Salamitaktiken der Militarisierung

Salamitaktiken der Militarisierung

Es ist nicht weniger als ein Paukenschlag: Nicht einmal 15 Jahre nach ihrer Aussetzung kehrt die Wehrpflicht zurück. Oder zumindest möchte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius das so. Beobachter*innen hatten lange davor gewarnt, dass es am Ende nur einen motivierten Minister brauche, um die Wehrpflicht zurückzubringen. Dass die Annäherung daran nun durch einen sozialdemokratischen Minister stattfindet, schmerzt manche umso mehr.

Was Boris Pistorius nun einführen möchte, lehnt sich an das »schwedische Modell« an – den Bundesgeschäftsführer der DFG-VK erinnerte das im Interview mit der taz eher an „Salamitaktik“: Es handelt sich zwar nicht um eine direkte Reaktivierung der Einberufung, wohl aber um einen verpflichtenden Fragebogen, den alle Schüler*innen erhalten, den aber nur die männlichen Schüler an das Rekrutierungsbüro zurückschicken müssen. Aus denen, die ihn ausgefüllt haben, wird eine gewisse Anzahl an Menschen zu einer ebenfalls verpflichtenden Musterung aufgefordert werden. Diese sollen „nach Eignung und Motivationfür einen sechsmonatigen Grundwehrdienst gewonnen werden, der um 17 Monate verlängert werden kann. Dies soll am Ende die »Bedarfslücken« von knapp 15.000 Rekrut*innen verkleinern – Lücken, die durch den Umbau von Führungsstruktur und verändertem Einsatzziel der Bundeswehr »zurück zur Landesverteidigung« entstehen. Aus militärischer Logik wird schon seit Jahren eine »zu kleine« Truppe beklagt und spätestens seit der Ausrufung der »Kriegstüchtigkeit« ist die Aufstockung auf knapp über 200.000 Soldat*innen zur Chefsache erklärt.

Es sollte auch nicht vergessen werden, in welchem Klima der Diskussion über Zwangsdienste dieser Vorstoß nun kommt: So lobte die Wehrbeauftragte des Bundestages ausdrücklich den inhaltlichen Vorschlag von Bundespräsident Steinmeier, der schon 2022 ein verpflichtendes Dienstjahr als »Gesellschaftsjahr« oder »soziale Pflichtzeit« gefordert gebracht hatte. Weitere Sozial- und Wehrpolitiker*innen erheben ähnliche Forderungen. Das Gesellschaftsjahr des Bundespräsidenten gibt sich scheinbar egalitär: Wer hier lebt sollte auch seinen Dienst für die Gesellschaft erbringen. Dies dann zur Verbesserung der Generationengerechtigkeit und auch noch geschlechtergerecht gestaltet für alle – wer könnte etwas dagegen haben?

Dies muss auf zweierlei Weisen problematisiert werden: Einmal ist es eine hilflose Antwort auf sich vertiefende Krisen in Sozial- und Pflegeberufen, zum anderen bedeutet ein Eingriff in das grundgesetzlich verankerte Zwangsdienstverbot einen tiefgreifenden Wandel in den Grundfesten unseres Miteinanders.

Dass Artikel 12 des Grundgesetzes zur Berufsfreiheit und gegen Zwangsdienste formuliert wurde, ist kein historischer Zufall, sondern zentraler Baustein einer freiheitlichen Grundordnung. Dass nun diejenigen, die die Sicherung dieser Grundordnung stets beschwören, einen ihrer Pfeiler einreißen wollen, sollte sorgenvoll stimmen. Es beruhigt nur halb, dass Jurist*innen betonen, dass ein solches Pflichtjahr nicht machbar ist – denn dies gilt nur solange, bis eine Mehrheit für die Grundgesetzänderung zusammen ist.

Eine solche allgemeine Dienstpflicht würde zum Zweiten die Fortsetzung einer Dauerprekarisierung der Sozialberufe mit sich bringen, da viele ungelernte Kräfte zu untragbaren Bedingungen »freiwillig« und »sozial« in ihrem Gesellschaftsjahr Leistungen von Fachkräften erbringen würden. Dies war schon zu Zeiten des Zivildienstes ein großes Problem. Beinahe ironisch klingen die immer lauter werdenden Rufe aus der Politik nach »Fachkräften«, wird doch so die hemmungslose Ausbeutung vor wachsenden Profitmargen bei den großen privaten Sozial- bzw. Pflegeorganisationen und Krankenhausträgergesellschaften quasi vorprogrammiert.

Diese Trends kritisch zu betrachten und zu begleiten ist dringend vonnöten, auch und gerade aus den Wissenschaften heraus. Wir meinen, dass das interdisziplinäre Forschungsfeld der Friedens- und Konfliktforschung dazu aufgerufen ist, der Zielrichtung eines gesellschaftlich tief verankerten Militarismus aktiv entgegenzutreten. Dies ist nicht weniger wichtig, nur weil dies im Vergleich zur zwischenzeitlich verkündeten Stationierung von Langstreckenwaffen in Deutschland beinahe schon wieder zur Marginalie zu werden droht (mehr dazu S. 4).

Die empirischen Beispiele für die negativen und gewaltvollen Folgen solcher Unternehmungen liegen auf der Hand. Ihnen ist eine Kritik und Alternative entgegenzustellen. Die vorgebliche »Notwendigkeit« eines Gesamtstruktur­umbaus der Bundeswehr mit höherem Personalbedarf ist zu hinterfragen. Die praktischen und diskursiven Folgen (volkswirtschaftliche Kosten, Rüstungsspiralen, gesellschaftliche Militarisierung u.a.) einer Wiedereinführung der Wehrpflicht sind deutlich herauszustellen. Die Gefahr der Vernachlässigung oder der Vereinnahmung ziviler Handlungsoptionen unter militärische Zielsetzungen ist – erst recht unter dem bis zur Unkenntlichkeit ausgedehnten Begriff der »integrierten Sicherheit« der Nationalen Sicherheitsstrategie – herauszustellen und für ihre Umkehr ist zu werben.

David Scheuing und Astrid Juckenack

Einfach nur: Zensur

Einfach nur: Zensur

Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Zeiten des Krieges

von Claudia Brunner1

Nicht nur rund um den Konflikt in Israel/Palästina herrschen öffentliche Sprechverbote und Denkgebote. Doch spätestens seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat das Diskreditieren, Intervenieren und Zensurieren unliebsamer Positionen eine neue Qualität und Quantität erreicht. In der im gleichen Atemzug beschworenen offenen Gesellschaft der liberalen Demokratie werden Intellektuelle und Akademiker*innen schnell zu deren Feind*innen erklärt, wenn sich ihre Worte nicht zur „Wissenschaft als Herrschaftsdienst“ (Pappé 2011) eignen.

Im August 2023 erreichte mich eine Anfrage von Deutschlandfunk Nova: Nach einer Hörer*innenbefragung des Wissenschaftspodcasts »Hörsaal« wünsche man sich einen Vortrag zum Thema »Epistemizid«, der organisierten und massenhaften Vernichtung von Wissen, die mit Genoziden und anderen gewaltförmigen Prozessen einhergeht. Selbst ein Fan von Podcasts, sagte ich gern zu und sprach, nach Vereinbarung eines Aufnahmetermins im Landesstudio Kärnten des ORF, Ende September über mein Forschungsthema »epistemische Gewalt«: zu einem nur imaginierten Publikum sowie einem realen Tontechniker, der sich angesichts des unverhofften Crashkurses in post- und dekolonialer feministischer Wissenschaftstheorie durchaus begeistert zeigte. Auf Wunsch einer Hörerin hatte ich die Problematik am Beispiel der sogenannten Hexenverbrennung illustriert, aber auch Bezüge zu anderen Genoziden und Epistemiziden im Verlauf des sogenannten »langen 16. Jahrhunderts« hergestellt und das Konzept der epistemischen Gewalt erklärt. Nach Ende des fast einstündigen Vortrags zeigte sich die akustisch anwesende Redakteurin sehr zufrieden. Ich selbst freute mich über ein – wie mir schien – gelungenes Experiment der Wissenschaftskommunikation und war neugierig auf das fertige Produkt sowie die Resonanz im virtuellen Hörsaal.

(Nicht) hören wollen und sollen

Mitte Oktober 2023 kontaktierte mich die Redakteurin in für mich überraschend reserviertem Ton betreffend die Veröffentlichung des Beitrags. Diese könne nämlich nur erfolgen, wenn ich der Streichung eines Satzes zustimmen würde.

Bei Vorträgen zu verwandten Themen entstehen stets interessante Diskussionen, und natürlich werden kritische Fragen zu Begriffen und Konzepten oder zur Forschungsperspektive und deren politischen Implikationen an mich gerichtet. Als Diskursforscherin ist mir auch durchaus bewusst, was Michel Foucaults »Räume des Sagbaren« bedeuteten, und als Feministin ist mir klar, welche Macht in Begriffen und Konzepten steckt. Bei der redaktionellen Bearbeitung von Publikationen wird bisweilen auch aus politischen Gründen um Formulierungen gerungen. Und selbst Erfahrungen mit Störaktionen bei Konferenzen und diffamierenden Rezensionen sind mir nicht fremd. Doch meine Worte faktisch zensuriert hatte in über 15 Jahren im universitär-akademischen Feld bislang noch niemand.

Da ich im Aufnahmestudio ohne schriftliches Manuskript frei gesprochen hatte, konnte ich mir keinen Reim darauf machen, welche konkrete Formulierung als der Öffentlichkeit dermaßen unzumutbar erachtet wurde, dass ich mich Wochen später von ihr nicht nur distanzieren, sondern ihrer Löschung zustimmen sollte. Also bat ich um die Zusendung der Transkription der als problematisch erachteten Passage.

Sprechverbote, Denkgebote

Es handelte sich um einen Satz, den ich so oder ähnlich schon unzählige Male verwendet und in dem meinen Vorträgen zugrunde liegenden Buch über epistemische Gewalt ausformuliert hatte (Brunner 2020, S. 39): Um den in der akademischen Fachdebatte gängigen Begriff der anhaltenden »Kolonialität« von jenem des historischen »Kolonialismus« abzugrenzen, verwies ich auch im Podcast auf den Historiker Robert Young. Er argumentiert, dass das politische System des Kolonialismus im Allgemeinen zwar als überwunden gelte, diese Lesart jedoch beispielsweise für Angehörige der First Nations in Nordamerika, für Sahrawis in der Westsahara oder für Palästinenser*innen in den von Israel besetzten Gebieten alles andere als plausibel sei (Young 2006, S. 3). Im Konjunktiv und als eines unter mehreren Beispielen hatte ich das vor allem im deutschsprachigen Raum scheinbar Unsagbare ausgesprochen: Israel und Kolonialismus.

Bereits vor dem 7. Oktober 2023 war es wenig opportun, faktisch Offensichtliches und analytisch Plausibles an- und auszusprechen, nämlich die völkerrechtswidrige Besatzung palästinensischer Gebiete. Bis dahin hätte ich mich als Autorin selbst für diese Feststellung rechtfertigen müssen – und können. Nunmehr meinte ausgerechnet die Redaktion eines multidisziplinären Wissenschaftspodcasts, die von ihnen selbst eingeladene – und gar nicht über Israel/Palästina sprechende – Vortragende aktiv zensurieren zu müssen, um nicht selbst die gefürchtetste aller Diskreditierungen auf sich zu ziehen: Antisemitismus.

Ich habe der Zensur nicht zugestimmt und mit offiziellen Dokumenten des Auswärtigen Amts und der Vereinten Nationen sowie mit einigen Verweisen auf die internationale akademische Fachdebatte geantwortet. Darin ist das vermeintliche Unwort »(Siedler-)Kolonialismus« ein analytischer Begriff, um den anhaltenden asymmetrischen Konflikt in Israel/Palästina angemessen zu verstehen.

Zwei Monate später wurde die Sendung schließlich doch noch – wie ich annehme, zähneknirschend – mit Verlinkung zu einem weiteren und diesbezüglich ambivalenzfreien Podcast veröffentlicht.

Unerwünschte Expertise

Massivere Auswirkungen hatte die zugespitzte »Begriffsverbotspolitik« in der Schweiz. Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Forschungseinrichtung »swisspeace«, hatte im vergangenen Herbst in einer Diskussionssendung des Schweizer Fernsehsenders SRF angemerkt, dass die seit Jahrzehnten im Raum stehende Zwei-Staaten-Lösung inzwischen wohl weder für Israel noch für die Palästinenser*innen eine realistische oder wünschenswerte Option sei. Daher wäre es doch angebracht, auch wieder über Modelle einer »Ein-Staaten-Lösung« nachzudenken, die in Forschung und Politik im Übrigen seit langem diskutiert wird. Alternativen zum Status quo zu debattieren halte ich für ein gutes Recht und auch eine sinnvolle Aufgabe der Wissenschaften, um systematisch Wege der Analyse und Transformation von territorialen Konflikten ausloten zu können.

Zu einem dieser Wege der Konfliktbearbeitung zählt die Beteiligung akademischer wie politischer Akteur*innen an Friedensprozessen vor allem auf nicht-öffentlichen diplomatischen Terrains. Um dies aus der Perspektive der neutralen Schweiz weiterhin gewährleisten zu können, ergänzte Goetschel, halte er auch nichts von der geforderten Einstufung der Hamas als terroristischer Organisation, mit deren Vertreter*innen dann nicht einmal gesprochen werden dürfe, und von deren Verbot in der Schweiz. Damit hatte der renommierte Friedensforscher offensichtlich gleich zwei rote Linien des nicht nur in Deutschland zur »Staatsräson« gewordenen, reflexartig pro-zionistischen öffentlichen Diskurses überschritten.

Es folgte eine mediale Schlammschlacht, und im Handumdrehen strich der Landrat des Kantons Basel-Landschaft die bereits vereinbarten Förderbeiträge an die von Goetschel geleitete schweizerische Friedensstiftung (Neue Zürcher Zeitung 2024).

(Un-)Freiheit der Lehre

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt übt sich derweilen die Leitung der Universität Wien in der Einschränkung der Freiheit von Wissenschaft und Lehre in Bezug auf eine multiperspektivische Betrachtung Palästinas und seiner Geschichte, Kultur und Gegenwart. So wurde der Professorin Birgit Englert, die mit ihrer Habilitation über eine an der Universität Wien erlangte Lehrbefugnis – und damit über das dort auch inhaltlich frei auszuübende Recht auf Lehre – verfügt, zu Beginn des Sommersemesters 2024 untersagt, eine Ringvorlesung zum Thema „Palästina in globalen Zusammenhängen. Über Mobilitäten, Solidaritäten und Erinnerungskulturen“ in der von ihr, gemeinsam mit ihrer Kollegin Maya Rinderer, geplanten Form abzuhalten (Statement 2024a). Bereits eine Woche nach Ankündigung im Lehrveranstaltungsverzeichnis hatten sich über 50 Studierende für die Ringvorlesung angemeldet, bei der elf weitere Kolleg*innen zum Thema sprechen sollten.

Über Nacht verschwand das schon online einsehbare Vortragsprogramm von der Website der Universität Wien. Ohne öffentliche Rechtfertigung wurde von der langjährigen Mitarbeiterin der Universität Wien verlangt, zwei palästinensische Vortragende sowie ihre jüdische Co-Organisatorin aufgrund ihrer Beziehung zum antizionistischen jüdischen Kollektiv »Judeobolschewiener*innen« auszuladen. Weiters wurde gefordert, die Zahl der Teilnehmenden im Sinne eines geschlossenen Formats zu reduzieren sowie die sorgfältig geplante Ringvorlesung in kürzester Zeit auf ein Lektüre-Format umzubauen – und somit eine (universitäts-)öffentliche Debatte zu verhindern.

Da sich die Organisatorinnen ebenso wie beteiligte Vortragende gegen diesen unerhörten Eingriff in die Freiheit der Lehre und die Ausladung ihrer Kolleg*innen aussprachen, wurde die Lehrveranstaltung tatsächlich abgesagt. Ebenso beunruhigend wie das autoritäre Vorgehen des Rektorats, exekutiert durch die Vizerektorin für Lehre, scheint mir das weitgehende öffentliche Stillschweigen im Umfeld der beteiligten Institute an der Philosophisch-Kulturwissenschaftlichen sowie der Fakultät für Sozialwissenschaften. Vielen schien es, so mein Eindruck, nur um den »Sonderfall Israel/Palästina« zu gehen, zu dem man sich derzeit nicht unbedingt äußern möchte, und nicht um den deutlich sichtbar werdenden grundlegenden Eingriff in die Freiheit von Wissenschaft und Lehre.

Kurze Zeit später ergriffen auch Student*innen der Universität Wien das Wort und formulierten ein Protestschreiben (Statement 2024b), in dem nicht nur das jüngste Geschehen am Institut für Afrikawissenschaften öffentlich kritisiert wurde. Auch die durch das Rektorat verhinderte öffentliche Vortragsreihe „Against the Present: Past and Future Perspectives on Palestine (Statement 2023), die Kolleg*innen vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie gemeinsam mit der Central European University (CEU) im vergangenen Wintersemester veranstalten wollten, wurde von den Student*innen aufgegriffen. Dem Institut war die Co-Organisation der mit etablierten internationalen Akademiker*innen besetzten Vortragsreihe und die Nutzung von Räumen der Universität Wien untersagt worden, und die Ankündigung – zeitgleich mit einem allgemeinen Statement zur Lage in Israel/Palästina – ebenfalls über Nacht von der Website genommen.

Die an der Organisation beteiligten Kolleg*innen und nunmehr alleinigen Gastgeber*innen an der CEU staunten nicht schlecht, war ihrer politisch unliebsamen Universität doch erst vor wenigen Jahren von Viktor Orbáns Regierung die Verlängerung der Akkreditierung in Ungarn verweigert worden, weshalb sie heute am Standort Wien tätig sind. Vorgestern Gender Studies und Asylpolitik, gestern Ukraine, heute Palästina. An welchem Thema wird sich die inzwischen eingeübte Kultur des Diskreditierens, Intervenierens und Zensurierens als nächstes manifestieren?

Opportunismus und Repression

Wer sich mit Israel/Palästina beschäftigt, weiß schon lange Bescheid über die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Zeiten des Krieges. Wenn selbst liberale und linke Stimmen sich als Sprachrohr des ultra-rechten israelischen Kriegskabinetts verstehen und Antisemitismusvorwürfe zur Waffe gegen dissidente Positionen gemacht werden – selbst gegen regierungskritische Israelis und anti-zionistische Juden und Jüdinnen in aller Welt –, wird (nicht nur) Friedensforschung und Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, bewusst verunmöglicht. Aber auch wer in den letzten beiden Jahren beobachtet hat, wie selbst auf vermeintlich ergebnisoffenem und differenzierungskompetentem wissenschaftlichem Terrain über den Krieg in der Ukraine gesprochen werden kann, darf und soll, musste ähnliche Phänomene zur Kenntnis nehmen. Die Verengung der Diskursräume sowie die sich selbst an einzelnen Begriffen verdichtenden Sprechverbote und Denkgebote, die sich in immer drastischeren Formen auch im akademischen und universitären Feld in den liberalen Demokratien Deutschland, Österreich und der Schweiz breit machen, sind mehr als nur anlassbezogen beunruhigend.

Je weniger Widerspruch gegen autoritärer werdende (Diskurs-)Politiken wir artikulieren, und je vereinzelter wir uns dabei wähnen, umso wirksamer internalisieren wir die sich verschiebenden Grenzen des (Un-)Sagbaren in unseren Köpfen. Damit werden wir zu Gehilf*innen der vermeintlich alternativlosen Kriegslogik, der spätestens seit der Ausrufung der »Zeitenwende« selbst an Universitäten, Hochschulen und Akademien nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Denken und Empfinden untergeordnet werden soll.

Das ebenso freche wie kluge Känguru von Marc-Uwe Kling würde angesichts dieser Entwicklungen wohl von „Opportunismus und Repression“ sprechen (Kling 2009, o. S.) – und sich mit seinen roten Boxhandschuhen an den Kopf greifen.

Anmerkung

1) Danke an Helmut Krieger und die genannten Kolleg*innen für den Austausch zu dieser Thematik.

Literatur

Brunner, C. (2023): Epistemische Gewalt. Die Vernichtung von Wissen. In: Hörsaal – der Wissenschaftspodcast, Deutschlandfunk Nova, 15.12.2023.

Brunner, C. (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.

Goetschel, L. (im Interview mit Häsler, G.) (2024): Das kommt einem politischen Maulkorb für die Wissenschaft gleich. Neue Zürcher Zeitung, 4.1.2024.

Kling, M.-U. (2009): Die Känguru-Chroniken. Berlin: Ullstein.

Pappé, I. (2011): Wissenschaft als Herrschaftsdienst. Der Kampf und die akademische Freiheit in ­Israel. Hamburg: Laika.

Statement (2023): Letter in Protest of University of Vienna‘s Cancellation of Events on Palestine and Further Censorship. Online abrufbar unter: is.gd/letter_in_protest_vienna_2023.

Statement (2024a): Statement in Protest of the Removal of the »Palestine in Global Contexts« Lecture Course at the University of Vienna. Online abrufbar unter: afrika.univie.ac.at/ueber-uns/rassismuskritische-ag/proteste.

Statement (2024b): Petition zur Beendigung von Zensuren an der Universität und Wiedereinstellung von Kursen über Palästina in unseren Lehrgängen. Online abrufbar unter: is.gd/­petition_lectures_palestine.

Young, R. (2006): Postcolonialism. An Historical Introduction. Malden/Oxford/Carlton: Blackwell.

Claudia Brunner ist Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung, Universität Klagenfurt. Zu Person und Arbeitsschwerpunkten siehe www.epistemicviolence.info.

Nachgefragt: Friedenslogik in Israel-Palästina?

Nachgefragt: Friedenslogik in Israel-Palästina?

Melanie Hussak und David Scheuing im Gespräch mit Vertreter*innen der Stiftung »die schwelle«, der Nahostkommission von Pax Christi sowie dem Regional­koordinator der KURVE Wustrow in Palästina/Israel.

In diesen Tagen wird von Organisationen der Friedensarbeit vielfach eine „Friedenslogik für Israel und Palästina“ gefordert – doch was bedeutet das? Bewusstes friedenslogisches Handeln in Zeiten eskalierter Gewalt ist keine einfache Aufgabe. Denn Friedenslogik ist voraussetzungsvoll1: Sie nimmt die Problematisierung der Gewalt zum Anlass, nicht die Bedrohung durch den*die Gegner*in; sie versucht sich an dialogorientierten, zivilen Konfliktinterventionen, nicht an militärischer Verteidigung und Abschreckung; sie richtet sich an gemeinsamen Interessen und international etablierten Normen aus, nicht an partikularen Interessen; sie etabliert Selbstreflexion, nicht Selbstbestätigung ohne Selbstkritik.
W&F hat drei Friedensorganisationen zu ihrer Arbeit vor Ort befragt. Ein Gespräch über Haltungen, Prinzipien, eigene Betroffenheit und den Umgang mit »shrinking spaces«.

W&F: Frau Klasing, Herr Rossi D’Ambrosio, Frau Rösch-Metzler, angesichts der Gewalteskalation in Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg in Gaza stellt sich für viele in der Öffentlichkeit ganz unmittelbar die Frage, wie Frieden in dieser Situation, aber auch generell in Israel und Palästina hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Ihre jeweiligen Organisationen arbeiten seit vielen Jahren mit Partnerorganisationen friedenspolitisch in der Region. Wie wollen Sie mit Ihrer Arbeit beziehungsweise der Arbeit der Partnerorganisationen Frieden näherkommen?

Anette Klasing – »die schwelle«: »Die schwelle« als Friedensstiftung arbeitet zweigleisig. Zum einen machen wir Öffentlichkeitsarbeit für unsere Projekte und für unsere Friedensarbeit in Deutschland. Auf der anderen Seite sind unsere Partner, in diesem Fall seit einigen Jahren in Israel/Palästina die »Combatants for Peace«, vor Ort mit vielfältigen Aktivitäten und Programmen tätig. Unsere Stiftung wirkt mit der Öffentlichkeitsarbeit in Politik und Gesellschaft hinein, beispielsweise durch Veranstaltungen. Wichtig sind die Aktivitäten der Partner vor Ort. »Combatants for Peace« sind auch in Deutschland sehr bekannt geworden, gerade nach dem 7. Oktober. Viele Veranstaltungsformate haben Rotem Levin und Osama Illiwat in fast alle Großstädte in Deutschland geführt.

Ein wichtiges Projekt der letzten Jahre war die sogenannte »Freedom School«, die auch mit Mitteln der Europäischen Union unterstützt wurde. Die »Freedom School« hat über drei Jahre Jugendliche auf der israelischen wie auf der palästinensischen Seite durch Trainings und Seminare ausgebildet. Zunächst unilateral, das heißt israelische und palästinensische Jugendliche durchliefen getrennt die Trainings. Im weiteren Verlauf des Trainingsprogramms gab es dann gemeinsame Trainings in gewaltfreier Kommunikation, gewaltfreier Konfliktbearbeitung und der Frage des gewaltfreien Widerstands. Drei Themenbereiche, die in diesen Trainingsprogrammen hervorragend gelaufen sind. Vor dem 7. Oktober haben wir mit Rana Salman ein Gespräch geführt über die »Freedom School«. Sie war damals so froh, dass es gelungen war, Jugendliche aus der Region Nablus und Jenin für die Freedom School zu erreichen. Denn im Norden der Westbank, in Nablus und Jenin, hatte es in den letzten Monaten vor dem 7. Oktober eine durchaus aufgeladene, gewaltbereite Stimmung und Situation gegeben – verschiedenste militante Gruppen hatten sich in der Region gebildet und »Combatants for Peace« war es wichtig, auch junge Menschen dort für ihre Arbeit zu erreichen.

Das ist natürlich nur ein Ausschnitt. International bekannt geworden sind die »Joint Memorial Ceremonies«, die in den letzten Jahren in Tel Aviv stattfanden, teilweise mit Übertragungen nach Ramallah oder auch Beit Jala. Die Gedenkfeiern haben den Grundgedanken der Anerkennung der Narrative und der Opfer auf beiden Seiten, die Anerkennung der Verluste. Ich war im April 2023 bei der Gedenkfeier zu Gast und ich habe lebhaft in Erinnerung, dass die stellvertretende Direktorin der Tel Aviv Universität eine großartige Rede hielt, in der sie die israelische Gesellschaft aufforderte, das Leid der palästinensischen Bevölkerung anzuerkennen. Gesellschaft und Politik müssten anerkennen, dass es die Nakba gegeben habe und auch die Folgen sehen. Also diese großen Zeremonien, die der Opfer beider Seiten gedenken, das ist ein ganz wichtiges Moment der Arbeit unserer Partner.

Eine dritte Säule sind die humanitären und politischen Hilfen, wie die Wasserversorgung in den Beduinendörfern oder der Wiederaufbau von zerstörten Häusern. Beim letzten Besuch waren wir in einem Beduinendorf im Jordantal, wo die Partner einen Kindergarten und eine Schule wieder aufgebaut hatten, die vorher von der Armee zerstört worden waren. Diese konkreten humanitären und friedenspolitischen Hilfen sind ebenfalls ein wichtiges Instrument.

Wiltrud Rösch-Metzler – Nahostkommission Pax Christi: Pax Christi setzt sich dafür ein, dass die Menschenrechte und das Völkerrecht zuerst die wesentlichen Elemente sind, die eingehalten werden müssen. Wir sind überzeugt, dass das ein erster Schritt ist, wie man Konflikte reduzieren kann. Als Zweites setzen wir uns ein für ein Ende der Besatzung, zusammen mit unseren Partnern vor Ort. Wir setzen uns ein für gewaltfreie Konfliktlösungen – allerdings ist es schwierig, hier in der deutschen Gesellschaft nun die gewaltfreien Konfliktlösungen, die von Palästinenser*innen entwickelt wurden, zur Sprache zu bringen, es wird einem schnell Antisemitismus vorgeworfen. Drittens setzen wir uns für eine israelisch-palästinensische Verständigung ein – wir möchten, dass unsere christlichen Brüder und Schwestern aus Palästina hier ein Gesicht haben und dass sie hier beteiligt werden am christlich-jüdischen Dialog.

Dario Rossi D’Ambrosio – KURVE Wustrow Regionalkoordinator: In Palästina/Israel arbeiten wir im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes mit sechs Partnerorganisationen zusammen. Die vier schon länger etablierten Partnerschaften bestehen mit dem Frauenkollektiv in Al-Walajah, das ist ein von der Mauer umgebenes Dorf zwischen Jerusalem und Bethlehem. Dann arbeiten wir mit »Youth of Sumud« zusammen, einem Jugendkollektiv an der Basis. Drittens arbeiten wir mit dem »Human Rights Defenders Fund«, einer israelischen NGO, in der sowohl Palästinenser*innen als auch Israelis zusammenarbeiten. Und viertens mit »Zochrot«, einer israelischen NGO mit Sitz in Jaffa, ebenfalls mit gemischtem Personal. Unsere Arbeit ist die Unterstützung der Partner, wir haben keine eigene Arbeit in der Region. Die Ansätze der Partnerorganisationen sind unterschiedlich. Die Konzentration auf Graswurzelaktivismus für Gewaltfreiheit und für eine gewaltfreie Lösung des Konflikts ist der gemeinsame Nenner der Arbeit. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen den palästinensischen Partnern, die nicht einmal NGOs sind, sondern nur Gruppen von Aktivist*innen. Deren Hauptpriorität ist die Beendigung der Besatzung und die Erlangung der Selbstbestimmung als Palästinenser*innen. Das heißt in der täglichen Praxis, die Landnahme und die gewaltsame Vertreibung von palästinensischen Gemeinschaften als ersten Schritt zu stoppen. Denn ohne diesen Schutz gibt es keine Palästinenser*innen und kein palästinensisches Land mehr. Das ist also die Grundlage und Voraussetzung für jede Art von Verhandlungslösung oder politischer Lösung des Konflikts, der im Wesentlichen ein Konflikt um Land ist. Das ist jetzt sehr verkürzt, aber es ist der Kern des Problems.

Aus der Perspektive der israelischen Partner ist es ein bisschen anders. »Human Rights Defenders Fund«, zum Beispiel, konzentrieren sich stark auf die Menschenrechte als universelle Werte. Ihr Schwerpunkt liegt vor allem auf der Unterstützung von Menschenrechtsverteidiger*innen. »Human Rights Defenders Fund« arbeiten nur auf der israelischen Seite, sie verteidigen also Menschenrechtsverteidiger*innen »nur« vor israelischen Behörden und Gerichten. Ihr Hauptansatz ist die juristische Ausbildung und Rechtshilfe für Menschenrechtsverteidiger*innen. Bei »Zochrot« ist der Ansatz ein bisschen anders, weil es mehr um Bildung geht. Ich würde es zwar nicht Friedensbildung nennen, es ist mehr soziale oder historische Bildung. Der Schwerpunkt liegt auf dem Rückkehrrecht der Palästinenser*innen. Sie versuchen aber nicht nur über die Vergangenheit aufzuklären, sondern auch Bildungsarbeit über die mögliche Zukunft von Palästinenser*innen und Israelis zu machen.

Zusammengefasst reicht die Arbeit unserer Partner*innen also von Graswurzel­aktivismus gegen die Besatzung, über Sumud, also Standhaftigkeit auf dem Land, bis hin zu mehr pädagogischem und politischem Engagement für das Recht auf Rückkehr, was offensichtlich auch ein sehr heikles Thema ist, sowohl in Israel als auch in Europa.

W&F: Wie sieht die Friedensarbeit jetzt konkret inmitten des Kriegs aus? Wie können Sie oder Ihre Partnerorganisationen inmitten der Gewalteskalation zur Deeskalation beitragen und weitere Eskalation verhindern?

Rösch-Metzler: Zum einen arbeiten wir hier in Deutschland, indem wir Druck auf die Bundesregierung ausüben. Und jetzt, nach sechs Monaten Krieg, war es möglich, dass auch die Bundesregierung für einen Waffenstillstand eintritt. Das ist ein erster Schritt, so etwas zu erreichen. Diese Druckarbeit braucht sehr viel Kraft und Zeit in Deutschland. Wir machen auch Advocacyarbeit im Parlament und bei Regierungsstellen mit unseren Partnern aus Israel und Palästina. Wir suchen auch hier in Deutschland Bündnisse zu schmieden – wer vor sechs Monaten noch für einen Waffenstillstand eingetreten ist, der ist oft angegangen worden, geschmäht worden, diffamiert worden. Inzwischen kann man sagen, dass die internationale Gemeinschaft sich darauf verständigt hat, dass das notwendig ist in Gaza. Aber daran sieht man eben auch, wie lange es braucht. Man muss durchhalten, man muss auf der Straße sein. Und Reisen von unseren Partnern hier nach Deutschland ermöglichen.

Sehr wichtig ist uns auch, dass wir in einem internationalen Programm vom Weltkirchenrat tätig sind. Das ist das »Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel«, wo unsere Leute vor Ort mit den Hirten oder mit den Schulkindern mitgehen und durch ihre Präsenz dafür sorgen, dass sie nicht von Siedler*innen angegriffen werden, um die Situation einigermaßen erträglich für die Palästinenser*innen zu machen.

W&F: In den letzten Monaten vor dem Angriff der Hamas gab es auch eine große Staatskrise in Israel. Wie berichten denn Ihre Partnerorganisationen darüber? Wie hat sich in der Zwischenzeit die Friedensarbeit verändert und gab es mehr Druck auf Friedensarbeitende?

Klasing: Ja, bei den »Combatants for Peace« hat sich die Friedensarbeit deutlich verändert. Nicht vom Grundsatz und von der Haltung her – all diejenigen, mit denen wir gesprochen haben in den letzten Monaten, treten ganz entschieden weiter gemeinsam für eine gewaltfreie Transformation und für eine gerechte Friedenslösung ein. Aber konkret »on the ground« hat sich die Arbeit natürlich sehr verändert. Man muss zunächst sagen, dass unsere Partner*innen auf beiden Seiten Verluste zu beklagen haben, tatsächlich auch Menschen getötet worden sind, ihr Leben gelassen haben durch diesen Krieg. Das macht was, natürlich auch mit den Menschen der Friedensorganisationen. Wir haben absolut Respekt, dass gerade diejenigen, die direkt betroffen sind von Tod und Gewalt, so entschieden sind, aus ihrer Haltung heraus weiter mit der jeweiligen anderen Seite zu arbeiten. Ich konnte teilweise bei Webinaren dabei sein, bei denen es darum ging, sich auszutauschen, zuzuhören, ganz konkrete Erfahrungen des Verlusts und des Todes zu schildern und zu hören. Das ging sehr nah und gleichzeitig haben auch diese betroffenen Personen immer wieder bekräftigt, wie wichtig ihnen eine gewaltfreie Konfliktlösung ist. Dass sie gesagt haben: „Es geht gar nicht anders, wir müssen alles dafür tun, dass diese Gewalt sofort stoppt und dass wir wieder in die Verhandlung eintreten.“ Diese Gespräche des Zuhörens und Sprechens waren und sind ein unglaublich wichtiges Instrument im Moment.

Die grenzübergreifenden Treffen sind derzeit sehr schwierig. Ich weiß aus Bethlehem, dass das Militär selbst bis nach Bethlehem hinein dafür sorgt, dass auch Treffen innerhalb der eigenen Communities kaum noch möglich sind. So weit geht im Moment die militärische Intervention auch in kleinen Städten wie Bethlehem. Das ist der eine Punkt, an dem sich die Arbeit sehr deutlich und konkret geändert hat, weil die Bedingungen einfach gar nicht mehr zulassen.

Daher waren auch Rotem und Osama von »Combatants for Peace« viele Monate bei uns in Deutschland. Sie haben immer wieder gesagt: „Wir müssen den Diskurs in Deutschland auch mit unseren Geschichten, Narrativen und Perspektiven ändern.“ Obwohl wir als Stiftung eigentlich nicht viel mit Schul- und Bildungsarbeit zu tun haben, wurden wir mehrfach von Schulen angesprochen. Wir haben vor Weihnachten mit Rotem und Osama, und jetzt auch ohne sie, Workshops in Schulen durchgeführt, weil die Lehrkräfte sehr überfordert schienen und darum gebeten haben, durch externe Unterstützung all die aufgeladenen emotionalen Atmosphären, die zu Polarisierungen geführt haben, aufzubrechen und in Gespräche zu kommen. Ich habe gerade vorletzte Woche einen wunderbaren Workshop gemacht in einem Schulzentrum mit Jugendlichen, die sich klasse vorbereitet haben mit exzellenten Fragen. Die Jugendlichen waren am Ende sehr froh und haben gesagt: „Mensch, wir konnten ja alles sagen.“ Es waren viele junge Frauen mit libanesischer Migrationsbiographie in der Schule, die sagten: „Wir haben uns nicht getraut, vorher zu sprechen. Aber wir konnten in dem Workshop das sagen, was uns durch den Kopf geht und was uns im Magen liegt.“ Das ist ein wichtiger Auftrag, den wir auch zu leisten haben und auch leisten können.

Rossi D’Ambrosio: Bevor ich direkt auf die Frage antworte, will ich noch etwas ergänzen. Die KURVE Wustrow arbeitet nicht in Gaza. Von dem, was ich von der Situation vor Ort verstanden habe, ist die Situation jenseits des Vorstellbaren. Es geht vor allem um: Sofortigen Waffenstillstand, humanitäre Hilfe und sofortige und bedingungslose Freilassung aller Geiseln. Ich glaube nicht, dass es darüber hinaus noch etwas zu sagen gibt.

Das hängt nun natürlich auch mit den Ansätzen sowohl in Israel als auch im Westjordanland zusammen. Das ist sehr wichtig – es geht auch aus dem hervor, was Wiltrud und Annette vorhin gesagt haben – nämlich, dass Krieg keinen Unterschied zwischen Menschen macht. Es geht also offensichtlich um den Verlust auf beiden Seiten. Es scheint irgendwie trivial, aber – wenn wir mal für einen Moment die systematische Asymmetrie und das Ungleichgewicht außer Acht lassen – die Art der Ereignisse haben bewiesen, dass es am Ende des Tages für beide Seiten und für jeden auf beiden Seiten Verluste gibt.

Um auf die konkrete Frage und auf unsere Partner einzugehen: Auch wenn wir uns alle über den längeren Konflikt und systemische Probleme bewusst waren, die wir gemeinsam mit unseren Partnern seit Jahren anzugehen versuchen, schien es nun in den Medien so, als sei dieser Krieg plötzlich ausgebrochen, und das hatte einen Effekt auf die Menschen und hat viele stärker polarisiert als vorher. Diese Polarisierung in der Gesellschaft im Allgemeinen und in beiden Gesellschaften, wenn man sie denn bei aller Komplexität in zwei unterteilen will, hat den Raum für die Zivilgesellschaft schrumpfen lassen. Das geht schleichend schon seit Jahrzehnten so, würde ich sagen, aber nun nochmal deutlicher. Jede friedliche oder zur friedlichen Lösung aufrufende Handlung, das Sprechen über Menschenrechtsverletzungen, das Sprechen über antimilitaristische Positionen, Kriegsdienstverweigerung usw. − also die ganze Palette der gewaltfreien Mittel und Ansätze zur Konfliktbewältigung sind mit Unterdrückung konfrontiert. Das ist die Art und Weise, wie dieser »shrinking space« entsteht. Das passiert sowohl in Israel, im Westjordanland als auch in Europa, leider. Und besonders in Deutschland.

Was also mit unseren Partnern passiert ist: Sie haben sich auf sehr grundlegende Dinge konzentriert, um weiterzumachen. Diese allgemeine Polarisierung führte dazu, dass sich die Menschen zurückgezogen haben und versuchten, auf sich selbst aufzupassen und trotzdem Räume für den Dialog offen zu halten. Es ging dabei wirklich um die Grundbedürfnisse, sowohl die materiellen als auch die psychologischen Bedürfnisse der Aktivist*innen selbst und der Gemeinschaften, die aufgrund der Polarisierung der Gesellschaften und auch der autoritären Diskurse auf politischer Ebene mit zunehmender Gewalt konfrontiert wurden. Es gab also so etwas wie einen Rückzug oder ein Zurückweichen, weil der Druck zunahm. Die Reaktion war also: „Wir sollten versuchen, uns um uns selbst und unsere Aktivist*innengemeinschaften zu kümmern, um weitermachen zu können und immer noch zu Waffenstillstand, Frieden und Gewaltfreiheit usw. aufrufen zu können“. Es ist eine Art von heroischer Sichtweise von Friedensaktivist*innen, wenn man meint, dass sie vor allem in Zeiten der Eskalation »an der Front« sind und für ihre Anliegen kämpfen. Es ist nicht wirklich so, denn jede*r ist betroffen und besonders Friedensaktivist*innen sind meistens verschiedentlich betroffen.

Rösch-Metzler: Ich wollte gerne aufbauend auf Dario noch etwas sagen zum »shrinking space«, vor allem in Deutschland. Das ist teilweise unglaublich: Die Evangelische Akademie Frankfurt hatte auch Rotem und Osama von den »Combatants for Peace« eingeladen, hatte die Veranstaltung aufgezeichnet – und hat diese Aufzeichnung dann wieder aus dem Netz genommen, weil sie irgendwie kritisiert wurden, dass das antisemitisch sei, was dort passiert. Nur um zu illustrieren, wie schwer es ist, gewaltfreien Widerstand hier in Deutschland auch zu Wort kommen zu lassen.

W&F: Da Sie alle diese Dimension des »shrinking space« und auch die Herausforderung, sich auf einer der beiden Seiten des Konflikts positionieren oder solidarisch zeigen zu müssen, angerissen haben: Wie gehen Ihre Organisationen mit dieser Form um, »doppelt« herausgefordert zu sein – dass sie einerseits immer wieder aufgefordert werden, sich zu positionieren, und andererseits sich auch positionieren wollen?

Rossi D’Ambrosio: Die KURVE Wustrow muss sich nicht so sehr mit dieser Positionierungsfrage beschäftigen, wir können uns auf unsere Unterstützungsarbeit konzentrieren. In gewisser Weise denke ich, dass es ziemlich einfach ist: Ich glaube nicht, dass unsere Partner komplexe oder versteckte Absichten oder Positionen haben. Ich denke, es ist ziemlich klar und sogar öffentlich, was ihre Positionierung ist. Ich möchte jetzt nicht künstlich zwischen den Kontexten unterscheiden, denn auch das ist problematisch, aber offensichtlich geht es jetzt gerade in Gaza darum, eine akzeptable Situation für alle Menschen zu schaffen. Es geht also um humanitäre Grundsätze. Es geht nicht darum, dass wir nicht über Frieden oder Friedensaufbau in der Zukunft sprechen können. Es geht um die Sicherstellung menschlicher Grundbedürfnisse und im weiteren Kontext um die Grundprinzipien des Völkerrechts. Ich glaube nicht, dass es kompliziert ist. Ich denke, dass diese Anliegen, wie unser Partner »Human Rights Defenders Fund« feststellt, über Flaggen und Nationen hinausgehen. Es geht also nicht darum, Palästinenser*in oder Israeli zu sein oder um einen bestimmten nationalen Kampf. Es geht um den Schutz der Zivilbevölkerung, Punkt. Es geht nicht um palästinensische Zivilist*innen. Es geht nicht um israelische Zivilist*innen. Das ist nicht der Punkt. Es ist eine universelle Frage.

Ich glaube nicht, dass unsere Partner ein Problem damit haben, sich zu positionieren, es sei denn, es herrscht ein Klima der Kriminalisierung und der »shrinking spaces«. Denn das ist in Israel schon ein Problem, dass es eine Kriminalisierung von Friedensaktivismus gibt – beispielsweise wird Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen immer noch kriminalisiert. Der »Human Rights Defenders Fund« versucht Kriegsdienstverweigerer*innen rechtliche Hilfe und Repräsentation anzubieten. Ein Problem, das ich infolge des Ausbruchs des Konflikts und der Polarisierung der Gesellschaften schon sehen würde, ist, dass es viele Menschen gab, die vielleicht über die Besatzung sprachen oder versuchten, die Zusammenhänge auf komplexere Weise zu verstehen, die sich dann aber wegen des Ausbruchs der Gewalt zurückzogen und in ihre Komfortzone zurückkehrten und sagten: Ah, okay. Ihr wisst schon, wir gegen sie. Es gibt keinen anderen Weg.“ Es gibt also weniger Einwände gegen den Militärdienst. Das ist zum Beispiel eine der Folgen der Eskalation. Ich verstehe dieses Positionierungsproblem nicht als ein Problem mit der Arbeit und der Positionierung der Organisation selbst, sondern dass sie die Konsequenzen in der Gesellschaft sehen können; dass es immer schwieriger für die Menschen wird, wie sie diese moralische Dimension navigieren können, in der sie eigentlich kritisch darüber nachdenken wollen, was die Armee tut und in diesem emotionalen Zustand »wir gegen sie« ihre jeweilige individuelle Position finden müssen.

Klasing: Was ich sehr deutlich wahrgenommen habe in dem Gespräch mit unseren Partnern zum Thema „Wie kann man eigentlich in diesem so gewalttätigen Konflikt jetzt noch Gespräche aufrechterhalten? Wie können wir eigentlich noch Menschen erreichen?“ ist, dass diese Gespräche in den Webinaren wichtig sind, um auch die emotionalen Belastungen aufzufangen, diese besprechbar und bearbeitbar zu machen. Interessant fand ich auch im Gespräch mit Rotem in Deutschland, dass er sagte, dass man jetzt in der Lage sein muss, es aushalten zu können, angegriffen zu werden. Er wurde häufiger auf Veranstaltungen angesprochen, nach dem Motto: „Wie, du bist Israeli, du musst doch jetzt ein bisschen auch mal die Politik deines Staates vertreten.“ Die Grundüberzeugung, dass der Krieg und diese Gewalt ein falscher Weg ist, das bringt schon Gegenwind mit sich. Rotem sagte: „Ich bin Pazifist, ich nehme kein Gewehr in die Hand“.

Dieses Aushalten von Angriffen kann dann auch mal innerfamiliär zum Tragen kommen. Er hat von Konflikten berichtet, z.B. dass sein Zwillingsbruder sich genau anders verhalten hat, sich sofort nach dem 7. Oktober freiwillig gemeldet hat und dann zur Armee in den Gazastreifen gegangen ist zum Kämpfen. Dies innerhalb einer Familie aushalten zu können und nicht komplett den Bruch herbeizuführen, ist schwer. Das ist auch noch mal ein ganz anderes »Aushalten müssen« als das, was wir bei uns erleben.

Selbstverständlich hören wir als »schwelle« immer wieder: „Auf welcher Seite steht ihr denn?“ Oder: „Seid ihr mehr für die israelische oder mehr für die palästinensische Seite und Perspektive?“ Bei unserer letzten Ausstellungseröffnung »Inhabitated Spaces«, bei der viele Fotos von Kindern und Jugendlichen aus Gaza von vor dem 7. Oktober gezeigt wurden, war das Interesse auch der Medien sehr groß. Die erste Frage, die ich bekam im Interview, war dann: „Warum zeigen Sie denn hier nicht die israelische Seite?“ Natürlich kann ich erklären, dass eine Ausstellung, die schon vor dem 7. Oktober geplant wurde und das Leben von Kindern und Jugendlichen in Gaza zeigen will, nicht bedeutet, dass wir uns nicht interessieren für das, was auf der israelischen Seite los ist. Dass es nicht automatisch bedeuten muss, parallel eine Ausstellung von Bildern von Kindern und Jugendlichen im israelischen Alltag zu zeigen.

Zurück zu der Frage, wie wir mit dieser Anforderung umgehen, sich positionieren zu müssen, will ich noch sagen – und das haben ja auch Dario und Wiltrud sehr deutlich zum Ausdruck gebracht – dass wir uns für die Menschenrechte, für ein Leben in Würde und für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Aus dieser Perspektive heraus gehen wir an diese Instrumente, die wir einsetzen, ran. Aber ich denke trotz alledem, dass das, was unsere Kolleg*innen vor Ort aushalten müssen, um ein Vielfaches schwieriger ist als das, was wir an Anforderung tragen und ertragen müssen.

Rösch-Metzler: Für Pax Christi ist diese Positionierung sehr wichtig. Wir tun das in öffentlichen Stellungnahmen. Klar ist: Wir sind gegen Krieg. Und wir sind für internationales Recht. Das heißt, wir betrachten das Leid, das durch Krieg und Kriegsverbrechen auftritt. Und so positionieren wir uns auch. Jetzt haben wir uns zuletzt eingesetzt für die UNRWA, für das Flüchtlingshilfswerk der Palästinenser*innen, damit die Hilfe in Gaza eben nicht gestoppt wird, die Zuschüsse der Bundesregierung für die UNRWA nicht gestoppt werden, wie sie es beschlossen hat. Da haben wir uns zum Beispiel sehr klar positioniert.

Und wenn man so schlimme Gewalt beobachtet, dann geht es ja vielen Menschen so, dass es sie umtreibt, dass sie was tun möchten. Deshalb ist es auch wichtig, Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen. Da haben wir zum Beispiel beim Weltgebetstag der Frauen eine ganz kleine Aktion gestartet, dass man eine Unterschriftenaktion macht an die Außenministerin für einen Waffenstillstand. Es haben sehr viele Frauen unterschrieben, einfach normale Frauen, denen das auch nachgeht, dass immer weiter bombardiert wird, dass Gaza vor einer Hungersnot steht. Ja, Beteiligungsmöglichkeiten schaffen ist ein wichtiger Punkt, finde ich.

Rossi D’Ambrosio: Einen kurzen Punkt zum Thema »Defunding« möchte ich einbringen, da du, Wiltrud, es erwähnt hast – es hat mich an die Finanzierung der Zivilgesellschaft denken lassen. Das ist offensichtlich eines der wichtigsten Phänomene des »shrinking space«. Wenn die Akteure vor Ort keine extremistischen Positionen einfordern, sondern für Menschenrechte und internationales Recht und Aufruf zum Frieden und all die Werte, die in der Theorie alle europäischen Staaten auch teilen, eintreten – dann können wir eine deutliche Spannung feststellen zwischen den erklärten Werten der europäischen Staaten und der Art und Weise, wie und wen sie in verschiedenen Kontexten finanzieren. Wenn man sich anschaut, wie viele Mittel für Militärhilfe ausgegeben werden und nicht für Friedensinitiativen oder gewaltfreie Initiativen oder zivilgesellschaftliche Arbeit usw. Ich meine, wenn wir auf Zahlen schauen, dann wird schnell klar werden, dass schon die Kosten für nur einen einzigen Kampfjet bereits die zur Verfügung stehenden Geldmittel aller zivilgesellschaftlichen Organisationen übersteigen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Wir reden hier also nicht über die gleichen Dinge oder über die gleiche Fähigkeitsausstattung. Was ich sagen will, ist, dass man die strukturelle Ebene betrachten muss und dann geht es um den Möglichkeitsraum der Zivilgesellschaft. Wenn dieser Raum schrumpft und man nicht über die Dinge reden kann, wie kann man dann die Staaten beeinflussen? Das ist eine Art Kurzschluss. Deshalb ist diese Debatte über den »shrinking space« so wichtig. Denn letztendlich geht es um die internationale Verantwortung und wie man internationales Recht durchsetzen kann. Dabei geht es ganz allgemein um Staaten in ihrem Umgang mit einem anderen Staat. Es geht nicht um Israel oder Palästina. Es geht um etwas Allgemeines. Es geht um das internationale multilaterale System, das auf diesem System basiert. Wenn es keine internationale Rechenschaft gibt, die Menschenrechts-NGOs einfordern können, wie soll man dann das internationale Recht durchsetzen?

W&F: Sie alle können auf umfangreiche Erfahrungen in der Friedensarbeit in Konflikt- und Gewaltsituationen zurückgreifen. Wie fließen diese Lernerfahrungen in Ihre aktuelle Arbeit in dieser Gewaltsituation ein?

Rossi D’Ambrosio: Ich denke, es ist eine sehr einfache Antwort in dem Sinne, dass unsere Partner, mit denen wir im Zivilen Friedensdienst zusammenarbeiten, sich in Zeiten der Eskalation auf das Wesentliche besonnen haben – und sie konnten aus der Vergangenheit lernen, zum Beispiel der »Human Rights Defenders Fund«. Sie sind zum Beispiel auf juristische Schulungen bzw. Rechtshilfe für Aktivist*innen spezialisiert. In Zeiten der Eskalation kam es zu einer Zunahme der Repression und des Autoritarismus, d.h. der Unterdrückung von Menschenrechtsverteidiger*innen, was wiederum bedeutete, dass die Anfragen nach Trainings zunahmen, weil die Leute Angst hatten, was mit ihnen passieren würde. Da »Human Rights Defenders Fund« bereits über jahrelange Erfahrung mit Trainings verfügt und weiß, wie man sich gegenüber den Behörden verhält, wie man sich selbst schützen kann usw., konnten sie die Erfahrungen der vergangenen Jahre nutzen.

Das Gleiche gilt zum Beispiel für »Zochrot«. Auch das Friedenslager in Israel hat Verluste erlebt. Die Leute waren persönlich betroffen, sie hatten Freund*innen, die sie verloren haben, usw. Und dann ist es natürlich eine Sache, als Palästinenser*in oder Israeli mit dem anderen zu arbeiten, der*die seit Jahren dein*e Kolleg*in war, aber dann ist er oder sie plötzlich Teil der »anderen Gruppe«. Das ist dann eine sehr komplizierte Situation. Aber sie gingen zurück zu den Grundlagen und haben sich ausgetauscht, darüber geredet und sich wieder auf ihre Gemeinschaft und auf das Wissen verlassen, das sie in den letzten Jahrzehnten produziert haben.

Bei den palästinensischen Partnern ist es eine ähnliche Erfahrung. Natürlich sind die Grundlagen insofern anders, als es bei ihnen zu physischen Aggressionen und Übergriffen durch das israelische Militär und die Siedler*innen kam. In dieser Hinsicht ist es also eine ganz andere Erfahrung. So mussten sie einen Schritt zurücktreten und sich sammeln. Denn offensichtlich wurde die Überwachung der Menschenrechtslage und die Dokumentation sogar gefährlich. Also begannen sie, mehr humanitäre Arbeit zu leisten. Aber weil sie bereits in der Vergangenheit in ihren Gemeinden Erfahrungen gesammelt hatten – und das ist die Stärke des Graswurzelaktivismus, weil man in der Gemeinde gut verankert ist, Verbindungen hat usw. – konnten sie mehr für die Grundbedürfnisse wie Lebensmittelkörbe und Spenden bereitstellen.

Klasing: Wenn ich in die Stiftung »schwelle« hineinschaue, muss ich sagen, dass wir uns beginnend mit dem Krieg in der Ukraine, also schon im Frühjahr 2022, sehr viel Zeit genommen haben im Kuratorium und im Freundeskreis unserer Stiftung, um zu sprechen. Denn damals schon haben wir massive Erfahrungen gemacht mit Angriffen von außen, auch weil wir unser Prinzip der Gewaltfreiheit weiter aufrechterhalten haben. Wir haben anderthalb Jahre lang um Positionen gerungen, bis es uns gelungen ist, ein gemeinsames Selbstverständnispapier zu entwickeln. Das haben wir in den letzten Monaten angeschaut und uns gefragt: „Was ist von diesen Grundannahmen und Grundeinstellungen genauso wichtig, wenn wir auf diesen Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza schauen? Was sind für uns grundsätzliche Positionen, die wir auf jeden Fall beibehalten? Wo müssen wir auch Dinge noch mal modifizieren?“ Das heißt, wir haben uns mit den Essentials der Friedensarbeit beschäftigt und sehr viel diskutiert, wie schon lange nicht mehr in der Stiftung.

Was unsere Partner und die Frage nach Evaluationen betrifft: Für sie bedeutet die Frage der Cross Border Arbeit noch mal eine ganz andere Herausforderung in Zeiten des Angriffs auch aus den eigenen Gesellschaften. Also der Begriff »Verräter*in« kommt immer wieder auf beiden Seiten vor und beide Partnerseiten haben damit zu tun, dass sie auch massivst angegriffen werden. Gerade die Frage – die vor dem 7. Oktober immer virulent war – um die Normalisierung von Beziehungen, die in der palästinensischen Gesellschaft zutiefst kritisch angeschaut wurde, bei der sich viele unserer Partner immer auch erklären mussten, warum Friedensarbeit nur mit dem »Feind« auf der anderen Seite geht: hier gibt es selbstkritische Evaluationsprozesse. Da ist die Arbeit in der eigenen Zivilgesellschaft ebenso wichtig.

W&F: Frau Klasing, eine Rückfrage: Sie haben gesagt, in der Stiftung sei viel diskutiert worden. Was war denn das Ergebnis der Diskussionen? War es eine Bestärkung der bisherigen Arbeit oder kamen neue Aspekte hinzu?

Klasing: Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine gab es durchaus auch kleine, feine Nuancen der Änderung, also bspw. im Hinblick auf die Frage des Selbstverteidigungsrechts. Im Hinblick auf unsere Diskussion über Israel und Palästina würde ich sagen, dass das Kuratorium einhellig der Meinung ist, dass das, was Israel als Selbstverteidigungsrecht beschreibt – also, dass der Krieg Selbstverteidigung gegen die Hamas sei – keiner von uns mitträgt. Da sind wir schon sehr einig miteinander, dass das, was Israel dort angerichtet hat und immer noch anrichtet, weit über Selbstverteidigung hinausgeht. Es kann nicht sein, dass man kollektiv tötet, wenn man die Hamas-Attentäter finden will – da muss man schon völkerrechtliche Instrumente und Rechtswege beschreiten. Wir sehen das auch bei uns in Europa, dass in bestimmten Zusammenhängen – ich denke da z.B. an Frankreich – mittlerweile bei Attentaten gezielt getötet wird. Dieses gezielte Töten sofort »on the spot« scheint um sich zu greifen. Wir sagen, dass rechtliche und völkerrechtliche Standards auf jeden Fall gesichert werden müssen. Und dass es nicht sein kann, dass Staaten sich darüber hinwegsetzen.

W&F: Herr Rossi D’Ambrosio, Frau Klasing, Frau Rösch-Metzler, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Anmerkung

1) »Friedenslogik« als ein zu füllendes Handlungskonzept wird maßgeblich von Prof.in Dr.in Hanne-Margret Birckenbach entwickelt und über die AG Friedenslogik der PZKB vorangebracht. Siehe dazu: pzkb.de/friedenslogik. Bei W&F ist auch ein ausführliches Dossier erschienen, Dossier 75 »Friedenslogik statt Sicherheitslogik« (Beilage zu W&F 2/2014).

Israel-Gaza jenseits des Genozid-Begriffs

Israel-Gaza jenseits des Genozid-Begriffs

Massengewalt gegen Zivilist*innen jetzt beenden

von Hanna Pfeifer, Irene Weipert-Fenner und Timothy Williams

Deutsche Debatten über den Israel-Gaza-Krieg verfangen sich oft in polarisierenden Begrifflichkeiten. Das gilt insbesondere für den Streit um das Vorliegen eines Genozids. Abgesehen von der juristischen Einschätzung, die derzeit der Internationale Gerichtshof vornimmt, lenkt eine parallel laufende, polemische Diskussion um den Völkermordbegriff von den eigentlichen Handlungsprioritäten ab. Der Krieg kostete schon Zehntausende das Leben, noch viel mehr Palästinenser*innen werden an direkten und indirekten Kriegsfolgen sterben. Die Massengewalt gegen Zivilist*innen und der Entzug von Lebensgrundlagen in Gaza müssen sofort beendet werden – unabhängig davon, ob juristisch die Bedingungen für einen Genozid erfüllt sind.

Ein halbes Jahr nach den Anschlägen der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit den bis heute anhaltenden Geiselnahmen und der daraufhin begonnen israelischen Militäroffensive im Gaza-Streifen machen es die Strukturen des deutschen Kriegsdiskurses (vgl. Pfeifer und Weipert-Fenner 2023) schwer, eine angemessene sprachliche Form für begangene und mögliche Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen aller Parteien zu finden. Besonders viel politische Sprengkraft birgt in diesem Zusammenhang der Vorwurf des Genozids – vor allem, wenn er gegen Israel erhoben wird, und gerade, wenn er in Deutschland in den Raum gestellt wird.

Hier überlagern sich unterschiedliche, tradierte Motive von Exzeptionalismus: der Holocaust als Urtyp des Völkermordes, der nicht mit anderen Arten der Gewalt zu vergleichen sei; die deutsche Schuld, aus der sich eine besondere Verpflichtung zur Verteidigung Israels als „sicherem Ort für Jüdinnen und Juden“ ableite.

Die Möglichkeit eines Völkermordes durch den israelischen Staat wird im deutschen Diskurs (dazu Gunkel 2023) mal kategorisch ausgeschlossen, mal mit einem Verweis auf die genozidalen Züge der Hamas-Anschläge abgewehrt (vgl. Bundesregierung 2024; Steinke 2023). Manchmal provoziert der Vorwurf des Genozids auch eine Art „lautes Schweigen“ (Bax 2024) – sei es als Strategie, das totzuschweigen, was nicht sein darf; sei es als Ausdruck des Unbehagens vor dem Hintergrund der historischen Schuld Deutschlands (vgl. Berins 2024); sei es aus einem empfundenen Mangel an Urteilsvermögen bezogen auf einen undurchdringlichen Konflikt und aus der Angst, in dieser aufgeladenen Frage das Falsche zu sagen.

Angemahnt wird, die Lehren aus der deutschen Geschichte müssten in ihrer Universalität begriffen werden und Anwendung finden (vgl. Krell 2023). Das deutsche „Nie wieder!“ müsse sich grundsätzlich auf die schlimmsten Formen von Gewalt gegen Menschen beziehen (Bax 2023). Wenn aber auf Demonstrationen oder bei kulturellen Großereignissen in Deutschland gefordert wird: „Genozid in Gaza stoppen!“, dann steht schnell der Vorwurf des Antisemitismus im Raum.

In solchen Fällen löst die Verwendung des Begriffs »Genozid« eine Polarisierung in zwei Lager aus und führt in der Folge zum Diskursabbruch (Grimm 2024). Weil Genozid aber als »Verbrechen aller Verbrechen« oder als das ultimativ Böse gilt, sind die Anreize entsprechend hoch, sein Vorliegen zu beweisen – oder es zu bestreiten.

Das Einzigartige des Völker­mords: Die genozidale Intention

Es steht auch deshalb viel auf dem Spiel, weil die Feststellung eines Genozids, im Gegensatz zu anderen Gewaltakten, juristisch ein Eingreifen der Staatengemeinschaft nach sich zieht. Auf dieser Grundlage hat Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wegen Völkermords Klage gegen Israel eingereicht. Der IGH ordnete daraufhin sechs vorläufige Maßnahmen an, die Israel ergreifen muss, um einen möglichen Völkermord zu verhindern (IGH 2024), die nur unzureichend umgesetzt und Ende März um weitere Maßnahmen ergänzt wurden (Keitner 2024).

Völkermord ist laut der Konvention der Vereinten Nationen eine Handlung, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Derlei Zerstörung kann sich nicht nur durch das aktive Töten einer Gruppe vollziehen, sondern unter anderem auch durch das Zufügen körperlicher und psychischer Schäden oder den Entzug von Lebensgrundlagen. Das zentrale Unterscheidungsmerkmal zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen ist hierbei die Intention zur Zerstörung einer Gruppe. Gleichzeitig ist genau dieses Charakteristikum der Gewalt am schwersten nachzuweisen.

Ob in der israelischen Kriegsführung ein Völkermord vorliegt, hängt also wesentlich von der Bewertung einer genozidalen Intention ab. In der südafrikanischen Klage standen entsprechend Aussagen ranghoher israelischer Regierungsmitglieder im Fokus, um auf eine Zerstörungsabsicht zu schließen – so etwa der Aufruf des israelischen Premierministers an sein Staatsvolk, es möge nicht vergessen, was die Amalekiter*innen ihnen angetan hätten (vgl. IGH 2023). Laut heiliger Schrift forderte Gott die Israeliten zur Ausrottung dieses Volkes auf. Und wenn Netanyahu auch abgestritten hat, dass er damit eine völkermörderische Absicht gegenüber den Palästinenser*innen zum Ausdruck gebracht habe, sind derartige und ähnliche Aussagen unter politischen Entscheidungsträger*innen und Militärs keine Ausnahmeerscheinung mehr (Law for Palestine 2024). So beschloss der IGH, dass der israelische Staat Maßnahmen zu ergreifen hat, die direkte und öffentliche Anstiftung zum Genozid zu verhindern und zu bestrafen.

Ob auf kollektiver Ebene eine genozidale Absicht vorherrscht, wird das Gericht weiter untersuchen. Diese Untersuchung wird aber möglicherweise noch Jahre dauern. Trotzdem bleibt der Begriff der Fluchtpunkt breiter Debatten in Deutschland (und anderswo) – gerade so, als könne nur mit ihm ein für alle Mal festgestellt werden, ob Israels Massengewalt gegen Zivilist*innen illegitim sei oder nicht (Klingst 2024).

Massengewalt jenseits der Intentionsfrage: Entgrenzung und Eskalation

Die Forschung zu Massengewalt auch jenseits des Genozids weist auf Mechanismen hin, durch die sich eine diskursive Entgrenzung in eine entgrenzte Gewaltausübung und eskalation übersetzt. Eine solche Entgrenzung beobachten wir auch bezogen auf den Gaza-Krieg. So ist für das humanitäre Völkerrecht die Unterscheidung zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen zentral. Zugleich bieten unübersichtliche Kriegskontexte die Gefahr, den verbrieften Schutz von nicht kämpfenden Zivilist*innen zu konterkarieren (vgl. Bachman 2020). Ein Beispiel für derartige diskursive wie militärische Entgrenzungen ist die Aussage von Israels Staatspräsident Isaac Herzog schon zu Beginn des Krieges, es gäbe keine unschuldigen Zivilist*innen in Gaza (vgl. Blumenthal 2023).

Diskursive Entgrenzungen operieren mit kollektivierenden Zuschreibungen (Moses 2021). Ganze Gruppen von Menschen werden als „gefährlich“ oder „schuldig“ ausgewiesen und zur generellen Sicherheitsbedrohung stilisiert. Manchmal endet derlei rhetorische Eskalation im Absprechen von Menschsein. So bezeichnete der israelische Verteidigungsminister Palästinenser*innen als„menschliche Tiere (Hawari 2023). Eine solche Entmenschlichung trägt nach bestehenden Erkenntnissen auch dazu bei, die Vernichtung der Gruppe als legitim anzusehen – oder die massenhafte Tötung von deren Mitgliedern mindestens in Kauf zu nehmen (Hagan und Rymond-Richmond 2008).

Angesichts des Ausmaßes der Gewalt im Gazastreifen ist davon auszugehen, dass die diskursiven Entgrenzungen auch im vorliegenden Fall zur Gewalteskalation gegenüber der Zivilbevölkerung beigetragen haben. Ohne dass Zahlen die Bedeutung des Verlusts eines jeden individuellen Lebens repräsentieren könnten, überwältigt dieses Ausmaß – auch im Verhältnis zu anderen Kriegen im Namen der militärischen Terrorismusbekämpfung (vgl. Costs of War Project 2023). In den vergangenen fünf Monaten wurden durch die israelischen Militäroperationen im Gazastreifen über 33.000 Menschen getötet, also rund 1,4 % der dort lebenden Bevölkerung (OCHAOPT 2024).

Seit Kriegsbeginn befinden sich unter den getöteten Palästinenser*innen mehr als 60 % Zivilist*innen (vgl. Levy 2023). Die Quote von zwei zivilen Todesopfern auf einen getöteten Kombattanten entspricht auch den offiziellen Auskünften des israelischen Militärs und wird von dieser Seite sogar als „außerordentlich positiv“ (Bland 2024) bewertet.

Der Entzug von Lebensgrundlagen und die indirekten Folgen des Krieges

Dabei sind die Toten durch diesen Krieg noch lange nicht gezählt, selbst wenn ein Waffenstillstand jetzt einsetzen würde. Denn auch der Entzug von Lebensgrundlagen führt in den sicheren massenhaften Tod von Zivilist*innen jenseits direkter Kampfhandlungen (vgl. Tanielian 2024). Im Rahmen von Studien über den »global war on terror« wurde ermittelt, dass 80 % der Toten durch solche indirekten Kriegsfolgen zu beklagen sind (Savell 2023). Die Grundlage für ein solches Massensterben im Zuge des Krieges hat Israel auch im Gazastreifen geschaffen.

Bereits über 85 % der Bevölkerung sind wegen der Kampfhandlungen aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben worden (UN SC 2024). Im Januar 2024 waren mehr als 60 % der Gebäude im Gazastreifen stark beschädigt oder zerstört (Palumbo et al. 2024). Von der tödlichen Zerstörung ist auch die allgemeine Infrastruktur betroffen. Die wirtschaftliche Existenzgrundlage, die Lebensmittelversorgung, die öffentliche Verwaltung, Bildung, die medizinische Grundversorgung – all das kann nicht mehr gewährleistet werden.

Mehr als 76.000 Einwohner*innen des Gazastreifens haben Verwundungen davongetragen (vgl. OCHAOPT 2024). Ihre Versorgung ist angesichts des zusammengebrochenen Gesundheitssystems, zerstörter Krankenhäuser und des Mangels an Medikamenten und Materialien kaum mehr möglich (vgl. Ärzte ohne Grenzen 2024). Überproportional betroffen von diesen Folgen sind Ältere sowie wiederum Frauen und Kinder. Schwerwiegende Komplikationen ergeben sich bei Schwangerschaften und bei der Versorgung von Neugeborenen und ihren Müttern.

Weil die ohnehin hürdenreiche Lieferung von Hilfsgütern in die Kampfzone von Israel regelmäßig verhindert wird, herrscht Mangel an Wasser, Treibstoff und Nahrung. 93 % der Menschen hungern (WHO 2023). Die extreme Beschränkung von Hilfsgütern, die sich direkt nach dem IGH-Urteil sogar kurzzeitig weiter verschärfte, wird inzwischen auch von der EU als Einsatz von Hunger als Kriegswaffe bewertet (Gregory 2024; Wildangel 2024).

Für ein sofortiges Ende der Gewalt und direkte, massive humanitäre Hilfe

Wir stellen fest: Es sind schon viel zu viele unschuldige Frauen, Kinder und Männer im Gazastreifen durch Kampfhandlungen zu Tode gekommen, ein massiver Anstieg der Todeszahlen durch weitere Gewalteskalation und die überlebensfeindlichen Bedingungen im Gazastreifen ist zu befürchten.

Ob der IGH die israelische Gewalt als Völkermord einordnen wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Für einen konsequenten diskursiven, diplomatischen und politischen Einsatz für ein sofortiges Ende der Gewalt sowie für die Durchsetzung direkter und massiver humanitärer Hilfe ist das auch unerheblich.

Die Bundesregierung muss alle Anstrengungen darauf richten und ihr ganzes politisches Gewicht zusammen mit ihren Verbündeten einsetzen, um die massive Gewalt gegen Zivilist*innen und den Entzug der Lebensgrundlagen in Gaza unverzüglich zu beenden. Ganz unabhängig davon, wie diese Gewalt bezeichnet wird.

Diese leicht aktualisierte Fassung des Textes erschien zuerst am 21.3.2024 auf dem PRIF-Blog des Leibniz-Instituts »Peace Research Institute Frankfurt« (ehem. HSFK). Wir danken den Autor*innen für das Einverständnis zum Wiederabdruck.

Literatur

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WHO (2023): Lethal combination of hunger and disease to lead to more deaths in Gaza. Statement, 21.12.2023.

Wildangel, R. (2024): Hunger als Kriegswaffe. IPG-Journal, 6.3.2024.

Hanna Pfeifer ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Radikalisierungs- und Gewaltforschung beim PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung und der Goethe-Universität Frankfurt.
Irene Weipert-Fenner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Forschungsgruppenkoordinatorin beim PRIF.
Timothy Williams ist Juniorprofessor für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung an der Universität der Bundeswehr München.

Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

von Korassi Téwéché

Wie lässt sich nach den Gräueln des Kolonialismus über Frieden sprechen? Dieser Text diskutiert die Hypothese, dass die Voraussetzung für eine echte Emanzipation des postkolonialen Subjekts die Transzendenz1 des Historizismus ist. Mit dem Ansatz der organischen Philosophie und des Afroplanetarismus wird diese neue Art und Weise vorgestellt, die individuelle und kollektive Existenz des Menschen auf einer neuen Grundlage, d.h. jenseits des Einzelfaktors Geschichte zu verstehen und positiv zu gestalten.

Eine kritische Analyse der zeitgenössischen philosophischen Reflexionen über »Krieg« und »Frieden« in der Welt und insbesondere in Afrika zeigt eine ständige Bezugnahme auf die Kolonialgeschichte (vgl. Mbembe 2017; Mamdani 2020). Dies basiert auf der Annahme, dass die heutigen Konflikte im Bereich der internationalen Beziehungen ein Abbild der Kolonialkriege von gestern seien (Mamdani 1996, 2003; Henderson und Singer 2020). Im Folgenden argumentiere ich, dass dieser Bezug auf die Geschichte ein epistemisches Hindernis für ein klareres analytisches Verständnis der Gegenwart darstellt. Als Alternative zum postkolonialen Ansatz postuliere ich die Methode der organischen Philosophie, die eine Transzendenz des Historizismus voraussetzt.2 Die Analyse der Grundlagen, der Bedeutung und der Implikationen des Konzepts der »Transzendenz« ist die Basis für die Diskussion des daraus sich ergebenden Afroplanetarismus als einer Friedensphilosophie.

Der Historizismus des postkolonialen Paradigmas

Unter »Historizismus« ist eine mimetische und fetischistische Bezugnahme der postkolonialen kritischen Theorie auf die Geschichte des Kolonialismus und seine Wissensobjekte zu verstehen.3 Ziel eines solchen Ansatzes ist es, eine Erklärung für die zeitgenössischen soziopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dynamiken zu liefern und deren Logik aus der Reflexion über die Vergangenheit zu ermitteln.

Die Theorie wird als »mimetisch« bezeichnet, da die Beobachtung der Realität Afrikas und der heutigen Welt ausschließlich durch die koloniale Vergangenheit erfolgt. Die aktuelle Realität wird nicht unmittelbar in sich selbst erfasst. Zwischen ihr und dem Blick der beobachtenden Person befindet sich die Maske der Kolonialgeschichte, ihrer Figuren, ihrer Verbrechensszenen, ihrer makabren Ästhetik (vgl. Mbembe 2017, S. 26; 2016). Die Realität wird als ständige Wiederkehr dieser Logik begriffen, die Kritiker*innen mithilfe der Sprachanalyse und der Kritik sozialer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller, religiöser, ästhetischer u.a. Strukturen auf ihren Sinn hin untersuchen wollen (vgl. Mbembe 2014, S. 122). Deshalb werden in der Kritik ständig Kategorien wie »Weiß«, »Schwarz«, »Europäer*innen«, »Afrikaner*innen«, »westlich« usw. verwendet, als würden diese auf greifbare Identitäten verweisen und etwa der »Kolonialherr« und der »Kolonialisierte« diesen »Essenzen« entsprechen (vgl. Mbembe 2014, S. 256). Sie existieren jenseits von kolonialem Raum und Zeit und werden in der Gegenwart verkörpert, wenn auch unter mehr oder weniger veränderten Aspekten.

Die Idee des »Fetischismus« erklärt die psychologische Basis des Historizismus. Sie bedeutet, dass die Reproduktion der vergangenen Wissensobjekte in der Theorie keinen Selbstzweck hat. Vielmehr dient sie als Grundlage für eine praktische Moral der postkolonialen Subjekte im Alltag. Der Zweck des postkolonialen Handelns besteht in der Befreiung der postkolonialen Subjekte von der Gewalt dieser andauernden Vergangenheit. In diesem Sinne ist auch das Argument des »strategischen Essentialismus« von Gayatri Spivak (1988) in ihrem Beitrag »Can the subaltern speak?« zu interpretieren. Die Verwendung essentialistischer Kategorien wird durch ihren praktischen Zweck gerechtfertigt. Sie dienen als Organisationsmittel der »Subalternen« gegen die neokolonialen Mächte (Spivak 2001). Eine ähnliche »Strategie« findet sich auch in den Arbeiten von Edward Said (1978) und Achille Mbembe (2014), insbesondere bei der gezielten Verwendung der Begriffe »Orientalismus« und »Neger«.

Zwar lässt sich einwenden, dass der Bezug auf die Geschichte eine polemische, subversive oder kritische Bedeutung hat. Doch die kritische Analyse dieses Ansatzes lässt einen Widerspruch erkennen (vgl. Theombogü 2023). Einerseits beansprucht die Theorie, das koloniale Ereignis, seine Objekte, seine Raum-Zeit-Dimension und die Strukturen seines Imaginären zu kritisieren (vgl. Mbembe et al. 2006). Andererseits essentialisiert und verstetigt sie diese Objekte, indem sie ihnen eine Vorrangstellung gegenüber allen anderen Zeit- und Räumlichkeiten einräumt. Im weiteren Verlauf dieses Beitrags erörtere ich die Frage nach den Konsequenzen eines solchen Historizismus für die effektive Befreiung und Emanzipation von Menschen aus zeitgenössischer Gewalt. Dabei wird vor allem die Frage beantwortet, was es unter einem solchen Kontext bedeutet, Frieden zu schaffen.

Eine organische Philosophie für eine Transzendenz des Historizismus

Was ich als organische Philosophie bezeichne bedeutet, den Menschen nicht als reines Produkt der Geschichte zu betrachten, sondern als Konjunktion4 von Subjektivität und Realität des Lebens.5 Dies bedeutet zum einen die Fähigkeit des Subjekts, sich selbst und der Welt unmittelbar anwesend zu sein, und zum anderen die Aktualisierung seiner Fähigkeiten durch Handeln und positive Selbsttransformation im Alltag. Das Subjekt nimmt seine Existenz als das Ereignis eines Aufenthalts auf, den es unmittelbar hinterfragt, versteht und gestaltet (vgl. Boulaga 1977). Daraus ergibt sich das Postulat dieser Philosophie, dass der Reparation notwendigerweise die Transzendenz des Historizismus vorausgeht. Die Erläuterung dieser These wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Dafür werde ich den Begriff von »Reparation« einführen, der zugleich als Transzendenz und Emanzipation des Diskurses über die Vergangenheit gelten soll.

Das Konzept der »Transzendenz« bedeutet nicht eine Verleugnung des Kolonialismus, vielmehr die Konjunktion des Subjekts und der Realität der Phänomene, die es unmittelbar in seinem Alltag erfährt. Zwar begleitet die Vergangenheit den Menschen in seinem Verhalten, seinem Denken, seinen Gefühlen und seinem Gedächtnis. Jedoch ist er nicht unbedingt durch diese Einflüsse bestimmt. Die Wirklichkeit, die er erlebt, ist der kontinuierliche Ausdruck einer Transzendenz, d.h. einer unmittelbaren Beziehung zum Dasein, und nicht die Reproduktion einer Vergangenheit, die sie absolut determiniert. Im Alltag zeigt sich diese Kraft der Transzendenz in der Betätigung des eigenen Willens, der Wünsche, der Gefühle und der Motivation. Die Kriege der Gegenwart sind deswegen keine Wiederholung der Vergangenheit. Wenn jemand nicht als Mensch respektiert wird, oder wenn seine Rechte auf Meinungsfreiheit, Mobilität, Bildung, Gemeineigentum, usw. verletzt oder vorenthalten werden, dann weiß der Mensch, dass er sich im Krieg befindet. Außerdem ist ihm Frieden unmittelbar im Alltag bekannt. Der Mensch erfährt ihn, wenn er in die Ruhe kommt, im Einklang mit sich selbst und dem Universum ist. Diese Ruhe kommt nur, wenn man sich gegenseitig zuhören kann, wenn man respektiert wird, wenn das Gemeineigentum des Lebens gerecht verteilt wird. Daher lässt sich argumentieren, dass die Transzendenz ein Symbol der Freiheit sowie der Verantwortung des Menschen im Alltag ist.

Außerdem setzt die Idee des »emanzipatorischen Diskurses«, wie ich sie hier verwende, eine unmittelbare Kenntnis der Wirklichkeit im Alltag voraus. Dieser Diskurs ist keine Rede über die Vergangenheit mehr, sondern ein Schweigen. Schweigen heißt in der Gegenwart agieren, sich von der Ignoranz freizumachen, über die Geschichte zu reden, ohne die unmittelbare Realität und die aktuelle Freiheit bzw. Verantwortung des Menschen gegenüber seinem Dasein zu berücksichtigen. Es heißt auch, das alltägliche Leben selbst zu reparieren, Frieden in der aktuellen Wirklichkeit zu schöpfen. Ein Beispiel für diese Art des Denkens ist die ursprüngliche Version des postkolonialen Diskurses. Dies war die Rede Fanons, der sein berühmtes Werk »Schwarze Haut, weiße Masken« mit einer langen Prosa an die Freiheit beendete, in der er schrieb: „Ich erkenne mich als Mensch in einer Welt, in der die Worte sich in Schweigen auflösen; in einer Welt, in der der andere sich endlos verhärtet. Nein, ich habe kein Recht, mich hierhin zu begeben und meinen Hass auf den Weißen herauszuschreien. Ich bin nicht verpflichtet, dem Weißen meine Dankbarkeit zuzuflüstern. Es gibt mein Leben, das im Lasso des Daseins gefangen ist. Es gibt meine Freiheit, die mich auf mich selbst zurückwirft. Nein, ich habe kein Recht, ein Schwarzer zu sein. Ich habe keine Pflicht, dies oder jenes zu sein.“ (Fanon 1952, S. 185)6 Ziel von Fanons Diskurs war, nicht eine bloße Kritik des sogenannten »Westens« zu formulieren, sondern im Alltag ganz konkret das Leben vor der Macht des Todes zu retten. Reden bedeutete zuerst schweigen, danach agieren, die Realität positiv gestalten; Frieden in der Wirklichkeit realisieren. Die Rede begleitet immer das Handeln und zielt darauf ab, über dieses zu reflektieren bzw. zu meditieren.

Mit meinem Postulat der organischen Philosophie möchte ich also diese Rückkehr zum Leben des Subjekts selbst, jenseits des Historizismus, hervorheben. Diese Rückkehr kann zwar mit dem Fanon’schen Konzept der Freiheit verglichen werden, wenn er schreibt: „Ich bin mein eigenes Fundament. Und indem ich die historische, instrumentelle Gegebenheit überwinde, führe ich den Zyklus meiner Freiheit ein“ (Fanon 1952, S. 187). Jenseits der Bestätigung der Freiheit möchte allerdings die Idee der Transzendenz die konkrete, alltägliche und effektive Dimension der Entdeckung des Fundaments hervorheben. Das postkoloniale Subjekt ist nur dann wirklich frei, wenn es das Leben selbst erfährt und seinen Alltag transformiert. Mit dem Begriff der Transzendenz bezeichne ich diese Konjunktion des Subjekts mit dem Leben, die seine Transformation über die bloße Grundsatzerklärung einer Freiheit hinaus bewirkt. Dies scheint mir die grundlegende Voraussetzung dafür zu sein, dass die Freiheit des postkolonialen Subjekts verwirklicht werden kann.

Dieser Diskurs unterscheidet sich grundsätzlich von dem Diskurs, den ich »Historizismus« nenne. Gegenstand von diesem ist nicht Frieden durch Handeln zu schaffen; vielmehr geht es darum, das Bild einer Epoche widerzuspiegeln. Zwar wird über Krieg, Frieden, Leben und Tod geredet. Doch die Rede wird durch den Spiegel einer Epoche reflektiert. Die Protagonist*innen dieser Epoche – »Afrika«, der »Westen«, der »Neger«, der »weiße Kolonialherr« usw. – werden dargestellt, kritisiert, dekonstruiert. Es geht wesentlich um einen Kampf der Repräsentation, bei denen die Szene die Vergangenheit ist und die Protagonist*innen immer wieder dieselben Gesten, Worte, Gedanken und Gefühle mimen. Reden heißt in diesem Fall, eine Szene vorstellen, sie vergleichen, oder gleichsetzen. Handeln wird mit Reden gleichgesetzt. Die historizistische Grundannahme ist, dass der Mensch nicht genug weiß, was Krieg ist, weder jener der Vergangenheit noch jener der Gegenwart. Darüber zu reden, heißt, so lautet die zweite Annahme des Historizismus, eine Reparation zu leisten. Doch die Frage ist, inwiefern dieser Diskurs einen echten Weg zur Wiedergutmachung bzw. zum Frieden in Afrika und in der Welt bildet? Im letzten Teil meiner Argumentation möchte ich erklären, wie das Postulat der organischen Philosophie, wie es zuvor formuliert wurde, der Ausgangspunkt für ein neues Konzept von Frieden und Reparation als Alternative zu der Perspektive des Historizismus in Afrika sein könnte.

Der Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

Unter Afroplanetarismus verstehe ich eine neue Art und Weise, Afrika ausgehend von dem Postulat der organischen Philosophie zu denken. Sowohl dieser Kontinent als auch sein Verhältnis zur Erde werden nicht mehr notwendigerweise in Bezug auf die Kolonialgeschichte betrachtet, sondern aus der Transzendenz, durch die die Subjekte ihre Geschichte überwinden. Das postkoloniale Subjekt, das in einer unmittelbaren Alltagsbeziehung zu sich selbst existiert, erfährt so einerseits seine Freiheit und schafft andererseits die Bedingungen für seine positive Selbsttransformation. Statt als Objekt eines Determinismus der Kolonialgeschichte wird somit die Welt des Subjekts zum Horizont einer Freiheit und einer Möglichkeit, die bereits das unmittelbare Leben auf der Erde in sich birgt. Insofern überwindet der Afroplanetarismus das koloniale Konstrukt »Afrika« in einen neuen Weltbezug zur planetarischen bzw. organischen Realität des Lebens. Aus diesem Ansatz der organischen Philosophie möchte ich nun für ein differenziertes Konzept des Friedens und der Reparation in Afrika argumentieren.

Diese Philosophie will die Bedingung eines friedlichen Lebens in Afrika und der Welt schaffen, indem sie den Weg für einen alternativen Diskurs öffnet. Statt über eine wiederkehrende koloniale Vergangenheit zu reden, wird hier die Macht des Schweigens vorgeschlagen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein resigniertes Schweigen, das die Kolonialvergangenheit vergisst bzw. verdrängt, sondern um die Ruhe der Transzendenz. Das Subjekt erkennt zwar die Verbrechen der Kolonialgeschichte an, kann sich dennoch von ihnen befreien. Durch den täglichen Einsatz seines Intellekts, seines Herzens und seines Willens öffnet das Subjekt sich den aktuellen Lebensumständen, um darin neue Möglichkeiten für ein emanzipatorisches Handeln zu entdecken, das überwindet und nicht erstarrt. Es heißt jeden Tag in der Realität zu landen und sie von innen zu gestalten. Der Frieden wird nur dadurch entstehen, indem das Leben im Alltag empfangen wird. Zwei Aspekte scheinen hier wichtig: Erstens, sich als Dasein wahrzunehmen. Dasein bedeutet konkret, die Grundbedingungen des eigenen Lebens und des Zusammenlebens zu manifestieren: den Körper, den Geist, die Intelligenz, die Lebensressourcen zu gestalten. Es geht darum, die Potentiale des Subjekts zu verwirklichen. Ziel ist die positive Transformation des eigenen Lebens durch ein unmittelbares Wissen über die Wirklichkeit zu ermöglichen.

Insofern bedeutet Afroplanetarismus die Geschichte Afrikas und ihre Fetischobjekte bzw. Bilder zu transzendieren. Es heißt zur Realität des Lebens des postkolonialen Subjekts zurückzukehren, die Möglichkeiten seines eigenen Daseins zu übernehmen und die epistemologischen, politischen, und ethischen Implikationen dieses Wissens für das Zusammenleben auf diesem Kontinent und der Welt zu verstehen. Epistemologisch heißt es, dass kein Bild der Geschichte an sich die absolute Wahrheit darstellt, sondern nur einen Teil davon. Politisch bedeutet es, dass die Bilder der Gesellschaften begrenzt sind. Ethisch heißt es, dass das Handeln des Menschen so mit den Potentialitäten des Lebens in Einklang gebracht werden muss, damit der Mensch sich entfalten kann. Was der Mensch wirklich ist, realisiert er im Alltag. Zwar hat die Geschichte eine große Bedeutung für sein individuelles und kollektives Gedächtnis. Doch jenseits der Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis hat jedes Individuum bzw. jede Gesellschaft die Kraft, sich immer wieder neu zu erfinden, um über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Diese Fähigkeit, sich selbst zu erfinden, kann nur verwirklicht werden, wenn der Mensch sich von der fetischistischen Bindung an die Objekte seiner Vergangenheit löst und sich dynamisch die Wirklichkeit aneignet, die sich unmittelbar in seiner Gegenwart ergibt.

Diese Idee nun zu einem »Afroplanetarismus als ewiger Frieden« (in Symmetrie zur berühmten Kant’schen Konstruktion) erweitert zu denken bedeutet dann, erstens die Bedingungen für ein gemeinsames Leben im Alltag zu schaffen, zweitens, die partikulären Geschichten und Bilder unserer Gesellschaften zu überwinden, und drittens die Ordnung des Universums ins Leben zu bringen. Diese drei Wahrheiten sind meiner Meinung nach die Grundbedingung des ewigen Friedens.

Fazit

Es ist ein großer Fehler mit Heraklit zu behaupten, dass der Krieg der Vater aller Dinge“ ist. Durch seine Intelligenz weiß der Mensch, dass hinter dem scheinbaren Krieg im Weltall eine immanente Harmonie liegt. Die Gegensätze bilden eine lebendige Synthese, in der jedes Element seinen Platz hat. Aber diese Harmonie ist dem Menschen nicht gegeben. Er muss sie verwirklichen, indem er seine Intelligenz, sein Herz und seinen Willen im Alltag koordiniert. Dies setzt eine kontinuierliche Transzendenz seiner gewaltvollen Vergangenheit voraus. Zwar wird ihn dies trotzdem begleiten, jedoch kann er sich davon befreien und die Gegenwart erneut anders gestalten. Erst dann wird seine Menschlichkeit jeden Tag offenbar.

Anmerkungen

1) Hier und im Folgenden wird das Wort »Transzendenz« im transitiven Sinne eines »Übersteigens«, »Überwindens« verwendet.

2) Ich bevorzuge den Begriff »Methode« statt »Tradition« oder »Schule«. Denn die organische Philosophie ist keine etablierte Philosophie, sondern ein epistemologischer Ansatz, den ich vorschlage und der sich vom Ansatz des postkolonialen Historizismus unterscheiden soll.

3) Darin grenzt sich dieser Begriff von dem der deutschen Idealisten sowie von strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien ab (vgl. Scholtz 1989).

4) Ich verwende das Wort »Konjunktion« nach der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen »conjunctio«, was eben Verbindung, Vereinigung bedeutet.

5) In einem früheren Text erörterte ich im Zusammenhang mit der Debatte um die Rückgabe afrikanischer Kunstobjekte diese Idee des Primats des Lebens über seine kontingenten Äußerungen (vgl. Téwéché 2023, S. 37).

6) Ich folge hier nicht der deutschen Übersetzung von Fanons Buch, um einige Begriffe besser hervorheben zu können.

Literatur

Boulaga, F. E. (1977): La crise du Muntu: authenticité africaine et philosophie. Paris: Présence africaine.

Fanon, F. (1952): Peau noire masques blancs. Paris: Seuil.

Henderson, E. A.; Singer, J. D. (2000): Civil war in the post-colonial world, 1946-92. Journal of Peace research 37(3), S. 275-299.

Mamdani, M. (1996): Citizen and Subject: Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism. Princeton: Princeton University Press.

Mamdani, M. (2003): Making sense of political violence in postcolonial Africa. In: Lundestad, G.; Njølstad, O. (Hrsg.): War and Peace in the 20th Century and Beyond. Oslo: World Scientific Publishing Company, S. 71-99.

Mamdani, M. (2020): When victims become killers: Colonialism, nativism, and the genocide in Rwanda. Princeton: Princeton University Press.

Mbembe, A. (2014): Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mbembe, A. (2016): Postkolonie. Wien: Turia + Kant.

Mbembe, A. (2017): Politik der Feindschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mbembe, A. et al. (2006): What is postcolonial thinking? Esprit No. 12, S. 117-133.

Said, E. (1978): Orientalism: Western concepts of the Orient. New York: Pantheon.

Scholtz, G. (1989): Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Archiv für Kulturgeschichte 71(2), S. 463-486.

Spivak, G. (1988): Can the Subaltern Speak? In: Nelson, C.; Grossberg, L. (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press, S. 271-313.

Spivak, G. (2001): The Norton anthology of theory and criticism. New York: WW. Norton.

Téwéché, K. (2023): De-fetishizing restitutions! On the Ethical Stakes of Restitutions Debate. Forum Wissenschaft 2/2023. S. 35-38.

Theombogü (2023): En Afropolitanie. Po&sie 2023/1-2 (183/184), S. 199-206.

Korassi Téwéché interessiert sich u.a. für Philosophie, Kunst – Film, Fotografie – und Geschichte. Sein letzter Artikel »De-fetishizing restitutions! On the Ethical Stakes of Restitutions Debate« erschien in Forum Wissenschaft (2/2023).

Frieden durch Dekarbonisierung?

Frieden durch Dekarbonisierung?

Kolumbiens Energiewende und ihre Schattenseiten

von Benno Fladvad

Erneuerbare Energien schaffen Frieden. Dieses Argument ist vor allem seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine immer öfter zu hören. Auch wenn es nicht grundsätzlich falsch ist, greift es doch zu kurz: Anhand konzeptioneller Überlegungen zu den sicherheitspolitischen Dimensionen der Energiewende und am Beispiel Kolumbiens verdeutlicht dieser Beitrag, dass eine globale Dekarbonisierung keineswegs automatisch zu einer friedlicheren Welt führt, sondern auch neue Konflikte und koloniale Ausbeutungsformen hervorbringen kann.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Vorstellungen von Krieg und Frieden und damit verbundene sicherheitspolitische Prioritäten in Europa in vielerlei Hinsicht verändert. Ging man zuvor davon aus, dass Kriege relativ ferne Phänomene sind, die uns in unserem Alltag nicht direkt betreffen, so herrscht spätestens seit der »Zeitenwende-Rede« von Olaf Scholz die weit verbreitete Vorstellung, dass die friedenspolitische Architektur in Europa brüchig geworden ist. Vor diesem Hintergrund sind auch die geopolitischen Dimensionen der Energiewende und die Rolle von Energieinfrastrukturen in kriegerischen Auseinandersetzungen in den Fokus gerückt. So argumentierte beispielsweise die Energieökonomin und Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen, Claudia Kemfert, in einem Interview vom März 2022: „Nur eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien schafft dauerhaft Frieden, stärkt Demokratie und Freiheit. Zudem sichert sie Wohlstand und Frieden auf der Welt. Die Energiewende ist das beste Friedensprojekt, welches wir weltweit haben.“ (Kemfert 2022) Ähnlich äußerte sich der UN Generalsekretär António Guterres, der im Rahmen einer Pressekonferenz im Mai 2022 betonte, dass bei gemeinsamem und entschlossenem Handeln „die Energiewende das Friedensprojekt des 21. Jahrhunderts werden kann“ (Guterres 2022).

Angesichts der zentralen Rolle fossiler Rohstoffe in Kriegen, die häufig als strategisches Instrument in kriegerischen Auseinandersetzungen und als Finanzierungsquelle militärischer Gewalt dienen, sind diese Aussagen nur verständlich und auch nicht grundsätzlich falsch. Jedoch sind sie zugleich vereinfachend und durchaus problematisch, da sie Frieden als einen Zustand verstehen, der durch die bloße Abwesenheit von durch fossile Ressourcen ermöglichten Kriegen charakterisiert ist. Johann Galtung, einer der wichtigsten Theoretiker der Friedens- und Konfliktforschung, würde hier wohl von einem »negativen Frieden« sprechen (Galtung 1997). Ein »positiver Frieden« hingegen zeichnet sich nach Galtung nicht nur durch die Abwesenheit von militärischer Gewalt aus, sondern vor allem durch die Abwesenheit von »struktureller Gewalt«, d.h. diffuseren aber gleichwohl wirkmächtigen Ungerechtigkeiten, die in soziale, ökonomische und politische Strukturen eingeschrieben sind (ebd.). Es sind genau diese aus westlicher bzw. eurozentrischer Sicht oftmals verdeckten Gewaltformen und die daraus resultierenden sicherheitspolitischen Risiken, die Guterres und Kemfert in ihren Plädoyers für erneuerbare Energien als Friedensinstrumente ausblenden.

Auch in der friedenspolitischen Literatur wurden sie lange kaum beachtet – u.a. in Veröffentlichungen von W&F. So galt insbesondere in der Frühphase der Energiewende das kaum widersprochene Argument, dass erneuerbare Energien die „friedliche Antwort Europas auf die Falle von Konkurrenz, Gewalt und Kriegen um die zur Neige gehenden Vorräte an Öl und Gas“ seien (Bimboes und Spangenberg 2004, S. 36) oder aber, dass ihr Konfliktpotenzial aus „vergleichsweise harmlos anmuten[den] gesellschaftliche[n] Akzeptanzkonflikte[n]“ (Krämer 2006, S. 50) bestünde.

Die sicherheitspolitischen Dimensionen der Energiewende

Die aktuelle Literatur zu den sicherheitspolitischen Dimensionen erneuerbarer Energien zeichnet hingegen ein etwas differenzierteres Bild. Im Prinzip gibt es zwei Lager – eines, das davon ausgeht, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien geopolitische Spannungen und Abhängigkeiten, die durch fossile Energieträger hervorgerufen werden, reduzieren kann; und ein anderes, demzufolge erneuerbare Energien und ihre politischen Ökonomien nicht weniger Konflikte und Kriege hervorrufen als fossile Energien (vgl. dazu Vakulchuk et al. 2020, S. 3ff.).

Ein Kernargument des ersten Lagers, innerhalb dessen sich auch die Aussagen Guterres‘ und Kemferts verorten lassen, ist, dass die dezentrale Verteilung von erneuerbaren Energiequellen mit einer Dezentralisierung politischer Macht einhergeht und somit demokratischere, gerechtere und langfristig friedlichere Energiesysteme ermöglicht. Zudem wird häufig argumentiert, dass erneuerbare Energien im Vergleich zu fossilen Energieressourcen, die nur in vergleichsweise wenigen Ländern vorkommen, eine höhere Energieunabhängigkeit (z.B. für Staaten) ermöglichen und aufgrund ihrer dispersen geographischen Verteilung deutlich schwerer zu kontrollieren und zu manipulieren seien. Damit würden Konfliktpotenziale und Anreize für Kriege reduziert und die Voraussetzungen für einen negativen Frieden wären geschaffen. Eine grundsätzliche Schwäche dieser These besteht jedoch darin, dass ihre Vertreter*innen implizit davon ausgehen, dass ein solcher politischer Wandel tatsächlich eintritt und die Energiewende sozusagen von sich aus Machtverhältnisse verändern und geopolitische Spannungen abbauen wird. Dies ist mit Ausnahme kleinskaliger, alternativer Energieprojekte, die oft unter dem Begriff Energiedemokratie zusammengefasst werden (Becker und Neumann 2017), aktuell jedoch nicht zu beobachten und es deutet vieles darauf hin, dass der Ausbau erneuerbarer Energien in seiner jetzigen Form bestehende Machtstrukturen eher noch stärken wird.

Das zweite Lager vertritt daher die These, dass auch erneuerbare Energien geopolitische Spannungen und Kriege erzeugen, da sich ihre politische Ökonomie nicht grundsätzlich von der fossiler Energieträger unterscheide. Gerade zentralisierte Energiemegaprojekte, die als dominante Form der globalen Energiewende zunehmend in peripheren Regionen des Globalen Südens errichtet werden und den Energiebedarf industrialisierter Zentren des Globalen Nordens decken sollen, folgen im Kern einer extraktivistischen Logik und basieren auf einem hohen Kapitaleinsatz und Ressourcenbedarf. Zudem gehen sie häufig mit gewaltsamen Konflikten um den Zugang zu Land und Wasser sowie mit einer Konzentration politischer Macht einher (Burke und Stephens 2018). Im Fokus stehen dabei vor allem diverse kritische Rohstoffe, wie Lithium, Kupfer, Kobalt, Bauxit, Nickel und sog. seltene Erden, die für eine Vielzahl an »grünen« Technologien (z.B. erneuerbare Energien, Übertragungsleitungen, Elektrolyseure, Elektroautos) benötigt werden. Der Abbau dieser Mineralien ist häufig mit der Finanzierung und Stärkung paramilitärischer Gruppen, sozialökologischen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen verbunden (Church und Crawford 2018). Zudem führt die Extraktion dieser Rohstoffe zu neuen geo-ökonomischen Abhängigkeiten, die einen Nährboden für zwischenstaatliche Spannungen und Kriege bilden können. Ein positiver Frieden im Sinne eines sozial gerechten Friedens, so lassen es diese Tendenzen vermuten, ist durch den Übergang zu erneuerbaren Energien in seiner jetzigen Form nicht gegeben.

Diese Konfliktpotenziale, und die systematische Verlagerung von Umweltlasten in periphere Regionen des Globalen Südens, sind bereits jetzt an vielen Beispielen dokumentiert, u.a. im sogenannten Lithium-Dreieck, im Grenzgebiet von Argentinien, Bolivien und Chile. In den riesigen Salzseen dieser Region lagern enorme Mengen des begehrten Leichtmetalls, das einen der wichtigsten Bestandteile leistungsstarker Akkus darstellt und somit für die Elektroindustrie von großer Bedeutung ist. Der Abbau von Lithiumkarbonat ist jedoch sehr wasserintensiv und führt zu einer Absenkung des Grundwasserspiegels, was die oftmals ohnehin prekäre Wasserversorgung in diesen Gebieten weiter verschärft und einer Enteignung bäuerlicher und indigener Gemeinden durch international agierende Konzerne gleichkommt. Problematisch sind aber nicht nur die daraus resultierenden sozialökologischen Konflikte und die Folgen für die lokale Bevölkerung, sondern auch, dass dieser »grüne Extraktivismus« im Gegensatz zu früheren Formen der Ressourcenausbeutung über eine enorm wirkungsmächtige Legitimation verfügt – nämlich, dass er trotz seiner negativen Folgen zur Bewältigung der Klimakrise unumgänglich sei (Voskoboynik und Andreucci 2021).

Die Kolumbianische Energiewende und die Politik des »absoluten Friedens«

Noch deutlicher werden diese Schattenseiten der Energiewende, wenn man einen Blick auf Regionen wirft, die seit Jahrzehnten von Kriegen zerrüttet sind und gleichzeitig als Hotspot-Regionen der Energiewende gelten. Eines dieser Länder ist Kolumbien, das derzeit vor einer doppelten Herausforderung steht. Zum einen gilt es, den langjährigen bewaffneten Konflikt zwischen dem kolumbianischen Staat und der Guerillaorganisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), dem allein zwischen 1985 und 2018 fast eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen, endgültig zu beenden; und zum anderen die hohe wirtschaftliche Abhängigkeit von fossilen Ressourcen zu reduzieren, erneuerbare Energien auszubauen und Klimaneutralität zu erreichen. Während die rechtskonservative Vorgängerregierung unter Iván Duque nur das letztgenannte Ziel verfolgte und das 2016 geschlossene Friedensabkommen nicht unterstützte, behandelt die Regierung des neuen linksgerichteten Präsidenten Gustavo Petro beiden Themen mit hoher Priorität. So verfolgt seine Regierung zum einen eine Politik eines »absoluten Friedens«, die auf konsequente Verhandlungen mit und Demobilisierung von paramilitärischen Gruppen abzielt und gleichzeitig abgelegene und benachteiligte Regionen und Gruppen stärken will, um die grassierende soziale Ungleichheit im Land zu bekämpfen. Zum anderen stellt auch die Energiewende eines der wichtigsten politischen Projekte der neuen Regierung dar, was Petro gleich zu Beginn seiner Amtszeit verdeutlichte, indem er die enormen Potenziale Kolumbiens für Wind- und Solarenergie hervorhob und seine Regierung im Juni 2023 zusammen mit der deutschen Bundesregierung eine Absichtserklärung für eine »Partnerschaft für Klima und eine gerechte Energiewende« unterzeichnete, in der es u.a. um den Export von grünem Wasserstoff nach Deutschland gehen soll.

Die wichtigste Region ist dabei das Departamento La Guajira – eine aride und dünn besiedelte Region im Norden des Landes, die der ehemalige Energieminister Kolumbiens zum »Epizentrum der Energiewende« erklärte und die zuletzt insbesondere für die Produktion grünen Wasserstoffs in den Fokus gerückt ist. Allein bis 2034 sollen für diesen Zweck rund 40 Windparks mit einer Gesamtleistung von etwa 8.000 MW entstehen – die meisten davon auf dem kollektiven Land der indigenen Bevölkerung La Guajiras, den Wayuu, die unter Energiearmut, Wassermangel, Unterernährung und hoher Kindersterblichkeit leiden. Entgegen dem in der nationalen Wasserstoff-Roadmap festgehaltenen Versprechen, die Bedürfnisse lokaler Gemeinschaften von Beginn an zu einem Kernanliegen dieses Transformationsprozesses zu machen (Ministerio de Minas y Energía 2021, S. 24), geht der von internationalen Unternehmen vorangetriebene Ausbau der Windenergie derzeit mit der Missachtung indigener Rechte und einer Reihe an sozialökologischen Konflikten einher. Zugleich sind die gesetzlich vorgeschriebenen Konsultationsprozesse unzureichend, v.a. aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Informationen für die betroffenen Gemeinden und eines generellen Mangels an Transparenz. Zudem werden oftmals nur Teile der betroffenen Gemeinden in die Verfahren einbezogen (Vega Araújo et al. 2023). Es kommt zu Vertreibungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen – auch innerhalb der Wayuu Gemeinden – und damit im Kern zu einer Fortsetzung der gewaltsamen und kolonialen Ausbeutungsgeschichte in La Guajira, die durch den Kohletagebau El Cerrejón weltweit Bekanntheit erlangt hat (Bachmann 2022). In den letzten Jahren wuchs daher der Widerstand gegen den Ausbau der Windenergie, der darin gipfelte, dass das kolumbianische Militär zu Beginn des Jahres 2022 Truppen an den Windparks stationierte und dies mit der „Gewährung der Sicherheit der lokalen Bevölkerung und dem Schutz der strategischen Güter des Landes“ (Ejército Nacional de Colombia 2022) rechtfertigte.

Damit wird deutlich, dass die Energiewende in La Guajira derzeit weder friedlich noch gerecht verläuft und in den letzten Jahren von einer Militarisierung begleitet wurde. Dies zeigt sich nicht nur in der Stationierung von Militär, sondern auch darin, dass die Provinz im Jahr 2019 zu einer »Strategischen Interventionszone« erklärt wurde (Ramirez et al. 2022, S. 8) – also zu einem »Raum der Ausnahme«, in dem das Recht zugunsten außergewöhnlicher Interventionsmöglichkeiten partiell außer Kraft gesetzt werden kann. Angesichts der anhaltenden Gewalt in La Guajira und des wachsenden Einflusses paramilitärischer und in den internationalen Drogenhandel verstrickter Gruppen, ist diese Strategie der »Versicherheitlichung« wenig überraschend, steht aber in krassem Widerspruch zum Anspruch – im Sinne eines positiven Friedens – eine gerechte Energiewende herbeizuführen und die vielfältigen Gewaltformen in dieser umkämpften Region zu beenden.

Umso bedeutender ist daher der im Juni 2023 durch Gustavo Petro verkündete und von über 200 Wayuu-Vertreter*innen, 12 internationalen Energieunternehmen und verschiedenen Regierungsvertreter*innen unterzeichnete »Pakt für eine gerechte Energiewende in La Guajira« (Ministerio de Minas y Energía 2023). Dahinter verbirgt sich im Wesentlichen ein neues energiepolitisches Modell, das vorsieht, Energieprojekte in La Guajira nicht wie bisher nach einem oberflächlichen Konsultationsprozess zu genehmigen, sondern die Wayuu Gemeinden als gleichberechtigte Partnerinnen dauerhaft an den laufenden Gewinnen zu beteiligen. Zwar ist dieser Pakt derzeit noch als eine reine Absichtserklärung zu verstehen, doch die Tatsache, dass er von einer hohen Zahl von Wayuu Vertreter*innen unterstützt wird und er im Kern darauf abzielt, die Lebensbedingungen in La Guajira zu verbessern (u.a. durch Projekte in den Bereichen Wasserversorgung, Bildung, Infrastrukturentwicklung), lässt hoffen, dass die Energiewende in dieser Region tatsächlich mit der Politik des »absoluten Friedens« in Einklang gebracht werden kann.

Erneuerbare als Friedensprojekt?

Am Beispiel der Entwicklungen in La Guajira wird deutlich, dass eine Wende hin zu erneuerbaren Energien keineswegs automatisch zu einer friedlicheren Welt führt. Vielmehr geht der massive Ausbau erneuerbarer Energie vielerorts und insbesondere in peripheren Regionen des Globalen Südens mit neuen Konflikten und Ausbeutungsformen einher und droht damit die koloniale und gewaltsame Logik des fossilen Extraktivismus fortzusetzen – wenn auch auf eine weniger klimaschädliche Weise. Entscheidend ist dabei, dass es sich nicht allein um lokale Konflikte handelt, sondern um Ausdrucksformen globaler Abhängigkeiten, Ungleichheiten und Machtverhältnisse, die in der Zukunft auch zu neuen zwischenstaatlichen Konflikten führen können. Zugleich aber – und auch dafür eignet sich das kolumbianische Beispiel sehr gut – hat die Energiewende durchaus das Potenzial, zu einem Friedensprojekt zu werden. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die durch die Energiewende erzeugten Formen struktureller Gewalt sichtbar gemacht und problematisiert werden. Gleichzeitig ist es unerlässlich, dass Gerechtigkeitsprinzipien im Sinne eines positiven Friedens von vornherein in Entscheidungsprozesse, Planungsverfahren und langfristige politische Strategien integriert werden, d.h. dass sie zu einer Grundmaxime der Energiewende werden. Initiativen wie der »Pakt für eine gerechte Energiewende in La Guajira« zeigen, dass dies durchaus möglich ist. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit sich aus dieser Absichtserklärung tatsächliche spürbare Veränderungen in Richtung einer friedlichen und gerechten Energiewende ergeben.

Literatur

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Benno Fladvad ist Juniorprofessor für Naturwissenschaftliche Friedensforschung mit Schwerpunkt Klima und Sicherheit an der Universität Hamburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich u.a. mit Fragen der Umwelt- und Klimagerechtigkeit, zuletzt vorrangig mit Bezug zur Energiewende und infrastrukturellen Transformationsprozessen.

Von 1983 bis heute

Von 1983 bis heute

Impulse aus einem wissenschaftshistorischen Dialog

mit Eva Senghaas-Knobloch und Jürgen Altmann

Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jubiläum von W&F wurde kein Festvortrag gehalten. Stattdessen unterhielten sich mit Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch (Bremen) und PD Dr. Jürgen Altmann (Dortmund) zwei profilierte Kenner*innen der Entwicklung der akademischen Friedens- und Konfliktforschung wie auch der Friedensbewegung auf dem Podium über ihre ganz persönlichen Geschichten von 1983 bis heute. Um die Szene zu setzen, wurde vor dem Gespräch ein kurzer Zusammenschnitt eines Tagesschau-Berichts vom 22. Oktober 1983 gezeigt: Menschenkette über die Schwäbische Alb gegen die Pershing-II-Stationierung, Demonstration im Bonner Hofgarten zum Nachrüstungsbeschluss u.a. Dies ist ein nachbearbeitetes Transkript des Gespräches, das von W&F Vorstandsmitglied Dr. Michaela Zöhrer moderiert wurde.

Michaela Zöhrer (Moderation): Ich würde gerne im Jahr 1983 starten, in dem Jahr also, aus dem wir gerade beeindruckende Bilder von Massenprotesten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden gesehen haben. Wie habt ihr diese Zeit erlebt? Was hat euch damals bewegt, was ihr auch den Jüngeren unter uns mit auf den Weg geben wollt?

Jürgen Altmann: Ja, 1983. Bei mir hat Gesellschaftskritik deutlich früher angefangen. Als ich 1970 zum 3. Semester des Physikstudiums nach Hamburg kam, war die Ur-Achtundsechziger-Geschichte schon in vollem Gang, zunächst in den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen, dann auch in der Physik. Mich hat es in die linke Ecke verschlagen. Mit vielen anderen habe ich bei Studienreformen mitgemacht, z.B. Orientierungseinheiten für Erstsemester mitgegründet, in Fachschaft und Fachbereichsrat mitgearbeitet. Dabei hat die Friedensfrage eher am Rande eine Rolle gespielt. Das hat sich dann später geändert, als nämlich die neue Friedensbewegung bundesweit anfing. Da waren wir in der Naturwissenschaft zunächst Nachzügler*innen. Wir haben das Problem erst eine Weile nicht so richtig verstanden, aber dann ging es los, speziell bei uns in der Physik in Marburg (wo ich seit 1980 war): uns zu fragen, wenn jetzt hier über die sogenannte Nachrüstung diskutiert wird, in Westeuropa nukleare Marschflugkörper und Pershing-II-Raketen zu stationieren, um ein Gegengewicht zu haben gegen die SS-20 in der Sowjetunion, hat das etwas mit Physik zu tun? Natürlich sind die Atombomben von Leuten aus der Physik erforscht und zum Funktionieren gebracht worden. Aber hatte das auch heute noch eine Bewandtnis? Dazu haben wir 1981 ein Seminar veranstaltet, »Physik und Rüstung«, und daraus auch ein Buch gestaltet im Selbstverlag, das gut 12.000 mal in Deutschland verbreitet wurde. Dabei haben wir gemerkt, dass auch die aktuelle Aufrüstung noch viel mit Physik zu tun hatte. Wir haben uns einerseits mit den Techniken der verschiedenen Waffensysteme beschäftigt und uns andererseits an die allgemeine Friedensbewegung angeschlossen, an Demonstrationen in Bonn teilgenommen usw. Es gab eine große Bewegung in der Naturwissenschaft in Deutschland, mit Dutzenden von Naturwissenschaftler*innen-Friedensgruppen, Ringvorlesungen, überörtlichen Vereinigungen und großen Kongressen. Daran hatten wir – auch durch dieses Buch – einen erheblichen Anteil.

Eva Senghaas-Knobloch: 1983 war auch das Jahr, das das Ende der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) bedeutete, aufgrund einer zunehmenden Gegnerschaft in den Kreisen der CDU/CSU – innenpolitisch gegen die Orientierung auf Konfliktanalyse, außenpolitisch gegen die Entspannungspolitik – ausgehend von Baden-Württemberg und Bayern. Die DGFK war ein innovatives Bund-Länder-Vorhaben der damaligen sozialliberalen Koalition, das meines Erachtens nur noch mit dem »Humanisierung des Arbeitslebens«-Programm vergleichbar war. Es verfolgte die Idee, auch gesellschaftliche Kräfte bei neuen gesellschaftspolitisch relevanten Forschungsfragen einzubeziehen, also Gewerkschaften, Arbeitgeber, Konfessionen, neben den Wissenschaften und Parteien. Während so in einem Kuratorium übergreifende Fragen behandelt wurden, entschied eine kleine Kommission über konkrete Forschungsförderung. Daneben gab es ein Konzil der Friedensforscher und Friedensforscherinnen; wir hatten noch eine Initiative zur Beachtung besonders drängender Fragen initiiert. Das hat aber am Ende nichts genutzt, weil der Austritt wichtiger Länder aus der Bund-Länder-Konstruktion das Aus bedeutete.

Was mich selbst anbetrifft, habe ich mich erinnert an eine APUZ-Beilage der Bundeszentrale für politische Bildung von 1970. Da waren Carl Friedrich von Weizsäcker und ich mit Beiträgen vertreten; er schrieb über die nukleare Abschreckung, vor allem mit Blick auf physikalische Zusammenhänge. Es ging ihm um »Damage Assessment«, also die Abschätzung der Zerstörungen bei einem Einsatz von Nuklearwaffen. Und ich hatte über internationale Organisationen geschrieben. Das waren ziemlich gegensätzliche Blickweisen auf Konflikte in den internationalen Beziehungen. Obwohl er vieles über Schäden und Nichtverteidigungsfähigkeit im Detail ausgeführt hatte; Weizsäcker hat nukleare Abschreckung weiterhin befürwortet: Es ginge nicht anders, wir müssten jetzt noch diese Abschreckung im Sinne der Abhaltung von Angriffen leider weiterhin haben. Ich habe demgegenüber versucht zu betonen: Welche Möglichkeiten bestehen zur Verbindung zwischen den Staaten? Wie kann man Brücken bilden? Und welche Probleme und Konflikte tauchen dabei auf? Das war 1970.

In den 1980er Jahren, beginnend in den 1970er Jahren, war aber das Kapitel Ost-West-Konflikt schon komplementiert durch die Nord-Süd-Konfliktlage. Es gab den Anspruch des Globalen Südens, wie wir heute sagen würden, auf eine »Neue Weltwirtschaftsordnung«. Zugleich gab es real eine neue internationale Arbeitsteilung, die im Grunde genommen eine neokoloniale Arbeitsteilung war: Austausch von Rohstoffen gegen Fertigprodukte und Nutzung billiger Arbeitskräfte für Vorprodukte. Man weiß inzwischen, dass das kein Entwicklungsprojekt ist.

Michaela Zöhrer: Ich hake mal kurz bei dir, Jürgen, nach: Ich habe dich so verstanden, dass bei dir diese Phase Anfang der 1980er Jahre – also das Entstehen oder das Aufkommen der neuen Friedensbewegung – auch entscheidend war für deine Auseinandersetzung mit friedenswissenschaftlichen Fragestellungen als Physiker. Habe ich dich richtig verstanden?

Jürgen Altmann: Ja, friedenswissenschaftlich in dem Sinne, dass man selbst forscht und sich nicht nur zu eigen macht, was im Wesentlichen einige wenige aktive Kollegen – Kolleginnen gab es nicht viele – in den USA herausgefunden und dann auch aufklärend an die Öffentlichkeit gebracht haben. Da ist zu nennen die Bewegung gegen die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen in den USA. Dabei haben Leute wie Richard Garwin und Hans Bethe, die beide am Manhattan-Projekt beteiligt gewesen waren, in den späten 1960 Jahren versucht, die US-Öffentlichkeit aufzuklären, dass Abwehrsysteme zwar defensiv klingen, aber eine Menge Probleme mit sich bringen: Zündung nuklearer Explosionen im eigenen Land, leichte Umgehung durch Aufbau von mehr Raketen. Auch in den 1980er Jahren gab es von einigen US-Kollegen Veröffentlichungen, zum Beispiel dazu, wie ein Marschflugkörper gelenkt wird. Solche Analysen haben wir uns erarbeitet oder nachgearbeitet und in dem Buch veröffentlicht.

1984 ging meine Höchstbefristungsdauer in Marburg zu Ende. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll sein kann, sich in der Physik mit neuer Rüstungstechnik und ihren Problemen zu beschäftigen und auch mit den Möglichkeiten, sie zu begrenzen. Ich habe mich gefragt: Es kann doch kein Naturgesetz sein, dass solche Rüstungstechnik-kritischen Artikel nur in den USA geschrieben werden. Können wir das nicht auch? Dann kam ein Ein-Jahres-Stipendienprogramm der Volkswagenstiftung zu Fragen der Rüstungskontrolle. Ermuntert wurden auch Personen aus Disziplinen, die traditionell nichts mit Rüstungskontrolle zu tun haben. Dort haben sich zwei Physiker aus Marburg beworben, Jürgen Scheffran und ich, und wurden sofort genommen. Wir haben ein Jahr lang unsere Projekte bearbeitet (meins ging um Laserwaffen im Weltraum) und wurden mehr oder weniger ermuntert, das in anderer Form und systematischer weiterzuführen. Das war der Beginn meiner professionellen Forschung zu Militärtechnikfolgenabschätzung und präventiver Rüstungskontrolle.

Michaela Zöhrer: Eva, du hast erwähnt, dass 1983 nicht nur ein Jahr mit einem Hoch für die Friedensbewegung war, sondern in vielerlei Hinsicht gleichzeitig einen Rückschlag für die damals ja ohnehin nur prekär institutionalisierte Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland darstellte. Wie hast du alle diese Jahre auch für dich persönlich erlebt? Vielleicht magst du dich nochmal ein bisschen zurückerinnern, als eine in dem Moment ja schon zum Frieden forschende Sozialwissenschaftlerin. Waren diese Jahre für dich besonders einschneidend, bewegend auf eine Art und Weise?

Eva Senghaas-Knobloch: Die große Demonstration 1983 war natürlich bewegend. Die Einschätzung, die hinter der Bewegung stand, war aber umstritten in der Friedensforschung – anders als in der Friedensbewegung, die ja zum Teil unmittelbar einen Erstschlag befürchtete. Ich erinnere mich noch an die Stirnbinden: „Angst!“ Das erschien mir persönlich schwierig nachzuvollziehen. Wir hatten selbstverständlich in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung alle Einschätzungen und Fragen aufgegriffen und streitbar diskutiert. Ich war sehr beeindruckt davon, dass so viele Menschen sich organisieren. Und gleichzeitig war ich nicht überzeugt davon, was die erklärte Angst angetrieben hat. Ich meine, dass sich dahinter eine ganze Reihe verschieden motivierter Ängste gebündelt hat. Es war ja eine hoch krisenreiche Zeit, die sicherlich dieses starke Gefühl unmittelbarer Bedrohung durch die sogenannte Nachrüstung mit angefeuert hat: außenpolitisch amerikanische Geiselkrise im Iran, militärische Intervention der UdSSR in Afghanistan. Beruflich hatte ich mit anderen Themen zu tun, war aber viel unterwegs, um Klärungen zu versuchen und nukleare Abrüstung zu thematisieren, denn nukleare Waffensysteme sind nicht Waffen, mit denen man im herkömmlichen Sinn umgehen kann. Und doch gab es schon seit Ende der 1950er/1960er Jahre bei den Nuklearmächten nukleare Kriegsführungsoptionen. Die darauf resultierende Bedrohungslage war immer aktuell.

Jürgen Altmann: Die grundsätzliche Bedrohung war uns klar, zumindest nachdem wir aufmerksamer geworden waren auf das Atomwaffenproblem. Aber es gab auch spezielle Fragen: Kann die Pershing-II Moskau erreichen oder nicht? So dass also mögliche Erstschlagsbefürchtungen auf östlicher Seite vielleicht doch berechtigt wären? Und wie ist das mit der SS-20? Wir haben schon gesehen, dass die Vorwarnzeiten, wenn man über 2.000 Kilometer schießt, vielleicht fünf Minuten sind. Das ist anders als bei den langreichweitigen Raketen, die von den USA über die Arktis in die Sowjetunion fliegen oder umgekehrt. Die brauchen um die 35 Minuten, von U-Booten in vorderen Stationen vielleicht zehn Minuten. Da besteht ein Grundsatzproblem: Wie entscheidet man, wenn ein Angriff gemeldet wird? Ist der echt? Und muss ich meine Raketen schon starten, bevor sie am Boden zerstört werden durch die gerade ankommenden gegnerischen? Das bringt die Gefahr des »Atomkriegs aus Versehen«, wenn ein Fehlalarm nicht als solcher erkannt wird und man den Atomkrieg auslöst, den man eigentlich vermeiden möchte.

Diese generellen Fragen waren uns im Kopf. Ja, aber es gab schon die allgemeine Befürchtung, dass der neue Aufrüstungszyklus das Ganze schlimmer macht. In der professionellen Friedensforschung wird man ein bisschen nüchterner, obwohl es um den Untergang der Zivilisation geht und um das potenzielle Umbringen großer Teile der Weltbevölkerung.

Michaela Zöhrer: Ich mag das Wort zwar nicht, aber es wurde 1983 durchaus postuliert, dass die Friedensbewegung seinerzeit gescheitert ist, an dem Punkt, dass die Stationierung auf westdeutschem Boden nicht verhindert werden konnte.

Wenn wir ein wenig in der Zeit voranschreiten und auf das Ende der 1980er Jahre bis hin zum großen Umbruch 89/90 blicken: Beim heutigen Symposium hat schon jemand drauf hingewiesen, dass 1990 im Raum stand, ob die Frage von Krieg und Frieden überhaupt noch relevant sei. Wie habt ihr diese Jahre des Umbruchs und der Wende erlebt? Was hat das mit der Friedenswissenschaft und mit euch als Wissenschaftler*innen gemacht?

Eva Senghaas-Knobloch: Wenn ich noch einmal kurz zurück darf, ich möchte gern unterstreichen: Am Anfang der nuklearen Militärdoktrinen war es schon sehr wichtig, dass sich die Naturwissenschaftler sehr stark geäußert haben. Wenn man bis in die 1950er Jahre zurückdenkt, als Adenauer sogenannte taktische Nuklearwaffen für eine bessere Artillerie hielt, spielte Carl Friedrich von Weizsäcker eine große Rolle bei den 18 Nuklearphysikern, die sich in der »Göttinger Erklärung« scharf dagegen verwahrt hatten. Später, mit Wurzeln in den 1970er Jahren, bzw. noch weiter zurück, haben sich im Westen vielfältige emanzipative, oft antikapitalistische Bewegungen gebildet, so auch die vielstimmige Frauen- und Frauenfriedensbewegung. Und in den osteuropäischen und zentraleuropäischen Ländern entstanden – unter sehr repressiven Bedingungen – dissidentische Bewegungen, Bürgerrechtsbewegungen, um sich zu befreien von der Umarmung durch eine Sowjetunion, die die Luft zu mehr Eigenständigkeit, Freiheit, Demokratie geraubt hatte. Dazu gehörten z.B. in Polen die breite Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, in der UdSSR unter anderem der Nuklearphysiker (1955 befasst mit der Wasserstoffbombe) Andrej Sacharow und Jelena Bonner. Nicht nur in der DDR waren unter den kritischen Schriftsteller*innen und Dissident*innen die Themen Frieden und Umwelt von großer Bedeutung. Und in der Tschechoslowakei nannte sich die Prager Dissidentenbewegung »Charta 77«; der Name bezog sich auf die Schlussakte des blockübergreifenden Konferenzprozesses in Helsinki zum Thema »Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« im Jahr 1975. In der Schlussakte war die Verstetigung zu den folgenden Themen vorgesehen: 1. Vertrauensbildende Maßnahmen, Aspekte der Sicherheit und Abrüstung, 2. Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Umwelt, 3. Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen. In Kapitel VII der Schlussakte ging es um „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“, genau das war für die Dissidenten und Dissidentinnen im politischen Osten zentral. In den westlichen Friedensbewegungen bemühten sich aber nur wenige, besonders der überkonfessionelle Rat der Kirchen in den Niederlanden, darum, gleichermaßen für nukleare Abrüstung und die Beachtung der Bürgerrechtsbewegungen in zentral- und osteuropäischen Ländern öffentlich einzustehen.

Ich habe Anfang der 1980er Jahre in Berlin miterlebt, wie wichtig für Prager Dissidenten das Thema Vertreibung der Deutschen war, für dessen Aufarbeitung sie plädierten. Das war für mich zu diesem Zeitpunkt politisch irritierend und berührend; 1965 war in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Denkschrift erschienen, die damals die Entspannungspolitik mitinitiiert oder befördert hatte. Diese »Ost-Denkschrift« hatte den Titel: »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Es wurde dafür plädiert, politisch nicht weiter auf einer Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 zu beharren. Das war ein politisch sehr umstrittener Schritt, der jedoch zur Entspannung beigetragen hatte. (Der scharfe innenpolitische Streit darüber war übrigens der Hintergrund, wie ich zur Friedens- und Konfliktforschung kam; die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD suchte jemanden, die ihr die Fragestellungen und Argumente dieses neuen Forschungszweigs zugänglich machte).

Jürgen Altmann: Die Entspannungspolitik und die Verträge von Warschau und Moskau (1970) sowie der 2+4-Vertrag von 1990 waren wichtige Voraussetzungen, hier in Mitteleuropa die drängenden Bedrohungen zu reduzieren. Die Freiheitsbewegungen in Mitteleuropa haben in der deutschen Friedensbewegung keine Rolle gespielt und wurden fast eher als Störfaktoren empfunden, weil man meinte, dass zur Entspannung gehört, dass man die Zustände ‚da drüben‘ akzeptiert.

Ich möchte den Blick auf die Mitte der 1980er lenken. 1985 wurde ein neuer Generalsekretär der KPdSU gewählt, Michail Gorbatschow. Nach zwei Jahren gab es plötzlich einen echten Durchbruch. Vorhin hattest du gesagt, Michaela: Die Friedensbewegung ist gescheitert oder hatte verloren. In der Tat, hier wurde stationiert. Aber dann plötzlich wurde abgerüstet mit Reagan und Gorbatschow, und zwar alle diese Mittelstreckenwaffen. Das war der Mittelstrecken- oder INF-Vertrag, durch den zum ersten Mal eine gesamte Nuklearwaffenkategorie auf Null heruntergefahren wurde. Es war ein gewisses »Wunder«, dass Gorbatschow kam und die Abrüstung so auf den Weg brachte. Wir bräuchten mehr Wunder von der Sorte. In unserer Friedensforschung untersuchen wir Verifikationsmethoden für einen zukünftigen, vielleicht einmal kommenden Nuklearwaffen-Abschaffungsvertrag. Das ist Vorratsforschung und liegt jetzt in Aktenschränken, auf Festplatten und wartet auf das nächste Wunder. Es könnte ja auch einmal eines im Westen sein. Das ist natürlich in den jetzigen Zuständen sehr schwierig.

Eva Senghaas-Knobloch: Das Interessante war 1987, dass tatsächlich ein Vertrag zustande kam zwischen zwei gegensätzlicher kaum vorstellbaren Partnern, nämlich zwischen Gorbatschow auf einen Seite und auf der anderen Seite Reagan, der die UdSSR als »Reich des Bösen« bezeichnet hatte. Und trotzdem kamen Gespräche und ein Abrüstungsvertrag über Mittelstreckenraketen zustande. Und das hängt – glaube ich – auch mit der westdeutschen Friedensbewegung zusammen, die sich als Friedensbewegung titulierte und sicher auch so verstand, aber in erster Linie eine Anti-Pershing-Bewegung war.

Es war in der UdSSR jemand an die politische Spitze gekommen, der überzeugt war, dass es eigentlich um ganz andere Fragen geht, mit denen wir uns global beschäftigen müssen. Und diese waren für Gorbatschow das, was er allgemeine »Menschheitsfragen« genannt hat, vor allem auch ökologische Fragen. Diese gemeinsam zu lösenden Aufgaben stellte er in den Mittelpunkt. Zudem hatte er wohl durch die großen Demonstrationen gegen die Pershing-II den Eindruck, dass offenbar von den Gesellschaften des Westens keine Gefahr für die Sowjetunion ausgeht. Insofern konnte er Abrüstung befördern, abgesehen davon, dass er auch sah, wie es sozio-ökonomisch und sozial um die Sowjetunion stand. Ich war 1988 in Moskau und bei Gesprächen stellte sich heraus, dass es im Land einen Rückgang der Lebenserwartung gab. Und in vielen Bereichen, von denen nicht wenige Menschen hier gedacht hatten, auch ich, da müsste die Sowjetunion eigentlich ganz gut dastehen, gab es offenbar große Probleme, über die aber noch nicht offen gesprochen wurde. Gorbatschow wollte das verändern.

Jürgen Altmann: Ja, die Friedensbewegung hatte bei Gorbatschow ein Echo. Es gab zwar eine gewisse Tradition mit den vorherigen Begrenzungsabkommen; aber dieses Echo hat die weitergehende Lösung mit auf den Weg gebracht. Von daher kann man vielleicht doch sagen, dass in gewisser Weise die Friedensbewegung hinten herum, mithilfe von Reagan und Gorbatschow, doch gesiegt hat!

Michaela Zöhrer: Ich würde gerne jetzt den Fokus hin zur Friedenswissenschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lenken. Wie habt ihr das erlebt in den 90er Jahren? Erinnert ihr euch an Ereignisse, bei denen ihr sagt, das war eine Zäsur, da kann man viel für heute mitnehmen, oder genau im Gegenteil?

Jürgen Altmann: Mit 1990 oder schon ab 1987 nach dem INF-Vertrag gab es bei den naturwissenschaftlichen Friedensforscher*innen einen großen Optimismus: „Jetzt wird wirklich abgerüstet, und wir forschen an den Details, wie man das am besten umsetzt, wie man überprüfen kann, dass die Verträge auch eingehalten werden usw.“ Die Geophysik zum Beispiel hat jahrzehntelang daran gearbeitet festzustellen, ob Erdbebenwellen, die irgendwo ankommen, von einer unterirdischen Explosion, sprich einem Kernwaffentest, herkommen oder von einem Erdbeben. Das Problem war eigentlich Mitte der 1980er Jahre gelöst. Aber dann hat es noch bis 1996 gedauert, als der vollständige Teststoppvertrag (CTBT) abgeschlossen werden konnte. Der baut ein sehr ausführliches Verifikationssystem auf mit einem weltweiten Sensornetz. Wir dachten, dass viele unserer Vorschläge umgesetzt werden. Wichtig ist hier auch die internationale Pugwash-Bewegung, wo Kernphysiker – auch wiederum meistens Männer – aus den USA und der Sowjetunion zusammenarbeiteten und die ersten Begrenzungsverträge konzipierten.

Wir haben damals und bis heute weiter geforscht und weitergemacht. Wenn ich »wir« sage, dann ist das ein kleines Grüppchen. Von den etwa 55.000 Mitgliedern der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sind 20 oder 30 in der Arbeitsgruppe »Physik und Abrüstung«, von denen nur ganz wenige professionell in der Forschung arbeiten.

Eva Senghaas-Knobloch: Ja, ich möchte die Bedeutung der Pugwash-Bewegung unterstreichen. Eine unglaublich wichtige Bewegung, weil sie über die politisch-ideologischen Grenzen hinweg versucht hat, sich über rein naturwissenschaftliche Zusammenhänge auszutauschen. Sie hat bis heute mit ihrem »Bulletin of the Atomic Scientists«, finde ich, eine bedeutende Rolle. Und das Bulletin ist ja auch ein Beispiel für eine damals blockübergreifende Kommunikation, dank einer in Wissenschaft verankerten Basis. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive von Friedensforschung ist das sehr wichtig, die Kommunikation aufrecht zu erhalten.

Aber was ich noch gern sagen wollte, Jürgen, ist: Das Sprechen von einem Sieg der Friedensbewegung, das kann man so sehen, aber ich denke, wir sollten diesen Gegensatz Sieg/Niederlage besser weglassen. Diese Sprache hat uns geschadet in den 1990er Jahren, sie wurde auch hierzulande verwendet, kam besonders aus den USA: „Jetzt haben wir, der Westen, gesiegt“, „das Ende der Geschichte“. Das waren alles Beiträge zu dem Antagonismus, den wir heute erleben. Es gab und gibt – wie wir sozialpsychologisch wissen können – tief gehende emotionale Erfahrungen, die sich innerhalb und zwischen Ländern aufbauen, über Generationen hinweg wirksam werden und eine hoch brenzlige Konfliktsituation schaffen können.

Jürgen Altmann: Ja, akzeptiert.

Eva Senghaas-Knobloch: Ich empfand 1990 als unglaubliche Befreiung der Kommunikation hin zur neuen Möglichkeit aufrichtigen Sprechens. Zuvor war die Situation so, dass – wie in allen zugespitzten Konflikten, jedoch in der Ost-West-Konfliktkonstellation meist asymmetrisch – wenn man sich kritisch auf die Hintergrundsituation im eigenen Land oder Zusammenhang bezog, dies als »Unterstützung der Gegenseite« angesehen wurde. Das schien mir 1990 vorbei zu sein. Dass sich das Fenster für freien Streit und aufrichtige Kommunikation dann wieder schloss, ist ein Unglück. Dieses Reden von Sieg und Niederlage trug dazu bei. Ich glaube, das sind Kategorien, die man besser nicht verwendet, weil es stattdessen um gemeinsame Aufgaben gehen muss. Damit kommen wir zu den Fragen einer gemeinsamen Sicherheitspolitik – alles im Helsinki- und im UN-Kontext vorgedacht in den 1970er und 1980er Jahren: Wir hatten Olaf Palme, wir hatten zuvor Willy Brandt in der Nord-Süd-Kommission, wir hatten Mitte der 1980er Jahre Gro Brundtland zum Konzept nachhaltiger Entwicklung, in der die soziale, ökonomische und ökologische Dimension als zusammenhängend begriffen werden sollten; 2015 kamen die UN-Nachhaltigkeitsziele dazu, mit Ziel 16 für eine friedensförderliche Entwicklung.

Michaela Zöhrer: Ich versuche jetzt eine Überleitung in die Gegenwart. Als ich dir gerade zugehört habe, Eva, da fand ich es bemerkenswert als du sagtest: Das war auch eine Befreiung des Denkens oder Sprechens. Wir haben in der Friedens- und Konfliktforschung in den letzten zwei Jahren immer wieder eine weitere Verengung der Diskursräume erlebt, also dass genau diese Freiheit zu sprechen, zu denken, ohne dass man gleich in irgendwelche ideologischen Schubladen gesteckt wird, eingeschränkt war. Es gibt daneben verschiedene weitere Anknüpfungspunkte zu den Themen von eben, die uns auch in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft immer noch bewegen. Was treibt euch gerade um? Wenn wir das sowohl friedenspolitisch als auch friedenswissenschaftlich betrachten: Was möchtet ihr uns an Impulsen noch mitgeben?

Jürgen Altmann: Das sind zwei verschiedene Dinge. Zu unserer Wissenschaft: Der Wissenschaftsrat hat in seiner Beurteilung der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland von 2019 gesagt, dass sie gut aufgestellt ist. Aber bei der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung ist die Lage prekär. Daraufhin hat das BMBF, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, ein spezielles Förderprogramm aufgelegt, wo sich auch naturwissenschaftliche Personen beteiligen konnten und auch zum Teil Projekte bekommen haben. Das läuft ganz gut. Das »Peace Research Institute Frankfurt« hat ein neues Programm zur natur- und technikwissenschaftlichen Rüstungskontrollforschung gegründet; eine Physikprofessur wurde gerade an der TU Darmstadt ausgeschrieben. Also da tut sich etwas. Das sind dann vielleicht nicht mehr 20 Leute, sondern vielleicht 30 oder 40, wenn man die Doktorand*innen mitzählt. Das ist ein großer Fortschritt.

Was die fachlichen Fragen angeht, die viel größer sind: Die Rüstungsforschung und die Technikentwicklung im Militärbereich haben auch 1990 nicht aufgehört. Es gab in den US-Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung ein kleines Plateau – aber dann ging es schnell wieder hoch. Da wird sehr viel Geld ausgegeben: Zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung werden von den USA geleistet. Die wollen militärtechnisch so überlegen sein, dass – jetzt ein wörtliches Zitat des US-Verteidigungsministeriums – sie „jeden möglichen Gegner auf jedem möglichen Schlachtfeld besiegen“ können. Das ist zwar eine Illusion, insbesondere wenn man an nukleare Schlachtfelder denkt. Aber es wird sehr viel Geld ausgegeben und kontinuierlich an neuen Waffen- und anderen Militärtechniken gearbeitet. Ich habe mich fachlich unter anderem um besatzungslose Waffensysteme gekümmert, auch etwas geschrieben über die Gefahren von autonomem Schießen. Ich habe große Angst davor, dass damit nicht nur das Kriegsvölkerrecht nicht eingehalten wird, weil da kein Mensch mehr entscheiden würde, ob mögliche Ziele jetzt Kombattant*innen sind oder nicht, sondern dass es dahin gehen kann, dass sich zwischen zwei mit autonomen Waffensystemen ausgerüsteten Armeen instabile Situationen ergeben können, wenn sich bei kurzem Abstand die Reaktionszeiten von zehn bis 30 Minuten zwischen Nuklearmächten auf Sekunden verkürzen. Da besteht dann eine viel höhere Gefahr für Fehlwahrnehmungen und Eskalation – vielleicht nicht gleich nuklear, aber in der Folge dann vielleicht doch.

Es gibt noch viele andere Bereiche. Neue biologisch-chemische Agenzien könnten spezifischer wirken. Das ist gut, wenn es gegen Krebs ist oder gegen seltene Krankheiten. Aber wenn man das dann bewusst für neue Kampfstoffe einsetzen würde, wäre das hoch gefährlich. Es gibt einen Verbotsvertrag für Chemiewaffen, der auch überprüft wird; für biologische Waffen haben wir die Verifikation aber leider nicht, es gibt keine Überprüfungsregeln und keine internationale Organisation. Weiterhin gibt es die »traditionellen« Gefahren, mit denen ich wissenschaftlich groß geworden bin, nämlich mit Weltraumwaffen, Raketenabwehr und jetzt Hyperschallraketen. Da tut sich Einiges. Wenn man weiter in die Zukunft denkt, sprechen wir über Modifikationen am menschlichen Körper, um Soldaten und Soldatinnen effektiver kämpfen zu lassen. Da sind eine Menge Dinge in der Pipeline, die die Situation in der Welt erheblich schlimmer machen können, als sie heute schon ist. In der Situation des jetzigen russischen Kriegs gegen die Ukraine ist es natürlich ganz schwierig, zu irgendwelchen Begrenzungen zu kommen. Aber die gemeinsame Beurteilung, dass da Gefahren drohen und dass man sie gemeinsam auch international in den Griff kriegen muss, muss gefördert werden.

Eva Senghaas-Knobloch: Das kann ich nur bestätigen und auf weitere Gefährdungen ausdehnen: Damals hat Gro Brundtland deutlich gemacht, wie bedeutsam die Beachtung des mehrdimensionalen Zusammenhangs nachhaltiger Entwicklung ist. Aber ich möchte auch an Präsident Eisenhower erinnern, der sich sehr früh schon kritisch auf den militärisch-industriellen Komplex bezogen hat. Heute würden wir vielleicht vom militärisch-industriell-wissenschaftlichen usw. Komplex sprechen. Die Interessen spalten sich immer weiter auf und wirken dann zusammen umso mächtiger. Das macht notwendige Veränderungen so schwierig. Die Aufrüstungsdynamik war nur zu Teilen im Ost-West-Konflikt begründet, sie hatte jeweils auch innenpolitische ­Ursachen. Im Westen und Osten wurde jeweils überlegt: Wenn wir dieses neue Waffensystem jetzt haben, dann müssen wir uns auch mit dem vermutlich dagegen gerichteten System der Gegenseite befassen usw. So kommt man in eine stark »selbstbezügliche« Dynamik, die Dieter Senghaas für die Abschreckungslogik beschrieben hat und in der wir weiterhin gefangen sind.

Das Thema »Gemeinsame Sicherheit« ist schon angesprochen worden. Ich sehe eigentlich keinen anderen Weg, als dass wir uns über Wege zu gemeinsamer Sicherheit aus diesem Teufelskreis von Gewaltkonflikten und Waffenverbreitung heraus bewegen. Wenn das Thema gemeinsame Sicherheit vor desaströsen Klimakatastrophen, die so gut wie alle Menschen betreffen, zentrale Priorität gewinnen würde, könnte es gelingen, von festgezurrten Feindseligkeiten und den das Klima aufheizenden Aufrüstungsschüben wegzukommen. Dazu brauchen wir das Spektrum aller Disziplinen der Friedensforschung.

Michaela Zöhrer: Wir haben ganz viele Themen nicht ansprechen können, aber konnten gleichzeitig viele anschneiden und einige auch vertiefen. Ich finde, die Themenvielfalt, mit der sich die Forschung heute auseinandersetzen muss und kann, illustrieren auch unsere W&F-Themenschwerpunkte im Heft ganz gut. Ich möchte mich ganz herzlich bei euch beiden bedanken für eure Eindrücke und sehr bedenkenswerten Impulse.

Eva Senghaas-Knobloch ist Sozialwissenschaftlerin, Prof. i.R. am FZ Nachhaltigkeit der Uni Bremen, vielfältiges Engagement in der Friedens- und Konfliktforschung; erstes Buch 1969: Frieden durch Integration und Assoziation. Stuttgart: Klett.
Jürgen Altmann ist Physiker und Friedensforscher (im Ruhestand); er lehrt weiter an der TU Dortmund. Er ist Vorsitzender des Forschungsverbunds Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).

Vielfalt mit Ziel: Wissenschaft für den Frieden

Vielfalt mit Ziel: Wissenschaft für den Frieden

Die Debatten der letzten beiden Jahre zum Krieg Russlands gegen die Ukraine und der jüngsten Gewalteskalation im Nahen Osten nach dem Angriff der Hamas auf Israel und dem folgenden Krieg gegen Gaza haben deutlich gemacht: Die Friedens- und Konflikt­forschung hat zuletzt wieder eine bemerkenswerte Relevanz bekommen, die in einer wachsenden Wahrnehmung durch Politik und Medien sichtbar wird. Zugleich zeigt sich eine Spannung zwischen akademischer Forschung sowie der Erkenntnis auf der einen und politischer Beratung auf der anderen Seite. In der Öffentlichkeit sind gesellschafts- oder politikkritische Beiträge eher randständig. Gemäßigt politiknahe oder klar unterstützende Impulse, die oft akademisch erstaunlich blass bleiben, sind hingegen gefragt wie selten zuvor. In der akademischen Sphäre gibt es durch die starke Ausdifferenzierung und Institutionalisierung des Forschungsfeldes eine nahezu unüberblickbare Vielfalt an Fachdiskursen, Journals, Forschungsbereichen sowie epistemologische, methodologische, theoretische und praktische Ansätze zu allen Phasen eines Konfliktverlaufs. Hier sticht eine Vielzahl der Ergebnisse in der Tendenz eher durch ihre Skepsis, Vorsicht, Kritik oder offener Gegner*innenschaft zu etablierten Mechanismen der Friedenserzwingung hervor.

In dieser Vielstimmigkeit ein Angebot mit klarem Kompass zu schaffen, das ist der Anspruch von W&F. Mehr noch als bei der Gründung der Zeitschrift in Marburg vor 40 Jahren, als mit Fragen der Raketenstationierung, Weltraumrüstung und der Friedensbewegung die Themen des Blattes klarer schienen, geht es heute viel stärker um die Herausforderung der Auswahl von friedenspolitisch relevanten Beiträgen, um diese anschließend möglichst auch allgemeinverständlich zu präsentieren. Entsprechend haben sich die Schwerpunkte und der Zuschnitt von W&F verändert. Doch die Aufgabe, Orien­tierung zu bieten und Kompass für die Leser*innen zu sein, ist geblieben.

Damit dieser Vielfalt der Perspektiven genüge getan wird und der interdiszi­plinäre und intergenerationelle Charak­ter von W&F auch zum Anlass von 40 Jahren deutlich hervortreten kann, hatten wir zum Jubiläumssymposium in Bonn absichtlich »breit« aufgerufen – die Ergebnisbreite und -tiefe war beeindruckend, das Symposium aus unserer Warte ein voller Erfolg.

Dieses Heft ist ein Potpourri, das eben diese Vielfalt an Perspektiven und Zu­gängen zeigen wird. Der Schwerpunkt gliedert sich in zwei Abschnitte: die ersten Beiträge üben Kritik am Status quo, die darauf folgenden Beiträge versuchen sich an neuen Impulsen.

Herbert Wulf kritisiert wie schon in Heft 1/1983 (!) die Logik von Sozialabbau und gleichzeitiger Aufrüstung, Lutz Unterseher wirft einen kritischen Blick auf die jüngere Geschichte der Bundeswehr und entwirft Optimierungsoptionen, Christiane Lammers blickt aus aktuellem Anlass auf die vergangenen 25 Jahre des israelisch-palästinensischen Konfliktes aus der Warte des W&F-Archivs; Benno Fladvad weist die Schwierigkeiten mit der Rede von den Erneuerbaren Energien als »Friedensenergien« am Beispiel Kolumbiens nach, Christian Heck blickt auf unseren kriegerischen Umgang mit der technologischen Vorsortierung unserer Welt durch Sprachmodelle von KI und Susanne Schmelter analysiert die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft im UN-System.

Ulrich Wagner entwirft dann im zweiten Teil des Heftes in fünf grundlegenden Impulsen notwendige Veränderungen für eine Friedenspsychologie der Zukunft; Irem Akı zeigt das Potential eines Queering von Peacebuilding anhand des kolumbianischen Friedensprozesses auf und Korassi Téwéché skizziert den Entwurf einer Friedensphilosophie im Anschluss an Fanon und in Abkehr von einem von ihm als historizistisch kritisierten postkolonialen Diskurs; Rebecca Froese, Melanie Hussak, Dani*el*a Pastoors und Jürgen Scheffran umreißen eine transformative Konfliktarbeit für die Aufgabe der Großen Transformation, während Bahar Oghalai und Maria Hartmann die demokratiepolitischen Chancen in einer postmigrantischen Gesellschaft erkunden.

Seit 40 Jahren ringt auch W&F um die Frage, was Wissenschaft für den Frieden bedeutet – und die unterschiedlichsten Antworten wurden darauf im Heft gegeben. Ein stolzes Archiv von über 2.500 Beiträgen hat sich angesammelt; ein Erbe, das sich sehen lassen kann, das aber auch einer (selbst-)kritischen Betrachtung unterzogen werden muss. Was gilt (noch) von dem, was in W&F versucht, angedacht, vorausgedacht wurde? Seien Sie unsere schärfsten Kritiker*innen, unsere stärksten Fürsprecher*innen zugleich – und empfehlen Sie uns weiter, damit der mühsame Weg eines wissenschaftlich fundierten Diskurses auf einer breiten Basis gemeinsam leichter zu gehen ist.

Bald schon werden Sie auf der Homepage von W&F eine Dokumentation des Symposiums finden können – mit dem Programm, einigen Bildern sowie einer Vielzahl von Beiträgen, die auf dem Symposium vorgetragen wurden, in verschriftlichter Form.

Wir wünschen Ihnen nun eine anregende Lektüre unseres »Jubiläumshefts«,

Ihre Regine, Klaus, David, Hans-Jörg, ­Jürgen und Paul • Organisationsteam des Jubiläumssymposiums • »40 Jahre W&F: Wissenschaft für den Frieden«

Medien-Kriegsrhetorik

Medien-Kriegsrhetorik

Essenz und Effekt geopolitischer Covertexte aus zehn Staaten

von Joachim Grzega

Die Sprache bebilderter Zeitschriften-Covertexte aus zehn Ländern zum Thema »Westen-Ukraine-Russland« 2022 steht im Fokus dieses Beitrags. Oft verwenden Redaktionen bekannte Kriegsrhetorik-Techniken, aber es gibt auch eine neue Technik: »Anti-Diplomatie«. Ein Vergleich mit dem Ergebnis einer repräsentativen Meinungsumfrage zeigt interessante Korrelationen zwischen der Anzahl an einschlägigen Texten und den Meinungen der Befragten zu Sanktionen, Waffenlieferungen und militärischem Eingreifen.

Ob ein Zusammenhang zwischen der Meinungshaltung der Bevölkerung eines Landes und der medialen Repräsentation zu einem Thema besteht, ist nicht leicht zu erfassen. Dennoch stellen sich für den öffentlichen Diskurs Fragen nach den Wirkmechanismen, wie öffentliche Meinung entstehen kann. Hierzu können korpuslinguistische Überprüfungen helfen, erste Korrelationen zu verstehen. Ursprünglich wollte ich prüfen, welchen Stellenwert einige prominente Vorschläge zur Deeskalation in der Medienlandschaft bekommen hatten. Allerdings waren Diplomatie-bezogene Titelseiten derart selten, dass sich kein sinnvoller Untersuchungsaufbau gestalten ließ.

Es war aufgrund bisheriger Analysen zu erwarten, dass Konflikt fördernde oder berichtende Titelseiten häufiger zu finden sein würden als Frieden oder Beruhigung fördernde (vgl. z.B. Wolfsfeld 2004, Galtung und Ruge 1965). Dem wird dieser Beitrag durch eine eher allgemeine Untersuchung von Titelseiten auflagenstarker Wochenzeitungen zum Thema Ukraine nachspüren. Ich werde zunächst die Verteilung bestimmter Muster mit Blick auf die Semantik, also die Bedeutungs- bzw. Inhaltsseite, der Titeltexte herausarbeiten. Anschließend werde ich dann sprachbezogene Frequenzen mit Antworten aus einer Ipsos-Meinungsumfrage in Beziehung setzen. Konkret lauten die Forschungsfragen:

(1) Wie viele Cover im Zeitraum behandeln das Thema »Westen-Ukraine-Russland« prominent?
(2.1) Wie verteilt sich die grobe semantische Ausrichtung der Cover-Texte?
(2.2) Welche feineren semantischen Aspekte treten auf und wie verteilen sich diese?
(3) Welche Korrelationen lassen sich zur Ipsos-Umfrage beobachten?

Methodik

Der Beitrag strebt eine deskriptive Bearbeitung der Frage an. Gleichwohl werden zum Ende auch einige das Modell bzw. die Theorie ergänzende Beobachtungen zusammengefasst. Für die grobe semantisch (konnotative) Ausrichtung soll ähnlich verfahren werden wie bei Selimi (2023), wo nach einer Framing-Analyse zwischen pro-russischen, pro-ukrainischen und objektiven Zeitungsüberschriften unterschieden wird. In diesem Beitrag nutze ich erweiternd die Kategorien »pro-russisch/anti-westlich«, »pro-westlich/anti-russisch«, »regierungskritisch« und »objektiv-deskriptiv«. Mit »objektiv-deskriptiv« sei dabei die nüchterne, unemotionale, rein deskriptive Betrachtung eines Ereignisses ohne kämpferische Wortwahl gemeint. Umgekehrt lassen sich die anderen Kategorien unter dem Begriff »emotional« subsumieren (Selimi verwendet den Ausdruck »subjektiv«). Ein musterhaftes Beispiel: Eine Formulierung wie „X-Stadt von Y-Land bombardiert“ ist als deskriptiv-objektiv einzuordnen. Dagegen enthält eine Wendung wie „X-Stadt von Y-Land grausam bombardiert“ ein emotionales Adverb und ist daher als emotional zu sehen, und zwar als regierungskritisch, falls diese Formulierung von einer Y-Zeitschrift gewählt wird, und als anti-Y, wenn diese Formulierung von einer Nicht-Y-Zeitschrift stammt.

Selimis Kategorien »pro-russisch« und »pro-ukrainisch« habe ich angesichts der geopolitischen Lager erweitert und nenne sie »pro-russisch/anti-westlich« und »pro-westlich/anti-russisch«; dabei muss etwa nicht jede pro-russische Äußerung explizit anti-westlich sein, doch sie reiht sich emotional in dieses Lager ein. Bei der Analyse ergab sich außerdem, dass eine Kategorie »regierungskritisch« sinnvoll schien, also eine emotional-kritische Formulierung gegen die eigene Regierung (beispielsweise zur Aufforderung des klaren Bekenntnisses für das eigene Lager).

Für die feineren semantischen Aspekte werden die zehn Kriegsrhetorik-Axiome herangezogen, wie sie erstmals von Ponsonby (1928) für den Ersten Weltkrieg beschrieben und für weitere Kriege von Morelli (2001) bestätigt wurden. Es wird untersucht, inwiefern sich diese in den Texten wiederfinden.

Wie setzt sich unser Korpus zusammen? Ausgewählt wurden die politischen Wochenzeitungen, die in verschiedenen Wikipedia-Versionen als die jeweils auflagenstärksten des Landes mit entsprechenden Quellenverweisen beschrieben sind (siehe Tabelle 1).1 Die Auswahl umfasst zum einen alle europäischen Länder die in der noch zu behandelnden Ipsos-Umfrage berücksichtigt wurden, mit Ausnahme von Spanien und Belgien, die keine politischen Wochenzeitschriften haben, die im ganzen Land gelesen werden. Zusätzlich berücksichtigt wurden die USA (als führender NATO-Staat mit seinen zahlreichen Militärbasen in Europa und Waffenlieferungen in die Ukraine) sowie ergänzend Russland. Im einzelnen handelt es sich somit um folgende Wochenzeitschriften:

  • Deutschland (DE): Der Spiegel
  • Frankreich (FR): Le Point
  • Großbritannien (UK): The Economist
  • Italien (IT): Espresso
  • Niederlande (NL): EW Weekblad
  • Polen (PL): Polityka
  • Russland (RU): Argumenty i Fakty
  • Schweden (SE): Fokus
  • Ungarn (HU): hvg
  • USA (US): Newsweek

Für die Zusammenschau von sprachlichen Daten und politischen Haltungen greife ich auf die erwähnte Ipsos-Umfrage (2023) zurück.2 Sie wurde vom 25.11.2022 bis 09.12.2022 erhoben. Die untersuchten Titelseiten umfassen daher den Zeitraum 24.02.2022 bis 09.12.2022 – 42 Wochen. Berücksichtigt wurden das zentrale Coverbild mit dazugehörigem Text sowie in prominenter Schrift gehaltene und mit Bild versehene kleinere Texte auf dem Cover. Es werden zur Belegangabe Länderabkürzung und Ausgabennummer des Jahres 2022 bzw. – im Falle von UK und FR– das System MMDD (Monat/Tag) verwendet.

Die theoretische Begründung für einen Vergleich von sprachlichen Daten und der Verbreitung von Meinungen liegt darin, dass man in Linguistik und Psychologie (spätestens seit Lippmann 1922) unter dem Begriff »Propaganda« beschrieben hat, wie spezielle sprachliche Techniken das Denken und Fühlen von Menschen beeinflussen können; heute wird die Beeinflussung von Gedanken durch Netzwerke von Wörtern und Sätzen auch als »Framing« bezeichnet, wie es etwa von Tversky und Kahneman (1981) und Chomsky und Herman (1988) illustriert wurde. Für diese Studie wurden die Titelseiten landesweit beliebter politischer Wochenmagazine untersucht, da es sich dabei um Botschaften handelt, die die Menschen eines Landes auch dann wahrnehmen, wenn sie das Produkt nicht kaufen – sie sehen sie zumindest unbewusst im Vorbeigehen, da sie in Läden und Kiosken zu sehen sind. Solche Quellen können durch ihre Verbreitungsstärke und Dominanz als typische Vertreter der nationalen Mediensprache oder des Mediendiskurses betrachtet werden. Dies soll keinesfalls die Existenz von Gegenkulturen leugnen bzw. die Medienvielfalt ungebührlich verkürzen – es soll aber sichtbar machen, welche dominanten Narrative geradezu »unvermeidbar« präsent sind.

Im Gegensatz dazu haben Nachrichten in sozialen Medien zwar durchaus Auswirkungen auf die Rezipierenden, werden aber von diesen autonomer ausgewählt oder individueller durch Algorithmen angeboten (vgl. z.B. Bucher 2018). Auch TV-Nachrichtensendungen können wie soziale Medien gemieden werden. Mit Blick auf die kulturübergreifende Fragestellung und den Mangel an Daten zu konkreten individuellen Mediengewohnheiten im Zusammenhang mit individuellen politischen Einstellungen sind Zeitschriftencover also methodisch besser geeignet als Nachrichten in den sozialen Medien und im TV.

Für die Zusammenschau der sprachlichen Daten und der Umfrageergebnisse wird der Rangkorrelationskoeffizient herangezogen (vgl. Cohen 1988, Ellis 2010). Dies soll jedoch nicht als strenge statistische Analyse verstanden werden, sondern als Weg, Hinweise auf Zusammenhänge zu erhalten. Schon gar nicht lässt sich so auf Kausalität schließen.

Analysen

Covererwähnungen und erste semantische Klassifizierung

Wenn wir zunächst die Cover mit Haupttiteln und deren Untertiteln sowie die mit Bild versehenen großen Nebentexte zum Themenkomplex »Westen–Ukraine–Russland« zusammenzählen, so ergibt sich die Darstellung in Abbildung 1. Die meisten Texte mit einem thematischen Bezug zum Krieg in der Ukraine sind also in der deutschen Zeitschrift zu finden, die wenigsten in der US-amerikanischen.

Nehmen wir nun jene Länder in die engere Betrachtung, in denen mehr als 20 % der Wochen einschlägige Titelseiten zeigen und klassifizieren diese Titelseiten in objektiv-deskriptive, pro-westliche/anti-russische, pro-russische/anti-westliche und allgemeinere, die eigene Regierung kritisierende Seiten, so ergibt sich die in Abbildung 2 dargestellte Verteilung. Während also die russische Publikation den stärksten objektiv-deskriptiven Stil zeigt (80 %), weisen die Zeitschriften aus Deutschland und Frankreich einen relativ hohen Anteil an emotionalen Covern auf (mindestens zwei Drittel). Die Blätter in Polen, Italien und Großbritannien bieten einen gemischten Anblick: knapp die Hälfte der Titelseiten wird von objektiv-deskriptiven und die andere Hälfte von entsprechend emotionalen Texten (40 % bis 60 %) gebildet. Ein klares geographisches Muster zeigt sich nicht. Nähme man noch die Verteilung der niederländischen und ungarischen Zeitungen hinzu (die knapp unter der 20 %-Marke lagen), ergäbe sich auch kein klareres Bild. Es ist also weder eine publizistische Blockbildung parallel zur politischen Systemkonkurrenz zu beobachten, noch ein Unterschied zwischen größeren und kleineren Staaten noch ein Unterschied zwischen westlichen und östlichen Staaten.

Land

Haupttext +
großer Nebentext

US

4

SE

5

HU

8

NL

8

IT

10

RU

10

UK

11

PL

11

FR

14

DE

18

Abb. 1: Anzahl Coverseiten (ab 20% der Ausgaben leicht gegraut, ab 25% stärker gegraut)

Land

objektiv-
deskriptiv

regierungs-
kritisch

pro-westlich/
anti-russisch

anti-westlich/
pro-russisch

DE

6

3

9

0

PL

6

2

3

0

UK

6

0

5

0

FR

4

1

9

0

RU

8

0

0

2

IT

4

2

4

0

Abb. 2: Grobsemantik der Texte

KRP

US

UK

IT

NL

FR

DE

HU

PL

SE

RU

1

2

+

+

+

+

+

+

+

+

3

(+)

+

+

+

+

+

(+)

+

(+)

4

+

+

+

+

+

+

+

+

5

+

+

+

+

+

+

+

+

6

+

7

+

+

+

+

+

+

+

+

8

+

+

+

9

+

+

+

+

+

10

(+)

(+)

(+)

(+)

Σ1-10

2,5

5,5

3

7

4,5

8,5

4,5

7

4

3

11

+

Σ1-11

2,5

5,5

4

7

4,5

8,5

4,5

7

4

3

Abb. 4: Verteilung der Kriegsrhetorik-Prinzipien; die Klammern sagen, dass dies hier nur in milder Form auftritt und daher mit 0,5 Punkten weniger eingerechnet wird.

Kriegsrhetorische Prinzipien in der Anwendung

In den emotionalen Texten (über alle Kontexte) wurde im folgenden Untersuchungsschritt nach den Techniken der Kriegsrhetorik gemäß Ponsonby (1928) gesucht. Diese zehn kriegsrhetorischen Prinzipien (KRP) sind in Abbildung 3 aufgelistet und mit Beispielen und Anmerkungen versehen. Die genaue geographische Verteilung und Stärke der Anwendung dieser Prinzipien zeigt Abbildung 4.

Es ist erstaunlich, dass es zum Prinzip 1 »Wir wollen den Krieg nicht« keine Beispiele gibt. Vielmehr ist Umgekehrtes zu beobachten: Es werden Waffen, militärische Stärke und ein militärischer Sieg mehr thematisiert und propagiert, als ein schnelles Kriegsende, militärischer Abbau, Diplomatie und Frieden. Letztere werden sogar lächerlich gemacht. Das Wort »Diplomatie« kommt nur ein einziges Mal vor, nämlich in IT-40 – negativ, nach Hinweis auf den „nuklearen Albtraum“: „E la diplomazia spera di centrare l’obiettivo minimo: la trega“ („Und die Diplomatie hofft das Minimalziel zu erreichen: Waffenstillstand“). Somit lässt sich als neues KRP 11, gleichsam als Ergänzung zu Ponsonby, hinzufügen: Diplomatie ist lächerlich (und bestenfalls nicht erwähnenswert).

Insgesamt lässt sich zur Verteilung der KRP Folgendes beobachten (vgl. Abbildung 4): Das regionale Cluster der deutschen, polnischen, ungarischen, niederländischen, britischen und französischen Texte hat auf die Mehrheit der KRP zurückgegriffen. Die Texte aus den USA, Schweden, Russland und Italien griffen auf weniger dieser Strategien zurück. Gleichwohl nutzten alle untersuchten Texte eine oder mehrere der erwähnten Techniken.

Einfluss auf die Meinungsbildung?

Betrachten wir nun die allgemeine Häufigkeit von einschlägigen Covertexten (Abbildung 1) und stellen sie mit einem Rangkorrelationstest in Korrelation zu den Antworten aus der Ipsos-Umfrage (mit Daten für alle untersuchten Länder außer Russland). Einige Korrelationskoeffizienten (r) sind zwischen -0,20 und +0,20, also nahe 0, und sollen daher als vernachlässigbar gesehen werden (Cohen [1988] würde Werte zwischen 0,1 bis 0,3 als geringen Effekt sehen). Bei einigen Aspekten jedoch wird es spannend. So lassen sich folgende leichte bis mittlere Korrelationen ausmachen3:

Je mehr Texte es insgesamt gab,

(1) desto niedriger der Prozentsatz, der für wirtschaftliche Sanktionen ist, selbst wenn dies bedeutet, dass Energie- und Lebensmittelpreise eine Zeit lang höher sind (r = -0,26);

(2) desto niedriger der Prozentsatz, der sagt, dass er die Nachrichten verfolgt hat (r = -0,44)

(3) desto höher der Prozentsatz, der sich für die Beibehaltung diplomatischer Beziehungen mit Russland ausspricht (r = 0,55)

(4) desto höher der Prozentsatz, der sagt, dass die Probleme nicht Sache des eigenen Staates sind und man sich nicht einmischen sollte (r = 0,20).

Nun wollen wir diese Ergebnisse noch etwas unterteilen: Ich fragte mich, ob die Anzahl der Wochen, in denen »emotionale« Cover-Texte zu sehen waren, einen spezifischen Einfluss auf die Haltung am Jahresende hatten und wie es mit den Korrelationen der »objektiv-deskriptiven« Texte aussieht. Man kann dazu auf Analyse 2.1 zurückgreifen und den Korrelationskoeffizienten für die fünf bzw. sieben Staaten (vgl. Abbildung 2, abzüglich Russland) mit den meisten Titelseiten (>20 % der Wochen bzw. knapp darunter) mit Blick auf das Verhältnis von emotionalen und objektiv-deskriptiven Texten berechnen.4 Berücksichtigt man auch dann nur die Aspekte, bei denen alle sechs Berechnungen Koeffzienten (r) außerhalb des Bereichs zwischen -0,20 und +0,20 (nahe Null) ergeben, lässt sich Folgendes sagen:

Je mehr emotionale Texte beziehungsweise je weniger objektiv-deskriptive Texte es gab,

(1) desto weniger Befragte sind für Sanktionen (r-Werte von 0,43 bis 0,89).

(2) desto mehr Befragte sehen den Krieg nicht als Sache ihres Landes (r-Werte von 0,20 bis 0,84).

(3) desto weniger Befragte haben intensiv die Nachrichten verfolgt (r-Werte von 0,57 bis 0,94).

Der Vergleich zeigt also überraschenderweise: Je mehr emotionale Texte beziehungsweise je weniger objektiv-deskriptive Texte es gab, desto weniger Befragte wollen mit dem Krieg in militärischer oder wirtschaftlicher Form zu tun haben. Möglicherweise kann Propaganda also so stark sein, dass sie – zumindest bei vom Konflikt stark betroffenen Ländern – abstoßend wirkt und das Gegenteil bewirkt. Allerdings sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden, da keine Signifikanzen im statistischen Sinne vorliegen und ja nicht das konkrete Bewegungs- und Leseverhalten und die Ansichten von Individuen verknüpft wurden. Dies müsste in speziellen Experimenten weiter analysiert werden. Hier geht es nur um Hinweise.

KRP

Beispiele und Anmerkungen

1. Wir wollen den Krieg nicht.

[kein Beispiel im Korpus]

2. Der Feind ist allein Kriegsverantwortlicher.

[DE-09] Putins Krieg;

[PL-10] Stalinowska wojna Putina ,Putins stalinischer Krieg‘;

[HU-09] Putin als világrendbontó ,Weltordnungszerleger‘;

negative Symbole für die Kriegsaktivitäten der Gegenseite, etwa im Westen der Buchstabe Z russischer Panzer (z.B. in kreativer Worttrennung im Wort GÁ Z ,Gas‘ in [HU-37]) und im russischen Medium Nazi-Symbole in Verbindung mit dem ukrainischen Asow-Regiment (z.B. [RU-21])

3. Der Führer des Feinds ist der Teufel.

Putin als diabolique ,diabolisch‘ [FR-0602]

oder wie Iwan der Schreckliche, Stalin oder Hitler

D’Ivan le Terrible à Vladimir Poutine ,Von Iwan dem Schrecklichen zu Vladimir Putin‘ [FR-0317],

Leben wie unter Stalin [DE-11],

dictators als Hitler, Saddam en Poetin ,Diktatoren wie Hitler, Saddam und Putin‘ [NL-47]

In milderer Form ist der Feind „Zerstörer“ oder „Täter in einem bösen Spiel“.

4. Unsere Sache dient allen.

Also auf der einen Seite allen im Westen oder Europa und auf der anderen Seite der gesamten russischen Ethnie, z.B. [RU-09] Чем им можно помочь?, Womit kann man ihnen [Flüchtlingen, wie im Bild] helfen?‘

5. Unsere Sache ist heilig.

Statt heilig auch kulturell/moralisch hochwertig:

(1) symbolische Ereignisse im russischen Medium (Донбасс сердце России | Операция на сердце | Донбасс возвращается домой, Donbass, Russlands Herz | Operation am Herzen | Donbass kehrt nach Hause‘ ([RU-39], nach den Referenden) vs. westliche Texte in oder vor ukrainischen Farben.

(2) Im Westen ist Selenskyjs Kampf heldenhaft, im russischen Medium jener von Putin: z.B. mit Anspielung auf Selenskyjs Schauspielerberuf In de rol van zijn leven ,In der Rolle seines Lebens‘ [NL-13]

6. Die Künstler und Intellektuellen unterstützen uns.

DE-36: Porträt von Gorbatschow als Der Anti-Putin, was jedoch verschweigt, dass gerade in der internationalen Politik Gorbatschow Putin stützte.

7. Der Feind begeht bewusst Grausames, wir höchstens unabsichtlich.

(1) Darstellung der Blutigkeit, z.B. [DE-18] Putins blutige Spur, [IT11] Impero di sangue ,Blutimperium, Blutherrschaft‘.

(2) Krieg und drohender Energieausfall, z.B. [UK0716] Europe’s coming winter peril ,Europas kommendes Winter-Risiko‘.

(3) Spekulation über weitere Kriegsabsichten Putins (z.B. [NL-10] Russenangst terug in Europa ,Russenangst zurück in Europa‘, [HU-42] als Anspielung auf Cyberkrieg www.kiberhabo.ru (wobei kiberháború so getrennt wird, dass ru als russisches Internet-Länderkennzeichen stehen bleibt).

8. Der Feind benutzt unzulässige Waffen.

Im Westen wird die nukleare Bedrohung seitens Putin thematisiert, aber nicht die seitens des Westens ([DE-44], [PL-12], [NL-24]). Nur in [UK-0604] geht es um Atomkriegsgefahr allgemein.

9. Unsere Verluste sind gering, die des Feindes sind riesig.

[DE-09] Putins Desaster, [UK-0428] How rotten is Russia’s army? ,Wie marode ist Russlands Armee?‘

10. Wer uns anzweifelt, ist ein Verräter.

Der Begriff „Verräter“ taucht zwar nicht direkt auf, doch werden einige, die sich nicht oder nicht bedingungslos zur eigenen politischen Härte bekennen, als Unterstützer des Gegners negativ dargestellt.

(1) weitere Unterstützer Putins: DE-11 Er ist das Volk (in Anspielung an den Slogan der DDR-Demos 1989/90 Wir sind das Volk, mit Bezug auf die große Unterstützung in der russischen Bevölkerung), IT-10 Fratelli di Putin ,Brüder von Putin‘ (in Anspielung auf den Titel der italienischen Nationalhymne Fratelli d’Italia, mit Bezug auf Putin-freundliche Personen aus Politik, Finanz, Staat, Medien);

(2) Personen mit differenzierter Sichtweisen, etwa der Papst ([PL-20] Wojna według Franciszka | Wypowiedzi papieża szokują. ,Krieg gemäß Franziskus | Die Aussagen des Papstes sind schockierend.‘). Interessanterweise gibt [NL-40] Putins Sicht auf den Krieg und den Westen in Form eines Zitats wieder, wenngleich es wohl ob seiner Länge lächerlich wirken kann/soll: „Westerse landen zeggen al eeuwen dat ze andere landen vrijheid en democratie brengen. Niets is minder waar. In plaats van democratie te brengen, onderdrukten en exploiteerden zij, en in plaats van vrijheid te geven, maakten zij slaven en onderdrukten. De unipolaire wereld is inherent antidemocratisch en onvrij; ze is door en door vals en hypocriet.“ ,Westliche Länder sagen schon Jahrhunderte, dass sie anderen Ländern Freiheit und Demokratie bringen. Nichts ist weniger wahr. Statt Demokratie zu bringen, unterdrückten und beuteten sie aus, und statt Freiheit zu geben, machten sie Sklaven und unterdrückten. Die unipolare Welt ist inhärent antidemokratisch und unfrei; sie ist durch und durch falsch und heuchlerisch.‘

(3) Im Westen werden Putin und Xi, der sich nicht an der westlichen Sanktions- und Waffenpolitik beteiligt, als (Negativ-)Paar dargestellt, z.B. [SE-13] Du och jag, Xi! ,Du und ich, Xi!‘ (in Anspielung auf eine Szene an, in der Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga gegenüber dem Knecht Alfred beider Freundschaft ausdrückt). In Russland wird die EU als Vasall der USA dargestellt in [RU-23]: Scholz, beobachtet von Biden, in einer Sanktionen-Karikatur, mit den Worten Что еще отморозит себе запад назло России,Was wird der Westen noch alles einfrieren [= sich verbieten], um Russland zu ärgern…‘.

Abb. 3: Kriegsrhetorik-Prinzipien mit Beispielen

Zusammenfassung und Ausblick

Die Forschungsfragen lassen sich für die hier angestrebte Untersuchung wie folgt beantworten:

Zu 1) Es gab 99 Cover-Texte, die meisten in Deutschland (18), Frankreich (14), Großbritannien (11), Polen (11), Italien (10) und Russland (10).

Zu 2.1) Bei den Medien, die in mehr als 20 % der Wochen einschlägige Texte zeigten, gilt: Die hier untersuchten Zeitungen aus Deutschland und Frankreich veröffentlichten meist pro-westliche/anti-russische Titeltexte. Das russische Magazin brachte vorwiegend objektiv-deskriptive Überschriften. Die restlichen Medien waren ausgeglichen.

Zu 2.2) Prominente Kriegsrhetorik-Prinzipien nach Ponsonby waren: Der Feind ist allein Kriegsverantwortlicher. Der Führer des Feinds ist der Teufel. Unsere Sache dient allen. Unsere Sache ist heilig. Der Feind begeht bewusst Grausames, wir höchstens unabsichtlich. Darüber hinaus ergab sich als neues (mögliches) Prinzip: Diplomatie ist lächerlich. Die deutschen, polnischen, ungarischen, niederländischen, französischen und britischen Texte haben die Kriegsrhetorik-Prinzipien in ihrer Mehrheit verwendet.

Zu 3) In Bezug gesetzt mit den Ergebnissen der Ipsos-Umfrage ergab sich: (A) Je mehr Texte es insgesamt gab, (1) desto weniger Befragte sprechen sich für Sanktionen aus, (2) desto weniger haben die Nachrichten verfolgt, (3) desto mehr sprechen sich für die Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen aus, (4) desto mehr sehen den Krieg nicht als Sache ihres Landes an. Zusätzlich gilt: (B) Je mehr emotionale Texte bzw. je weniger objektiv-deskriptive Texte es gab, (1) desto weniger Befragte sind für Sanktionen, (2) desto mehr sind gegen militärisches Eingreifen, (3) desto weniger haben intensiv die Nachrichten verfolgt. Auch wenn man nicht von Signifikanzen im statistischen Sinne sprechen kann, könnte man hier zumindest auf Hinweise von einem adversen Effekt der Propaganda bei stark betroffenen Ländern sprechen.

Sollte sich dieser Hinweis auf einen adversen Effekt von Propaganda in weiteren Untersuchungen bestätigen, wäre dies überraschend, etwa vor dem Hintergrund von Wolfsfelds (2004) dynamischem Modell. Gemäß diesem Modell verstärkten nämlich Massenmedien den Eliten-Konsens in der Bevölkerung.

Welche Konsequenzen daraus gezogen werden können, soll offen bleiben. Nur ein Beispiel sei genannt. Die Ergebnisse könnten nützlich sein für Friedensjournalismus nach Galtung (2006). Natürlich sind die Wünsche der ukrainischen Führung und Bevölkerung zu berücksichtigen. So gilt zum Zeitpunkt, da dieser Artikel verfasst wird, nach wie vor Präsident Selenskyjs Dekret, das diplomatische Aktivitäten mit Präsident Putin verbietet. Da in der Regel jedoch in einem Krieg irgendwann die Diplomatie eine entscheidende Rolle spielt, könnten Medienschaffende, sobald sich unter den Eliten die Friedensidee verbreitet, auf Basis der hier entdeckten Hinweise Anregungen holen, um zu schnellerem Waffenstillstand und Frieden beitragen zu können (vgl. auch Grzega 2022). Solche Anregungen könnten lauten „Verzichte bei diesem Krieg in Titeltexten auf Kriegspropaganda-Rhetorik, da ein Zuviel solcher Rhetorik ohnehin einen adversen Effekt haben könnte!“ oder „Vermeide ein Zuviel emotionaler Titeltexte!“

Anmerkungen

1) Die verwendeten Originalquellen und ein entsprechendes Datenverzeichnis können beim Autor angefragt werden.

2) Neben dieser gibt es noch eine ähnlich gelagerte Umfrage von Garton Ash, Krastev und Leonard (2023), auf die zwar in einigen Pressemeldungen referiert wurde, die jedoch unbrauchbar ist, da sie die Einigkeit des Westens so herstellt, dass sie Umfrage-Ergebnisse der ausgewählten EU-Länder zusammenfasst (statt für jedes Land separate Ergebnisse zu liefern); so ist nicht nachvollziehbar, ob die EU-Befragten sich einig sind oder die Bevölkerungen bestimmter Länder ganz anders zur Thematik stehen.

3) Auch diese Berechnungen können beim Autor angefordert werden.

4) Verglichen werden die Umfrageergebnisse sowohl mit den emotionalen Covertexten als auch mit den objektiv-deskriptiven Texten, jeweils in absoluten Zahlen und in prozentualen Zahlen (gemessen an allen einschlägigen Coverseiten).

Literatur

Bucher, T. (2018): If…Then – Algorithmic power and politics. Oxford: Oxford University Press.

Chomsky, N.; Herman, E. (1988): Manufacturing consent. New York: Pantheon.

Cohen, J. (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences. New York: Academic Press.

Ellis, P. (2010): The essential guide to effect sizes. Cambridge: Cambridge University Press.

Galtung, J. (2006): Peace journalism as an ethical challenge. GMJ: Mediterranean Edition 1(2), S. 1-5.

Galtung, J.; Ruge, M. (1965): The structure of foreign news. Journal of Peace Research 2(1), S. 64-91.

Garton Ash, T.; Krastev, I.; Leonard, M. (2023): United west, divided from the rest. Policy Brief 482.

Grzega, J. (2022): Diplomatic solutions through cultural keywords. Journal for EuroLinguistiX 19, S. 8-21.

Ipsos (2023): The world’s response to the war on Ukraine. Paris: Ipsos.

Lippmann, W. (1922): Public opinion. New York: Harcourt, Brace & Co.

Morelli, A. (2001): Principes élémentaires de propagande de guerre. Bruxelles: Aden.

Ponsonby, A. (1928): Falsehood in war-time. London: Allen and Unwin.

Selimi, F. (2023): Monitoring of the daily printed newspapers of the Western Balkans for the coverage of the events in the Russia-Ukraine war with special emphasis on their cover page. Online Journal of Communication and Media Technologies 13(3), e202327.

Tversky, A.; Kahneman, D. (1981): The framing of decisions and the psychology of choice. Science 211, S. 453-458.

Wolfsfeld, G. (2004): Media and the path to peace. Cambridge: Cambridge University Press.

Dr. Joachim Grzega ist Leiter des Bereichs »Innnovative Europäische Sprachlehre (InES)« an der VHS Donauwörth und außerplanmäßiger Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Worum es eigentlich geht…

Worum es eigentlich geht…

Debatte zu Wissenschaftsverständnis in der Friedens- und Konfliktforschung

Hier antworten Werner Ruf und Josef Mühlbauer auf die Repliken in W&F 2/2023 zum Dossier 96 (Beilage zu 1/2023) »Quo vadis, Friedensforschung?« Die sich daraus entspinnende Debatte führt beide Autoren zurück zur Frage nach dem Wissenschaftsverständnis und der Einordnung der Aufgabe und Zielsetzung von politischer Wissenschaft – mit zwei unterschiedlichen Blickwinkeln.

Unabhängigkeit einer politischen Wissenschaft

Eine Entgegnung

von Werner Ruf

In dieser Entgegnung mag ich mich zu den Reaktionen auf meinen Beitrag »Die Friedensforschung und der Markt« in Dossier 96 (W&F 1/2023) verhalten. Vorweg gleich eine kleine Anmerkung, die vielleicht auch mit unserer schnelllebigen Zeit zu tun hat, zu der anscheinend auch (zu) schnelles Lesen gehört: Der Verweis von Christoph Weller auf Loriots Rennbahn, der in gewisser Weise zur Metapher für die Interpretation und Demontage meines Beitrags gemacht wird, trifft mich nicht. Die Frage „Quo Vadis?“ wurde nicht von mir sondern von den Herausgeber*innen des Dossiers gestellt, das Tendenzen und Aufgaben der Friedensforschung (kritisch) behandeln will. Zur Überprüfung meines Artikels taugt die so konstruierte Fragestellung also nicht. Der Vorwurf des verengten Blicks fällt so voll auf den Autor zurück.

Ich will auch nicht additiv auf die zahlreichen Stellen eingehen, an denen meine Position polemisch überzogen wird, um sie dann demontieren zu können. Ich glaube, unser Konflikt liegt tiefer, er liegt im Wissenschaftsverständnis. Nicht die (kontroverse) Existenz einer Pluralität von „vielfältigen Konfliktlinien […][innerhalb eines] Forschungsfeldes“ weisen dessen Wissenschaftlichkeit aus, sondern der Beitrag (insbesondere einer Gesellschaftswissenschaft) zur gesellschaftlichen Transformation – in diesem Falle zu einer konfliktärmeren Gesellschaft oder gar zu einer friedlicheren Welt. Nicht die Existenz eines Pluralismus (über dessen Grenzen noch zu diskutieren wäre) charakterisiert diese Disziplin, sondern die ihr inhärente Normativität! Es geht also keinesfalls um den „richtigen Weg zum Sieg“ (Weller 2023, S. 38) im Gerangel von unterschiedlichen Ansätzen, sondern um die Frage, ob und wie diese Disziplin einen Beitrag zur „guten Gesellschaft“ (Arnold Bergstraesser) zu leisten vermag.

Deshalb betrifft die von mir aufgeworfene Frage auch nicht die Friedensforschung als einzige Disziplin. Vielmehr bezieht sie sich auf die Situation der Wissenschaft im Zeitalter des Neoliberalismus im Allgemeinen, auch wenn sie exemplarisch die Friedensforschung behandelt: Die Frage der Selbstbestimmung der Wissenschaft. Mit der Konzentration auf Drittmittelfinanzierung als Existenzbedingung und als Messlatte für Wissenschaftlichkeit werden Richtlinien eingezogen, die bereits weit im Vorfeld der Bewilligung und Durchführung von Forschungsprojekten bestimmen, was sowohl wichtig als auch wissenschaftlich ist – und was eben nicht. Dass die Drittmittelfinanzierung sich auf Struktur und Rangplatz ganzer Fächer, auf die Arbeitsbedingungen insbesondere von Nachwuchswissenschaftler*innen etc. auswirkt, braucht hier nicht noch einmal ausgeführt zu werden. Dass sie im Falle der Friedensforschung von besonderer Relevanz ist, liegt auf der Hand, beschäftigt diese sich doch mit Themen, die von unmittelbarer Aktualität und angesichts möglicherweise menschheitsbedrohender Waffensysteme von höchster Relevanz sind. Das Ringen um politisch adäquate und verantwortbare Antworten auf friedens- und konfliktrelevante Probleme ist deshalb meines Erachtens ohne ethische Bezüge nicht denkbar. Unvermeidbar hat deshalb Friedensforschung eine normative Dimension.

Subtile Einflussnahmen sichtbar machen

Wenn mir unterstellt wird, mir fehle der „intensive Kontakt mit der aktuellen Friedens- und Konfliktforschung“ (ebd.), so mag das stimmen. Ob die mir unterstellte falsche Sicht auf die Dinge durch Kontakt mit den aktuellen (etablierten) Friedensforscher*innen geheilt worden wäre, bezweifle ich. Denn es geht ja nicht darum herauszufinden, was »falsch« und »richtig« ist. Die Frage ist und bleibt, was Friedensforschung leisten soll(te) und, vor allem, wie sie sich selbst versteht. Daraus ergibt sich auch die Frage nach ihren (vor allem finanziellen) Existenzbedingungen und nach möglichen Auswirkungen der Finanzierung bzw. der Förderer*innen auf Auswahl, Fragestellung und Ergebnis von Forschungsprojekten.

Nach der Methode ‚haltet den Dieb‘ wird mir unterstellt, ich wolle „suggerieren, dass mit der Bereitstellung von Steuermitteln […] unmittelbar Einfluss auf die Inhalte und Ergebnisse von Forschung und Lehre sowie die Erkenntnisinteressen der Forschenden genommen würde. Das ist Quatsch.“ Wir sind uns einig: das wäre Quatsch! Das Wort „unmittelbar“ stammt allerdings nicht von mir, sondern von Christoph Weller. Forschung auf Kommando würde außerdem jedes Ergebnis von vornherein unglaubwürdig machen und disqualifizieren und jede wissenschaftliche Karriere ruinieren. Ich habe in meinem Text Wert darauf gelegt, auf die subtilen Mechanismen zu verweisen, die wir aus der Praxis der Antragsstellung doch alle kennen; die Schere im Kopf mit zu bedenken, die dazu führt, dass bestimmte Formulierungen in Anträgen bis hin zu Hinweisen auf verwendete Literatur mit wissendem Blick auf die Bedürfnisse und Interessen des Drittmittelgebers gewogen werden; dass an den relativ kleinen Kreis der zu erwartenden Gutachter*innen gedacht wird; dass sich die Institutsleiter*innen bei Antragstellung oft auch ihrer sozialen Pflicht gegenüber den prekär beschäftigten Wissenschaftler*innen bewusst sind, deren schiere Existenz von der Genehmigung oder Verlängerung eines Projekts abhängt usw. Auch hier, bitte, etwas genauer lesen und keinen absurden Pappkameraden aufbauen, um dann auf ihn einzuschlagen. Das ist weder seriös noch wissenschaftlich.

Unabhängigkeit und demokratische Praxis

Eine normative Sozialwissenschaft ist unmittelbar mit dem Konzept von Demokratie verbunden. Wer seine (wissenschaftliche) Existenz durch Alimentierung auf dem Markt (= Drittmittelgeber*innen) sichern muss, verliert seine Selbstbestimmung, gerät in die Gefahr stromlinienförmiger Einpassung in den herrschenden Diskurs. Dies impliziert nicht nur die mögliche Vereinnahmung eines Projekts sondern einer ganzen Disziplin in legitimatorische Prozesse, es behindert auch Pluralismus und notwendige selbstkritische Reflexion – alles Voraussetzungen für Aufklärung und demokratische Willensbildung.

Das habe ich mit Verweis auf die Statuten der Deutschen Stiftung Friedensforschung und ihrer Förderpraxis zu illustrieren versucht. Thomas Held und Ulrich Schneckener haben dagegen protestiert (ebd., 2023). Die Zusammensetzung der Gremien der DSF, die von ihr geförderten Projekte kann jede und jeder selbst auf der Homepage der DSF nachlesen. Er/sie mag dann entscheiden, ob meine Zweifel an Freiheit und Unabhängigkeit der Friedensforschung aus der Luft gegriffen sind. Die in meinem Beitrag geäußerte Kritik trifft auch das jährliche Friedensgutachten. Als weitere Stütze für meine These von der zunehmenden Abhängigkeit bzw. Selbstunterwerfung der Friedensforschung unter die (antizipierten) Interessen öffentlicher Förderer verweise ich zusätzlich auf die Homepages der das Gutachten herausgebenden Institute, auf denen in unterschiedlicher Präzision und Vollständigkeit die Förderer der Institute ausgewiesen sind.

Plädoyer für eine politische Wissenschaft

Ja, Friedensforschung ist politisch – und sie soll es sein! Jene Friedensforschung, für die Christoph Weller spricht oder zu sprechen antritt, präsentiert sich bewusst scheinbar unpolitisch, was wohl »Wissenschaftlichkeit« unterstreichen soll. Gerade hinter diesem Schleier ist sie aber eminent politisch. Wenn sich Friedensforschung – und das zeigen insbesondere die beiden letzten Friedensgutachten – im Kern als Verstärker der Regierungspolitik versteht, verzichtet sie nicht nur auf ihre wichtige kritische Funktion, sie verzichtet auch auf ihre gesellschaftliche und innovative Aufgabe und Verantwortung als angewandte Sozialwissenschaft. Das zeigt sich letztlich auch in der Wahrnehmung dieser Gutachten durch die Gesellschaft: Ihre Erkenntnisse tangieren die Öffentlichkeit nicht (mehr), liefern sie doch keinen Kontroversen befördernden Diskussionsstoff. Der Aufwertung dieser Ergebnisse hilft auch der feierliche Rahmen ihrer Vorstellung im Saal der Bundespressekonferenz nicht – vielleicht sogar im Gegenteil. Zum Beleg für diese Aussage sei nur vergleichsweise auf den Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI verwiesen, der ziemlich zeitgleich mit dem letzten Friedensgutachten vorgestellt wurde und – ganz im Gegensatz zum deutschen Friedensgutachten – internationale Beachtung findet.

Im Interesse einer kritischen und innovativen Friedensforschung sollte gefragt werden, warum die etablierte Friedensforschung ihr gesellschaftspolitisch transformatives Potential ebenso wenig wahrnimmt wie die ihr innewohnende Aufgabe, für eine bessere, gewaltärmere Welt zu forschen und zu publizieren, um „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ (Präambel der Charta der Vereinten Nationen). Dies war und ist die Intention meines Beitrags zu einer notwendigen Diskussion über Sinn und Ziel, genauer: über das Selbstverständnis von Wissenschaft im Allgemeinen und von Friedensforschung im Besonderen. Es geht darum, diese zurückzuholen in die demokratische Öffentlichkeit. Hinter dem Disput mit Christoph Weller stehen politische Ordnungs- und Zielvorstellungen, die wohl unvereinbar bleiben. Diese offenzulegen wäre der erste Schritt zu mehr Transparenz (auch der Friedensforschung) und zur Rückkehr der Sozialwissenschaften in die Gesellschaft, an deren Gestaltung sie mit ihren Befunden ja teilnehmen. Solche Friedensforschung könnte mehr sein als eine weitere akademische Disziplin. Sie könnte und müsste mit der Friedensbewegung interagieren, deren Impulse aufnehmen, ihre normative Zielsetzung klar benennen, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse in die Zivilgesellschaft einbringen und einen Beitrag leisten zur Gestaltung einer besseren, friedlicheren Welt.

Literatur

Weller, Ch. (2023): „Wo laufen sie denn?“ Widerspruch zu »Die Friedensforschung und der Markt« von Werner Ruf. W&F 2/2023, S. 36-38.

Held, Th.; Schneckener, U. (2023): Ein Zerrbild der DSF. W&F 2/2023, S. 35-36.

Werner Ruf war von 1982 bis 2003 Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel und gehörte mehrere Jahre dem Vorstand der AFK an.

Wohin laufen sie denn? Zum Frieden!

Dritte Alternative und ein breiter, präskriptiver Friedensbegriff

von Josef Mühlbauer

Das Dossier 96 »Quo vadis, Friedensforschung?« (W&F 1/2023) hat eine produktive Debatte ausgelöst, die in Gegendarstellungen und Repliken (vgl. W&F 2/2023) mündete. Es geht um nichts Geringeres als um das Selbstverständnis der Friedensforschung seit der von Kanzler Scholz ausgerufenen »Zeitenwende«. Die zentralen Fragen, um die sich die Kontroversen drehen, lauten: In wessen Dienst stellen sich Friedensforscher:innen in Kriegszeiten? Und wie ist deren Verhältnis zu Staat und Markt zu bewerten? In diesem Streit um die „Dienstbarkeit der Intellektuellen1 zwischen den liberal-konstruktivistischen (Weller 2023) und historisch-materialistischen (Ruf 2023) Ansätzen der Friedens- und Konfliktforschung möchte ich einen »dritten«, einen herrschaftskritischen Ansatz in den Diskurs einbringen, in der Hoffnung die Polemik abzubauen und die Reichweite und Komplexität der Debatte aufzeigen zu können.

Autonomie der Wissenschaften?

Mit der Frage, „ob eine Entwicklung der Friedensforschung weg von ihrer kritischen Intention hin zu mehr Legitimation offizieller Politik stiller Teil jener Zeitenwende ist, die sich schleichend aus der zunehmenden Abhängigkeit (nicht nur) dieser Forschung vom – beschränkten – Markt der Drittmittel ergibt“, eröffnet Ruf eine alte Debatte um die Autonomie der Wissenschaften gegenüber Staat, Markt und Macht. An entscheidenden Stellen seiner Argumentation verkürzt Ruf (2023, S. 4-6) jedoch seine Kritik auf die dichotome Gegenüberstellung von »traditioneller« („systemkonform optimierend“) und »kritischer« („kritisch hinterfragend“) Friedensforschung. Erstere stehe durch die „Initiierung von Forschungsvorhaben, die Vergabe von Projekten oder auch die Bewilligung von Studiengängen […] fest in staatlicher Hand“ (ebd, S. 5) und somit zugleich „im Dienst der Herrschenden“ (ebd, S. 4). Wenn wir die Polemik entschärfen und (wissenschaftliche) Positionen verstehen wollen, lohnt es sich hier, die theoretische Verortung von Rufs Komplexitätsreduktion und Dichotomisierung zu analysieren, statt einen Ideologieverdacht in den Raum zu werfen (Weller 2023, S. 38).

Historisch-materialistische Ansätze, wo sich Ruf auch mit Rekurs auf die »Frank­furter Schule« positioniert hat (2023, S. 3), verfallen oftmals in ein pessimistisches, teleologisches und dichotomes (Wissenschafts-)Verständnis von Basis und Überbau. Demzufolge gelingt die Rechtfertigung der (Staats-)Macht, also der Basis, durch die ideologischen Apparate, worin die Wissenschaften ihren Platz nehmen. In der marxistischen Tradition wird der Staat oftmals als reines Herrschaftsinstrument und somit als homogene Einheit begriffen. Auch wenn diese dichotome Darstellung von Basis und Überbau verkürzt ist, sollte man mit Krippendorff zu Recht fragen, welche Rolle die etablierten bzw. staatlich finanzierten Friedensforscher:innen (Krippendorff 2009, S. 115) nach der »Deutschen Katastrophe« des Zweiten Weltkriegs im Einsatz für den Ausstieg Deutschlands aus der (imperialen) Machtpolitik spiel(t)en. Wie reagierten die etablierten Friedensforscher:innen auf die Militarisierung Deutschlands und auf die Tatsache, dass Deutschland bald die größte konventionelle NATO-Armee mit noch nie zuvor gesehenen Rüstungsetats aufweist?

Theoretische Verortung und ihre Folgen

Als Antwort auf die heutige Situation und die militarisierte, versicherheitlichte Diskursverengung der scheinbar alternativlosen »Zeitenwende« antwortete das Dossier 96 – und so auch Ruf. Inhaltlich wurde von Weller hierzu keine Stellung bezogen. Ganz im Gegenteil hat Weller mit einem Loriot-Zitat über Pferderennen das gesamte Dossier 96 als Einladung zu „bekenntnishafte[n] Statements über den einen, richtigen Weg“ tituliert (S. 36). Er selbst argumentiert im dichotomen Muster von »richtig« und »falsch«, indem er die Frage im Titel des Dossiers »Quo Vadis, Friedensforschung?« als eine Falsche bezeichnet (ebd.). Eine Feststellung kann durchaus falsch sein, aber eine Frage? Gibt es in der Wissenschaft eindeutig richtige und falsche Fragen?

Das Dossier 96 fragt nach Trends, Tendenzen sowie „über die Frage nach Möglichkeiten, Limitierungen und Abhängigkeiten heutiger Friedensforschung“ (S. 2). Gerade Weller muss doch hegemoniale Diskurs­konstellationen, normative Wertvorstellungen und die Macht- und Herrschaftsverhältnisse innerhalb diskursiver Räume der Wissenschaft verstehen, plädiert er doch für den „vernünftigen Grundsatz: Keine Waffen in Spannungsgebiete (…) statt eines verkürzten militärstrategischen Denkens, das auf Gewaltmittel fixiert ist“ (2022). Eine mittlerweile sehr vereinsamte Position im wissenschaftlichen, medialen bzw. öffentlichen Diskurs. Doch nicht nur in Hinblick auf den Ukrainekrieg sind eine Diskursverengung und eine Versicherheitlichung des Diskurses zu beobachten, sondern eben auch in der Friedens- und Konfliktforschung (vgl. Mühlbauer 2023). Auch wenn es nicht die eine Friedensforschung gibt, lohnt es sich, den diskursiven Trend der Disziplin zu analysieren bzw. zu hinterfragen.

Um nun gleichermaßen Wellers theoretische Vorannahmen verstehen zu wollen, betrachte ich einige Schriften der letzten Jahre. Wellers „Reflexive Politikberatung“ (2017) – ein Konzept, welches ich im liberalen, problemorientierten Peacebuilding der »Global Governance«-Ansätze verorte – möchte, „gegen die Rhetorik der Alternativlosigkeit“, den Diskurs vervielfältigen und beharrt auf einem „bescheidenen, praxisorientierten“, d.h. engen2 Friedensbegriff (Weller 2020, S. 17f.). Der umgekehrte Vorwurf der Ideologisierung ließe sich auch gegen Weller ins Feld führen: Reicht das beratende, bunte Aufzeigen von wissenschaftlichen Produkten am freien Markt der Wissenschaft aus? Spielt das nicht den Tendenzen der Pragmatisierung, Merkantilisierung und Neoliberalisierung der Wissenschaft in die Hände? Und ist diese konstruktivistische Entpolitisierung, die ein gleichwertiges Nebeneinander einander moralisch, ethisch und politisch gleicher Optionen akzeptabel werden lässt, nicht gerade mindestens genauso problematisch? Oder sollte man nicht viel eher, wofür ich am Ende noch argumentieren werde, den antagonistischen und umkämpften (Salzborn 2015) bzw. kolonialen (Brunner 2020, Exo 2023, S. 17) Charakter von der (Re-)Produktion und Etablierung von Wissen und Wissenschaft hervorheben? Ein breiter Begriff des Friedens würde diese Dimensionen aufmachen können.

Zudem plädiert Weller (u.a. 2017, S. 177) für eine distanzierte, objektive, unpolitische und scheinbar emotionslose Grundhaltung des Beobachtens von Konflikten samt der Reflexion des jeweiligen eigenen Beobachtens. Sprechen wir also von einem „fiktiven Nullpunkt“ (Castro-Gomez 2005, S. 3) der vermeintlich objektiven, wertfreien und neutralen Beobachtungsposition über Konflikte, Gewalt und Kriege? Sind wir wirklich in dieser „quasi-göttlichen“ Position (vgl. Haraway 1988, S. 581)? Verfallen konstruktivistische und liberale Ansätze nicht hierbei in einen scheinbar harmonischen, konsens­orientierten und unkritischen »Wissenschaftsaberglauben« (um Karl Jaspers zu paraphrasieren), bei dem „der zwanglose Zwang des besseren Arguments“ am freien Markt der Wissenschaft sich durchsetzen wird? Das erweckt zudem den Anschein, dass wissenschaftliche Diskurse in einem a-historischen, kontext-freien, politisch neutralen, absolut objektiven »Standort aller Standorte« entstehen.

Die Frage von »quo vadis« ist angesichts der Fragen danach, inwieweit die Wissenschaften frei von Machtverhältnissen und frei von der Sphäre des Politischen sind, eine durchaus berechtigte. Die Entscheidungen dazu, welche Methoden oder Theorien auf gewisse Konflikte, Kriege oder sonstige Problemstellungen angewandt werden, werden nicht im luftleeren Raum gefällt. Sie stützen sich auch weniger auf empirisch gesicherte und »objektive« Erkenntnisse, sondern beruhen auf zukünftigen Versprechungen (damit implizit auf normativen Ansprüchen, Menschen- und Weltbildern) und somit vor allem auf Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Wohin könnte also ein dritter Weg der Friedensforschung laufen, der diese Problematik zu beheben antritt?

Wohin laufen sie denn?

In Anlehnung an feministische Standpunktheorien (Harding 2016), kritische Friedensforscher:innen des »Local Turns« (Richmond und Mac Ginty 2013) und herrschaftskritische Ansätze (Exo 2023; Brunner 2020) soll Wissenschaft nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv, d.h. auch normsetzend, arbeiten. Sie beschreiben damit nicht nur die epistemischen Praktiken und deren Beziehungen zu Macht und sozialer Organisation. Sie zeigen darüber hinaus, dass »objektiv« nicht gleich wertneutral heißt. Es braucht also aus epistemologischer Sicht die Zuwendung zum lokalen und situierten Wissen, insbesondere der Subalternen. Und als Resultat muss hier mit einem breiten, emanzipativen (Richmond), positiven (Galtung), komplexitäts-orientierten (Jaberg) Friedensbegriff gearbeitet werden, nur so wird man den verschiedenen intersektionalen Unterdrückungskategorien von race, Klasse, Gender etc. in der Analyse »objektiv« gerecht. Mit diesem post- bzw. dekolonialen, feministischen und herrschaftskritischen Verständnis von Wissen(-schaft) können Leerstellen, teleologische (sowohl marxistische, als auch liberale) Fortschrittsnarrative, Herrschaft bekräftigende Praktiken der Unterdrückung und Ausbeutung sowie mit dieser verbundene koloniale Komplizenschaft (auch kritischer) westlicher Wissenschaftler:innen verdeutlicht und dekonstruiert werden. Jenseits vom liberalen Peacebuilding und jenseits einer marxistischen Reduktion von Gewaltstrukturen auf ökonomische Gesellschaftsverhältnisse hat Exo (2023, S. 18) wichtige Impulse geliefert, wie ein breiter, präskriptiver Friedensbegriff als Antwort auf die – von Brunner (2023, S. 47) festgestellte – diskursive, kognitive und affektive Militarisierung fungieren kann.

Anmerkungen

1) Die Debatte findet man exemplarisch bei Krippendorff (2009) oder vor allem auch bei Basaglia et al. (1980).

2) Eng gefasster Frieden ist hier nach Weller nicht als die Abwesenheit von Krieg zu verstehen, sondern als problemorientierte, zivile Konfliktregulierung.

Literatur

Basaglia, F.; Basaglia, F. (1980): Befriedungsverbrechen: über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt.

Brunner, C. (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.

Brunner, C. (2023): Stell dir vor, es ist Krieg… Diskursive, kognitive und affektive Militarisierung. W&F 2/2023, S. 47-49.

Castro-Gómez, S. (2005): Aufklärung als kolonialer Diskurs. Humanwissenschaften und kreolische Kultur in Neu Granada am Ende des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Johann Wolfgang Goethe-Universität.

Exo, M. (2023): Impulse für ein Neudenken von Frieden – Jenseits von Liberalismus, Staat und Status Quo. Dossier 96, W&F 1/2023, S. 17-20.

Haraway, D. (1988): Situated knowledges. The science question in feminism and the privilege of partial perspective. Feminist Studies 14(3), S. 575-599.

Harding, S. (2016): Whose science? Whose knowledge? Thinking from women’s lives. New York: Cornell University Press.

Krippendorff, E.(1985): Staat und Krieg. Die historische Logik der politischen Unvernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Krippendorff, E. (2009): Die Kultur des Politischen. Wege aus den Diskursen der Macht. Berlin: Kadmos.

Mühlbauer, J. (2022): Unsichtbare Mauern – der Universitätsbetrieb aus einer intersektionalen Perspektive. Strukturelle und handlungstheoretische Hürden. Zeitschrift des Instituts für Politikwissenschaft, Politix 49/2022, S. 43-46.

Richmond, O.; Mac Ginty, R. (2013): The local turn in peace building: A critical agenda for peace. Third World Quarterly 34(5), S. 763-783.

Ruf, W. (2023): Die Friedensforschung und der Markt. W&F 1/2023, S. 3-5.

Salzborn, S. (2015): Kampf der Ideen. Die Geschichte politischen Theorien im Kontext. Baden-Baden: Nomos.

Weller, C. (2007): Machiavellische Außenpolitik: altes Denken und seine US-amerikanische Umsetzung. In: Hasenclever, A.; Wolf, K.-D.; Zürn, M. (2007): Macht und Ohnmacht internationaler Institutionen: Festschrift für Volker Rittberger. Frankfurt a. M.: Campus, S. 81-114.

Weller, C. (2017): Friedensforschung als reflexive Wissenschaft: Lothar Brock zum Geburtstag. Sicherheit und Frieden 35(4), S. 174-178.

Weller, C. (2020): Frieden ist keine Lösung. Ein bescheidener Friedensbegriff für eine praxisorientierte Konfliktforschung. In: W&F. 2020/2. S. 15-18.

Weller, C. (2022): Wie konnte es nur so weit kommen? Wie ein Friedens- und Konfliktforscher den Krieg in der Ukraine einschätzt. Watson.de, 28.02.2022.

Weller, C. (2023): „Wo laufen sie denn“? Widerspruch zu »Die Friedensforschung und der Markt« von Werner Ruf. W&F 2/2023, S. 36-38.

Josef Mühlbauer studierte Politikwissenschaften und Philosophie und veröffentlichte zuletzt das Buch »Zur imperialen Lebensweise« (Mandelbaum Verlag). Zudem führt er Interviews und organisiert Friedenskonferenzen für das Varna Institute for Peace Research (auf YouTube unter Varna Peace Institute zu sehen).