurf des Genozids auch eine Art „lautes Schweigen“ (Bax 2024) – sei es als Strategie, das totzuschweigen, was nicht sein darf; sei es als Ausdruck des Unbehagens vor dem Hintergrund der historischen Schuld Deutschlands (vgl. Berins 2024); sei es aus einem empfundenen Mangel an Urteilsvermögen bezogen auf einen undurchdringlichen Konflikt und aus der Angst, in dieser aufgeladenen Frage das Falsche zu sagen.

Angemahnt wird, die Lehren aus der deutschen Geschichte müssten in ihrer Universalität begriffen werden und Anwendung finden (vgl. Krell 2023). Das deutsche „Nie wieder!“ müsse sich grundsätzlich auf die schlimmsten Formen von Gewalt gegen Menschen beziehen (Bax 2023). Wenn aber auf Demonstrationen oder bei kulturellen Großereignissen in Deutschland gefordert wird: „Genozid in Gaza stoppen!“, dann steht schnell der Vorwurf des Antisemitismus im Raum.

In solchen Fällen löst die Verwendung des Begriffs »Genozid« eine Polarisierung in zwei Lager aus und führt in der Folge zum Diskursabbruch (Grimm 2024). Weil Genozid aber als »Verbrechen aller Verbrechen« oder als das ultimativ Böse gilt, sind die Anreize entsprechend hoch, sein Vorliegen zu beweisen – oder es zu bestreiten.

Das Einzigartige des Völker­mords: Die genozidale Intention

Es steht auch deshalb viel auf dem Spiel, weil die Feststellung eines Genozids, im Gegensatz zu anderen Gewaltakten, juristisch ein Eingreifen der Staatengemeinschaft nach sich zieht. Auf dieser Grundlage hat Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wegen Völkermords Klage gegen Israel eingereicht. Der IGH ordnete daraufhin sechs vorläufige Maßnahmen an, die Israel ergreifen muss, um einen möglichen Völkermord zu verhindern (IGH 2024), die nur unzureichend umgesetzt und Ende März um weitere Maßnahmen ergänzt wurden (Keitner 2024).

Völkermord ist laut der Konvention der Vereinten Nationen eine Handlung, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Derlei Zerstörung kann sich nicht nur durch das aktive Töten einer Gruppe vollziehen, sondern unter anderem auch durch das Zufügen körperlicher und psychischer Schäden oder den Entzug von Lebensgrundlagen. Das zentrale Unterscheidungsmerkmal zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen ist hierbei die Intention zur Zerstörung einer Gruppe. Gleichzeitig ist genau dieses Charakteristikum der Gewalt am schwersten nachzuweisen.

Ob in der israelischen Kriegsführung ein Völkermord vorliegt, hängt also wesentlich von der Bewertung einer genozidalen Intention ab. In der südafrikanischen Klage standen entsprechend Aussagen ranghoher israelischer Regierungsmitglieder im Fokus, um auf eine Zerstörungsabsicht zu schließen – so etwa der Aufruf des israelischen Premierministers an sein Staatsvolk, es möge nicht vergessen, was die Amalekiter*innen ihnen angetan hätten (vgl. IGH 2023). Laut heiliger Schrift forderte Gott die Israeliten zur Ausrottung dieses Volkes auf. Und wenn Netanyahu auch abgestritten hat, dass er damit eine völkermörderische Absicht gegenüber den Palästinenser*innen zum Ausdruck gebracht habe, sind derartige und ähnliche Aussagen unter politischen Entscheidungsträger*innen und Militärs keine Ausnahmeerscheinung mehr (Law for Palestine 2024). So beschloss der IGH, dass der israelische Staat Maßnahmen zu ergreifen hat, die direkte und öffentliche Anstiftung zum Genozid zu verhindern und zu bestrafen.

Ob auf kollektiver Ebene eine genozidale Absicht vorherrscht, wird das Gericht weiter untersuchen. Diese Untersuchung wird aber möglicherweise noch Jahre dauern. Trotzdem bleibt der Begriff der Fluchtpunkt breiter Debatten in Deutschland (und anderswo) – gerade so, als könne nur mit ihm ein für alle Mal festgestellt werden, ob Israels Massengewalt gegen Zivilist*innen illegitim sei oder nicht (Klingst 2024).

Massengewalt jenseits der Intentionsfrage: Entgrenzung und Eskalation

Die Forschung zu Massengewalt auch jenseits des Genozids weist auf Mechanismen hin, durch die sich eine diskursive Entgrenzung in eine entgrenzte Gewaltausübung und eskalation übersetzt. Eine solche Entgrenzung beobachten wir auch bezogen auf den Gaza-Krieg. So ist für das humanitäre Völkerrecht die Unterscheidung zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen zentral. Zugleich bieten unübersichtliche Kriegskontexte die Gefahr, den verbrieften Schutz von nicht kämpfenden Zivilist*innen zu konterkarieren (vgl. Bachman 2020). Ein Beispiel für derartige diskursive wie militärische Entgrenzungen ist die Aussage von Israels Staatspräsident Isaac Herzog schon zu Beginn des Krieges, es gäbe keine unschuldigen Zivilist*innen in Gaza (vgl. Blumenthal 2023).

Diskursive Entgrenzungen operieren mit kollektivierenden Zuschreibungen (Moses 2021). Ganze Gruppen von Menschen werden als „gefährlich“ oder „schuldig“ ausgewiesen und zur generellen Sicherheitsbedrohung stilisiert. Manchmal endet derlei rhetorische Eskalation im Absprechen von Menschsein. So bezeichnete der israelische Verteidigungsminister Palästinenser*innen als„menschliche Tiere (Hawari 2023). Eine solche Entmenschlichung trägt nach bestehenden Erkenntnissen auch dazu bei, die Vernichtung der Gruppe als legitim anzusehen – oder die massenhafte Tötung von deren Mitgliedern mindestens in Kauf zu nehmen (Hagan und Rymond-Richmond 2008).

Angesichts des Ausmaßes der Gewalt im Gazastreifen ist davon auszugehen, dass die diskursiven Entgrenzungen auch im vorliegenden Fall zur Gewalteskalation gegenüber der Zivilbevölkerung beigetragen haben. Ohne dass Zahlen die Bedeutung des Verlusts eines jeden individuellen Lebens repräsentieren könnten, überwältigt dieses Ausmaß – auch im Verhältnis zu anderen Kriegen im Namen der militärischen Terrorismusbekämpfung (vgl. Costs of War Project 2023). In den vergangenen fünf Monaten wurden durch die israelischen Militäroperationen im Gazastreifen über 33.000 Menschen getötet, also rund 1,4 % der dort lebenden Bevölkerung (OCHAOPT 2024).

Seit Kriegsbeginn befinden sich unter den getöteten Palästinenser*innen mehr als 60 % Zivilist*innen (vgl. Levy 2023). Die Quote von zwei zivilen Todesopfern auf einen getöteten Kombattanten entspricht auch den offiziellen Auskünften des israelischen Militärs und wird von dieser Seite sogar als „außerordentlich positiv“ (Bland 2024) bewertet.

Der Entzug von Lebensgrundlagen und die indirekten Folgen des Krieges

Dabei sind die Toten durch diesen Krieg noch lange nicht gezählt, selbst wenn ein Waffenstillstand jetzt einsetzen würde. Denn auch der Entzug von Lebensgrundlagen führt in den sicheren massenhaften Tod von Zivilist*innen jenseits direkter Kampfhandlungen (vgl. Tanielian 2024). Im Rahmen von Studien über den »global war on terror« wurde ermittelt, dass 80 % der Toten durch solche indirekten Kriegsfolgen zu beklagen sind (Savell 2023). Die Grundlage für ein solches Massensterben im Zuge des Krieges hat Israel auch im Gazastreifen geschaffen.

Bereits über 85 % der Bevölkerung sind wegen der Kampfhandlungen aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben worden (UN SC 2024). Im Januar 2024 waren mehr als 60 % der Gebäude im Gazastreifen stark beschädigt oder zerstört (Palumbo et al. 2024). Von der tödlichen Zerstörung ist auch die allgemeine Infrastruktur betroffen. Die wirtschaftliche Existenzgrundlage, die Lebensmittelversorgung, die öffentliche Verwaltung, Bildung, die medizinische Grundversorgung – all das kann nicht mehr gewährleistet werden.

Mehr als 76.000 Einwohner*innen des Gazastreifens haben Verwundungen davongetragen (vgl. OCHAOPT 2024). Ihre Versorgung ist angesichts des zusammengebrochenen Gesundheitssystems, zerstörter Krankenhäuser und des Mangels an Medikamenten und Materialien kaum mehr möglich (vgl. Ärzte ohne Grenzen 2024). Überproportional betroffen von diesen Folgen sind Ältere sowie wiederum Frauen und Kinder. Schwerwiegende Komplikationen ergeben sich bei Schwangerschaften und bei der Versorgung von Neugeborenen und ihren Müttern.

Weil die ohnehin hürdenreiche Lieferung von Hilfsgütern in die Kampfzone von Israel regelmäßig verhindert wird, herrscht Mangel an Wasser, Treibstoff und Nahrung. 93 % der Menschen hungern (WHO 2023). Die extreme Beschränkung von Hilfsgütern, die sich direkt nach dem IGH-Urteil sogar kurzzeitig weiter verschärfte, wird inzwischen auch von der EU als Einsatz von Hunger als Kriegswaffe bewertet (Gregory 2024; Wildangel 2024).

Für ein sofortiges Ende der Gewalt und direkte, massive humanitäre Hilfe

Wir stellen fest: Es sind schon viel zu viele unschuldige Frauen, Kinder und Männer im Gazastreifen durch Kampfhandlungen zu Tode gekommen, ein massiver Anstieg der Todeszahlen durch weitere Gewalteskalation und die überlebensfeindlichen Bedingungen im Gazastreifen ist zu befürchten.

Ob der IGH die israelische Gewalt als Völkermord einordnen wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Für einen konsequenten diskursiven, diplomatischen und politischen Einsatz für ein sofortiges Ende der Gewalt sowie für die Durchsetzung direkter und massiver humanitärer Hilfe ist das auch unerheblich.

Die Bundesregierung muss alle Anstrengungen darauf richten und ihr ganzes politisches Gewicht zusammen mit ihren Verbündeten einsetzen, um die massive Gewalt gegen Zivilist*innen und den Entzug der Lebensgrundlagen in Gaza unverzüglich zu beenden. Ganz unabhängig davon, wie diese Gewalt bezeichnet wird.

Diese leicht aktualisierte Fassung des Textes erschien zuerst am 21.3.2024 auf dem PRIF-Blog des Leibniz-Instituts »Peace Research Institute Frankfurt« (ehem. HSFK). Wir danken den Autor*innen für das Einverständnis zum Wiederabdruck.

Literatur

Ärzte ohne Grenzen (2024): Hilfe in den palästinensischen Gebieten, Die aktuelle Situation: Krieg im Gazastreifen. Homepage, zuletzt aktualisiert am 21.03.2024

Bachman, J.S. (2020): Four Schools of Thought on the Relationship Between War and Genocide. Journal of Genocide Research 22(4), S. 479-501.

Bax, D. (2023): Was heißt „Nie wieder“? Taz online, 13.11.2023.

Bax, D. (2024): Das laute Schweigen der Deutschen. taz online, 7.1.2024.

Berins, L. (2024): Das Schweigen der Kulturszene: Keine Lösung ist auch keine Lösung. Heinrich-Böll-Stiftung, Kommentar, 2.1.2024.

Bland, A. (2024): The numbers that reveal the extent of the destruction in Gaza. The Guardian, 8.1.2024.

Blumenthal, P. (2023): Israeli President Suggests That Civilians In Gaza Are Legitimate Targets. Huffington Post, 13.10.2023.

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Hagan, J.; Rymond-Richmond, W. (2008): The Collective Dynamics of Racial Dehumanization and Genocidal Victimization in Darfur. American Sociological Review 73(6), S. 875-902.

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Krell, G. (2023): Israels Sicherheit und die deutsche Staatsräson. PRIF Blog, 21.12.2023.

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Pfeifer, H.; Weipert-Fenner, I. (2023): Israel – Gaza: Ein deutscher Kriegsdiskurs. PRIF Blog, 21.11.2023.

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Tanielian, M. S. (2024): The Silent Slow Killer of Famine: Humanitarian Management and Permanent Security. Journal of Genocide Research – Forum: Israel-Palestine: Atrocity Crimes and the Crisis of Holocaust and Genocide Studies, online first, 5.2.2024.

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WHO (2023): Lethal combination of hunger and disease to lead to more deaths in Gaza. Statement, 21.12.2023.

Wildangel, R. (2024): Hunger als Kriegswaffe. IPG-Journal, 6.3.2024.

Hanna Pfeifer ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Radikalisierungs- und Gewaltforschung beim PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung und der Goethe-Universität Frankfurt.
Irene Weipert-Fenner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Forschungsgruppenkoordinatorin beim PRIF.
Timothy Williams ist Juniorprofessor für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung an der Universität der Bundeswehr München.

Transformation durch Eskalation?

Transformation durch Eskalation?

Klimaprotest zwischen Demokratie und Kriminalisierung

von Rebecca Froese, Jürgen Scheffran und Janpeter Schilling

Spätestens seit dem Aufkeimen der Klimaproteste und der von vielen als Radikalisierung der Klimabewegung beschriebenen Entwicklung der letzten Jahre ist klar geworden, dass Klimakonflikte nicht nur im Globalen Süden sondern auch in Deutschland an Relevanz gewinnen. Im Fokus steht hierzulande vor allem der politische Umgang mit Klimaschutzmaßnahmen bzw. deren Unzulänglichkeit. Der folgende Beitrag systematisiert drei Formen des Klimaprotestes, von Massenprotesten bis zu Aktionen gesellschaftlicher Disruption, und diskutiert ihre Relevanz für den demokratischen Umgang mit sozial-ökologischen Transformationskonflikten.

82 % der Deutschen sahen im November 2022 einen großen bis sehr großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz (Statista 2022b). Zusätzlich zur Verantwortung der Bürger*innen (63 %) und Unternehmen (64 %) bescheinigten 57 % der Befragten auch der Politik, deutlich zu wenig Verantwortung im Klimaschutz zu übernehmen (Statista 2022a). Trotz dieser expliziten Forderung in der deutschen Bevölkerung fehlt es an der Umsetzung effektiver und umfassender Klimaschutzmaßnahmen. Stattdessen werden seitens der Politik Entscheidungen für Energiewende und Klimaschutz u.a. mit der Begründung der Reaktion auf andere Krisen vertagt oder sogar zurückgenommen. Dies wurde zuletzt im Koalitionsbeschluss vom 28. März 2023 deutlich, in dem der noch im Koalitionsvertrag gestärkte Klimaschutzplan 2050 durch die Streichung der bereits beschlossenen Sektorziele aufgeweicht wurde.

Gegen diese Verzögerungen, Unentschlossenheit und Handlungsdefizite stemmen sich Protestierende diverser Gruppen und Allianzen der Klima- und Umweltbewegung mit Protestmärschen, Besetzungen von Dörfern, Wäldern und Konzernzentralen, der Blockierung von Straßen und anderen Aktionen. Während der Großteil dieser Proteste gewaltfrei und friedlich verläuft, sehen sich die Protestierenden vermehrt Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt, bis hin zum Vorwurf des „Klimaterrorismus“ (Poscher und Werner 2022). Doch welche Handlungsoptionen haben staatliche Akteure und Zivilgesellschaft, um den eskalierenden Klimarisiken friedlich und konstruktiv zu begegnen?

Konflikte um Klimapolitik

Seitdem die damals 15-jährige Greta Thunberg im August 2018 mit ihrem »Schulstreik für das Klima« begann, hat sich die Klimaprotestbewegung in ihren Methoden des zivilen Ungehorsams diversifiziert. Die damit einhergehenden politischen Auseinandersetzungen und innergesellschaftlichen Konflikte zeichnen wir hier entlang dreier Protestformen nach (Tabelle 1). Alle drei Protestformen richten sich, verstärkt durch mediale Berichterstattung, an erster Stelle an politisch Entscheidungstragende und die allgemeine Öffentlichkeit, unterscheiden sich jedoch in der Orts- und Methodenwahl und damit auch in ihrer gesellschaftlichen Resonanz und den Gewaltsituationen, denen die Akteur*innen ausgesetzt sind. Damit kann dieser Artikel im Kontext der Forschung zu sozial-ökologischen Transformationskonflikten verstanden werden, in denen nicht „die ökologische Krise […] die unmittelbare Ursache von Transformationskonflikten“ darstellt, sondern vielmehr die spezifischen Verarbeitungsweisen von Krisentendenzen und das sozial selektive Abwälzen von Krisenfolgen“ (Graf et al. 2023, S. 7).

Große Protestmärsche

Ausgelöst durch dezentrale Schulstreiks und Freitagsdemonstrationen weitete sich die »Fridays for Future (FFF)« Bewegung in kurzer Zeit vom zivilen und gewaltfreien Ungehorsam Einzelner zu einer Massenprotestbewegung aus (Sommer et al. 2019). Kontroversen in den Massenmedien und große Demonstrationen in hunderten Städten schafften 2019 weltweit Aufmerksamkeit. Die Leitfiguren der Bewegung wurden auf die nationale und internationale Bühne der UN oder zu Gesprächen mit führenden Repräsentant*innen der Politik eingeladen. Dadurch rückten klimapolitische Missstände ins Zentrum der öffentlichen Debatte und erhöhten den Druck auf die Politik, Maßnahmen für Klimagerechtigkeit und das Pariser Klimaabkommen zu ergreifen, um Schaden durch die Klimakrise für zukünftige Generationen zu verhindern. Die Aktionen mobilisierten verschiedene Unterstützergruppen, darunter die Scientists-, Doctors-, Teachers-, Entrepreneurs- oder auch Artists for Future. Aus der Kooperation entstanden wissenschaftlich begründete Vorschläge für Kohleausstieg, CO2-Steuer und das Ende fossiler Subventionen, Investitionen in eine nachhaltige Energiewende und den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs im Rahmen einer Verkehrswende. Darüber hinaus förderte die Bewegung auch das Engagement durch etablierte Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Kommunen. So folgten dem Beispiel der Stadt Konstanz, die im Mai 2019 als erste deutsche Stadt den Klimanotstand ausrief, viele Städte weltweit, und am 28.11.2019 auch das Europäische Parlament. Rucht (2019) sieht in den FFF gewisse Ähnlichkeiten mit anderen Bewegungen, wie der westdeutschen Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre, Occupy, Pulse of Europe und #unteilbar. Mit der Covid-19-Pandemie ab dem Frühjahr 2020 und dem Ukrainekrieg ab dem Frühjahr 2022 wurde die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit, Medien und Entscheidungstragenden abgelenkt und große Massenproteste schwieriger, auch durch Auflagen des Infektionsschutzes.

(Massen-)Blockaden fossiler Industrie

Der Protest an Orten großer, sichtbarer Präsenz der fossilen Industrie, beispielsweise die Aktionen der Gruppe »Ende Gelände« im rheinischen Braunkohlerevier, reicht von friedlichen Großdemonstrationen über Protestcamps, Mahnwachen und die Besetzung von Gebäuden, Baggern und Bäumen bis hin zu Sabotageakten. Zuletzt wurde im Januar 2023 das Protestcamp im Dorf Lützerath mit einem Großaufgebot der Polizei geräumt, einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Die Räumung verlief überwiegend friedlich und die zuvor befürchtete „Schlacht um Lützerath“ blieb aus (Stukenberg 2023). Dennoch wurde, ähnlich wie bei vorhergegangenen Einsätzen z.B. im Hambacher Wald, unverhältnismäßiger Gewalteinsatz seitens der Polizei beobachtet (Keller et al. 2023). Nach zweijähriger Besetzung Lützeraths konnten die Aktivist*innen die Räumung zwar verzögern aber nicht aufhalten. Während das ausgesprochene Betretungs- und Aufenthaltsverbot auf dem der RWE AG gehörenden Gelände voraussichtlich rechtmäßig war, wurde das demokratisch legitimierte und geschützte Recht der Protestierenden auf Versammlungsfreiheit kritisch diskutiert (Hohnerlein 2023). Unabhängig davon dürften die Bilder und Berichte der Räumung Lützeraths und die Zusammenstöße zwischen der Polizei und Aktivist*innen, die in der nationalen und internationalen Presse stark resonierten, dem Image des Konzerns und Deutschland als vermeintlichem Vorreiter in der Klimapolitik eher geschadet haben. Ähnliches gilt für die Landesregierung Nordrhein-Westfalens, der vorgeworfen wird, durch den massiven Polizeieinsatz die Staatsgewalt für den Schutz von Privatbesitz bzw. der „Festung eines Energieunternehmens“ (Nolting 2023) eingesetzt und damit gegen ebenfalls geltendes Recht des Klimaschutzes, wie es das Bundesverfassungsgericht jüngst bestätigte (BVerfGE 2021), verstoßen zu haben. Dieses Beispiel zeigt, dass Protest am Ort des Geschehens, zumindest für den Zeitraum der Räumung, starke mediale Aufmerksamkeit erzeugen und damit die Symbolwirkung derartiger Aktionen unterstreichen kann.

Gesellschaftliche Disruption

Unter die gesellschaftlich-disruptive Protestform fallen derzeit Aktionen zivilen Ungehorsams Einzelner oder kleinerer Gruppen, insbesondere der Gruppe »Letzte Generation«. Diese verfolgen das Ziel, eine gesellschaftlich kritische Protest-Masse für einen Systemwandel aufzubauen, einen „sozialen Kipppunkt und einen internationalen Dominoeffekt“ herbeizuführen (Letzte Generation 2023) und damit die Regierung in eine Dilemmasituation zu bringen, in der diese entweder repressiv handeln oder nachgeben kann. Die Gruppe setzt auf rapides Wachstum der eigenen Anhänger*innenschaft, zu dessen Zweck sie neben den bekannten Protestaktionen auch Vorträge und Trainings anbietet und sich mit diversen gesellschaftlichen Gruppen vernetzt, insbesondere mit NGOs, Kirchen, Gewerkschaften und der Wissenschaft. Die Protestaktionen der Letzten Generation werden von eigenen Öffentlichkeitsarbeitsteams dokumentiert und verbreitet. Auf der Suche nach Akzeptanz in der Bevölkerung setzt die Gruppe zudem auf ein »bürgerliches« Erscheinungsbild sowie auf »absolute« (körperliche und verbale) Gewaltfreiheit. Dennoch spalten die Aktionen der Letzten Generation die gesellschaftlichen Meinungen und führen zu Abwehrreaktionen, von der Ablehnung der Methoden und massivem Unverständnis, auch durch einseitige Narrative in Medien und Politik (z.B. die Darstellung blockierter Rettungswege), bis hin zu staatlicher Gewaltausübung. Neben Repressionen am Ort des Protestes werden Aktivist*innen durch Strafprozesse und Verwahrung kriminalisiert und nicht nur in den Medien, sondern auch von bekannten Politiker*innen als „Grüne RAF“ und Klimaterrorist*innen verurteilt (Schaible 2021), während viele Expert*innen keinen Grund für härtere Strafen gegen Klimaaktivist*innen sehen (Bundestag 2023). Gegen die Kriminalisierung richtet sich auch eine Erklärung von mehr als eintausend Unterstützer*innen aus der Wissenschaft vom 21.4.2023 (Paganini et al. 2023). Inwieweit die Protestierenden erfolgreich sind, scheint umstritten. So bescheinigt Rucht (2023) der Gruppe eine gesteigerte Aufmerksamkeit, die durch die Aufsplittung der geforderten Ziele jedoch an Schlagkraft verliert, und damit intern langfristig auch Fragen einer weiteren Radikalisierung aufwerfen könnte.

Protestform

Große Protestmärsche

(Massen-)Blockaden fossiler Industrie

Gesellschaftlich disruptive Aktionen Einzelner/kleinerer Gruppen

Ort

Zentren meist größerer Städte

(Groß-)Aktionen am Ort des Geschehens, Orte großer Präsenz fossiler Unternehmen

Im alltäglichen Straßenverkehr, Orte mit Symbolcharakter

Ziele

Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft verändern

Widerstand gegen ein bestehendes System und konkrete Anlagen

Widerstand gegen ein bestehendes System

Forderungen

Effektiverer Klimaschutz in allen Bereichen

Beendigung der Nutzung fossiler Energieträger, insbesondere Kohle

Tempolimit, Einführung eines Gesellschaftsrats, Verlängerung des 9-Euro Tickets

Methoden

Angekündigte und angemeldete Demonstrationen

Protestcamps, Besetzungen, Sabotageakte

(Spontane) Straßenblockaden, Protestaktionen mit (vermeidlicher) Sachbeschädigung, Erpressung, Hungerstreik

Akteur*innen

Schüler*innen, (Groß-)Eltern, Klimaschützer*innen, Wissenschaftler*innen, Naturschützer*innen, NGOs, Kirchen

Klimaschützer*innen,
Naturschützer*innen

Einzelne Mitglieder der Organisation »Letzte Generation«

Betroffene der Protestform

Allg. Öffentlichkeit, insb. Verkehrsteilnehmende

Akteure der fossilen Industrie

Allg. Öffentlichkeit, insb. Verkehrsteilnehmende

Ergebnis

Starke mediale und politische Aufmerksamkeit

Punktuelle, starke mediale und politische Aufmerksamkeit, besonders vor und während Räumungen

Starke mediale und politische Aufmerksamkeit, Denunzierung

Gesellschaftliche Resonanz

In großen Teilen akzeptiert und unterstützt

Punktuelle Wahrnehmung und generell Verstärkung von Polarisierung (bei Ereignissen wie Lützerath)

Geteilte Meinungen, Polarisierung und Zuspitzung

Gewaltsituation

Niedrig

Vereinzelte Beschimpfungen von frustrierten Verkehrsteilnehmenden, Gefährdung durch rücksichtsloses Fahrverhalten

Mittel-hoch

Polizeigewalt zur Durchsetzung von RWE-Interessen, Einkesseln, Körperverletzung durch Schlagstöcke, vereinzelte Steinwürfe, Pyrotechnik, ein Todesfall

Mittel-hoch

Handgreiflichkeiten von Verkehrsteilnehmenden, Repression, ungerechtfertigte Verhaftungen, Bezichtigung des Klimaterrorismus (Grüne RAF)

Ergebnis-Einschätzung

Mittel-hoch

Erhöht Druck auf politischen Entscheidungsprozess, zwischenzeitlich ambitioniertere Klimapolitik

Mittel-hoch

Erhöht Druck auf politischen Entscheidungsprozess und Industrie, erschwert den Einsatz von Polizeikräften für Räumungen

Niedrig-mittel

Aktionen scheinen geringen politischen Erfolg zu haben, wecken aber Emotionen der Faszination oder Empörung, die disruptive Transformation in die Debatte bringen

Beispiele

Fridays for Future, andere solidarisierende »for Future«-Bewegungen etc.

Ende Gelände, Protest im Hambacher Forst, Besetzung von Lützerath, Blockaden der Automesse IAA Mobility etc.

»Letzte Generation« mit punktuellen Blockaden und symbolischen Aktionen

Tabelle 1: Systematisierung von drei Protestformen

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Mit den Defiziten der Regierung in der Klimapolitik werden die Forderungen nach radikaleren Aktionen innerhalb der Klimabewegung lauter und von den Protestierenden vermehrt in Betracht gezogen. Bisher eint die Klimabewegten in ihren Protestformen die weitgehend friedliche Ausübung des zivilen Ungehorsams, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Denn auch wenn FFF im Schulstreik ihre eigene Form des zivilen Ungehorsams gefunden hat, so sehen viele unter ihnen die Aktionen der Letzten Generation kritisch und polarisierend (FAZ 2023). Sichtlich unterscheiden sich die Bewegungen auch in ihren Zielen, die sich zwischen der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse für eine effektivere Klimapolitik und dem Widerstand gegen ein bestehendes System bewegen. Entsprechend divers ist auch der bisherige gesellschaftliche Umgang mit den verschiedenen Protestformen, der von breiter Unterstützung bis hin zu starker Ablehnung und Kriminalisierung reicht und innerhalb der Gesellschaft die Meinungen polarisiert.

Und jetzt?

Die Diskussion über die Legitimität des zivilen Ungehorsams sagt viel mehr über das »bequeme« Demokratieverständnis einer Wohlstandsgesellschaft aus, als über den „ungehorsamen Klimaprotest“ (Mullis 2023). Solange der Einsatz von Gewalt sich nicht mehrheitlich zur Durchsetzungsmethode der Protestziele entwickelt, womit zunächst nicht zu rechnen ist, sollten die Protestbewegungen für Akzeptanz und Legitimität des zivilen Ungehorsams werben, denn in einem weiteren internationaleren und historischen Kontext betrachtet, müssen alle beschriebenen Protestbewegungen als weitgehend gemäßigt gelten (siehe auch Celikates 2023; Mullis 2023).

Zudem haben diese Bewegungen nicht nur die Wissenschaft auf ihrer Seite, z.B. in der Aussage, dass die Kohleverstromung zur Gewährleistung der Stromversorgung in Nordrhein-Westfalen nicht erforderlich ist (DIW Berlin 2023), sondern auch das geltende Recht, dessen Bruch in der konstanten Missachtung des Klimagesetzes und der Reproduktion struktureller Gewalt durch den Klimawandel billigend in Kauf genommen wird. Nicht zuletzt haben die Bewegungen die Option der sozial-ökologischen Bündnisbildung als Reaktion auf Transformationskonflikte, wie sie zuletzt in der gemeinsamen Mobilisierung während der ÖPNV Kampagne von ver.di und FFF im März 2023 zu beobachten war. In dieser Hinsicht sollte eine demokratische Gesellschaft sich die Frage stellen, welches Demokratieverständnis sie mit der Durchsetzung undemokratischer Mittel, Repressionen und Kriminalisierung von Klimaprotestierenden an jüngere Generationen weitergibt.

Literatur

Bundestag (2023): Expertenmehrheit gegen härtere Strafen für Klima-Aktivisten. Deutscher Bundestag, Parlamentsnachrichten, hib 34/2023, 18.1.2023.

BVerfGE (2021): Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich. Pressemitteilung 31/2021, 29.4.2021.

Celikates, R. (2023): Protest in der Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams. Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023, S. 99-106.

DIW Berlin (2023): Lützerath wird zum Symbol einer fehlerhaften Energie- und Klimapolitik: Statement vom 9. Januar 2023, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V.

FAZ (2023): Nach Blockaden in Hamburg: Fridays for Future kritisiert „Letzte Generation“. FAZ, 12.4.2023.

Graf, J.; Liebig, S.; Lucht, K.; Rackwitz, H.; Wissen, M (2023): Editorial: Sozial-ökologische Transformationskonflikte und linke Strategien. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 53(210), S. 4-12.

Hohnerlein, J. (2023): Versammlungsfreiheit in Lützerath – zur Disposition von RWE und Behörden? Verfassungsblog, 13.1.2023.

Keller, T.; Rabe, B.; Winkler, M. (2023): Entscheidung für Gewalt: Bericht über die Demonstrationsbeobachtung rund um die Räumung von Lützerath, Januar 2023. Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.

Letzte Generation (2023): Mobilisierung – Selbstverständnis. Letzte Generation Wiki. URL: wiki.letztegeneration.de/de/öffentlich/struktur/Selbstverständnisse/Mobilisierung.

Mullis, D. (2023): Ungehorsamer Klimaprotest: Proteste werden intensiver – eine Radikalisierung in die Gewalt ist nicht in Sicht. HSFK/PRIF Spotlight 1/2023, 20.2.2023.

Nolting, I. B. (2023): The eviction of Lützerath: the village being destroyed for a coalmine – a photo essay. The Guardian, 24.1.2023.

Paganini, C.; Lambsdorff, J. G.; Guggenberger, W.; Lob-Hüdepohl, A.; Rehbein, M. (2023): Handeln statt Kriminalisieren. Erklärung zur Unterstützung von Klimaaktivist:innen. Unterzeichnet von Wissenschaftler:innen aus dem deutschen Sprachraum. URL: handeln-statt-kriminalisieren.com.

Poscher, R.; Werner, M. (2022): Gewahrsam als letztes Mittel gegen die „Letzte Generation“? Verfassungsblog, 24.11.2022.

Rucht, D. (2019): Faszinosum Fridays for Future. APuZ 69(47/48), S. 4-9.

Rucht, D. (2023): Die Gratwanderung der Letzten Generation. Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023, S. 94-98.

Schaible, J. (2021): Aktivist Tadzio Müller im Interview: »Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF«. SPIEGEL, 21.11.2021.

Sommer, M.; Rucht, D.; Haunss, S.; Zajak, S. (2019): Fridays for Future: Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland. ipb working papers 2/2019. Berlin.

Statista (2022a): Was meinen Sie, tun Politik, Unternehmen und die Bürger genug oder zu wenig für den Klimaschutz? Umfrage, 11.11.2022.

Statista (2022b): Was meinen Sie, wie groß ist der Handlungsbedarf beim Klimaschutz? (im November 2022). Umfrage, 2.12.2022.

Stukenberg, K. (2023). SPIEGEL-Klimabericht: Die Schlacht um Lützerath ist noch nicht entschieden. SPIEGEL, 3.2.2023.

Dr. Rebecca Froese ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der Universität Münster.
Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Dr. Janpeter Schilling ist Klaus-Töpfer-­Juniorprofessor für Landnutzungskonflikte am Institut für Umweltwissenschaften der RPTU und wissenschaftlicher Leiter der Friedensakademie Rheinland-Pfalz.

Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

»Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

Sicherheitspolitische Konferenz, Evangelische Akademie Loccum, 26.-27. Oktober 2022.

Als unmittelbare Reaktion auf den Ukraine-Krieg wurde – beginnend mit der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz – Ende Februar 2022 ein verteidigungspolitischer Reformprozess angestoßen, der unter dem Schlagwort »Zeitenwende« diskutiert wird und der in Umfang und Zielsetzung eine sicherheitspolitische Zäsur markiert. Die »Zeitenwende« ist nicht unumstritten. Es konkurrieren unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen hinsichtlich Reichweite, Dauer, Gegenstand, Auslöser und Intensität der Reformbemühungen.

Ende Oktober 2022 war es das Ziel dieser Loccumer Tagung, ein erstes Zwischenfazit zu diesen verteidigungspolitischen Reform­anstrengungen zu ziehen. Besonders im Fokus stand dabei die Frage, welche Auswirkung die »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder haben wird und wie sich das etablierte Arrangement der bisherigen deutschen Außen-, Bündnis-, Friedens- und Entwicklungspolitik verändern könnte. In diesem Lichte geht der vorliegende Tagungsbericht im Folgenden auf drei zentrale Frage ein, die intensiv diskutiert wurden:

(1) An den Rand gedrängt?

  • Welche Auswirkungen hat »Zeitenwende« für die zivile Konfliktbearbeitung und die Entwicklungszusammenarbeit?

In der Debatte über die Auswirkung der »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder – insbesondere der zivilen Konfliktbearbeitung, der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit – wurde die Beobachtung unterstrichen, dass derzeit alle außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Debatten vom Militärischen geprägt seien. Die Diskutierenden, die der thematischen Ausrichtung dieses Parts der Tagung entsprechend vorangig aus der Entwicklungshilfe, der Friedensforschung und der zivilen Konfliktbearbeitung kamen, erwarten vorerst hierbei keine Änderung. Zwar würde in vielen politischen Wortbeiträgen derzeit die Notwendigkeit eines umfassenden Sicherheitsbegriffs betont, der über die rein militärische Gefahrenabwehr hinausgehe. Allerdings sei dieser breite Ansatz trotz aller Rhetorik weder mit ausreichenden Mitteln noch mit neuen politischen Initiativen unterlegt. Vielmehr zeichneten sich gar finanzielle Kürzungen ab. Auch wenn die ursprünglich für die Haushaltsberatung vorgesehenen drastischen Kürzungen des Entwicklungshilfeetats zurückgenommen wurden und weitere 1,7 Mrd. Euro aus der Krisenreserve des Finanzministeriums bereitgestellt wurden, sinken im kommenden Jahr (2023) die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit dennoch um neun Prozent im Vergleich zum laufenden Haushaltsjahr – so die Beobachtung der Diskutant*innen.

Zwar gab es großes Verständnis für die verstärkte finanzielle Unterstützung der Bundeswehr, um sicherzustellen, dass diese die Aufgaben, die ihr von Gesellschaft und Politik zugewiesen wurden, erfüllen kann. Dennoch wurde auf der Konferenz kritisch angemerkt, dass die Regierung und das Parlament 100 Mrd. Euro Sondervermögen an die Streitkräfte gegeben hätten, ohne eine breite Debatte zu führen, was von der Bundeswehr in Zukunft eigentlich erwartet würde und was sie in den kommenden Jahren zu leisten habe. Es sei insbesondere dieses aktionistische und überstürzte Vorgehen, das den Eindruck bei den Akteuren der Entwicklungshilfe und der zivilen Konfliktbearbeitung nähre, an den Rand gedrängt worden zu sein.

Zwar sei durch die Gestaltung des Sondervermögens als Sonderneuverschuldung aktuell eine direkte Konkurrenzsituation um finanzielle Ressourcen vermieden worden. Mittelfristig könnte sich diese jedoch einstellen und zu harten politischen Verteilungskämpfen führen, so die auf der Tagung geäußerte Befürchtung. Zum einen, weil die 100 Mrd. Euro Sondervermögen aller

Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichen werden, um das im NATO-Rahmen vereinbarte 2 %-Ziel zu erreichen. Zum anderen, weil auch der Bedarf an humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung aufgrund von Klimawandel, den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, der aktuellen Nahrungsmittelkrise sowie der Zunahme des globalen Gewaltgeschehens der letzten zehn Jahre stark angestiegen sei.

(2) Blick über den Tellerrand

  • Welche Perspektiven und Fragen entstehen durch die »Zeitenwende« bei europäischen Nachbarstaaten und Bündnispartnern?

Im Sinne eines Blicks über den sprichwörtlichen »Tellerrand« widmete sich die Loccumer Tagung auch der Frage, wie europäische Nachbarländer die deutsche »Zeitenwende« wahrnehmen. Die Diskussion, an der Expert*innen aus verschiedenen europäischen Ländern teilnahmen, ergab, dass die aktuellen verteidigungspolitischen Reformbemühungen Deutschlands in Europa überwiegend positiv aufgenommen werden und weitestgehend begrüßt werden. Selbst kleine europäische Staaten, die in der derzeitigen Konfrontation mit Russland geografisch eher randständig sind, wie beispielsweise Portugal, haben die »Zeitenwende« wie auch die Debatte, die hierzulande dazu geführt wird, sehr genau verfolgt.

Auf der Tagung wurde herausgearbeitet, dass in den Nachbarländern vor allem drei zentrale Forderungen an Deutschland formuliert werden: Die Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik solle dauerhaft, berechenbar und europäisch sein.

Im europäischen Ausland gäbe es einige Zweifel an der Dauerhaftigkeit der »Zeitenwende«, so die Einschätzung der Diskutierenden. Häufig würde diese als „verspätete Hausaufgabe“ wahrgenommen, die im Grunde schon 2014 mit der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine hätte angestoßen werden sollen – so wie dies viele andere europäische Staaten getan haben. In puncto Dauerhaftigkeit sei besonders fraglich, ob Deutschland tatsächlich einen tiefgründigen außen- und sicherheitspolitischen Mentalitätswandel vollziehe oder ob die jetzige »Zeitenwende« ein eher vorübergehendes Phänomen sei und nur in begrenztem Ausmaß zu Änderungen führe. Schließlich habe man in den vergangenen Jahrzehnten aus Deutschland häufig vergleichbare »Wende-Rhetorik« gehört (»Energiewende«, »Verkehrswende«, »Agrarwende« etc.), die zwar einen großen gesellschaftspolitischen Diskurs und viel mediales Getöse losgetreten, das Versprechen eines substanziellen Politikschwenks jedoch kaum eingelöst habe. Daher bestehe begründeter Zweifel, ob die »Zeitenwende« der Verteidigungspolitik nicht ein ähnliches Schicksal ereile.

Neben dem Aspekt der Dauerhaftigkeit sei Berechenbarkeit eine weitere zentrale Forderung, die häufig von außenpolitischen Expert*innen aus europäischen Nachbarländern zu hören sei. Wichtig sei, dass Deutschland im Zuge der derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen keine unvorhersehbaren Politikwechsel vollziehe und sich daher mit Bündnispartnern abstimme, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die »Zeitenwende« aber auch Folgevorhaben, wie die jüngst verkündete Initiative zur europäischen Luftverteidigung (»European Sky Shield«), seien für zahlreiche Bündnispartner überraschend gekommen. In diesem Lichte sei eine enge Kommunikation notwendig, um zu vermeiden, dass Nachbarländer von verteidigungspolitischen Vorhaben überrumpelt würden.

Unmittelbar mit dem Aspekt der Berechenbarkeit sei die Forderung nach einer stärkeren Europäisierung der deutschen »Zeitenwende« verbunden. In der Wahrnehmung vieler europäischer Bündnispartner betreibe Deutschland seine derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen vorrangig als ein nationales Projekt, so die Bewertung der Diskussionsteilnehmenden auf der Loccumer Konferenz. Auch wenn viele europäische Bündnispartner sich schon ab 2014 auf eine neue militärische Lage eingestellt haben, markiere der Februar 2022 doch für ganz Europa eine »Zeitenwende«. In fast allen Nachbarländern gäbe es eine verteidigungspolitische Neuausrichtung mit zum Teil tiefen historischen Einschnitten – wie beispielsweise dem Abschied von der Bündnisneutralität und der Hinwendung zur NATO in Finnland und Schweden.

Es sei daher sinnvoll, wenn Deutschland die verteidigungspolitische »Zeitenwende« als einen gesamteuropäischen Prozess begreifen würde. Zwar habe Berlin insbesondere in Skandinavien und Osteuropa aufgrund seiner zögernden Haltung im Ukraine-Krieg viel Vertrauen verspielt und erfahre derzeit außen- und sicherheitspolitisch einen erheblichen Ansehensverlust. Dennoch bleibe Deutschland de facto eine wichtige Führungsmacht in Europa – allein schon aufgrund seiner schieren Größe. Der Wunsch, dass Berlin diese Führungsrolle übernehmen und vor allem eingebettet in europäische Kontexte und Prozesse transparent ausgestalten soll, bleibe aber trotz aller deutschen Zögerlichkeit weiterhin in europäischen Nachbarländern bestehen.

(3) Bevölkerung mitnehmen

  • Wie kann ein breiter gesellschaftlicher Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik sinnvoll bewerkstelligt werden?

Der Bedeutungszuwachs fürs Militärische, der mit der »Zeitenwende« einhergeht, hat auch Auswirkungen auf den Nexus »Bundeswehr-Gesellschaft-Politik« und erfordert einen breiten Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik. Auf der Tagung wurde intensiv diskutiert, wie sich dies bewerkstelligen lässt. An diesem Diskussionsstrang wirkten vor allem Akteure mit, die in der Vergangenheit – entweder von Forschungsseite oder aus der Perspektive der politischen Praxis – die Beteiligungsprozesse im Auswärtigen Amt intensiv begleitet haben.

Während partizipative Prozesse mit Bürger*innen in vielen Politikfeldern bereits seit einiger Zeit zum normalen Repertoire gehörten und im Grunde auf allen Ebenen stattfänden – von der Kommunal- bis zur Bundespolitik – hinke das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik als ein Bereich, der traditionell überwiegend von exekutivem Handeln geprägt ist, hier hinterher. Spätestens seit 2014 könne jedoch beobachtet werden, so die Diskutierenden in diesem Teil der Tagung, dass es zunehmend Versuche von Seiten der politischen Eliten gäbe, stärker mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen.

Zu nennen sei hier beispielsweise der Review Prozess über die Bemühungen einer Reform des Auswärtigen Amts (2014) oder die Leitlinien über Zivile Konfliktbearbeitung (2017). Zuletzt gab es 2022 im Rahmen der Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie, die derzeit federführend im Auswärtigen Amt geschrieben wird, einen intensiven Beteiligungsprozess, bei dem eine ganze Palette unterschiedlicher Partizipationsformate zur Anwendung kam (Town Hall Meetings, vertiefende Bürger*innendialoge und Szenarien-Workshops).

In klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Gremien, die im außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsfindungsprozess ebenfalls eine relevante Rolle spielen, bestehe der gemeinsame Kern all dieser Beteiligungsprozesse darin, dass der Fokus auf »normalen« Bürger*innen liege, die über Losverfahren und mithilfe methodischer Auswahlprozesse in der Zusammensetzung ein möglichst repräsentatives Abbild der deutschen Bevölkerung darstellen sollen und somit hinsichtlich zentraler Kriterien wie Bildungsniveau, Wohnort, Herkunft, Alter, etc. möglichst divers zusammengesetzt sind.

Impulse zu außenpolitischen Sachthemen zum Teil in klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Debatten direkt aus der Bevölkerung zu beziehen, sei ein zentraler Mehrwert dieser Beteiligungsformen, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die bisherige Erfahrung mit Bürger*innenbeteiligung im Feld der Außen- und Sicherheitspolitik zeige aber, dass bei diesen Formaten noch einige Hürden bestehen. Denn um sinnvoll über außen- und sicherheitspolitische Fragen diskutieren zu können, bedürfe es sehr viel Wissens und viel Verständnisses über komplexe Zusammenhänge. Trotz dem allgemein großen öffentlichen Interesse an und der hohen medialen Aufmerksamkeit auf diese Fragen, haben in Deutschland die allermeisten Bürger*innen in ihrem Alltag kaum praktische Berührungspunkte mit Außenpolitik und sind von sicherheitspolitischen Prozessen in der Regel nur mittelbar betroffen. Dies unterscheide die Außen- und Sicherheitspolitik deutlich von anderen Themenfeldern, wie bspw. der Bildungs- oder der Verkehrspolitik.

Bezüglich partizipativer Formate befinde sich deshalb die deutsche Außenpolitik weiterhin in einer Probier- und Sondierungsphase. In den partizipativen Formaten würde noch viel Aufwand darauf verwendet, zu erklären, was eigentlich internationale Politik sei und welche Rolle Deutschland darin spiele. Gleichzeitig würde von den außenpolitischen Entscheidungsträger*innen durchaus die Erfahrung gemacht, dass die Prozesse der Bürger*innenbeteiligung interessante und durchaus ernstzunehmende Impulse für auswärtiges Handeln liefern würden. Klar sei aber auch, dass diese Formate Gegensätzlichkeiten zwischen außenpolitischen Eliten und Sichtweisen der Bevölkerung in besonderer Deutlichkeit zutage treten lassen. Mit Bezug auf das Loccumer Tagungsthema werde beispielsweise deutlich, dass das Konzept der militärischen Führungsrolle in Europa von den Bürger*innen mehrheitlich nicht favorisiert werde. Zwar empfehlen diese Formate regelmäßig, dass sich Deutschland international stärker engagieren solle, der Fokus liege aber deutlich auf einem kooperativen, zivilen und dezidiert nicht-militärischen Ansatz.

Mit dieser Herausforderung für die Gestaltung der »Zeitenwende« kamen die Tage gemeinsamer Diskussion zu einem gemischten vorläufigen Fazit: Die »Zeitenwende« sein ein langwieriges Vorhaben zu dem bestenfalls die ersten Schritte gegangen sein und in dessen weiteren Verlauf noch erhebliche politische Sprengkraft schlummere. Neben der eigentlichen Umsetzung der verteidigungspolitischen Reform, stelle vor allem die gesellschaftspolitische wie auch die europäische Einbettung vermutlich die größte Herausforderung der kommenden Jahre dar.

Thomas Müller-Färber

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Workshop, Universitäten Klagenfurt und Augsburg, Klagenfurt, 05.-07. Juli 2022

Was bedeutet es, eine dekoloniale Perspektive auf die Forschung anzuwenden, insbesondere wenn es um die Friedens- und Konfliktforschung selbst geht? Welche Verantwortung und Rechenschaftspflicht haben Forscher*innen – und wem gegenüber? Wie können wir sicherstellen, dass die Forschung nicht gewaltsame und koloniale Praktiken innerhalb und außerhalb akademischer Einrichtungen reproduziert, sondern stattdessen privilegienbewusst und konfliktsensibel ist?

Diese und viele weitere Fragen wurden während eines dreitägigen Workshops an der Universität Klagenfurt im Juli 2022 diskutiert. Dieser Workshop war eine Erweiterung und Vertiefung eines Online-Workshops, der im Oktober 2021 zum gleichen Thema stattgefunden hatte (siehe W&F 1/2022). Der Workshop wurde von Claudia Brunner, Viktorija Ratković und Daniela Lehner (alle Universität Klagenfurt, Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung) sowie Christoph Weller und Christina Pauls (beide Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung, Universität Augsburg) organisiert und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert.

Ziel des Workshops war es, die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis, Haltungen und Handlungen in der Friedens- und Konfliktforschung weiter zu beleuchten und Methoden und Praktiken innerhalb des Feldes selbst, insbesondere im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen in der Ukraine, kritisch zu hinterfragen. Daher wurden im Laufe des Workshops vor allem Fragen aufgeworfen, anstatt Antworten gegeben – und diese ermöglichten intensive Diskussionen, aus denen neue Allianzen und Ansätze für dekoloniale Arbeit in der Friedensforschung und -bildung hervorgegangen sind. Viele dieser Aufgaben wurden durch den Online-Workshop schon 2021 initiiert, nun hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, ihre Themen zu vertiefen und praktisch zu erkunden. Alle Beiträge wurden nach dem »Gegenleseprinzip« präsentiert, d.h. der Text wurde nicht von Autor*innen, sondern von anderen Teilnehmer*innen vorgestellt und in der Gruppe diskutiert. Neben der reinen Textarbeit hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, an einer von Christoph Weller (Universität Augsburg) konzipierten und moderierten Sitzung teilzunehmen, die sich dem Ukrainekrieg als Herausforderung für Friedensstudien, Friedenserziehung und (De-)Kolonisierung widmete, und in einem von Joschka Köck (Theater der Unterdrückten Wien) gestalteten Begegnungsraum einen Einblick in das körperliche und szenische Forschen zu erhalten.

Der Beitrag von Sebastian Garbe befasste sich mit der Positionierung von Forscher*innen im wissenschaftlichen Prozess und reflektierte die Doppelrolle von Aktivist*innen und Forscher*innen, wobei er den Unterschied zwischen Selbstzentrierung und Transparenz der Forschung hinterfragte. In der Diskussion sind die Teilnehmer*innen zu der Einsicht gelangt, dass auch hegemoniale Selbstkritik selbst Forscher*innen in den Mittelpunkt stellen kann und dass Phänomene, die von Natur aus relational sind, nicht immer von einer einzigen Person angemessen erklärt bzw. theoretisiert werden können. Daher sprach sich Garbe für mehr Transparenz in der Kommunikation von Forschungsmethodologie, -prozessen und -ergebnissen aus. Das zentrale Thema seines Beitrags war jedoch die Solidarität mit und von den Mapuche als Forschungssubjekten, insbesondere basierend auf einem relationalen Verständnis von Solidarität, sowie die Ausübung von Solidarität als Einzelperson oder bei fehlenden Ressourcen. Relationale Verständnisse von Solidarität basieren weder auf Gegner*innenschaft noch auf Abgrenzungen von »Innen« und »Außen«, sondern betrachten Solidarität als eine gegenseitige dauerhafte Verpflichtung, die immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

Juliana Krohn setzte das Gespräch über Solidarität fort, indem sie auf die Diskrepanzen zwischen den erklärten Verpflichtungen zur Beendigung institutioneller Gewalt und dem tatsächlichen Mangel an Solidarität in der Praxis hinwies. Sie warf auch die Frage auf, wer zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wenn in bestimmten Situationen Gewalt beobachtet oder ausgeübt wird. Auch wenn es in vielen Fällen nicht möglich ist, eine generalisierte Anleitung für diese Fälle zu finden, waren sich die Diskussionsteilnehmer*innen einig, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Impliziertheit, wie auch den eigenen Gefühlen der Ohnmacht und Überforderung als Zeug*innen auseinanderzusetzen, um diejenigen zu unterstützen, die direkt von Gewalt betroffen sind. Die Autorin betonte, dass selbst an Universitäten Gewalt ausgeübt wird, und dass die Friedens- und Konfliktforschung selbst möglicherweise nicht konfliktsensibler als andere Disziplinen ist, sondern sogar eine geringere Selbstwahrnehmung haben kann, wenn es um den Umgang mit unterschiedlichen Formen von Gewalt, wie institutioneller und symbolischer Gewalt, geht. Die Problematik läge darin, dass Vertreter*innen der Disziplin sich für besonders friedensorientiert und konfliktsensibel halten, aber in eigenen lebensweltlichen Kontexten kaum gegen Gewalt einstehen. Dadurch sei die Lücke zwischen Theorie und Praxis der Friedens- und Konfliktforschung sehr groß, was die Glaubwürdigkeit von Vertreter*innen der Disziplin zunehmend reduziere.

Den zweiten Tag des Workshops begann Cora Bieß mit einer Diskussion über den »Do No Harm«-Ansatz, indem sie ihn mit dem »HEADS UP«-Tool von Vanessa Andreotti konterkarierte (siehe S. 37ff. in dieser Ausgabe). Es wurde darüber diskutiert, wer definiert, was als schädlich oder wohltuend definiert wird. Um zu vermeiden, dass Do No Harm zu einem leeren Slogan ohne Substanz verkommt, muss sichergestellt werden, dass sich alle Konfliktparteien darüber im Klaren sind, wer die Entscheidungsgewalt darüber hat, was als nützlich und was als schädlich in einem bestimmten Kontext angesehen wird. Die Diskussion führte zu einem Gespräch darüber, welche wissenschaftlichen Ansätze der Friedenspädagogik Schaden anrichten können und welche materiellen Konsequenzen verschiedene Ansätze haben können. Dabei wurde beispielsweise die Messbarkeit und Operationalisierbarkeit von Bildungsprozessen kritisiert, welche oft durch Projektlogiken begrenzt und verkürzt werden. Weitere potentielle Schäden könnten entstehen, wenn ein geringes Maß an Machtsensibilität besteht und Friedenspädagogik nur als konfliktsensibles, nicht aber machtsensibles Handeln aufgefasst wird. Es wurde auch darüber gesprochen, dass die strenge Einhaltung von HEADS UP auch dazu führen kann, dass bestimmte Projekte oder Interventionen, die nicht dem Ansatz entsprechen, gar nicht erst angefangen werden. Dies könnte direkte materielle Konsequenzen haben, wenn die finanziellen Ressourcen solcher Projekte an den erforderlichen Stellen nicht verfügbar sind. Der Beitrag hob auch die Bedeutung einer privilegien- und konfliktsensiblen Haltung in der Praxis der friedenspädagogischen Arbeit hervor und ging der Frage nach, wie Konflikte von den Beteiligten, einschließlich der Interventionspartei, transformiert werden können.

Michaela Zöhrer und Christina Pesch berichteten über das partizipative Forschungsprojekt »Farida Global«, das als Versuch gestartet wurde, denjenigen die Entscheidungsmacht und die Macht der Wissensproduktion zurückzugeben, deren Situation von Forscher*innen und Journalist*innen oft ausgenutzt wird, in diesem Fall den Überlebenden des Völkermords an den Jesiden. Es wurden Fragen der Repräsentation, der Präsenz und der Abwesenheit im wissenschaftlichen Kontext aufgeworfen sowie die Art und Weise, wie die Betroffenen selbst Wissen produzieren oder verfügbar machen können, wobei auch das Schweigen eine Form des Widerstands darstellt. In der Diskussion wurde festgestellt, dass die (universitären) Räume, in denen Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen, so gestaltet sein müssen, dass diese Menschen – Überlebende – einbezogen werden. Diese Inklusivität muss jedoch die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen und sie nicht nur um der Forschungsgerechtigkeit willen einbeziehen. Das könnte beinhalten, dass zentrale Begriffe von ihnen selbst hervorgebracht und mit Inhalt gefüllt werden, wie beispielsweise der Begriff des »respektvollen Umgangs«, den sich die Überlebenden von der Wissenschaft wünschen.

Widerstand als zentrales Element in der Menschenrechtsbildung wurde im Beitrag von Josefine Scherling ausführlich diskutiert. Sie ging darauf ein, was Widerstand ist und welche Arten von Widerstand in verschiedenen Gesellschaften erlaubt (oder legal) sind, sowie darauf, wie er manchmal romantisiert oder vereinnahmt wird. Im Gespräch wurde thematisiert, dass Widerstand nicht selten mit Gewalt, Unterdrückung und Konflikten einhergehe, auch wenn Gewaltfreiheit immer wieder deklariertes Ziel konkreter Widerstandsbewegungen sei: Widerstand ist gefährlich, in manchen Kontexten mehr als in anderen. Deshalb sollten Friedensforscher*innen sensibel dafür sein, wie sie über Widerstand nachdenken und ihre eigene soziale wie geographische Verortung mit einbeziehen. Die Genealogie der Menschenrechte wurde erörtert, insbesondere die Tatsache, dass sie in ihrer Entwicklung selbst soziale Hierarchien hervorgebracht haben. Ein weiterer Diskussionspunkt war ein nicht-eurozentrischer Blick auf die Geschichte der Menschenrechte, z.B. anhand einer Ausrichtung von Geschichtserzählungen an der Haitianischen Revolution, sowie auf Visionen und Alternativen und unterschiedliche lokale Bezugsrahmen zu diesem Thema. Dabei wurde festgehalten, dass Perspektiven aus dem Globalen Süden als Ausgangspunkt für historische Erzählungen der Menschenrechte dienen sollten.

Die Diskussion der Beiträge der Teilnehmer*innen wurde mit der Präsentation des Beitrags von Maria Zhiguleva abgeschlossen, in dem sie sich mit post- und dekolonialen Theorien und deren Anwendung im postsowjetischen Raum befasste: insbesondere mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Anwendungen. Obwohl es strukturelle Unterschiede zwischen den Imperien (in diesem Fall in Europa und Russland/UdSSR) gibt, sind die Beziehungen zwischen dem Zentrum in Moskau und den Regionen in der Peripherie zu beobachten, und der interne Kolonialismus kann für diese Region relevant sein. Ein Schwerpunkt lag auf den praktischen Implikationen für die Friedensbildung, wobei die Frage gestellt wurde, ob es Maßnahmen gibt, die ergriffen werden können, um das Ende der Gewalt gegenüber der Ukraine heute zu fördern und die Bedingungen und den Kontext des postkolonialen Friedens in der Region in Zukunft zu überprüfen. In der Diskussion sprachen die Teilnehmenden die Tatsache an, dass Kolonialität vielfältig und vielschichtig ist und dass es für die Analyse des Kolonialismus im postsowjetischen Raum sinnvoll sein könnte, spezifische Verbindungen zu neuen imperialen und maskulinen Regimen zu identifizieren. Darüber hinaus wurde Trauma als Instrument der Kolonisierung genannt, insbesondere das transgenerationale Trauma als Instrument zur Verursachung von Schäden, die über Generationen hinweg andauern – wie etwa am Beispiel des Stalinismus zu sehen.

Die Sitzung, die dem Krieg in der Ukraine als Herausforderung für die Friedens- und Konfliktforschung gewidmet war, wurde von Christoph Weller organisiert und moderiert. Ziel war es, die persönliche Positionierung, Erwartungen und Verantwortung jedes Einzelnen als soziales, politisches und wissenschaftliches Subjekt zu reflektieren. Fragen der Gewaltfreiheit als Thema, getrieben durch das Privileg, nicht in einem kriegsgebeutelten Land zu leben, wurden ebenso diskutiert wie Fragen der (Un-)Sichtbarkeit im Hinblick auf aktuelle Konflikte in anderen Weltregionen, die durch Doppelmoral und unterschiedliche Haltungen geprägt sind (z.B. Afghanistan oder Syrien). Gewaltfreiheit, Gewaltreduzierung und die Mittel zu ihrer Erreichung wurden im Zusammenhang mit dem Krieg (und Cyberwar) in der Ukraine erörtert, und die Positionierung des Westens und der deutschsprachigen Länder als Teil (oder nicht Teil) des Konflikts wurde ebenfalls diskutiert. Die Gruppe ist zu dem Schluss gekommen, dass Forscher*innen in der Friedens- und Konfliktforschung eine besondere Verantwortung haben, hegemoniale Konfliktquellen zur Sprache zu bringen und die Aufmerksamkeit für andere laufende Konflikte, in denen teils akute Unterversorgung herrscht, nicht zu verlieren. Die Positionierung Europas als »Friedensmacht« wurde hervorgehoben und kritisiert, ebenso wie die Notwendigkeit, die Analyse auf alle Aspekte des Krieges auszuweiten: der Diskurs über Waffenlieferung kann nicht andere wichtige Sachleistungen, Unterstützungsstrukturen und Programme der psychischen Gesundheit und psychosozialen Unterstützung ersetzen, die ebenfalls dringend notwendig sind.

Am dritten und letzten Tag des Workshops wurden die Teilnehmer*innen in einer von Michaela Zöhrer konzipierten und moderierten Abschlusssitzung gebeten, über die während des Workshops aufgeworfenen Fragen zu reflektieren, ihre Meinung zu offenen und ungelösten Lücken und Diskrepanzen zu äußern und über ihre Erwartungen sowie über mögliche Lösungen und nächste Schritte zu sprechen, die Forscher*innen in ihrer weiteren wissenschaftlichen Arbeit nutzen könnten. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, Aktion und Haltung, war eines der drängendsten Themen, die auf dem Workshop diskutiert wurden. Die Wichtigkeit, das eigene Selbstbild und die tatsächlichen Handlungen zu betrachten, sowie die Notwendigkeit, generell mehr zu handeln, wurde geäußert. Das Zusammentreffen im Workshop und die Arbeit in der Gruppe hat die Teilnehmer*innen dazu gebracht, über die Bedeutung von Gemeinschaft und Solidarisierung in der Friedens- und Konfliktforschung nachzudenken. In dem Rahmen wurde die Bedeutung der Schaffung sicherer – und mutiger – Räume praktisch erprobt und theoretisch als Grundlage dafür reflektiert, wie jede*r Forscher*in zu ihrer Schaffung beitragen kann, um die eigene Verantwortung zu übernehmen.

Kontakt: decolonizepeace@aau.at

Maria Zhiguleva

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Wir haben ein (Daten-)Problem!

von Lamis Saleh und Fiona Wilshusen

Wir leben in einer militarisierten Welt – und die weltweiten Militärausgaben sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dass mehr Waffen jedoch auch mehr Sicherheit bedeuten, ist umstritten. Im Gegenteil, eine steigende Militarisierung kann eben auch größere (physische) Unsicherheit bedeuten, wie ein Blick auf geschlechtsspezifische Effekte zeigt. So wird Militarisierung in Verbindung gesetzt mit Gewalt gegen Frauen1. Wollen wir diese Beziehung jedoch empirisch analysieren, stoßen wir bald auf ein Problem – uns fehlen die Daten.

Frauen sind auf vielen Ebenen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen. Grundsätzlich beschreibt geschlechtsspezifische Gewalt (auf Englisch: gender-based violence, kurz GBV) physische, psychische oder strukturelle Gewalt, von der eine Person aufgrund ihrer biologischen oder sozialen Geschlechtszugehörigkeit betroffen ist. Auch wenn diese Definition so Gewalt gegen alle Geschlechter einbezieht, sind Frauen und Mädchen überproportional stark davon betroffen2 – z.B. in Form von sexualisierter Gewalt, struktureller Machtungleichheit oder finanzieller Abhängigkeit. Deshalb wird er oft synonym verwendet mit dem Begriff Gewalt gegen Frauen. Da bei psychischer, physischer und/oder sexualisierter Gewalt der Täter in vielen Fällen der (Ex-)Partner ist, wird diese Form der Gewalt oft auch als Partnergewalt bezeichnet.

Faktoren, die geschlechtsspezifische Gewalt begünstigen, können laut WHO mangelnde Gleichberechtigung der Geschlechter, ökonomische Abhängigkeit und soziale Normen, die Frauen einen niedrigeren Status als Männern zuschreiben, sein (WHO 2021). Doch wie hängen diese Dynamiken mit Militarisierung zusammen?

Militarisierung und geschlechtsspezifische Gewalt

Grundannahme des Militarisierungskonzeptes ist, dass das Militär auch in politische, ökonomische und gesellschaftliche Räume wirkt. Militarisierung beschreibt dabei einen Prozess, innerhalb dessen nicht nur militärische Werte an Gewicht in der Gesellschaft gewinnen, auch die Art der Ressourcenverteilung kann Teil einer zunehmenden Militarisierung sein (Enloe 2000).

Mit einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft werden nicht nur Gewalt und Aggression eher als legitime Mittel der Konfliktlösung angesehen, auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern kann stärker hierarchisiert werden. Bereits in den 1980ern etablierten Wissenschaftler*innen eine theoretische Verbindung zwischen Militarisierung und der patriarchalen Ordnung – diese sind demnach eng verwoben und verstärken sich gegenseitig (Enloe 1983; Reardon 1985). Zentral ist dabei das hierarchisierte Konzept einer militarisierten Männlichkeit – tough, dominant, aggressiv – und einer passiven, schutzbedürftigen Weiblichkeit (Elshtain 1982; Whitworth 2004; Eichler 2014).3 Durch diese Hierarchisierung einerseits und das Propagieren militärischer Werte wie Härte und Dominanz andererseits, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum, wird zunehmende Militarisierung assoziiert mit einem Anstieg an physischer, struktureller und kultureller Gewalt, von der Frauen in besonderem Maße betroffen sind (Sharoni 2016). So geben (hoch-)militarisierte Staaten hohe Summen ihres Staatshaushaltes für den militärischen Sektor aus, was oft einhergeht mit geringeren Ausgaben für soziale Belange, im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Andere Studien wiederum identifizieren eine direkte Verbindung zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, da staatliche Sicherheitskräfte (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Bereich und privaten Raum ausüben – und oft Täter von Partnergewalt sind. Doch Militarisierung kann auch indirekt wirken. So hat eine empirische Analyse gezeigt, dass sich steigende Militarisierung negativ auf Geschlechtergerechtigkeit und die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirken kann (Elveren, Moghadam und Dudu 2022). Beides hat die WHO als Faktoren identifiziert, die GBV begünstigen.

Die (empirischen) Zusammenhänge?

Trotz des starken theoretisch begründeten Zusammenhangs zwischen dem Militarisierungsgrad eines Landes und der Prävalenz von geschlechtsspezifischer Gewalt, fehlt es erstaunlicherweise weitgehend an empirischen Analysen. Soweit uns bekannt ist, hat keine Studie einen solchen Zusammenhang quantitativ nachgewiesen. Ein Hauptgrund dafür ist wohl die mangelnde Verfügbarkeit von Daten.

In einem ersten Schritt haben wir in unserer Forschung daher versucht, den Grad der Militarisierung mit geschlechtsspezifischer Gewalt zu verknüpfen. Der Globale Militarisierungsindex (GMI, siehe bicc 2022) ist der einzige Index, der die weltweite Militarisierung abbildet. Dabei legt er aber seinen Schwerpunkt auf Ressourcenverteilung und Bedeutung des Militärapparats von Staaten im Verhältnis zur Gesellschaft als Ganzem und hat daher eher ein strukturelles Militarisierungskonzept zugrunde liegen. Kulturelle und geschlechtsspezifische Implikationen werden so außer Acht gelassen. Wenn wir hier also bereits auf erste Limitationen stoßen, ergibt sich hinsichtlich der Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt ein desaströses Bild: Soweit wir wissen, gibt es keinen indexbasierten und aktuellen Datensatz zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt. Alle verfügbaren Daten sind entweder über die Jahre hinweg nicht konsistent oder für eine gründliche Analyse nicht in einem ausreichend großen geografischen Maßstab verfügbar. Um dennoch eine erste empirische Analyse zu wagen, greifen wir auf einen Datensatz der Vereinten Nationen zurück. In ihrem Bemühen, die Gleichstellung der Geschlechter unter dem entsprechenden Nachhaltigen Entwicklungsziel (SDG 5) zu fördern, stellen die Vereinten Nationen einige Statistiken zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt zur Verfügung. Basierend auf Erhebungen und Initiativen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in den Jahren 2000-2018, misst dieser Datensatz den Prozentsatz von Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, die in den vergangenen zwölf Monaten Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner erfahren haben. So sind diese Daten aber nicht nur zeitlich limitiert, sondern bilden nur einen kleinen Teilaspekt von geschlechtsspezifischer Gewalt ab, nämlich Partnergewalt.

Daher stellt unsere Analyse nur eine – sowohl zeitlich als auch bezüglich der Datenqualität stark limitierte – Momentaufnahme der vermuteten Beziehung dar. Wir versuchen zunächst, den allgemeinen Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt zu messen. Abbildung 1 zeigt die Korrelation zwischen beiden Variablen für alle 153 Länder in unserem Datensatz für das Jahr 2018.

Abbildung 1: Korrelation von Militarisierung und »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Sie zeigt eine signifikant negative Korrelation, was darauf hindeutet, dass eine höhere Militarisierungsrate mit einem niedrigeren Niveau geschlechtsspezifischer Gewalt verbunden ist. Was vor dem Hintergrund der theoretischen Verbindung auf den ersten Blick große Fragen aufwirft, wird mit einem zweiten Blick klarer. Die negative Korrelation deutet nicht zwangsläufig darauf hin, dass steigende Militarisierung zu sinkender GBV führt. Vielmehr deuten sich hier die Folgen des Datenproblems an: Die jeweiligen Charakter der zur Verfügung stehenden Datensätze (limitiertes Militarisierungsverständnis, limitiertes GBV-Verständnis) und die eklatanten Datenlücken verzerren das Bild.

Da diese erste grobe Korrelation eine massive Diskrepanz zu theoretischen Ableitungen darstellte, wollten wir das Verhältnis der Daten tiefer ergründen. Für unsere Analyse betrachten wir nun die Karte 1. Die Größe der Staatsterritorien auf unserer Karte hängt von ihrem relativen Militarisierungsgrad ab. Einige Länder erscheinen größer, als ihre maßstabsgetreue Größe wäre, während andere kleiner erscheinen. Die geschlechtsspezifische Gewalt wird durch die farbige Visualisierung dargestellt. Je höher der Grad der Gewalt ist, desto mehr bewegen sich die Länder im roten Farbspektrum.

Karte 1: Weltkarte zu »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Bei einem Blick auf die Karte ergibt sich ein etwas anderes Bild als bei der vorhergehenden Korrelation. Länder in Zentralafrika mit einem höheren Militarisierungsgrad haben mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen höheren Wert von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Für einige Länder mit sehr hohen Militarisierungsraten, z.B. Russland, liegen keine GBV-Daten vor. Diese Beobachtungen helfen, die Zusammenhänge zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt empirisch besser zu verstehen. Am Beispiel Russland zeigt sich auch, inwieweit die Datenlücken das Gesamtbild verzerren: Sowohl das Komitee der Frauenrechtskonvention als auch Human Rights Watch weisen auf die hohe Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Russland hin – es gibt aber schlicht keine offiziellen Statistiken. Im Jahr 2017 wurde darüber hinaus ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte häusliche Gewalt in Russland dekriminalisiert. Dies führt nicht nur zur Straflosigkeit der Täter*innen, sondern mit Blick auf die Datenverfügbarkeit auch zu steigenden Dunkelziffern.

Es zeigt sich vor allem eins: Wir haben zu wenig Informationen. Da uns nur limitierte Daten zur Verfügung stehen, gibt es zwar Anhaltspunkte aber nicht genügend Evidenzen, um kausale Beziehungen herzustellen. So kann unsere empirische Analyse zwar eine erste Tendenz abbilden für den Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, aber das Gesamtbild bleibt trübe. Es zeigt sich also deutlich, dass die Daten für gehaltvolle Analysen – und in der Konsequenz auch politische Empfehlungen – fehlen. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund (inter-)nationaler Bekenntnisse zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt besorgniserregend – und muss sich dringend ändern!

Anmerkungen

1) Der Begriff »Frauen« umfasst alle Personen, die sich als Frau identifizieren.

2) Gewalt, die dich explizit gegen LGBTQIA*-Personen richtet, fällt theoretisch auch unter diese Begriffsdefinition, allerdings wird der Begriff in diesem Zusammenhang selten verwendet.

3) Dieses Machtgefälle wirkt nicht nur geschlechtsspezifisch, die Konstruktion von militarisierter Maskulinität ist ein Gegenentwurf zu jeglichem »Anderen« und basiert damit gleichermaßen auf Homophobie, Misogynie und Rassismus. Hier fokussieren wir aber auf geschlechtsspezifische Implikationen.

Literatur

BICC (2022): Globaler Militarisierungsindex, Online: gmi.bicc.de.

Eichler, M. (2014): Militarized masculinities in international relations. The Brown Journal of World Affairs 21(1), S. 81-93.

Elshtain, J. B. (1982): On beautiful souls, just warriors and feminist consciousness. Women’s Studies International Forum 5 (3/4), S. 341-348.

Elveren, A.Y.; Moghadam, V.M.; Dudu, S. (2022): Militarization, women’s labor force participation, and gender inequality: evidence from global data. Women’s Studies International Forum 94, 102621.

Enloe, C. (1983): Does khaki become you? The militarisation of women’s lives. London: Pluto Press.

Enloe, C. (2000): Maneuvers: The international politics of militarizing women’s lives. Berkeley: University of California Press.

Reardon, B. (1985): Sexism and the war system. New York: Syracuse University Press.

Sharoni, S. (2016): Militarism and gender-based violence. In: Wong, A.; Wickramasinghe, M.; hoogland, r.; Naples, N.A. (Hrsg.): The Wiley Blackwell Encyclopedia of Gender and Sexuality Studies. O.S.

UNSDG (2022): United Nations SDG Indicators Database, online: unstats.un.org/sdgs/dataportal.

Whitworth, S. (2004). Men, militarism and UN peacekeeping: a gendered analysis. Boulder, Col.: Lynne Rienner Publishers.

WHO (2021). Violence against women, online: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against-women.

Dr. Lamis Saleh ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Unterstützung der Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen in Afrika« am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC).
Fiona Wilshusen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte«, ebenso am BICC.

Der Russland-Ukraine-Krieg

Der Russland-Ukraine-Krieg

Impulse für einen umfassenden und nachhaltigen Friedensprozess

von Karim P. Fathi

Der Russland-Ukraine-Krieg hält die Welt in Atem. Dabei findet sich in der emotionalisierenden Berichterstattung wenig über die Frage, was für einen nachhaltigen Frieden notwendig wäre. Beiträge aus der Friedensforschung und -arbeit wurden und werden in der aktuellen Diskussion unzureichend berücksichtigt, sind sogar Gegenstand von antipazifistischer Kritik. Letztlich gilt jedoch: Friedensforschung kann voraus- und über eine enge Debatte über Waffenlieferungen und militärische Erfolge hinausblicken. Wie kann ein nachhaltiger Frieden nach dem Ende des Russland-Ukraine-Kriegs gefunden werden, auch und gerade in Anbetracht seiner Tiefendimensionen? An welchen Stellschrauben könnte Friedenspolitik ansetzen?

Ein nachhaltiger Friedensprozess bedarf einer entsprechend komplexitätsangemessenen Analyse der Konfliktsituation und einer ebenso angemessenen Interventionsgestaltung. Die folgende Darstellung erhebt nicht den Anspruch einer vollständigen Analyse dieses Kriegs. Vielmehr geht es darum, mehrere Dimensionen und Ebenen der Konfliktanalyse und -intervention aufzuzeigen, bei denen Friedensforschung und -arbeit wichtige Beiträge leisten können und die in der aktuellen Diskussion sowie der internationalen Politik vernachlässigt werden.

Ebene 1 – Konstellation Russland vs. Ukraine

Vordergründig stellt sich der vorliegende Krieg in erster Linie als eine militärische Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland dar. Dem müssen im Kontext einer vielschichtigen Analyse die psychische, strukturelle und kulturelle Dimension zur Seite gestellt werden. Nur so können inhärente Risikopotenziale jenseits des aktuellen Schlachtfelds umfassend berücksichtigt werden.

Die psychische Dimension betrifft unter anderem den erheblichen Stress und die seelischen Schäden in der Bevölkerung, die mit der Fortdauer des Kriegs zunehmen und im Sinne posttraumatischer Behandlungsbedarfe und einer „Jetzt erst recht“-Revanchehaltung den Konflikt verlängern können.

Strukturelle Gewalt prägt sich vor allem als systematische Diskriminierung aus, von der mehrere ethnische Gruppen betroffen waren und sind. So mahnte das EU-Parlament im Vorfeld des Kriegsausbruches „gravierende“ Fälle von Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung an. Die Ukraine, die nunmehr seit einigen Jahren durch ein Assoziierungsabkommen zunehmend enger mit der EU verbunden ist, verstoße mit ihrer Sprach‐ und Minderheitenpolitik immer wieder gegen internationale Minderheitenstandards. Unter anderem hob die Staatsanwaltschaft des Gebiets Donezk laut Medienberichten den Status des Russischen als regionale Amtssprache auf, obwohl dort ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Russisch spricht (Europäisches Parlament 2018). Zugleich wird auch über ähnliche Formen struktureller und direkter Unterdrückung von Nicht-Russ*innen in den von Russland besetzten Gebieten berichtet (Dornblüth und Adler 2022). Strukturelle Gewalt trägt insgesamt erheblich zur Kriegspropaganda auf beiden Seiten bei und wird zugleich von ihr legitimiert.

Dies zeigt sich im Ausmaß kultureller Gewalt, die sich im Russland-Ukraine-Krieg vielfältig ausprägt. Kulturelle Gewalt umfasst Muster in verschiedenen Kulturbereichen und Medien, z.B. in der Kunst, Berichterstattung, Folklore, die direkte und strukturelle Gewalt legitimieren (Galtung 1998). Eine verbreitete Manifestation kultureller Gewalt besteht in der moralisierenden und polarisierenden Berichterstattung und entsprechenden Bildern, die Russland und die Ukraine voneinander zeichnen. „Faschismus“ (Kotsev 2022) oder „genozidales“ Verhalten (Tacke und Busche 2022) assoziieren beide Seiten miteinander. Kulturelle Gewalt erhält im sich abzeichnenden »Informationskrieg« und »Kampf der Narrative« besondere Bedeutung: Längst ist der Russland-Ukraine-Krieg auch ein Ringen um Deutungshoheit und moralische Legitimation geworden, das im digitalen Raum ausgefochten wird (Hate Aid 2022).

Zusammengefasst sollten auf der hier vorgestellten Analyseebene »Russland vs. Ukraine« mindestens folgende Dimensionen im Rahmen einer ganzheitlich ausgerichteten Konfliktanalyse berücksichtigt werden: eine Dimension der qualitativen Analyse, die auf subjektive bzw. »softe« Faktoren wie z.B. Psyche, Kultur, Narrative und Traumata Bezug nimmt, und eine Dimension der quantitativen Analyse, die eher objektive und empirisch-beobachtbare Faktoren untersucht, wie z.B. Strukturen, Interaktionen, beobachtbare Fakten und Handlungen sowie juristische Rahmenbedingungen. Diese Kategorisierung ermöglicht, wie unten zu zeigen sein wird, eine ganzheitliche Berücksichtigung unterschiedlicher Konfliktdimensionen für die Konfliktintervention.

Um die unterschiedlichen Konfliktdimensionen etwas zu systematisieren dient die hier beigefügte Vier-Feld-Matrix (Tabelle 1). Ein solches Schema wird typischerweise in der Tradition der Konflikttransformation verwendet, z.B. von Norbert Ropers (1995) oder John Paul Lederach (2003).

Ebene 2 – Russland-Ukraine-NATO-Konflikt

Auf einer tieferen Analyse- und Interventionsebene werden nicht nur die Positionen der Konfliktparteien, sondern die tieferliegenden Bedürfnisse berücksichtigt. Unerfüllte Bedürfnisse, wie z.B. Identität, Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, stellen die tiefere Antriebsfeder jedes Konflikts dar (Galtung 1998). Darüber hinaus beinhaltet dieser Konflikt eine weiter gefasste regionale Konstellation, aus der sich weitere Antriebskräfte und Themen ergeben.

Jeder bedürfnisbasierte Konfliktlösungsprozess erfordert eine differenzierte Betrachtung der betroffenen Bedürfnisse aller Konfliktparteien und damit ein Berücksichtigen von Mitverantwortung aller Beteiligten an der gemeinsamen Konfliktdynamik.

Auf Seiten der Ukraine sind Bedürfnisse nach Sicherheit, Überleben, Identität, Freiheit/Gerechtigkeit betroffen. Sie entsprechen auch den von Johan Galtung definierten vier Grundbedürfnissen. Demnach sieht sich die Ukraine in dieser asymmetrischen Konfliktkonstellation Gewalt auf allen nur denkbaren Dimensionen ausgesetzt. Auf Seiten Russlands scheinen vor allem die Bedürfnisse nach Sicherheit, Identität und Gerechtigkeit betroffen zu sein. Dies wird erst ersichtlich, wenn der Beitrag mittelbar beteiligter Akteure, wie z.B. der USA oder der NATO, in der Analyse miterfasst wird.

Diese Russland-Ukraine-NATO-Konfliktkonstellation zu betrachten ist für den Friedensprozess unerlässlich. Seit Jahren fordert Russland von der NATO und den USA Sicherheitsgarantien, eine Verringerung der Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke und einen Stopp der Ausdehnung des westlichen Bündnisses in Richtung Russland. In der Vergangenheit forderte Putin von der NATO schriftliche Garantien, künftig keine weiteren osteuropäischen Staaten wie Georgien oder eben die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Hinsichtlich der geografischen Reichweite der NATO, forderte Russland, sie solle wieder auf den Stand von 1997 zurückgeführt werden. Die USA und die NATO wiesen diese Forderungen als in weiten Teilen unannehmbar zurück. Daher sieht Putin den Krieg als einen Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland an (lpb 2022).

Sicherheitsinteressen sind konfliktrelevant

Russland sieht sich in seinen Sicherheits­interessen von der NATO-Osterweiterung bedroht. Tatsächlich hat dieser Prozess bis heute zu einer zunehmenden Einbindung ehemaliger Sowjetstaaten, wie Polen, Rumänien, Bulgarien oder den Baltischen Staaten geführt (Sarotte 2021). Selbst John Mearsheimer, einer der bekanntesten Vertreter der politischen Theorie des Realismus, interpretiert die russische Ablehnung dieser Situation als durchaus erwartbares Verhalten zur Sicherung der Interessensphäre (Mearsheimer 2022).1 Dies ist insofern bemerkenswert, da der Realismus weder eine Bedürfnisorientierung, noch eine friedenslogisch-pazifistische Ausrichtung aufweist. Doch selbst nach diesem Ansatz sind die geäußerten Sicherheitsinteressen Russlands klar als konfliktrelevante Dimension zu sehen – sie in einer zukünftigen Friedensfindung auszuschließen, kann fast nur zum Scheitern aller Verhandlungen führen. Dies bedürfte dann aufseiten dritter Konfliktparteien, wie den NATO-Staaten, einer Kernanforderung des Projektes der »Friedenslogik« (vgl. Jaberg 2014): Sicherheit dürfte nicht mit Frieden gleichgesetzt werden, Hochrüstung und Kriege nicht als normale Handlungsformen anerkannt und vor allem der eigene Beitrag zur Entstehung dessen, was als Bedrohung wahrgenommen wird, gesehen werden.

Konfliktdimension »Doppelmoral«

Eine weitere Ausprägung struktureller Konfliktpotenziale stellt die Kritik an der »Doppelmoral« des Westens dar, die mit dem aktuellen Propagandakrieg an Fahrt aufgenommen hat. Heute wird Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg stärker verurteilt als andere illegale Kriege, die von westlichen Staaten in der jüngeren Zeit, wie z.B. Irak 2003 oder Libyen 2011, geführt wurden (Fischer 2022). Der Politikwissenschaftler Ivan Krastev sieht die wachsende Kritik an der westlichen Doppelmoral im Wesentlichen als Ausdruck der Krise der liberalen Hegemonie (Krastev 2019). Aus friedenslogischer Sicht erzeugt die „Hybris desjenigen Akteurs, der sich als Sieger des Kalten Kriegs begreift, ebenso wie die normative und praktische Selbstbevorzugung, gemäß derer sich der Westen dazu berechtigt sieht, sich selbst mehr zu erlauben, als er anderen zuzugestehen bereit ist“ (PZKB 2022, S. 12) eine weitere Dimension in diesem konkreten Krieg – etwas das für eine zu schaffende Friedensordnung beachtet werden müsste. Die Zusammenfassung der oben skizzierten Punkte ist in der begleitenden Vier-Feld-Matrix aufgeführt (Tabelle 1).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Tiefergehende Motivationen auf allen Seiten, insbesondere Sicherheitsbedürfnisse.

Ggf. tiefergehende Traumata bei Betei­ligten auf allen Seiten.

Verhalten, Interaktionen:

Historischer Verlauf und aktuelle Handlungen der Parteien (hier: zusätzlich NATO, EU, USA)

Juristische, vor allem völkerrechtliche Rahmenbedingungen: Russland, NATO, EU.

Weitere Rahmenbedingungen: ökono­misch, militärisch, geostrategisch.

Kollektiv

Kultur:

Kulturelle Gewalt, in Form konflikt­verschärfender Bedrohungsdarstellungen (z.B. Gegenseite als feindliche Großmacht).

Kulturelle Gewalt in Form historisch, ideologisch etc. begründeter Legitimierung von geokultureller Expan­sion.

Propagandakrieg, verschärfte Kritik an der Doppelmoral des Westens.

Struktur:

Strukturelle Konstellation: Liberale Hegemonie des Westens.

Great Game zwischen Russland und dem Westen auf dem Schachbrett Europas.

Innerstaatlich: Strukturelle Unterdrückung von Minderheiten (je nach Gebiet: Russ*innen und Nicht-Russ*­innen).

Tabelle 1: Dimensionen zur Analyse des Russland-Ukraine-NATO-Konflikts in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

Impulse für den Friedensprozess

Auf Grundlage der oben skizzierten Reflexionen ergeben sich mehrere Hebelpunkte für nicht-militärische Interventionen im Russland-Ukraine-Krieg.

Maßnahmen für die Zivilbevölkerung

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung hält eine Vielzahl von Handlungsfeldern und Maßnahmen bereit, die bereits in internationalen Konflikten umgesetzt werden. Ein Großteil dieser Maßnahmen adressiert die Zivilbevölkerung(-en) der direkt betroffenen Konfliktparteien. Dies erscheint unumgänglich, um ein Wiederaufflammen von Gewalt, nachdem politische Vereinbarungen getroffen wurden, zu verhindern.

Ein wichtiges Handlungsfeld, das in der Ukraine durchaus abgedeckt wird, ist Leidmilderung und Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe. Vom Angriffskrieg ist besonders die ukrainische Zivilbevölkerung betroffen. Humanitäre Hilfe von Staaten und NGOs oder UN-Hilfsorganisationen leistet Schadensbegrenzung (EU Kommission 2022). Neben materieller Versorgung muss diese Hilfe auch psychologische Unterstützung zur Behandlung von Depressionen, Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) beinhalten.

Maßnahmen gegen kulturelle Gewalt

In einem weiteren Handlungsfeld geht es vor allem darum, den Unterbau kultureller Gewalt anzugehen, der sich in Form direkter Gewalt wie Hassrede, Verschwörungsmythen, Kriegsrhetorik ausdrückt. Denn kulturelle Gewalt befeuert maßgeblich den Konflikt und kann ihn vor allem über Generationen am Leben halten. Diese Dimension bedarf langfristiger Ansätze. Hierzu ein paar knappe Notizen:

  • Ein wichtiger und derzeit unterschätzter Ansatzpunkt wäre ein Sensibilisieren für kulturelle Gewalt beispielsweise durch die Förderung von »Friedensjournalismus«. Letzterer zielt darauf ab, den Konflikt differenziert darzustellen, die Hintergründe zu verdeutlichen und mögliche friedliche Lösungen aufzuzeigen und auf diese aktiv hinzuarbeiten (Kempf und Shinar 2014).
  • Ein zweites Handlungsfeld, das auf Eindämmung kultureller Gewalt und gleichzeitig Förderung von Verständigung abzielt, könnte das Einrichten von Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative sein. Eine solche Plattform wurde bereits in der Vergangenheit anlässlich des Krim-Kriegs vom IMSD-Netzwerk ins Leben gerufen und erfolgreich umgesetzt (Inmedio o.J). Dabei ging es darum, umstrittene Narrative in der öffentlichen Berichterstattung Deutschlands (und im weitesten Sinne des Westens), der Ukraine und Russlands zu erkunden und einen Raum für Diskussionen zu schaffen, der auf ein tiefes Verständnis der Standpunkte ihrer Teilnehmer*innen abzielte. Dieser mediative Dialog fokussiert auf die Idee des Wertes aller Standpunkte und dem Recht eines jeden, zu sprechen und gehört zu werden (Inmedio o.J).
  • Eine dritte Dimension soziokultureller Interventionen, die in einer späteren Phase des Friedensprozesses an Bedeutung gewinnen dürfte, widmet sich der Frage nach einem friedlichen Zusammenleben russisch- und ukrainischsprachiger Bevölkerungsgruppen, insbesondere im Donbas. Hier wird es auf intra- und transnationaler Ebene darum gehen, das Etablieren einer Sprach- und Minderheitenpolitik zu ermöglichen, die internationalen Mindeststandards entspricht.
  • Auch die Schulbildung als Träger kulturell gewaltvoller Inhalte darf als Konfliktdimension nicht unterschätzt werden. Entsprechende Erfahrungswerte bestehen unter anderem im Israel-Palästina-Konflikt und dem Konzept der »parallelen Geschichten«. Diese Initiative trägt dem Umstand Rechnung, dass Konfliktgruppen historische Ereignisse sehr unterschiedlich wahrnehmen und erklären. Oft werden für diese Auseinandersetzungen Geschichtsbücher in Schulen instrumentalisiert. Das von Samir Adwan und Dan Bar-On ins Leben gerufene Schulbuchprojekt berücksichtigt die Sichtweisen beider Seiten und ermöglicht es den Schüler*innen, beide kennenzulernen (Adwan und Bar-On 2012). Dieser erfolgreiche Ansatz ließe sich auch auf die Ukraine, insbesondere im Donbas, anwenden.

Staatliche Ebene: Verhandlungen möglich machen

Angesichts der fortgeschrittenen Eskalation und Verhärtung dürfte es sich als sinnvoll erweisen, wenn die unterschiedlichen internationalen Unterstützer*innen die Konfliktparteien dazu bewegen, die Waffen niederzulegen und sich konstruktiv an einer Friedenslösung zu beteiligen. Nach klassischer Konflikteskalationslogik sind die Akteure in diesem Zustand kaum mehr in der Lage, aus eigenen Kräften aus der Verhärtung auszubrechen. Im Falle der Ukraine hätten die USA entsprechenden Einfluss, auf russischer Seite eventuell China.

Grundsätzlich erweist es sich als friedensförderlich, Dialogkanäle zwischen den Beteiligten aufrechtzuerhalten und den Raum für Verhandlungen offen zu lassen (Purkarthofer 2000). Die Mediator*innen vom IMSD empfehlen dabei für den Prozess, keine hohen Erwartungen an inhaltliche Kompromissbereitschaft zu stellen, da ein Drängen von Drittparteien zu weiterer Verhärtung führen könnte. Vielmehr gehe es darum, auf niedrigschwellige Zwischenziele, etwa als „Identifikation der Bedingungen zur Co-Existenz“, hinzuarbeiten (IMSD 2022). Tatsächlich bestanden im ersten Kriegsmonat durchaus Chancen auf eine Verhandlungslösung. Nach Beratungen in Istanbul Ende März bot die Ukraine ihre Neutralität und den Verzicht auf einen NATO-Beitritt an. Die Verhandlungen kamen zu keinem Ergebnis (ZEIT 2022). In den späteren Monaten wurden zumindest Teilerfolge in Form von Abkommen zu Gefangenenaustauschen und Getreide realisiert (Apelt 2022). Darauf ließe sich aufbauen. Letztlich gilt: Das Ende des Krieges kann nur in Form von Verhandlungen erfolgen, in denen strittige Punkte, wie z.B. die Territorialfrage, geklärt werden müssen. So stellt sich aufgrund der steigenden Kriegskosten auf beiden Seiten und der geringen Wahrscheinlichkeit eines schnellen militärischen Sieges „weniger die (…) Frage, ob es weitere Verhandlungen geben wird, sondern eher wann und unter welchen Bedingungen“ (IMSD 2022).

Bei der Frage nach geeigneten Mediator*innen eignen sich von allen Beteiligten gleichermaßen akzeptierte Staaten, wie z.B. die Türkei oder die Schweiz, oder spezialisierte NGOs, wie z.B. die Berghof Stiftung, inmedio oder das IMSD-Netzwerk. Dabei wird in der zivilen Konfliktbearbeitung betont, alle »Tracks« mit einzubeziehen – die der politischen Entscheidungsträger*innen (Track 1), gesellschaftlicher (Track 2) und zivilgesellschaftlicher Führungspersönlichkeiten (Track 3) (Lederach 1997) – was im Falle der Ukraine vor allem auch aufgrund ihrer innerstaatlichen Konfliktdimensionen sinnvoll erscheint (Herrberg 2017). Insgesamt, so betonen die Expert*innen des IMSD-Netzwerks, empfiehlt sich das Einrichten unterschiedlich zusammengesetzter Akteursforen. Um z.B. den Ursachen für die Außeneinmischungen in diesem Konflikt auf den Grund zu gehen und den übergeordneten russischen Sicherheits- und Anerkennungsinteressen begegnen zu können, ist eine Einbindung relevanter westlicher Mächte, insbesondere der USA und NATO, auf der Track 1-Ebene erforderlich (IMSD 2022).

Das selbstkritische Reflektieren des eigenen Beitrags beinhaltet, wie die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) in ihrer Stellungnahme vom 11.05.2022 betonen, nicht die moralische Schuldfrage. Vielmehr gilt es, die eigenen Anteile an der Zuspitzung der letzten Jahre zu thematisieren und die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien nachzuvollziehen, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. So ist im westlichen Diskurs weitgehend tabuisiert, dass die aktuelle Herrschafts- und Sicherheitsordnung nicht auf Grundlage eines gleichberechtigten Mitwirkens aller Beteiligten entstand. Schon früh geäußerte Einwände und Sicherheitsbedenken Moskaus wurden ignoriert und seine Initiativen – wie beispielsweise der Entwurf für einen Sicherheitsvertrag im Jahre 2009 – wurden nicht aufgegriffen (PZKB 2022). Selbstkritisches Reflektieren des Eigenanteils bedeutet für den Westen auch eine Auseinandersetzung mit dem vermehrt geäußerten Vorwurf der Doppelmoral. Ein solcher, vom Westen selbst angestoßener Diskurs über eigene Fehler und Versäumnisse könnte wesentlich dazu beitragen, Größe zu zeigen und verlorengegangenes Vertrauen in der internationalen Staatengemeinschaft zurückzugewinnen.

Pufferzonen und Demilitarisierung

Aus einer lösungsfokussierten Perspektive nehmen im Russland-Ukraine-Krieg vor allem Sicherheitsbedürfnisse und die Frage nach dem Status der Ukraine, zumindest der Ostukraine, einen zentralen Wert ein. Einige Beobachter*innen aus der zivilen Konfliktbearbeitung, wie z.B. Johan Galtung oder Antje Herrberg, empfehlen das Etablieren einer neutralen bzw. demilitarisierten Pufferzone, im Sinne eines oder mehrerer autonomer Gebiete entlang der westrussischen Grenze (Herrberg 2017; Galtung 2014). Aus friedenspolitischer Sicht läge es im nationalen Interesse der Ukraine, die Multiethnizität der Region zu sichern und die russische Kultur als koexistierende Kultur zu begreifen. Als Inspirationsbeispiele ließen sich z.B. das Föderalismuskonzept der Schweiz (Wolffsohn 2019) oder das Modell der Autonomen Provinz Bozen (2022) heranziehen.

Die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung sehen vor allem die OSZE als am besten geeigneten Ort für solche Verhandlungen, als Projekt so genannter „gemeinsamer Sicherheit wider Willen“, weil sie den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung stellt (PZKB 2022).

All die oben skizzierten vielfältigen Beiträge und Überlegungen für einen nachhaltigen Friedensprozess lassen sich erneut in einer Vier-Feld-Matrix zuordnen (Tabelle 2).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Leidmilderung der Opfer durch humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerungen durch Nichtregierungsorganisationen oder UN-Organisationen. Fokus: PTBS und weitere psychische Verletzungen.

Friedensgespräche auf politischer Ebene (Track 1) sollten inoffiziell und gesichtswahrend laufen.

Verhalten, Interaktionen:

Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand auf allen Seiten.

Durchführung von Friedensgesprächen unter Einbindung mehrerer Ebenen (Multi-Track) und lokaler Vermittler.

Bestehende Abkommen (wie z.B. Minsk-Abkommen) als Ausgangsbasis für den weiteren Prozess, ggf. im Rahmen eines Projekts „Gemeinsame Sicherheit wider Willen“, moderiert über die OSZE.

Kollektiv

Kultur:

Behebung kultureller Gewalt, z.B. in Form moralisierender Berichterstattung, durch Friedensjournalismus. Entwicklung einer differenzierteren Diskurs­kultur.

Bekämpfung von Desinformation durch unabhängige Organisationen, z.B. der UN.

Anti-diskriminierende Integrationspolitik in der Ukraine.

Empathie: Sensibilisierung für eigene Anteile am Konfliktsystem.

Schulbuchprojekte der „zwei Seiten“, inspiriert am Erfolgsbeispiel Israel-­Palästina.

Einrichtung von „Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative“.

Struktur:

Behebung struktureller Gewalt, z.B. in Form von Diskriminierungen russischsprachiger Minderheiten in der Ukraine. Denkbar wäre ein föderales Konzept (z.B. Schweizer oder Südtiroler Modell).

Kritische Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse aller Seiten, die sich aus der geostrategischen Konstellation ergeben.

Aushandlung weiterer Win-Win-Lösungen zur Territorialfrage: UN-überwachte Sicherheitsgarantien; Einrichtung eines demilitarisierten Puffers an der Ostgrenze zu Russland.

Tabelle 2: Ansatzpunkte und Interventionen für den Friedensprozess im Russland-Ukraine-­NATO-Konflikt in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

»Nadelstiche« nicht unterschätzen

Einige der oben skizzierten Punkte mögen utopisch erscheinen, weil sie zur Durchsetzung idealerweise durchsetzungsfähige transnationale Institutionen, im Idealfall eine handlungsfähige UN und entsprechende Weltinnenpolitik voraussetzen würden. Nicht zu unterschätzen ist jedoch, dass in nahezu all diesen Bereichen NGOs aus der Zivilgesellschaft tätig sind und in der Lage sind und wären, »Nadelstiche« für den Frieden zu setzen.

Der Russland-Ukraine-Krieg ist von erheblicher globaler Tragweite, seine Befriedung in seiner Bedeutung und den Herausforderungen nicht zu unterschätzen. Die primär diskutierten Dimensionen der Durchsetzbarkeit internationalen Rechts sowie die Fragen der aktiven Kriegsführung müssen durch die hier angesetzte Betrachtung erweitert werden. Hier gilt es für Friedensforschung und -arbeit vorauszudenken und immer wieder zu betonen, dass Dimensionen psychischer und kultureller Gewalt, struktureller Gewalt sowie größerer Auseinandersetzungen über die Kritik an der westlich-dominierten liberalen Hegemonie ebenso eine Rolle spielen und im Rahmen der Konflikttransformation berücksichtigt werden müssen.

Anmerkung

1) Ganz ähnlich schätzen dies weitere prominente Vertreter*innen geostrategischer Denkschulen ein. Beispiele seien hier u.a. die Einschätzung des Geostrategen des Beratungsinstituts Stratfor, George Friedman. In einem Vortrag am »Chicago Council on Global Affairs« von 2015 bestätigte er Russlands Befürchtungen eines geostrategischen Plans des »Sicherheitsgürtels« entlang der Westgrenze zu Russland. Hier käme der Ukraine und der Frage, ob das Land pro-westlich oder pro-russisch ausgerichtet sei, eine besondere strategische Bedeutung zu (Friedman 2015). Diese Einschätzung wird vom Geogstrategiker Zbigniew Brzezinski geteilt (siehe Brzezinski 2001).

Literatur

Adwan, S.; Bar-On (2012): Side by side: Parallel histories of Israel-Palestine. The New Press, New York

Apelt, B. (2022): Diplomatischer Erfolg für ukrainischen Getreidekorridor. Friedrich Naumann Stiftung, 05.09.2022.

Autonome Provinz Bozen (2022): Eine Autonomie für drei Sprachgruppen. URL: provinz.bz.it/autonomietag/autonomie.asp

Brzezinski, Z. (2001): Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Dornblüth, G.; Adler, S. (2022): Russlands Besatzungspolitik in der Ukraine. Deutschlandfunk, 05.04.2022.

DW (2022): China und Russland kritisieren Westen. Deutsche Welle, 23.06.2022.

Europäisches Parlament (2018): Diskriminierung der russischen Sprache in der Ukraine — was tut die Europäische Union? Parlamentarische Anfrage – E-005731/2018, 12.11.2018.

EU Kommission (2022): European Civil Protection and Humanitarian Aid Operations. Factsheet Ukraine. Homepage der Europäischen Kommission.

Fischer, L. (2022): Der Imperialismus war nie weg. Jacobin, 25.03.2022.

Friedman, G. (2015): George Friedman, “Europe: Destined for Conflict?”. Rede im Chicago Council on Global Affairs. veröffentlicht auf Youtube am 04.02.2015.

Galtung, J. (2014): Ukraine-Crimea – The solution is a federation with high autonomy. Inter Press Service, 01.04.2014.

Galtung, J. (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske+Budrich

Hate Aid (2022): Report: Desinformation und digitale Gewalt im Ukraine-Krieg. Hate Aid.

Herrberg, A. (2017): Is peace mediation in Ukraine possible, and how? Conciliation Ressources, Februar 2017.

IMSD (2022): Krieg in der Ukraine: Haben Verhandlungen eine Chance? 10 Punkte der Initiative Mediation Support Deutschland (IMSD). April 2022.

Inmedio (o.J.): Platform for mediative dialogue on contested narratives. URL: contested-narratives-dialogue.org

Jaberg, S. (2014): Sicherheitslogik: Eine historisch-genetische Analyse und mögliche Konsequenzen. W&F 02/2014, Dossier 75, S. 8-11.

Kempf, W.; Shinar, D. (2014): The Israeli-Palestinian conflict: War coverage and peace journalism. Berlin: regener.

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Kotsev, M. (2022): Fast 5.000 Artikel mit Nazi-Vorwürfen: Wie Russland seine Bürger zum Kriegsbeginn auf Kurs brachte. Tagesspiegel, 07.07.2022.

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PZKB (2022): Friedenslogik statt Kriegslogik: Zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg. Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. 11.05.2022.

Ropers, N. (1995): Friedliche Einmischung. Berlin: Berghof Foundation (früher: Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung).

Sarotte, M. E. (2021): Not one inch. America, Russia, and the making of post-Cold War stalemate. New Haven: Yale University Press.

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Wolffsohn, M. (2019): Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München: dtv Verlag.

ZEIT (2022): Ukraine bietet Neutralität an – Moskau sieht „alles streng nach Plan“. DIE ZEIT, 29.03.2022.

Karim P. Fathi ist Friedens- und Resilienzforscher und Partner diverser Beratungsorganisationen. Schwerpunktmäßig forscht er zu gesellschaftlicher Multiresilienz und integrierter Konfliktbearbeitung.

Vom Fremden zum Nächsten

Vom Fremden zum Nächsten

Empathische Wahrnehmung als Startpunkt einer Friedensethik

von Konstantin Funk

Auch wenn wir um die Entstehung unserer moralischen Überzeugungen in einer bestimmten Kultur und Zeit, in einem konkreten Ort wissen, so halten wir unsere dort gemachten Erkenntnisse in der Regel doch für kategorisch wahr. Diese Situiertheit unserer moralischen Rezeption stellt den prominenteren Ansatz in Frage, Ethik rein rational, also ohne (emotionale) Involviertheit und gerade zeit- und ortsunabhängig, zu begründen. Wie können wir angesichts unserer unabdingbaren soziokulturellen Eingebundenheit wahrnehmen, was wahrzunehmen ist, um (auch außerhalb unseres soziokulturellen Nahhorizonts) richtig handeln zu können? Ist es vernünftig, auf unser moralisches Bauchgefühl zu hören?

Wenn wir uns die Frage stellen, welche Bedeutung Emotion und Empathie1 im (friedens-)ethischen Nachdenken und Handeln zukommt, so lässt sich diese Frage nicht beantworten ohne Rückgriff auf den eigenen ethischen Erfahrungsschatz2: Inwiefern hängt unser moralisches Verhalten davon ab, wie wir mit dem Gegenüber mitfühlen? Begründen wir – auch vor uns selbst – logisch-rational, was wir tun und unterlassen, oder dekodiert uns handlungsleitend Empathie und Emotion eine moralisch aufgeladene Szene?

Sicher wird man sich mit Blick auf eigene Erfahrungen mit einer Entweder-Oder-Logik nicht zufrieden geben; zu verwoben und aufeinander angewiesen sind beide Komponenten ethischer Entscheidungsfindung. Mehr noch: Das intuitive Handeln, der situative Impuls stellen sich, gerade in der nachträglichen Reflexion derselben, als Destillate gemachter (und verpasster) Erfahrungen dar. Sie sind deshalb alles andere als »stumpfe« Affekte. In der moralischen Intuition bildet sich offensichtlich unsere ganze Biographie ab. Das führt in einer pluralen Welt womöglich zu Auseinandersetzungen. Denn obwohl wir um die Ursprünge unseres moralischen Empfindens wissen, haben unsere Überzeugungen doch kategorischen Anspruch: Was heute und hier falsch ist – so behauptet es unser ethisches Gefühl –, ist falsch; »Gut« und »Schlecht« sind keine Geschmackssachen!

Nun ist es ein Leichtes, sich Szenen vorzustellen, in denen dieser jeweilige Anspruch zu großem Streit, womöglich Gewalt, führt. Man stelle sich beispielsweise vor, so Christoph Ammann, der über die komplexen Voraussetzungen moralischer Wahrnehmung und die Rolle der Emotion darin nachdenkt, zwei Menschen säßen in einer Stierkampfarena und betrachteten das Spektakel (vgl. Ammann 2007, S. 113). Der eine, ein spanischer Stierkampf-Aficionado, ist begeistert: Er entdeckt in der Szenerie Mut, Erhabenheit, Stolz, fühlt sich verbunden mit der bedeutungsgeladenen Tradition und verlässt – der Stier ist endlich besiegt – beeindruckt die Arena. Sein Freund, der vielleicht zum ersten Mal zu Besuch ist, kann kaum glauben, was er sieht: Unnötiges Tierleid, Elend und sich daran berauschende Massen, die dem stundenlang gequälten Tier kein Mitleid entgegenbringen wollen. Immerhin, so könnten Stierkampffans argumentieren, hatten diese Zuchttiere im Gegensatz zu all dem armen Mastvieh ein hervorragendes Leben auf grünen Weiden, Mitleid ist gar nicht angebracht. Oder doch? Wie kommt es, dass beide doch die selben Fakten vor Augen haben – einen Stier, einen Torero, Blut, jubelnde Menschenmassen, … – und doch etwas gänzlich anderes, ja Gegensätzliches sehen? Und vor allem: Wie würde ein gewinnbringender Streit zwischen den beiden im Anschluss aussehen?

Gelungene Mitleidsethik? Der barmherzige Samariter

Man kann die Parabel um den barmherzigen Samariter im Lukasevangelium als eine Geschichte gelungener Mitleidsethik lesen. Was Nächstenliebe ist, so scheint die Geschichte sagen zu wollen, zeigt sich in einer bestimmten rezeptiven Aufmerksamkeit dem anderen, Fremden gegenüber. Auf die Frage, was denn einen Nächsten zum Nächsten mache, antwortet Jesus einem Gesetzeslehrer wie folgt:

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“ (Lk 10, 30-33 Luther 2017; Hervorh. des Autors)

„Und als er ihn sah, jammerte es ihn“. Hier, im Mitgefühl, ist der Handlungsimpuls des Samariters verbürgt. Auf die nachträgliche Frage, warum er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, hätte der Samariter womöglich schlicht geantwortet: „Weil der Mensch Hilfe brauchte.“ Diese knappe Antwort verwiese auf das Zutrauen in die Vernünftigkeit seiner situativen Wahrnehmung, die zwar nachträglich Handlungsgründe zu liefern und formulieren weiß, zuvorderst aber als mitfühlende Intuition moralische Wirklichkeit erschließt. Jene bedarf keiner weiteren Begründungen als der der gesehenen Hilfsbedürftigkeit. Sein Handeln ist eine Konsequenz empathischer Rezeption des unter die Räuber Gefallenen, die Gründe – ohne sie als Handlungsgrund im Moment des Handelns ausformulieren zu müssen – „zu Gründen werden [lässt]“ (Roth 2019, S. 79), weil sie als Bestreben mit- und nachzuempfinden sichtbar macht, was nicht ohne Weiteres zu sehen ist. Dies wird in der Parabel am Beispiel der angesehenen Charaktere, des Priesters und des Leviten, deutlich. Sie, obwohl sie dem geschundenen Mitmenschen eher als der Samariter – ein „verfemter Dissident“ (Harnisch 2001, S. 287, zit. nach Zimmermann 2007, S. 550) – ein Nächster sein müssten, nehmen ihn in seinem Leiden nicht wahr – oder ignorieren das Leiden gänzlich. Beide blockieren empathisch-emotional; sie lassen sich nicht anrühren (vgl. zur Empathie-Blockade: Breithaupt 2019). Das macht sie trotz soziokultureller Nähe zu Fremden, den verhassten Samariter zum Nächsten.

Was bedeutet das für die Ethik?

In der Parabel wie in der Stierkampfarena wird in Ansätzen bereits deutlich, wie vor­aussetzungsreich moralische Rezeption tatsächlich ist – Zeit, Ort, die eigene Biographie sowie empathische Aufmerksamkeit sind nur einige Faktoren, die sich zu einem Wahrnehmungsakt synthetisieren. Das stellt gleichzeitig den wirkungsgeschichtlich prominenten Ansatz in Frage, Ethik rein rational, also unter Ausschluss jeglicher emotionaler Involviertheit, zu begründen. „Jetzt lassen wir unsere Gefühle einmal beiseite“ ist eine Forderung, die nicht nur die akademische Ethik, sondern auch die vermeintlich vernünftige alltägliche Auseinandersetzung kennzeichnet. Und sie ist sicher in aller Regel sinnvoll. Doch laut Johannes Fischer „können [wir] kein einziges moralisches Urteil und keine einzige moralische Entscheidung treffen, ohne dabei emotional involviert zu sein“ (Fischer 2012, S. 15). Auch die in der Parabel des Samariters herausgestellte Nächstenliebe konstituiert sich durch empathisches Mitleiden. Moralische Gründe und Urteile werden hier vorgestellt als Gründe und Urteile, die in der emotional-empathischen Nachvollziehbarkeit, also zeigend und nachempfindend, ihren hermeneutischen Startpunkt haben.

Für die Forderung des Einbezugs von Emotionen in den (akademischen) ethischen Erkenntnisprozess gibt es freilich prominente Beispiele. James Hal Cone (1938-2018), Mitbegründer schwarzer Befreiungstheologie in den USA, beginnt sein erstes Buch »Schwarze Theologie. Eine Interpretation der Black Power Bewegung« (1971[1969]) ganz bewusst provozierend emotional:

Dieses Buch ist darum mit einer ganz bestimmten Haltung geschrieben: mit der Haltung eines zornigen schwarzen Mannes, der angewidert ist von der Unterdrückung der Schwarzen in Amerika und von der akademischen Forderung, das doch »objektiv« zu betrachten. Zu viele sind gestorben, und zu viele stehen an der Schwelle des Todes“ (Cone 1971, S. 10).

Gewisse Missstände, bestimmtes notwendiges Zu-Tuendes würde nach Cone nicht erfahrbar in einer „leidenschaftslosen, unverbindlichen Debatte“ (ebd.), oder indem man es „verstandesgemäß […] mechanisiert“ (ebd., S. 21), sondern im engagierten Beteiligtsein innerhalb moralischer Praxis. Beeindruckend früh, nämlich 1967 – also weit vor dem sogenannten emotional turn der späten 1980er und 90er Jahre –, beschwört auch der afroamerikanische Menschenrechtler Kenneth B. Clark (1914-2005) das Erkenntnispotential empathisch-emotionaler Wahrnehmung für den akademischen Diskurs. Cone zitiert Clarks Buch »Schwarzes Getto«, in dem dieser behauptet, „es könnte in Wirklichkeit so sein, daß dort, wo grundlegende psychologische und moralische Fragen zur Debatte stehen, das Unbeteiligtsein und der Ausschluß gefühlsmäßiger Reaktionen weder besonders intelligent noch objektiv, sondern naiv sind und den Geist der Wissenschaft in seinem besten Kern kränken. Wo menschliche Gefühle Teil der Beweisführung sind, dürfen sie nicht unbeachtet bleiben. […] Wenn ein Wissenschaftler, der die Konzentrationslager der Nazis studierte, sich durch das vorkommende Beweismaterial nicht in Aufregung versetzt fühlte, so würde niemand sagen, er sei objektiv, sondern man würde vielmehr um seine geistige Gesundheit und sein moralisches Empfinden besorgt sein. Gefühle können ein Urteil verzerren, aber Gefühllosigkeit kann es noch mehr entstellen.“ (Clark 1967, S. 111, zit. nach Cone 1971, S. 10f.)

Nächste und Fremde

„Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat.(Lk 10, 36-37 Luther 2017; Hervorh. des Autors)

In der oben angeführten Frage nach den Voraussetzungen für Handlungsgründe entdeckt Bernard Williams in seinem Erstlingswerk »Der Begriff der Moral« (1972) die Ansatzpunkte „von denen wir die Moral gewissermaßen »in Bewegung setzen« können“ (Williams 1978, S. 18). Denn im empathischen Handlungsimpuls mit dem Nächsten – das Beispiel von Williams ist nicht ein barmherziger Samariter, sondern ein egozentrischer, amoralischer Schurke, wie er in alten Gangsterfilmen vorkommt; einer, der sich um nichts als sich selbst und seinen engsten Familienkreis, sein altes Mütterchen oder seine Freundin schert – stecke das Potential, jenes ursprüngliche Mitgefühl als handlungsleitenden Impuls auch auf den Fremden auszuweiten. Warum? Weil der Handelnde, wir haben es oben bereits geschrieben, eben bloß denkt „‘Der braucht Hilfe’ und nicht ‘Ich mag ihn, und er braucht Hilfe’“ (Williams 1978, S. 18). Das »Mögen« also ist für das Handeln zwar Horizont und Hintergrund, nicht aber Handlungsauslöser – das ist selbst bei einem amoralischen Schurken die benötigte Hilfe allein, ein im Mitgefühl erschlossener Fakt. Wenn der amoralische Schurke also kein Psychopath ist, liebt er seine wenigen Nächsten und handelt deshalb gut an ihnen. Von jenem bei Williams als anthropologische Grundkonstante beschriebenen Nahhorizont aus, innerhalb dessen wir unsere Nächsten aufgrund von Zuneigung empathisch wahrnehmen, wäre durch eine bestimmte ethische Bildungsanstrengung jenes empathisch-emotionale Vorstellungsvermögen auch auf den Fremden zu übertragen, weil auch dem Fremden gleiche oder ähnliche Leidensfähigkeiten wie dem alten Mütterchen oder der Freundin unterstellt werden muss.

Der Beginn moralischen Verstehens obliegt damit weniger dem „zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995, S. 52f.) als vielmehr wiederum dem „Und als er ihn sah, jammerte es ihn“. Erst dadurch werden potentiell zwingende moralische Argumente überhaupt sicht- und nachvollziehbar. Der Samariter wäre also im Williams’schen Verständnis schlicht weit im ethischen Bildungsprozess fortgeschritten: Trotz soziokultureller Differenzen erkennt er sich selbst »aus den Augen des Fremden« als Nächsten. Dieser Perspektivwechsel, der im Gleichnis selbst angesprochen ist, ist meines Erachtens zentral, weil er berühmte Kritikpunkte an Mitleidsethiken entkräftet (vgl. z.B. Nietzsches Verhöhnung der Schopenhauerschen Mitleidsethik als „beliebte und heiliggesprochene Theorie eines mystischen Processes […], vermöge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eines macht (Nietzsche 1971, S. 133, Hervorh. des Autors). Die neutestamentliche Parabel verlangt sogar mehr als der Ansatz der empathischen »Horizontdehnung« bei Bernard Williams. Jesus fragt den Gesetzeslehrer nach der Parabel nicht, wer der Figuren (Priester, Levit, Samariter) den Notleidenden im Mitleid als seinen Nächsten begriffen hat, sondern wer dem Notleidenden ein Nächster durch sein im Mitgefühl begründetes Handeln zum Nächsten „geworden ist“ (vgl. Lk 10, 36-37). Hier wird aus der Perspektive des unter die Räuber Gefallenen gefragt, nicht aus der des Samariters. Jesus fordert diese Blickrichtung in der Frage ein. Dadurch entsteht im Mitleiden ein Perspektivengewinn (nicht eine Perspektivenreduktion von zwei Wesen zu einem, wie Nietzsche meint), weil der Samariter, als zentrale Figur der Erzählung, sich selbst aus den Augen des Notleidenden als Nächster zu begreifen sucht und nicht in egoistischer Vereinnahmung des eigenen Mitleids den Notleidenden schlicht als seinen Nächsten bestimmt. Daraus erwachsen praktische friedensethische Konsequenzen…

Dieser Essay ist der erste Teil eines längeren Beitrags, der im kommenden Heft mit einem Text zu praktischen friedensethischen Konsequenzen fortgesetzt wird.

Anmerkungen

1) Emotion und Empathie sind wechselseitig aufeinander angewiesen, weshalb sie für den folgenden Gedankenschritt ebenfalls zusammengedacht werden: „Die funktionale Verbindung von Empathie und Emotion ist eng. Weil wir Emotionen haben, kann unser Erleben von anderen empathisch miterlebt werden. Weil wir Empathie haben, sind andere für uns als emotionale Wesen zugänglich“ (Breithaupt 2019, S. 209).

2) Der Beitrag basiert auf meinem ausführlicheren Aufsatz »‘Man muß mit menschlichen Gefühlen rechnen.‘ Zur Bedeutung von Emotion und Empathie im friedensethischen Nachdenken« im ersten gemeinsamen Sammelband des Friedensinstituts Freiburg und des Freiburger Instituts für Menschenrechtspädagogik (Harbeck-Pingel und Schwendemann 2022).

Literatur

Ammann, Ch. (2007): Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik (Forum Systematik, Bd. 26). Stuttgart: Kohlhammer.

Breithaupt, F. (2019): Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin: Suhrkamp.

Clark, K. B. (1967): Schwarzes Getto. Düsseldorf: Econ.

Cone, J. H. (1971 [1969]): Schwarze Theologie. Eine Interpretation der Black Power Bewegung. München: Chr. Kaiser Verlag.

Fischer, J. (2012): Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht. Stuttgart: Kohlhammer.

Habermas, J. (1995): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Harbeck-Pingel, B.; Schwendemann, W. (Hrsg.) (2022): Menschen Recht Frieden. Paderborn: V&R Unipress.

Nietzsche, F. (1971): Morgenröthe. Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Frühjahr 1881, Abt. 5, Bd. 1 d. Reihe: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York: De Gruyter.

Roth, M. (2019): Nichts als Illusion? Zur Realität der Moral. Stuttgart: Kohlhammer.

Williams, B. (1978) [1972]: Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik. Stuttgart: Reclam.

Zimmermann, R. (2007): Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10, 30-35. In: (Ders.) (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 538-555.

Konstantin Funk studierte evangelische Theologie, Religionslehre, Musik und Bildungswissenschaften in Mainz und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Friedens­instituts Freiburg an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Dort lehrt er in Sozialethik, Systematischer Theologie und Politischer Philosophie in verschiedenen Studiengängen.

Für wen oder was schreiben sie?

Für wen oder was schreiben sie?

Die Unzugänglichkeit der Friedensforschung

von Primitivo III Cabanes Ragandang

Wenn wir über die aktive Friedensforschung im Feld schreiben, wozu dient dies? Welchen Wert hat es für die Gemeinschaft(en), die unter der Abwesenheit von Frieden leiden? Schreiben wir für die reine Wissensproduktion? Welchen Nutzen können Gemeinschaften aus unseren Schriften ziehen? Diesen Fragen geht der vorliegende Artikel aus der Perspektive eines Friedensforschers nach, der sich in der Gemeinschaft engagiert und zum Wissenschaftler geworden ist.

Bevor ich mich der akademischen Welt zuwandte, arbeitete ich in Vollzeit in einer von Jugendlichen geleiteten gemeinnützigen Organisation, die sich für die Gewaltprävention in Mindanao auf den Philippinen einsetzt. Mindanao wird als die Heimat des zweit­ältesten Konflikts der Welt bezeichnet, eines Konfliktes, der sich um das Streben der islamisierten Moro-Stämme nach Selbstbestimmung dreht. Mein Interesse an der Friedensarbeit begann bereits während des Studiums, als ich mich in außerschulischen Friedensinitiativen engagierte, Hilfsgüter für die Evakuierten sammelte und Sitzungen zur Traumaheilung mit Jugendlichen und Kindern durchführte. Als Praktiker verstand ich die Friedensarbeit als ein direktes Engagement für die Gemeinschaft, insbesondere für diejenigen, die von langwierigen Konflikten betroffen sind.

Eines Tages sagte mir mein ehemaliger Professor, ich solle Zeit finden, um einen Master-Abschluss zu machen, denn „die Leute hören mehr auf Akademiker*innen als auf Praktiker*innen“. Später schloss ich einen Aufbaustudiengang ab und fand eine Stelle im akademischen Bereich, wo ich in Vollzeit als Assistenzprofessor in der Abteilung für Politikwissenschaften tätig bin. Da ich von einer Universität in Mindanao komme, folge ich einer Erkenntnisweise, die besagt, dass Friedens»forschung« genauso wichtig ist wie die Friedens»arbeit« in der Praxis mit der Gemeinschaft. Es ist für mich zu einer eingeprägten erkenntnistheoretischen Haltung geworden, die dem ähnelt, was Furlong und Marsh (2002) als „Haut, nicht Pullover“ beschrieben haben. Selbst in meiner neuen Rolle in der Wissenschaft ist diese erkenntnistheoretische Einstellung wie eine Haut, die sich nur schwer abstreifen lässt, da sie sich durch jahrelanges Friedensengagement vor Ort entwickelt hat.

Nach drei Jahren im akademischen Bereich erhielt ich ein Promotionsstipendium in Australien. Auf einer akademischen Konferenz, auf der ich meine Forschung als Friedenspraktiker vorstellte, wurde mir gesagt, ich solle in der Wissenschaft nicht zwei Hüte gleichzeitig tragen. Denn in der Wissenschaft zu sein bedeute, den Hut der Praktiker*in zurückzulassen. Ich wurde auch gebeten, von normativ geprägten Forschungsfragen abzusehen und einen Mittelweg in der Auseinandersetzung mit Theorien beizubehalten, was bedeutet, dass ich mich selbst nicht in meine Analyse einbeziehen sollte. Es fiel mir schwer zu verstehen, dass es 17 Revisionen meiner Forschungsfragen für meine Dissertation brauchte, bevor sie akademisch akzeptabel wurden. Dies war ein Wendepunkt für mich. Mir wurde klar, dass Wissenschaftler*innen leicht Zugang zum Feld der Praktiker*innen haben, um Daten zu sammeln, während es für einen Praktiker schwierig ist, Zugang zum Feld der Wissenschaftler*innen zu bekommen.

Bloße Beschreibung der Gemeinschaft, keine Intervention

In meiner Diplomarbeit im Grundstudium untersuchte ich einen indigenen Stamm im Hinterland in Nord-Mindanao. Nach den Interviews schenkte ich den Teilnehmer*innen Salz, getrockneten Fisch, einige alte Jeans und Hemden sowie Nudeln. Das war meine Art, mich bei ihnen zu bedanken, eine Praxis, die ich bei meiner Arbeit in einer gemeinnützigen Organisation gelernt hatte. Später erfuhr ich auf einer Reihe internationaler Konferenzen, dass das Geben von Geschenken an die Teilnehmer*innen als problematische Praxis angesehen wird, die gewisse ethische Dilemmata birgt (siehe Collins et al. 2017; Head 2009). Diese Ansicht war für mich jedoch rätselhaft. Warum sollten wir der Gemeinschaft, zu der wir vor der Datenerhebung eine Beziehung aufgebaut und die erforderlichen Rituale eingehalten haben, keine Geschenke machen? Wenn das Geben von Geschenken möglicherweise die Antworten der Teilnehmer*innen verändert, wie authentisch sind wir dann beim Aufbau einer Beziehung zu der Gemeinschaft, zu der wir Zugang haben?

Die Praktiker*innen bringen die Erfahrungen, die sie in der Praxis gesammelt haben, in das akademische Umfeld ein. Eine jahrzehntelange Erfahrung vor Ort ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Vorteil in der akademischen Welt. Vielmehr ist es für den*die Praktiker*in eine Herausforderung, sich an die wissenschaftlichen Standards anzupassen, die es oft erfordern, den Hut des*der Praktiker*in abzulegen. So ist beispielsweise die strategische Fallauswahl eine methodische Angelegenheit, da das Versäumnis, den ausgewählten Fall zu begründen, ein Grund für eine Verzerrung der Auswahl sein kann. Für eine*n Praktiker*in stellt sich die Frage der Voreingenommenheit nicht, wenn er*sie seinen*ihren eigenen Hinterhof untersucht, vor allem, wenn er*sie auf den Nutzen für die Gemeinschaft abzielt.

Die Praktiker*innen (und die Gemeinschaften, in denen sie tätig sind) werden zu Versuchstieren, deren Aktionen und Reaktionen bei der Arbeit vor Ort von den Wissenschaftler*innen beobachtet, interpretiert und diskutiert werden. Es gibt also eine Durchlässigkeit in der Welt der Praktiker*innen, aber kaum eine Durchlässigkeit auf der anderen Seite des Kontinuums.

Spivak (2004) beschrieb diese Form des Beobachtetwerdens als die Produktion einer zeitgenössischen Form der Subalternität: eine Umwandlung der Subalternität in eine Eigenschaft. Wissenschaftler*innen begeben sich ins Feld, holen als ethische Voraussetzung die Zustimmung ein, führen Interviews, kodieren Daten und veröffentlichen Ergebnisse, die auf ihrer Interpretation beruhen. Die Interpretation wird fortgesetzt, da die Wissenschaftler*innen eher dazu neigen, zu debattieren, als sich mit dem Problem zu befassen, von dem sie vor Ort erfahren haben. In diesem Fall werden die Gemeinschaft und der*die Praktiker*in zu einer Eigenschaft, auf die sich die Wissenschaft stützt, um Daten und Textinhalte zu produzieren. Die Beziehungen, die der*die Wissenschaftler*in während der Datenerhebung in der Gemeinschaft aufbaut, haben keinen greifbaren Nutzen für den Ort, an dem die Beziehungen aufgebaut werden. Dies steht im Einklang mit dem Argument von Todd (2016), dass in der Wissenschaft zwar Wissen geschaffen, legitimiert und reproduziert wird, dass es aber auch diese akademischen Strukturen sind, die die Verwirklichung von transformativen Zielen verhindern. In der Tat wird die Gemeinschaft manchmal gewarnt, keine Hilfe von einem Forschungsengagement zu erwarten, da es nicht in erster Linie darauf abziele, ihre Situation zu verbessern. Es dient nur zu Forschungszwecken.

Implikationen dieser Diskrepanz

Diese Herangehensweise und akademische Tradition der Wissensproduktion ist eine generationenübergreifend sedimentierte, tief verwurzelte Kultur. Sie lässt den Wissenschaftler*innen kaum Raum für eine direkte Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft. Die Starrheit dieser Tradition bleibt selbst dann bestehen, wenn dringende Probleme nicht aus der Ferne, sondern direkt vor der Haustür der Hochschulen und der umliegenden Gemeinschaften auftreten. Wenn diese Kultur in Frage gestellt wird, verteidigt sie sich mit dem Begriff der »Forschungsfreiheit«. Da die Kultur stärker ist als die Politik, wird ein bloßes Memorandum der Universität diese Kultur nicht ändern. Es wird Zeit brauchen, dies zu ändern, und der Globale Süden sollte die Führung übernehmen, wie es einige bereits getan haben.

Wenn wissenschaftliche Arbeiten hauptsächlich im Hinblick auf die Bedürfnisse und Ziele der politischen Entscheidungsträger*innen verfasst werden, bedeutet dies, dass wir die Hilfe bürokratisieren und unsere guten Absichten aufschieben, der Gemeinschaft helfen zu wollen. Ausgehend von den Rohdaten interpretieren die Wissenschaftler*innen diese und verfassen Ergebnisse, die dann von den politischen Entscheidungsträger*innen neu interpretiert und als Grundlage für die Ausarbeitung von Interventionsprogrammen verwendet werden. Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Programme dann die Gemeinschaft(en) erreichen, gibt es bereits eine nicht unerhebliche Interpretationslücke gegenüber der Zeit und der Bedeutung, als die Rohdaten von der Gemeinschaft gesammelt wurden. Dies führt zu Interventionsprogrammen, die manchmal nicht unbedingt den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Um solche prozessverzögerten Interventionen anzugehen, können die Wissenschaft und die Wissenschaftler*innen selbst den Rahmen dafür ändern, wie der aktuelle Prozess der Wissensproduktion aussieht und welche Rolle er bei der Herbeiführung eines progressiven Wandels in den Gemeinschaften spielen kann.

Da gesellschaftliche Probleme direkt vor der Haustür der Wissenschaftler*innen auftreten können, bedeutet dies, dass es eine moralische Verpflichtung ist, auf sie zu reagieren, und dies die dringende Aufmerksamkeit der Forscher*innen erfordert. In diesem Fall ist es angebracht, dass die Wissenschaftler*innen bei ihrer Friedensforschung stets die Gemeinschaft im Auge behalten. Natürlich ist die theoretische Forschung ebenso wichtig, aber ich behaupte, dass der Einsatz unserer wissenschaftlichen Arbeit zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mindestens ebenso wichtig ist. Es ist wichtig, am Ende eines jeden wissenschaftlichen Artikels einen Abschnitt mit Vorschlägen für eine Aktionsagenda zu geben, anstatt mit Argumenten zu enden, die die Punkte akademischer Debatten wiederholen. Eine solche Aktionsagenda sollte jedoch die Ansichten der Gemeinschaft einbeziehen und nicht nur die Ansichten der Forscher*innen.

Romantisierung des Wissenschaft-Aktivismus-Nexus?

In diesem Beitrag soll der »Vorteil« von Friedenspraktiker*innen beim Zutritt zur Friedensforschung (und zur akademischen Welt im Allgemeinen) nicht romantisiert werden. Ich erkenne die Herausforderung an, zwei Herren gleichzeitig zu dienen, und die potenziellen Risiken, wenn Wissenschaft und Aktivismus zusammenkommen. Zu diesen Risiken gehört, dass man zu sehr mit Forschung, Lehre und aktivistischer Arbeit beschäftigt ist, die zu den administrativen Aufgaben hinzukommen, die ein*e Akademiker*in normalerweise auch noch wahrnimmt. Letztendlich kann dies zu gesundheitlichen Risiken durch Burnout und zu zu wenig Ruhezeiten führen. Für einen Akademiker aus dem Globalen Süden, der in einem Konfliktgebiet lebt, ist dies eine noch größere Herausforderung, wenn die strukturelle Unterstützung geringer und die familiären Verpflichtungen größer sind.

Ich behaupte jedoch, dass im Zusammenhang mit der Hilfe für notleidende Gemeinschaften die Vorteile diese Risiken überwiegen. Die Verbindung von Wissenschaft und Aktivismus bietet uns eine neue Sichtweise und ein neues Instrumentarium zur Nutzung der Forschung, um Gemeinschaften in (Post-)Konfliktsituationen zu helfen (siehe Bracamonte, Boza und Poblete 2011; Ragandang 2020). Die Kombination beider Ansätze ist wirkungsvoller, als den einen über den anderen zu stellen. Mein Hauptargument ist, dass wir einen Paradigmenwechsel bei der Herangehensweise an die Forschung brauchen: weg von der reinen Wissensproduktion, hin zu einer Forschung, die mit einem proaktiven Engagement für die Gemeinschaft verbunden ist. Die Einbindung in die Gemeinschaft ist eine moralische Verpflichtung, die sicherstellt, dass die Disziplin auch in Zukunft für diejenigen Sinn ergibt, die am Rande der akademischen Türme stehen.

Solche Erwartungen gelten insbesondere für die Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus den (Post-)Konfliktkontexten des Globalen Südens: Wir sind in einer strategischen Position, um die Geschichte zu erzählen und die Sichtweise für die Menschen im Globalen Norden und darüber hinaus zu beschreiben. Wir sehen die Situation aus erster Hand oder leben mit der (Gewalt-)Situation, die wir in unserem täglichen Leben zu bewältigen versuchen.

Während ich diesen Artikel schreibe, flüstert der Subalterne in mir, dass ich nicht zu provokante Argumente nutzen sollte, die den Status Quo in Frage stellen. Das ist ein Tabu, vor dem mich meine Großmutter und unsere Kultur gewarnt haben. Aber ich denke, genau das ist der Zweck dieses Artikels (siehe Ragandang 2022) – also hoffe ich, dass mein subalternes Ich mich jetzt beruhigen wird. Angesichts der drängenden Probleme, mit denen (Post-)Konfliktgesellschaften konfrontiert sind, müssen Friedensforscher*innen ihre derzeitige Rolle in der Wissensproduktion unbedingt neu konfigurieren, damit ihre Präsenz für die Gemeinschaft einen Sinn ergibt. Wird diese Rolle nicht überdacht, vergrößert sich die Kluft zwischen Friedenspraktiker*innen und Friedenswissenschaftler*innen. Außerdem wird sich dann immer wieder die Frage stellen: „Für wen oder was schreiben sie denn?“

Literatur

Bracamonte, N. L.; Boza, A. S.; Poblete, T. O. (2011): From the seas to the streets: The Bajau in diaspora in the Philippines. International Proceedings of Economics Development and Research 20 (2011), S. 287-291.

Collins, A. B. et al. (2017): “We’re giving you something so we get something in return”: Perspectives on research participation and compensation among people living with HIV who use drugs. International Journal of Drug Policy 39, S. 92-98.

Head, E. (2009): The ethics and implications of paying participants in qualitative research. International Journal of Social Research Methodology 12(4), S. 335-344.

Marsh, D.; Furlong, P. (2002): A skin, not a sweater: ontology and epistemology in political science. In: Marsh, D.; Stoker, G. (Hrsg.): Theory and Methods in Political Science. Cham: Palgrave Macmillan, S. 17-41.

Ragandang, P. (2020): Youth as conflict managers. Peacebuilding of two youth-led non-profit organizations in Mindanao. Conflict Studies Quarterly 30, S. 87-106.

Ragandang, P. (2022): What are they writing for? Peace research as an impermeable metropole. Peacebuilding 10(3), S. 265-277.

Spivak, G. (2004): The trajectory of the subaltern in my work. Video, University of California Television, 8.2.2004.

Todd, Z. (2016): An indigenous feminist‘s take on the ontological turn:‘Ontology’ is just another word for colonialism. Journal of Historical Sociology 29(1), S. 4-22.

Primitivo III Cabanes Ragandang ist Doktorand an der Australian National University und erforscht die Rolle des kollektiven Gedächtnisses bei der Entstehung von generationenübergreifender Resilienz. Er ist der Gründer des »BHOLI Youth Centre« auf den Philippinen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.