Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

»Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

Sicherheitspolitische Konferenz, Evangelische Akademie Loccum, 26.-27. Oktober 2022.

Als unmittelbare Reaktion auf den Ukraine-Krieg wurde – beginnend mit der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz – Ende Februar 2022 ein verteidigungspolitischer Reformprozess angestoßen, der unter dem Schlagwort »Zeitenwende« diskutiert wird und der in Umfang und Zielsetzung eine sicherheitspolitische Zäsur markiert. Die »Zeitenwende« ist nicht unumstritten. Es konkurrieren unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen hinsichtlich Reichweite, Dauer, Gegenstand, Auslöser und Intensität der Reformbemühungen.

Ende Oktober 2022 war es das Ziel dieser Loccumer Tagung, ein erstes Zwischenfazit zu diesen verteidigungspolitischen Reform­anstrengungen zu ziehen. Besonders im Fokus stand dabei die Frage, welche Auswirkung die »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder haben wird und wie sich das etablierte Arrangement der bisherigen deutschen Außen-, Bündnis-, Friedens- und Entwicklungspolitik verändern könnte. In diesem Lichte geht der vorliegende Tagungsbericht im Folgenden auf drei zentrale Frage ein, die intensiv diskutiert wurden:

(1) An den Rand gedrängt?

  • Welche Auswirkungen hat »Zeitenwende« für die zivile Konfliktbearbeitung und die Entwicklungszusammenarbeit?

In der Debatte über die Auswirkung der »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder – insbesondere der zivilen Konfliktbearbeitung, der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit – wurde die Beobachtung unterstrichen, dass derzeit alle außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Debatten vom Militärischen geprägt seien. Die Diskutierenden, die der thematischen Ausrichtung dieses Parts der Tagung entsprechend vorangig aus der Entwicklungshilfe, der Friedensforschung und der zivilen Konfliktbearbeitung kamen, erwarten vorerst hierbei keine Änderung. Zwar würde in vielen politischen Wortbeiträgen derzeit die Notwendigkeit eines umfassenden Sicherheitsbegriffs betont, der über die rein militärische Gefahrenabwehr hinausgehe. Allerdings sei dieser breite Ansatz trotz aller Rhetorik weder mit ausreichenden Mitteln noch mit neuen politischen Initiativen unterlegt. Vielmehr zeichneten sich gar finanzielle Kürzungen ab. Auch wenn die ursprünglich für die Haushaltsberatung vorgesehenen drastischen Kürzungen des Entwicklungshilfeetats zurückgenommen wurden und weitere 1,7 Mrd. Euro aus der Krisenreserve des Finanzministeriums bereitgestellt wurden, sinken im kommenden Jahr (2023) die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit dennoch um neun Prozent im Vergleich zum laufenden Haushaltsjahr – so die Beobachtung der Diskutant*innen.

Zwar gab es großes Verständnis für die verstärkte finanzielle Unterstützung der Bundeswehr, um sicherzustellen, dass diese die Aufgaben, die ihr von Gesellschaft und Politik zugewiesen wurden, erfüllen kann. Dennoch wurde auf der Konferenz kritisch angemerkt, dass die Regierung und das Parlament 100 Mrd. Euro Sondervermögen an die Streitkräfte gegeben hätten, ohne eine breite Debatte zu führen, was von der Bundeswehr in Zukunft eigentlich erwartet würde und was sie in den kommenden Jahren zu leisten habe. Es sei insbesondere dieses aktionistische und überstürzte Vorgehen, das den Eindruck bei den Akteuren der Entwicklungshilfe und der zivilen Konfliktbearbeitung nähre, an den Rand gedrängt worden zu sein.

Zwar sei durch die Gestaltung des Sondervermögens als Sonderneuverschuldung aktuell eine direkte Konkurrenzsituation um finanzielle Ressourcen vermieden worden. Mittelfristig könnte sich diese jedoch einstellen und zu harten politischen Verteilungskämpfen führen, so die auf der Tagung geäußerte Befürchtung. Zum einen, weil die 100 Mrd. Euro Sondervermögen aller

Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichen werden, um das im NATO-Rahmen vereinbarte 2 %-Ziel zu erreichen. Zum anderen, weil auch der Bedarf an humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung aufgrund von Klimawandel, den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, der aktuellen Nahrungsmittelkrise sowie der Zunahme des globalen Gewaltgeschehens der letzten zehn Jahre stark angestiegen sei.

(2) Blick über den Tellerrand

  • Welche Perspektiven und Fragen entstehen durch die »Zeitenwende« bei europäischen Nachbarstaaten und Bündnispartnern?

Im Sinne eines Blicks über den sprichwörtlichen »Tellerrand« widmete sich die Loccumer Tagung auch der Frage, wie europäische Nachbarländer die deutsche »Zeitenwende« wahrnehmen. Die Diskussion, an der Expert*innen aus verschiedenen europäischen Ländern teilnahmen, ergab, dass die aktuellen verteidigungspolitischen Reformbemühungen Deutschlands in Europa überwiegend positiv aufgenommen werden und weitestgehend begrüßt werden. Selbst kleine europäische Staaten, die in der derzeitigen Konfrontation mit Russland geografisch eher randständig sind, wie beispielsweise Portugal, haben die »Zeitenwende« wie auch die Debatte, die hierzulande dazu geführt wird, sehr genau verfolgt.

Auf der Tagung wurde herausgearbeitet, dass in den Nachbarländern vor allem drei zentrale Forderungen an Deutschland formuliert werden: Die Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik solle dauerhaft, berechenbar und europäisch sein.

Im europäischen Ausland gäbe es einige Zweifel an der Dauerhaftigkeit der »Zeitenwende«, so die Einschätzung der Diskutierenden. Häufig würde diese als „verspätete Hausaufgabe“ wahrgenommen, die im Grunde schon 2014 mit der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine hätte angestoßen werden sollen – so wie dies viele andere europäische Staaten getan haben. In puncto Dauerhaftigkeit sei besonders fraglich, ob Deutschland tatsächlich einen tiefgründigen außen- und sicherheitspolitischen Mentalitätswandel vollziehe oder ob die jetzige »Zeitenwende« ein eher vorübergehendes Phänomen sei und nur in begrenztem Ausmaß zu Änderungen führe. Schließlich habe man in den vergangenen Jahrzehnten aus Deutschland häufig vergleichbare »Wende-Rhetorik« gehört (»Energiewende«, »Verkehrswende«, »Agrarwende« etc.), die zwar einen großen gesellschaftspolitischen Diskurs und viel mediales Getöse losgetreten, das Versprechen eines substanziellen Politikschwenks jedoch kaum eingelöst habe. Daher bestehe begründeter Zweifel, ob die »Zeitenwende« der Verteidigungspolitik nicht ein ähnliches Schicksal ereile.

Neben dem Aspekt der Dauerhaftigkeit sei Berechenbarkeit eine weitere zentrale Forderung, die häufig von außenpolitischen Expert*innen aus europäischen Nachbarländern zu hören sei. Wichtig sei, dass Deutschland im Zuge der derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen keine unvorhersehbaren Politikwechsel vollziehe und sich daher mit Bündnispartnern abstimme, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die »Zeitenwende« aber auch Folgevorhaben, wie die jüngst verkündete Initiative zur europäischen Luftverteidigung (»European Sky Shield«), seien für zahlreiche Bündnispartner überraschend gekommen. In diesem Lichte sei eine enge Kommunikation notwendig, um zu vermeiden, dass Nachbarländer von verteidigungspolitischen Vorhaben überrumpelt würden.

Unmittelbar mit dem Aspekt der Berechenbarkeit sei die Forderung nach einer stärkeren Europäisierung der deutschen »Zeitenwende« verbunden. In der Wahrnehmung vieler europäischer Bündnispartner betreibe Deutschland seine derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen vorrangig als ein nationales Projekt, so die Bewertung der Diskussionsteilnehmenden auf der Loccumer Konferenz. Auch wenn viele europäische Bündnispartner sich schon ab 2014 auf eine neue militärische Lage eingestellt haben, markiere der Februar 2022 doch für ganz Europa eine »Zeitenwende«. In fast allen Nachbarländern gäbe es eine verteidigungspolitische Neuausrichtung mit zum Teil tiefen historischen Einschnitten – wie beispielsweise dem Abschied von der Bündnisneutralität und der Hinwendung zur NATO in Finnland und Schweden.

Es sei daher sinnvoll, wenn Deutschland die verteidigungspolitische »Zeitenwende« als einen gesamteuropäischen Prozess begreifen würde. Zwar habe Berlin insbesondere in Skandinavien und Osteuropa aufgrund seiner zögernden Haltung im Ukraine-Krieg viel Vertrauen verspielt und erfahre derzeit außen- und sicherheitspolitisch einen erheblichen Ansehensverlust. Dennoch bleibe Deutschland de facto eine wichtige Führungsmacht in Europa – allein schon aufgrund seiner schieren Größe. Der Wunsch, dass Berlin diese Führungsrolle übernehmen und vor allem eingebettet in europäische Kontexte und Prozesse transparent ausgestalten soll, bleibe aber trotz aller deutschen Zögerlichkeit weiterhin in europäischen Nachbarländern bestehen.

(3) Bevölkerung mitnehmen

  • Wie kann ein breiter gesellschaftlicher Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik sinnvoll bewerkstelligt werden?

Der Bedeutungszuwachs fürs Militärische, der mit der »Zeitenwende« einhergeht, hat auch Auswirkungen auf den Nexus »Bundeswehr-Gesellschaft-Politik« und erfordert einen breiten Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik. Auf der Tagung wurde intensiv diskutiert, wie sich dies bewerkstelligen lässt. An diesem Diskussionsstrang wirkten vor allem Akteure mit, die in der Vergangenheit – entweder von Forschungsseite oder aus der Perspektive der politischen Praxis – die Beteiligungsprozesse im Auswärtigen Amt intensiv begleitet haben.

Während partizipative Prozesse mit Bürger*innen in vielen Politikfeldern bereits seit einiger Zeit zum normalen Repertoire gehörten und im Grunde auf allen Ebenen stattfänden – von der Kommunal- bis zur Bundespolitik – hinke das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik als ein Bereich, der traditionell überwiegend von exekutivem Handeln geprägt ist, hier hinterher. Spätestens seit 2014 könne jedoch beobachtet werden, so die Diskutierenden in diesem Teil der Tagung, dass es zunehmend Versuche von Seiten der politischen Eliten gäbe, stärker mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen.

Zu nennen sei hier beispielsweise der Review Prozess über die Bemühungen einer Reform des Auswärtigen Amts (2014) oder die Leitlinien über Zivile Konfliktbearbeitung (2017). Zuletzt gab es 2022 im Rahmen der Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie, die derzeit federführend im Auswärtigen Amt geschrieben wird, einen intensiven Beteiligungsprozess, bei dem eine ganze Palette unterschiedlicher Partizipationsformate zur Anwendung kam (Town Hall Meetings, vertiefende Bürger*innendialoge und Szenarien-Workshops).

In klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Gremien, die im außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsfindungsprozess ebenfalls eine relevante Rolle spielen, bestehe der gemeinsame Kern all dieser Beteiligungsprozesse darin, dass der Fokus auf »normalen« Bürger*innen liege, die über Losverfahren und mithilfe methodischer Auswahlprozesse in der Zusammensetzung ein möglichst repräsentatives Abbild der deutschen Bevölkerung darstellen sollen und somit hinsichtlich zentraler Kriterien wie Bildungsniveau, Wohnort, Herkunft, Alter, etc. möglichst divers zusammengesetzt sind.

Impulse zu außenpolitischen Sachthemen zum Teil in klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Debatten direkt aus der Bevölkerung zu beziehen, sei ein zentraler Mehrwert dieser Beteiligungsformen, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die bisherige Erfahrung mit Bürger*innenbeteiligung im Feld der Außen- und Sicherheitspolitik zeige aber, dass bei diesen Formaten noch einige Hürden bestehen. Denn um sinnvoll über außen- und sicherheitspolitische Fragen diskutieren zu können, bedürfe es sehr viel Wissens und viel Verständnisses über komplexe Zusammenhänge. Trotz dem allgemein großen öffentlichen Interesse an und der hohen medialen Aufmerksamkeit auf diese Fragen, haben in Deutschland die allermeisten Bürger*innen in ihrem Alltag kaum praktische Berührungspunkte mit Außenpolitik und sind von sicherheitspolitischen Prozessen in der Regel nur mittelbar betroffen. Dies unterscheide die Außen- und Sicherheitspolitik deutlich von anderen Themenfeldern, wie bspw. der Bildungs- oder der Verkehrspolitik.

Bezüglich partizipativer Formate befinde sich deshalb die deutsche Außenpolitik weiterhin in einer Probier- und Sondierungsphase. In den partizipativen Formaten würde noch viel Aufwand darauf verwendet, zu erklären, was eigentlich internationale Politik sei und welche Rolle Deutschland darin spiele. Gleichzeitig würde von den außenpolitischen Entscheidungsträger*innen durchaus die Erfahrung gemacht, dass die Prozesse der Bürger*innenbeteiligung interessante und durchaus ernstzunehmende Impulse für auswärtiges Handeln liefern würden. Klar sei aber auch, dass diese Formate Gegensätzlichkeiten zwischen außenpolitischen Eliten und Sichtweisen der Bevölkerung in besonderer Deutlichkeit zutage treten lassen. Mit Bezug auf das Loccumer Tagungsthema werde beispielsweise deutlich, dass das Konzept der militärischen Führungsrolle in Europa von den Bürger*innen mehrheitlich nicht favorisiert werde. Zwar empfehlen diese Formate regelmäßig, dass sich Deutschland international stärker engagieren solle, der Fokus liege aber deutlich auf einem kooperativen, zivilen und dezidiert nicht-militärischen Ansatz.

Mit dieser Herausforderung für die Gestaltung der »Zeitenwende« kamen die Tage gemeinsamer Diskussion zu einem gemischten vorläufigen Fazit: Die »Zeitenwende« sein ein langwieriges Vorhaben zu dem bestenfalls die ersten Schritte gegangen sein und in dessen weiteren Verlauf noch erhebliche politische Sprengkraft schlummere. Neben der eigentlichen Umsetzung der verteidigungspolitischen Reform, stelle vor allem die gesellschaftspolitische wie auch die europäische Einbettung vermutlich die größte Herausforderung der kommenden Jahre dar.

Thomas Müller-Färber

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Workshop, Universitäten Klagenfurt und Augsburg, Klagenfurt, 05.-07. Juli 2022

Was bedeutet es, eine dekoloniale Perspektive auf die Forschung anzuwenden, insbesondere wenn es um die Friedens- und Konfliktforschung selbst geht? Welche Verantwortung und Rechenschaftspflicht haben Forscher*innen – und wem gegenüber? Wie können wir sicherstellen, dass die Forschung nicht gewaltsame und koloniale Praktiken innerhalb und außerhalb akademischer Einrichtungen reproduziert, sondern stattdessen privilegienbewusst und konfliktsensibel ist?

Diese und viele weitere Fragen wurden während eines dreitägigen Workshops an der Universität Klagenfurt im Juli 2022 diskutiert. Dieser Workshop war eine Erweiterung und Vertiefung eines Online-Workshops, der im Oktober 2021 zum gleichen Thema stattgefunden hatte (siehe W&F 1/2022). Der Workshop wurde von Claudia Brunner, Viktorija Ratković und Daniela Lehner (alle Universität Klagenfurt, Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung) sowie Christoph Weller und Christina Pauls (beide Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung, Universität Augsburg) organisiert und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert.

Ziel des Workshops war es, die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis, Haltungen und Handlungen in der Friedens- und Konfliktforschung weiter zu beleuchten und Methoden und Praktiken innerhalb des Feldes selbst, insbesondere im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen in der Ukraine, kritisch zu hinterfragen. Daher wurden im Laufe des Workshops vor allem Fragen aufgeworfen, anstatt Antworten gegeben – und diese ermöglichten intensive Diskussionen, aus denen neue Allianzen und Ansätze für dekoloniale Arbeit in der Friedensforschung und -bildung hervorgegangen sind. Viele dieser Aufgaben wurden durch den Online-Workshop schon 2021 initiiert, nun hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, ihre Themen zu vertiefen und praktisch zu erkunden. Alle Beiträge wurden nach dem »Gegenleseprinzip« präsentiert, d.h. der Text wurde nicht von Autor*innen, sondern von anderen Teilnehmer*innen vorgestellt und in der Gruppe diskutiert. Neben der reinen Textarbeit hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, an einer von Christoph Weller (Universität Augsburg) konzipierten und moderierten Sitzung teilzunehmen, die sich dem Ukrainekrieg als Herausforderung für Friedensstudien, Friedenserziehung und (De-)Kolonisierung widmete, und in einem von Joschka Köck (Theater der Unterdrückten Wien) gestalteten Begegnungsraum einen Einblick in das körperliche und szenische Forschen zu erhalten.

Der Beitrag von Sebastian Garbe befasste sich mit der Positionierung von Forscher*innen im wissenschaftlichen Prozess und reflektierte die Doppelrolle von Aktivist*innen und Forscher*innen, wobei er den Unterschied zwischen Selbstzentrierung und Transparenz der Forschung hinterfragte. In der Diskussion sind die Teilnehmer*innen zu der Einsicht gelangt, dass auch hegemoniale Selbstkritik selbst Forscher*innen in den Mittelpunkt stellen kann und dass Phänomene, die von Natur aus relational sind, nicht immer von einer einzigen Person angemessen erklärt bzw. theoretisiert werden können. Daher sprach sich Garbe für mehr Transparenz in der Kommunikation von Forschungsmethodologie, -prozessen und -ergebnissen aus. Das zentrale Thema seines Beitrags war jedoch die Solidarität mit und von den Mapuche als Forschungssubjekten, insbesondere basierend auf einem relationalen Verständnis von Solidarität, sowie die Ausübung von Solidarität als Einzelperson oder bei fehlenden Ressourcen. Relationale Verständnisse von Solidarität basieren weder auf Gegner*innenschaft noch auf Abgrenzungen von »Innen« und »Außen«, sondern betrachten Solidarität als eine gegenseitige dauerhafte Verpflichtung, die immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

Juliana Krohn setzte das Gespräch über Solidarität fort, indem sie auf die Diskrepanzen zwischen den erklärten Verpflichtungen zur Beendigung institutioneller Gewalt und dem tatsächlichen Mangel an Solidarität in der Praxis hinwies. Sie warf auch die Frage auf, wer zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wenn in bestimmten Situationen Gewalt beobachtet oder ausgeübt wird. Auch wenn es in vielen Fällen nicht möglich ist, eine generalisierte Anleitung für diese Fälle zu finden, waren sich die Diskussionsteilnehmer*innen einig, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Impliziertheit, wie auch den eigenen Gefühlen der Ohnmacht und Überforderung als Zeug*innen auseinanderzusetzen, um diejenigen zu unterstützen, die direkt von Gewalt betroffen sind. Die Autorin betonte, dass selbst an Universitäten Gewalt ausgeübt wird, und dass die Friedens- und Konfliktforschung selbst möglicherweise nicht konfliktsensibler als andere Disziplinen ist, sondern sogar eine geringere Selbstwahrnehmung haben kann, wenn es um den Umgang mit unterschiedlichen Formen von Gewalt, wie institutioneller und symbolischer Gewalt, geht. Die Problematik läge darin, dass Vertreter*innen der Disziplin sich für besonders friedensorientiert und konfliktsensibel halten, aber in eigenen lebensweltlichen Kontexten kaum gegen Gewalt einstehen. Dadurch sei die Lücke zwischen Theorie und Praxis der Friedens- und Konfliktforschung sehr groß, was die Glaubwürdigkeit von Vertreter*innen der Disziplin zunehmend reduziere.

Den zweiten Tag des Workshops begann Cora Bieß mit einer Diskussion über den »Do No Harm«-Ansatz, indem sie ihn mit dem »HEADS UP«-Tool von Vanessa Andreotti konterkarierte (siehe S. 37ff. in dieser Ausgabe). Es wurde darüber diskutiert, wer definiert, was als schädlich oder wohltuend definiert wird. Um zu vermeiden, dass Do No Harm zu einem leeren Slogan ohne Substanz verkommt, muss sichergestellt werden, dass sich alle Konfliktparteien darüber im Klaren sind, wer die Entscheidungsgewalt darüber hat, was als nützlich und was als schädlich in einem bestimmten Kontext angesehen wird. Die Diskussion führte zu einem Gespräch darüber, welche wissenschaftlichen Ansätze der Friedenspädagogik Schaden anrichten können und welche materiellen Konsequenzen verschiedene Ansätze haben können. Dabei wurde beispielsweise die Messbarkeit und Operationalisierbarkeit von Bildungsprozessen kritisiert, welche oft durch Projektlogiken begrenzt und verkürzt werden. Weitere potentielle Schäden könnten entstehen, wenn ein geringes Maß an Machtsensibilität besteht und Friedenspädagogik nur als konfliktsensibles, nicht aber machtsensibles Handeln aufgefasst wird. Es wurde auch darüber gesprochen, dass die strenge Einhaltung von HEADS UP auch dazu führen kann, dass bestimmte Projekte oder Interventionen, die nicht dem Ansatz entsprechen, gar nicht erst angefangen werden. Dies könnte direkte materielle Konsequenzen haben, wenn die finanziellen Ressourcen solcher Projekte an den erforderlichen Stellen nicht verfügbar sind. Der Beitrag hob auch die Bedeutung einer privilegien- und konfliktsensiblen Haltung in der Praxis der friedenspädagogischen Arbeit hervor und ging der Frage nach, wie Konflikte von den Beteiligten, einschließlich der Interventionspartei, transformiert werden können.

Michaela Zöhrer und Christina Pesch berichteten über das partizipative Forschungsprojekt »Farida Global«, das als Versuch gestartet wurde, denjenigen die Entscheidungsmacht und die Macht der Wissensproduktion zurückzugeben, deren Situation von Forscher*innen und Journalist*innen oft ausgenutzt wird, in diesem Fall den Überlebenden des Völkermords an den Jesiden. Es wurden Fragen der Repräsentation, der Präsenz und der Abwesenheit im wissenschaftlichen Kontext aufgeworfen sowie die Art und Weise, wie die Betroffenen selbst Wissen produzieren oder verfügbar machen können, wobei auch das Schweigen eine Form des Widerstands darstellt. In der Diskussion wurde festgestellt, dass die (universitären) Räume, in denen Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen, so gestaltet sein müssen, dass diese Menschen – Überlebende – einbezogen werden. Diese Inklusivität muss jedoch die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen und sie nicht nur um der Forschungsgerechtigkeit willen einbeziehen. Das könnte beinhalten, dass zentrale Begriffe von ihnen selbst hervorgebracht und mit Inhalt gefüllt werden, wie beispielsweise der Begriff des »respektvollen Umgangs«, den sich die Überlebenden von der Wissenschaft wünschen.

Widerstand als zentrales Element in der Menschenrechtsbildung wurde im Beitrag von Josefine Scherling ausführlich diskutiert. Sie ging darauf ein, was Widerstand ist und welche Arten von Widerstand in verschiedenen Gesellschaften erlaubt (oder legal) sind, sowie darauf, wie er manchmal romantisiert oder vereinnahmt wird. Im Gespräch wurde thematisiert, dass Widerstand nicht selten mit Gewalt, Unterdrückung und Konflikten einhergehe, auch wenn Gewaltfreiheit immer wieder deklariertes Ziel konkreter Widerstandsbewegungen sei: Widerstand ist gefährlich, in manchen Kontexten mehr als in anderen. Deshalb sollten Friedensforscher*innen sensibel dafür sein, wie sie über Widerstand nachdenken und ihre eigene soziale wie geographische Verortung mit einbeziehen. Die Genealogie der Menschenrechte wurde erörtert, insbesondere die Tatsache, dass sie in ihrer Entwicklung selbst soziale Hierarchien hervorgebracht haben. Ein weiterer Diskussionspunkt war ein nicht-eurozentrischer Blick auf die Geschichte der Menschenrechte, z.B. anhand einer Ausrichtung von Geschichtserzählungen an der Haitianischen Revolution, sowie auf Visionen und Alternativen und unterschiedliche lokale Bezugsrahmen zu diesem Thema. Dabei wurde festgehalten, dass Perspektiven aus dem Globalen Süden als Ausgangspunkt für historische Erzählungen der Menschenrechte dienen sollten.

Die Diskussion der Beiträge der Teilnehmer*innen wurde mit der Präsentation des Beitrags von Maria Zhiguleva abgeschlossen, in dem sie sich mit post- und dekolonialen Theorien und deren Anwendung im postsowjetischen Raum befasste: insbesondere mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Anwendungen. Obwohl es strukturelle Unterschiede zwischen den Imperien (in diesem Fall in Europa und Russland/UdSSR) gibt, sind die Beziehungen zwischen dem Zentrum in Moskau und den Regionen in der Peripherie zu beobachten, und der interne Kolonialismus kann für diese Region relevant sein. Ein Schwerpunkt lag auf den praktischen Implikationen für die Friedensbildung, wobei die Frage gestellt wurde, ob es Maßnahmen gibt, die ergriffen werden können, um das Ende der Gewalt gegenüber der Ukraine heute zu fördern und die Bedingungen und den Kontext des postkolonialen Friedens in der Region in Zukunft zu überprüfen. In der Diskussion sprachen die Teilnehmenden die Tatsache an, dass Kolonialität vielfältig und vielschichtig ist und dass es für die Analyse des Kolonialismus im postsowjetischen Raum sinnvoll sein könnte, spezifische Verbindungen zu neuen imperialen und maskulinen Regimen zu identifizieren. Darüber hinaus wurde Trauma als Instrument der Kolonisierung genannt, insbesondere das transgenerationale Trauma als Instrument zur Verursachung von Schäden, die über Generationen hinweg andauern – wie etwa am Beispiel des Stalinismus zu sehen.

Die Sitzung, die dem Krieg in der Ukraine als Herausforderung für die Friedens- und Konfliktforschung gewidmet war, wurde von Christoph Weller organisiert und moderiert. Ziel war es, die persönliche Positionierung, Erwartungen und Verantwortung jedes Einzelnen als soziales, politisches und wissenschaftliches Subjekt zu reflektieren. Fragen der Gewaltfreiheit als Thema, getrieben durch das Privileg, nicht in einem kriegsgebeutelten Land zu leben, wurden ebenso diskutiert wie Fragen der (Un-)Sichtbarkeit im Hinblick auf aktuelle Konflikte in anderen Weltregionen, die durch Doppelmoral und unterschiedliche Haltungen geprägt sind (z.B. Afghanistan oder Syrien). Gewaltfreiheit, Gewaltreduzierung und die Mittel zu ihrer Erreichung wurden im Zusammenhang mit dem Krieg (und Cyberwar) in der Ukraine erörtert, und die Positionierung des Westens und der deutschsprachigen Länder als Teil (oder nicht Teil) des Konflikts wurde ebenfalls diskutiert. Die Gruppe ist zu dem Schluss gekommen, dass Forscher*innen in der Friedens- und Konfliktforschung eine besondere Verantwortung haben, hegemoniale Konfliktquellen zur Sprache zu bringen und die Aufmerksamkeit für andere laufende Konflikte, in denen teils akute Unterversorgung herrscht, nicht zu verlieren. Die Positionierung Europas als »Friedensmacht« wurde hervorgehoben und kritisiert, ebenso wie die Notwendigkeit, die Analyse auf alle Aspekte des Krieges auszuweiten: der Diskurs über Waffenlieferung kann nicht andere wichtige Sachleistungen, Unterstützungsstrukturen und Programme der psychischen Gesundheit und psychosozialen Unterstützung ersetzen, die ebenfalls dringend notwendig sind.

Am dritten und letzten Tag des Workshops wurden die Teilnehmer*innen in einer von Michaela Zöhrer konzipierten und moderierten Abschlusssitzung gebeten, über die während des Workshops aufgeworfenen Fragen zu reflektieren, ihre Meinung zu offenen und ungelösten Lücken und Diskrepanzen zu äußern und über ihre Erwartungen sowie über mögliche Lösungen und nächste Schritte zu sprechen, die Forscher*innen in ihrer weiteren wissenschaftlichen Arbeit nutzen könnten. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, Aktion und Haltung, war eines der drängendsten Themen, die auf dem Workshop diskutiert wurden. Die Wichtigkeit, das eigene Selbstbild und die tatsächlichen Handlungen zu betrachten, sowie die Notwendigkeit, generell mehr zu handeln, wurde geäußert. Das Zusammentreffen im Workshop und die Arbeit in der Gruppe hat die Teilnehmer*innen dazu gebracht, über die Bedeutung von Gemeinschaft und Solidarisierung in der Friedens- und Konfliktforschung nachzudenken. In dem Rahmen wurde die Bedeutung der Schaffung sicherer – und mutiger – Räume praktisch erprobt und theoretisch als Grundlage dafür reflektiert, wie jede*r Forscher*in zu ihrer Schaffung beitragen kann, um die eigene Verantwortung zu übernehmen.

Kontakt: decolonizepeace@aau.at

Maria Zhiguleva

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Wir haben ein (Daten-)Problem!

von Lamis Saleh und Fiona Wilshusen

Wir leben in einer militarisierten Welt – und die weltweiten Militärausgaben sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dass mehr Waffen jedoch auch mehr Sicherheit bedeuten, ist umstritten. Im Gegenteil, eine steigende Militarisierung kann eben auch größere (physische) Unsicherheit bedeuten, wie ein Blick auf geschlechtsspezifische Effekte zeigt. So wird Militarisierung in Verbindung gesetzt mit Gewalt gegen Frauen1. Wollen wir diese Beziehung jedoch empirisch analysieren, stoßen wir bald auf ein Problem – uns fehlen die Daten.

Frauen sind auf vielen Ebenen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen. Grundsätzlich beschreibt geschlechtsspezifische Gewalt (auf Englisch: gender-based violence, kurz GBV) physische, psychische oder strukturelle Gewalt, von der eine Person aufgrund ihrer biologischen oder sozialen Geschlechtszugehörigkeit betroffen ist. Auch wenn diese Definition so Gewalt gegen alle Geschlechter einbezieht, sind Frauen und Mädchen überproportional stark davon betroffen2 – z.B. in Form von sexualisierter Gewalt, struktureller Machtungleichheit oder finanzieller Abhängigkeit. Deshalb wird er oft synonym verwendet mit dem Begriff Gewalt gegen Frauen. Da bei psychischer, physischer und/oder sexualisierter Gewalt der Täter in vielen Fällen der (Ex-)Partner ist, wird diese Form der Gewalt oft auch als Partnergewalt bezeichnet.

Faktoren, die geschlechtsspezifische Gewalt begünstigen, können laut WHO mangelnde Gleichberechtigung der Geschlechter, ökonomische Abhängigkeit und soziale Normen, die Frauen einen niedrigeren Status als Männern zuschreiben, sein (WHO 2021). Doch wie hängen diese Dynamiken mit Militarisierung zusammen?

Militarisierung und geschlechtsspezifische Gewalt

Grundannahme des Militarisierungskonzeptes ist, dass das Militär auch in politische, ökonomische und gesellschaftliche Räume wirkt. Militarisierung beschreibt dabei einen Prozess, innerhalb dessen nicht nur militärische Werte an Gewicht in der Gesellschaft gewinnen, auch die Art der Ressourcenverteilung kann Teil einer zunehmenden Militarisierung sein (Enloe 2000).

Mit einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft werden nicht nur Gewalt und Aggression eher als legitime Mittel der Konfliktlösung angesehen, auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern kann stärker hierarchisiert werden. Bereits in den 1980ern etablierten Wissenschaftler*innen eine theoretische Verbindung zwischen Militarisierung und der patriarchalen Ordnung – diese sind demnach eng verwoben und verstärken sich gegenseitig (Enloe 1983; Reardon 1985). Zentral ist dabei das hierarchisierte Konzept einer militarisierten Männlichkeit – tough, dominant, aggressiv – und einer passiven, schutzbedürftigen Weiblichkeit (Elshtain 1982; Whitworth 2004; Eichler 2014).3 Durch diese Hierarchisierung einerseits und das Propagieren militärischer Werte wie Härte und Dominanz andererseits, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum, wird zunehmende Militarisierung assoziiert mit einem Anstieg an physischer, struktureller und kultureller Gewalt, von der Frauen in besonderem Maße betroffen sind (Sharoni 2016). So geben (hoch-)militarisierte Staaten hohe Summen ihres Staatshaushaltes für den militärischen Sektor aus, was oft einhergeht mit geringeren Ausgaben für soziale Belange, im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Andere Studien wiederum identifizieren eine direkte Verbindung zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, da staatliche Sicherheitskräfte (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Bereich und privaten Raum ausüben – und oft Täter von Partnergewalt sind. Doch Militarisierung kann auch indirekt wirken. So hat eine empirische Analyse gezeigt, dass sich steigende Militarisierung negativ auf Geschlechtergerechtigkeit und die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirken kann (Elveren, Moghadam und Dudu 2022). Beides hat die WHO als Faktoren identifiziert, die GBV begünstigen.

Die (empirischen) Zusammenhänge?

Trotz des starken theoretisch begründeten Zusammenhangs zwischen dem Militarisierungsgrad eines Landes und der Prävalenz von geschlechtsspezifischer Gewalt, fehlt es erstaunlicherweise weitgehend an empirischen Analysen. Soweit uns bekannt ist, hat keine Studie einen solchen Zusammenhang quantitativ nachgewiesen. Ein Hauptgrund dafür ist wohl die mangelnde Verfügbarkeit von Daten.

In einem ersten Schritt haben wir in unserer Forschung daher versucht, den Grad der Militarisierung mit geschlechtsspezifischer Gewalt zu verknüpfen. Der Globale Militarisierungsindex (GMI, siehe bicc 2022) ist der einzige Index, der die weltweite Militarisierung abbildet. Dabei legt er aber seinen Schwerpunkt auf Ressourcenverteilung und Bedeutung des Militärapparats von Staaten im Verhältnis zur Gesellschaft als Ganzem und hat daher eher ein strukturelles Militarisierungskonzept zugrunde liegen. Kulturelle und geschlechtsspezifische Implikationen werden so außer Acht gelassen. Wenn wir hier also bereits auf erste Limitationen stoßen, ergibt sich hinsichtlich der Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt ein desaströses Bild: Soweit wir wissen, gibt es keinen indexbasierten und aktuellen Datensatz zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt. Alle verfügbaren Daten sind entweder über die Jahre hinweg nicht konsistent oder für eine gründliche Analyse nicht in einem ausreichend großen geografischen Maßstab verfügbar. Um dennoch eine erste empirische Analyse zu wagen, greifen wir auf einen Datensatz der Vereinten Nationen zurück. In ihrem Bemühen, die Gleichstellung der Geschlechter unter dem entsprechenden Nachhaltigen Entwicklungsziel (SDG 5) zu fördern, stellen die Vereinten Nationen einige Statistiken zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt zur Verfügung. Basierend auf Erhebungen und Initiativen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in den Jahren 2000-2018, misst dieser Datensatz den Prozentsatz von Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, die in den vergangenen zwölf Monaten Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner erfahren haben. So sind diese Daten aber nicht nur zeitlich limitiert, sondern bilden nur einen kleinen Teilaspekt von geschlechtsspezifischer Gewalt ab, nämlich Partnergewalt.

Daher stellt unsere Analyse nur eine – sowohl zeitlich als auch bezüglich der Datenqualität stark limitierte – Momentaufnahme der vermuteten Beziehung dar. Wir versuchen zunächst, den allgemeinen Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt zu messen. Abbildung 1 zeigt die Korrelation zwischen beiden Variablen für alle 153 Länder in unserem Datensatz für das Jahr 2018.

Abbildung 1: Korrelation von Militarisierung und »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Sie zeigt eine signifikant negative Korrelation, was darauf hindeutet, dass eine höhere Militarisierungsrate mit einem niedrigeren Niveau geschlechtsspezifischer Gewalt verbunden ist. Was vor dem Hintergrund der theoretischen Verbindung auf den ersten Blick große Fragen aufwirft, wird mit einem zweiten Blick klarer. Die negative Korrelation deutet nicht zwangsläufig darauf hin, dass steigende Militarisierung zu sinkender GBV führt. Vielmehr deuten sich hier die Folgen des Datenproblems an: Die jeweiligen Charakter der zur Verfügung stehenden Datensätze (limitiertes Militarisierungsverständnis, limitiertes GBV-Verständnis) und die eklatanten Datenlücken verzerren das Bild.

Da diese erste grobe Korrelation eine massive Diskrepanz zu theoretischen Ableitungen darstellte, wollten wir das Verhältnis der Daten tiefer ergründen. Für unsere Analyse betrachten wir nun die Karte 1. Die Größe der Staatsterritorien auf unserer Karte hängt von ihrem relativen Militarisierungsgrad ab. Einige Länder erscheinen größer, als ihre maßstabsgetreue Größe wäre, während andere kleiner erscheinen. Die geschlechtsspezifische Gewalt wird durch die farbige Visualisierung dargestellt. Je höher der Grad der Gewalt ist, desto mehr bewegen sich die Länder im roten Farbspektrum.

Karte 1: Weltkarte zu »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Bei einem Blick auf die Karte ergibt sich ein etwas anderes Bild als bei der vorhergehenden Korrelation. Länder in Zentralafrika mit einem höheren Militarisierungsgrad haben mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen höheren Wert von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Für einige Länder mit sehr hohen Militarisierungsraten, z.B. Russland, liegen keine GBV-Daten vor. Diese Beobachtungen helfen, die Zusammenhänge zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt empirisch besser zu verstehen. Am Beispiel Russland zeigt sich auch, inwieweit die Datenlücken das Gesamtbild verzerren: Sowohl das Komitee der Frauenrechtskonvention als auch Human Rights Watch weisen auf die hohe Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Russland hin – es gibt aber schlicht keine offiziellen Statistiken. Im Jahr 2017 wurde darüber hinaus ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte häusliche Gewalt in Russland dekriminalisiert. Dies führt nicht nur zur Straflosigkeit der Täter*innen, sondern mit Blick auf die Datenverfügbarkeit auch zu steigenden Dunkelziffern.

Es zeigt sich vor allem eins: Wir haben zu wenig Informationen. Da uns nur limitierte Daten zur Verfügung stehen, gibt es zwar Anhaltspunkte aber nicht genügend Evidenzen, um kausale Beziehungen herzustellen. So kann unsere empirische Analyse zwar eine erste Tendenz abbilden für den Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, aber das Gesamtbild bleibt trübe. Es zeigt sich also deutlich, dass die Daten für gehaltvolle Analysen – und in der Konsequenz auch politische Empfehlungen – fehlen. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund (inter-)nationaler Bekenntnisse zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt besorgniserregend – und muss sich dringend ändern!

Anmerkungen

1) Der Begriff »Frauen« umfasst alle Personen, die sich als Frau identifizieren.

2) Gewalt, die dich explizit gegen LGBTQIA*-Personen richtet, fällt theoretisch auch unter diese Begriffsdefinition, allerdings wird der Begriff in diesem Zusammenhang selten verwendet.

3) Dieses Machtgefälle wirkt nicht nur geschlechtsspezifisch, die Konstruktion von militarisierter Maskulinität ist ein Gegenentwurf zu jeglichem »Anderen« und basiert damit gleichermaßen auf Homophobie, Misogynie und Rassismus. Hier fokussieren wir aber auf geschlechtsspezifische Implikationen.

Literatur

BICC (2022): Globaler Militarisierungsindex, Online: gmi.bicc.de.

Eichler, M. (2014): Militarized masculinities in international relations. The Brown Journal of World Affairs 21(1), S. 81-93.

Elshtain, J. B. (1982): On beautiful souls, just warriors and feminist consciousness. Women’s Studies International Forum 5 (3/4), S. 341-348.

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Dr. Lamis Saleh ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Unterstützung der Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen in Afrika« am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC).
Fiona Wilshusen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte«, ebenso am BICC.

Der Russland-Ukraine-Krieg

Der Russland-Ukraine-Krieg

Impulse für einen umfassenden und nachhaltigen Friedensprozess

von Karim P. Fathi

Der Russland-Ukraine-Krieg hält die Welt in Atem. Dabei findet sich in der emotionalisierenden Berichterstattung wenig über die Frage, was für einen nachhaltigen Frieden notwendig wäre. Beiträge aus der Friedensforschung und -arbeit wurden und werden in der aktuellen Diskussion unzureichend berücksichtigt, sind sogar Gegenstand von antipazifistischer Kritik. Letztlich gilt jedoch: Friedensforschung kann voraus- und über eine enge Debatte über Waffenlieferungen und militärische Erfolge hinausblicken. Wie kann ein nachhaltiger Frieden nach dem Ende des Russland-Ukraine-Kriegs gefunden werden, auch und gerade in Anbetracht seiner Tiefendimensionen? An welchen Stellschrauben könnte Friedenspolitik ansetzen?

Ein nachhaltiger Friedensprozess bedarf einer entsprechend komplexitätsangemessenen Analyse der Konfliktsituation und einer ebenso angemessenen Interventionsgestaltung. Die folgende Darstellung erhebt nicht den Anspruch einer vollständigen Analyse dieses Kriegs. Vielmehr geht es darum, mehrere Dimensionen und Ebenen der Konfliktanalyse und -intervention aufzuzeigen, bei denen Friedensforschung und -arbeit wichtige Beiträge leisten können und die in der aktuellen Diskussion sowie der internationalen Politik vernachlässigt werden.

Ebene 1 – Konstellation Russland vs. Ukraine

Vordergründig stellt sich der vorliegende Krieg in erster Linie als eine militärische Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland dar. Dem müssen im Kontext einer vielschichtigen Analyse die psychische, strukturelle und kulturelle Dimension zur Seite gestellt werden. Nur so können inhärente Risikopotenziale jenseits des aktuellen Schlachtfelds umfassend berücksichtigt werden.

Die psychische Dimension betrifft unter anderem den erheblichen Stress und die seelischen Schäden in der Bevölkerung, die mit der Fortdauer des Kriegs zunehmen und im Sinne posttraumatischer Behandlungsbedarfe und einer „Jetzt erst recht“-Revanchehaltung den Konflikt verlängern können.

Strukturelle Gewalt prägt sich vor allem als systematische Diskriminierung aus, von der mehrere ethnische Gruppen betroffen waren und sind. So mahnte das EU-Parlament im Vorfeld des Kriegsausbruches „gravierende“ Fälle von Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung an. Die Ukraine, die nunmehr seit einigen Jahren durch ein Assoziierungsabkommen zunehmend enger mit der EU verbunden ist, verstoße mit ihrer Sprach‐ und Minderheitenpolitik immer wieder gegen internationale Minderheitenstandards. Unter anderem hob die Staatsanwaltschaft des Gebiets Donezk laut Medienberichten den Status des Russischen als regionale Amtssprache auf, obwohl dort ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Russisch spricht (Europäisches Parlament 2018). Zugleich wird auch über ähnliche Formen struktureller und direkter Unterdrückung von Nicht-Russ*innen in den von Russland besetzten Gebieten berichtet (Dornblüth und Adler 2022). Strukturelle Gewalt trägt insgesamt erheblich zur Kriegspropaganda auf beiden Seiten bei und wird zugleich von ihr legitimiert.

Dies zeigt sich im Ausmaß kultureller Gewalt, die sich im Russland-Ukraine-Krieg vielfältig ausprägt. Kulturelle Gewalt umfasst Muster in verschiedenen Kulturbereichen und Medien, z.B. in der Kunst, Berichterstattung, Folklore, die direkte und strukturelle Gewalt legitimieren (Galtung 1998). Eine verbreitete Manifestation kultureller Gewalt besteht in der moralisierenden und polarisierenden Berichterstattung und entsprechenden Bildern, die Russland und die Ukraine voneinander zeichnen. „Faschismus“ (Kotsev 2022) oder „genozidales“ Verhalten (Tacke und Busche 2022) assoziieren beide Seiten miteinander. Kulturelle Gewalt erhält im sich abzeichnenden »Informationskrieg« und »Kampf der Narrative« besondere Bedeutung: Längst ist der Russland-Ukraine-Krieg auch ein Ringen um Deutungshoheit und moralische Legitimation geworden, das im digitalen Raum ausgefochten wird (Hate Aid 2022).

Zusammengefasst sollten auf der hier vorgestellten Analyseebene »Russland vs. Ukraine« mindestens folgende Dimensionen im Rahmen einer ganzheitlich ausgerichteten Konfliktanalyse berücksichtigt werden: eine Dimension der qualitativen Analyse, die auf subjektive bzw. »softe« Faktoren wie z.B. Psyche, Kultur, Narrative und Traumata Bezug nimmt, und eine Dimension der quantitativen Analyse, die eher objektive und empirisch-beobachtbare Faktoren untersucht, wie z.B. Strukturen, Interaktionen, beobachtbare Fakten und Handlungen sowie juristische Rahmenbedingungen. Diese Kategorisierung ermöglicht, wie unten zu zeigen sein wird, eine ganzheitliche Berücksichtigung unterschiedlicher Konfliktdimensionen für die Konfliktintervention.

Um die unterschiedlichen Konfliktdimensionen etwas zu systematisieren dient die hier beigefügte Vier-Feld-Matrix (Tabelle 1). Ein solches Schema wird typischerweise in der Tradition der Konflikttransformation verwendet, z.B. von Norbert Ropers (1995) oder John Paul Lederach (2003).

Ebene 2 – Russland-Ukraine-NATO-Konflikt

Auf einer tieferen Analyse- und Interventionsebene werden nicht nur die Positionen der Konfliktparteien, sondern die tieferliegenden Bedürfnisse berücksichtigt. Unerfüllte Bedürfnisse, wie z.B. Identität, Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, stellen die tiefere Antriebsfeder jedes Konflikts dar (Galtung 1998). Darüber hinaus beinhaltet dieser Konflikt eine weiter gefasste regionale Konstellation, aus der sich weitere Antriebskräfte und Themen ergeben.

Jeder bedürfnisbasierte Konfliktlösungsprozess erfordert eine differenzierte Betrachtung der betroffenen Bedürfnisse aller Konfliktparteien und damit ein Berücksichtigen von Mitverantwortung aller Beteiligten an der gemeinsamen Konfliktdynamik.

Auf Seiten der Ukraine sind Bedürfnisse nach Sicherheit, Überleben, Identität, Freiheit/Gerechtigkeit betroffen. Sie entsprechen auch den von Johan Galtung definierten vier Grundbedürfnissen. Demnach sieht sich die Ukraine in dieser asymmetrischen Konfliktkonstellation Gewalt auf allen nur denkbaren Dimensionen ausgesetzt. Auf Seiten Russlands scheinen vor allem die Bedürfnisse nach Sicherheit, Identität und Gerechtigkeit betroffen zu sein. Dies wird erst ersichtlich, wenn der Beitrag mittelbar beteiligter Akteure, wie z.B. der USA oder der NATO, in der Analyse miterfasst wird.

Diese Russland-Ukraine-NATO-Konfliktkonstellation zu betrachten ist für den Friedensprozess unerlässlich. Seit Jahren fordert Russland von der NATO und den USA Sicherheitsgarantien, eine Verringerung der Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke und einen Stopp der Ausdehnung des westlichen Bündnisses in Richtung Russland. In der Vergangenheit forderte Putin von der NATO schriftliche Garantien, künftig keine weiteren osteuropäischen Staaten wie Georgien oder eben die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Hinsichtlich der geografischen Reichweite der NATO, forderte Russland, sie solle wieder auf den Stand von 1997 zurückgeführt werden. Die USA und die NATO wiesen diese Forderungen als in weiten Teilen unannehmbar zurück. Daher sieht Putin den Krieg als einen Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland an (lpb 2022).

Sicherheitsinteressen sind konfliktrelevant

Russland sieht sich in seinen Sicherheits­interessen von der NATO-Osterweiterung bedroht. Tatsächlich hat dieser Prozess bis heute zu einer zunehmenden Einbindung ehemaliger Sowjetstaaten, wie Polen, Rumänien, Bulgarien oder den Baltischen Staaten geführt (Sarotte 2021). Selbst John Mearsheimer, einer der bekanntesten Vertreter der politischen Theorie des Realismus, interpretiert die russische Ablehnung dieser Situation als durchaus erwartbares Verhalten zur Sicherung der Interessensphäre (Mearsheimer 2022).1 Dies ist insofern bemerkenswert, da der Realismus weder eine Bedürfnisorientierung, noch eine friedenslogisch-pazifistische Ausrichtung aufweist. Doch selbst nach diesem Ansatz sind die geäußerten Sicherheitsinteressen Russlands klar als konfliktrelevante Dimension zu sehen – sie in einer zukünftigen Friedensfindung auszuschließen, kann fast nur zum Scheitern aller Verhandlungen führen. Dies bedürfte dann aufseiten dritter Konfliktparteien, wie den NATO-Staaten, einer Kernanforderung des Projektes der »Friedenslogik« (vgl. Jaberg 2014): Sicherheit dürfte nicht mit Frieden gleichgesetzt werden, Hochrüstung und Kriege nicht als normale Handlungsformen anerkannt und vor allem der eigene Beitrag zur Entstehung dessen, was als Bedrohung wahrgenommen wird, gesehen werden.

Konfliktdimension »Doppelmoral«

Eine weitere Ausprägung struktureller Konfliktpotenziale stellt die Kritik an der »Doppelmoral« des Westens dar, die mit dem aktuellen Propagandakrieg an Fahrt aufgenommen hat. Heute wird Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg stärker verurteilt als andere illegale Kriege, die von westlichen Staaten in der jüngeren Zeit, wie z.B. Irak 2003 oder Libyen 2011, geführt wurden (Fischer 2022). Der Politikwissenschaftler Ivan Krastev sieht die wachsende Kritik an der westlichen Doppelmoral im Wesentlichen als Ausdruck der Krise der liberalen Hegemonie (Krastev 2019). Aus friedenslogischer Sicht erzeugt die „Hybris desjenigen Akteurs, der sich als Sieger des Kalten Kriegs begreift, ebenso wie die normative und praktische Selbstbevorzugung, gemäß derer sich der Westen dazu berechtigt sieht, sich selbst mehr zu erlauben, als er anderen zuzugestehen bereit ist“ (PZKB 2022, S. 12) eine weitere Dimension in diesem konkreten Krieg – etwas das für eine zu schaffende Friedensordnung beachtet werden müsste. Die Zusammenfassung der oben skizzierten Punkte ist in der begleitenden Vier-Feld-Matrix aufgeführt (Tabelle 1).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Tiefergehende Motivationen auf allen Seiten, insbesondere Sicherheitsbedürfnisse.

Ggf. tiefergehende Traumata bei Betei­ligten auf allen Seiten.

Verhalten, Interaktionen:

Historischer Verlauf und aktuelle Handlungen der Parteien (hier: zusätzlich NATO, EU, USA)

Juristische, vor allem völkerrechtliche Rahmenbedingungen: Russland, NATO, EU.

Weitere Rahmenbedingungen: ökono­misch, militärisch, geostrategisch.

Kollektiv

Kultur:

Kulturelle Gewalt, in Form konflikt­verschärfender Bedrohungsdarstellungen (z.B. Gegenseite als feindliche Großmacht).

Kulturelle Gewalt in Form historisch, ideologisch etc. begründeter Legitimierung von geokultureller Expan­sion.

Propagandakrieg, verschärfte Kritik an der Doppelmoral des Westens.

Struktur:

Strukturelle Konstellation: Liberale Hegemonie des Westens.

Great Game zwischen Russland und dem Westen auf dem Schachbrett Europas.

Innerstaatlich: Strukturelle Unterdrückung von Minderheiten (je nach Gebiet: Russ*innen und Nicht-Russ*­innen).

Tabelle 1: Dimensionen zur Analyse des Russland-Ukraine-NATO-Konflikts in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

Impulse für den Friedensprozess

Auf Grundlage der oben skizzierten Reflexionen ergeben sich mehrere Hebelpunkte für nicht-militärische Interventionen im Russland-Ukraine-Krieg.

Maßnahmen für die Zivilbevölkerung

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung hält eine Vielzahl von Handlungsfeldern und Maßnahmen bereit, die bereits in internationalen Konflikten umgesetzt werden. Ein Großteil dieser Maßnahmen adressiert die Zivilbevölkerung(-en) der direkt betroffenen Konfliktparteien. Dies erscheint unumgänglich, um ein Wiederaufflammen von Gewalt, nachdem politische Vereinbarungen getroffen wurden, zu verhindern.

Ein wichtiges Handlungsfeld, das in der Ukraine durchaus abgedeckt wird, ist Leidmilderung und Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe. Vom Angriffskrieg ist besonders die ukrainische Zivilbevölkerung betroffen. Humanitäre Hilfe von Staaten und NGOs oder UN-Hilfsorganisationen leistet Schadensbegrenzung (EU Kommission 2022). Neben materieller Versorgung muss diese Hilfe auch psychologische Unterstützung zur Behandlung von Depressionen, Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) beinhalten.

Maßnahmen gegen kulturelle Gewalt

In einem weiteren Handlungsfeld geht es vor allem darum, den Unterbau kultureller Gewalt anzugehen, der sich in Form direkter Gewalt wie Hassrede, Verschwörungsmythen, Kriegsrhetorik ausdrückt. Denn kulturelle Gewalt befeuert maßgeblich den Konflikt und kann ihn vor allem über Generationen am Leben halten. Diese Dimension bedarf langfristiger Ansätze. Hierzu ein paar knappe Notizen:

  • Ein wichtiger und derzeit unterschätzter Ansatzpunkt wäre ein Sensibilisieren für kulturelle Gewalt beispielsweise durch die Förderung von »Friedensjournalismus«. Letzterer zielt darauf ab, den Konflikt differenziert darzustellen, die Hintergründe zu verdeutlichen und mögliche friedliche Lösungen aufzuzeigen und auf diese aktiv hinzuarbeiten (Kempf und Shinar 2014).
  • Ein zweites Handlungsfeld, das auf Eindämmung kultureller Gewalt und gleichzeitig Förderung von Verständigung abzielt, könnte das Einrichten von Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative sein. Eine solche Plattform wurde bereits in der Vergangenheit anlässlich des Krim-Kriegs vom IMSD-Netzwerk ins Leben gerufen und erfolgreich umgesetzt (Inmedio o.J). Dabei ging es darum, umstrittene Narrative in der öffentlichen Berichterstattung Deutschlands (und im weitesten Sinne des Westens), der Ukraine und Russlands zu erkunden und einen Raum für Diskussionen zu schaffen, der auf ein tiefes Verständnis der Standpunkte ihrer Teilnehmer*innen abzielte. Dieser mediative Dialog fokussiert auf die Idee des Wertes aller Standpunkte und dem Recht eines jeden, zu sprechen und gehört zu werden (Inmedio o.J).
  • Eine dritte Dimension soziokultureller Interventionen, die in einer späteren Phase des Friedensprozesses an Bedeutung gewinnen dürfte, widmet sich der Frage nach einem friedlichen Zusammenleben russisch- und ukrainischsprachiger Bevölkerungsgruppen, insbesondere im Donbas. Hier wird es auf intra- und transnationaler Ebene darum gehen, das Etablieren einer Sprach- und Minderheitenpolitik zu ermöglichen, die internationalen Mindeststandards entspricht.
  • Auch die Schulbildung als Träger kulturell gewaltvoller Inhalte darf als Konfliktdimension nicht unterschätzt werden. Entsprechende Erfahrungswerte bestehen unter anderem im Israel-Palästina-Konflikt und dem Konzept der »parallelen Geschichten«. Diese Initiative trägt dem Umstand Rechnung, dass Konfliktgruppen historische Ereignisse sehr unterschiedlich wahrnehmen und erklären. Oft werden für diese Auseinandersetzungen Geschichtsbücher in Schulen instrumentalisiert. Das von Samir Adwan und Dan Bar-On ins Leben gerufene Schulbuchprojekt berücksichtigt die Sichtweisen beider Seiten und ermöglicht es den Schüler*innen, beide kennenzulernen (Adwan und Bar-On 2012). Dieser erfolgreiche Ansatz ließe sich auch auf die Ukraine, insbesondere im Donbas, anwenden.

Staatliche Ebene: Verhandlungen möglich machen

Angesichts der fortgeschrittenen Eskalation und Verhärtung dürfte es sich als sinnvoll erweisen, wenn die unterschiedlichen internationalen Unterstützer*innen die Konfliktparteien dazu bewegen, die Waffen niederzulegen und sich konstruktiv an einer Friedenslösung zu beteiligen. Nach klassischer Konflikteskalationslogik sind die Akteure in diesem Zustand kaum mehr in der Lage, aus eigenen Kräften aus der Verhärtung auszubrechen. Im Falle der Ukraine hätten die USA entsprechenden Einfluss, auf russischer Seite eventuell China.

Grundsätzlich erweist es sich als friedensförderlich, Dialogkanäle zwischen den Beteiligten aufrechtzuerhalten und den Raum für Verhandlungen offen zu lassen (Purkarthofer 2000). Die Mediator*innen vom IMSD empfehlen dabei für den Prozess, keine hohen Erwartungen an inhaltliche Kompromissbereitschaft zu stellen, da ein Drängen von Drittparteien zu weiterer Verhärtung führen könnte. Vielmehr gehe es darum, auf niedrigschwellige Zwischenziele, etwa als „Identifikation der Bedingungen zur Co-Existenz“, hinzuarbeiten (IMSD 2022). Tatsächlich bestanden im ersten Kriegsmonat durchaus Chancen auf eine Verhandlungslösung. Nach Beratungen in Istanbul Ende März bot die Ukraine ihre Neutralität und den Verzicht auf einen NATO-Beitritt an. Die Verhandlungen kamen zu keinem Ergebnis (ZEIT 2022). In den späteren Monaten wurden zumindest Teilerfolge in Form von Abkommen zu Gefangenenaustauschen und Getreide realisiert (Apelt 2022). Darauf ließe sich aufbauen. Letztlich gilt: Das Ende des Krieges kann nur in Form von Verhandlungen erfolgen, in denen strittige Punkte, wie z.B. die Territorialfrage, geklärt werden müssen. So stellt sich aufgrund der steigenden Kriegskosten auf beiden Seiten und der geringen Wahrscheinlichkeit eines schnellen militärischen Sieges „weniger die (…) Frage, ob es weitere Verhandlungen geben wird, sondern eher wann und unter welchen Bedingungen“ (IMSD 2022).

Bei der Frage nach geeigneten Mediator*innen eignen sich von allen Beteiligten gleichermaßen akzeptierte Staaten, wie z.B. die Türkei oder die Schweiz, oder spezialisierte NGOs, wie z.B. die Berghof Stiftung, inmedio oder das IMSD-Netzwerk. Dabei wird in der zivilen Konfliktbearbeitung betont, alle »Tracks« mit einzubeziehen – die der politischen Entscheidungsträger*innen (Track 1), gesellschaftlicher (Track 2) und zivilgesellschaftlicher Führungspersönlichkeiten (Track 3) (Lederach 1997) – was im Falle der Ukraine vor allem auch aufgrund ihrer innerstaatlichen Konfliktdimensionen sinnvoll erscheint (Herrberg 2017). Insgesamt, so betonen die Expert*innen des IMSD-Netzwerks, empfiehlt sich das Einrichten unterschiedlich zusammengesetzter Akteursforen. Um z.B. den Ursachen für die Außeneinmischungen in diesem Konflikt auf den Grund zu gehen und den übergeordneten russischen Sicherheits- und Anerkennungsinteressen begegnen zu können, ist eine Einbindung relevanter westlicher Mächte, insbesondere der USA und NATO, auf der Track 1-Ebene erforderlich (IMSD 2022).

Das selbstkritische Reflektieren des eigenen Beitrags beinhaltet, wie die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) in ihrer Stellungnahme vom 11.05.2022 betonen, nicht die moralische Schuldfrage. Vielmehr gilt es, die eigenen Anteile an der Zuspitzung der letzten Jahre zu thematisieren und die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien nachzuvollziehen, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. So ist im westlichen Diskurs weitgehend tabuisiert, dass die aktuelle Herrschafts- und Sicherheitsordnung nicht auf Grundlage eines gleichberechtigten Mitwirkens aller Beteiligten entstand. Schon früh geäußerte Einwände und Sicherheitsbedenken Moskaus wurden ignoriert und seine Initiativen – wie beispielsweise der Entwurf für einen Sicherheitsvertrag im Jahre 2009 – wurden nicht aufgegriffen (PZKB 2022). Selbstkritisches Reflektieren des Eigenanteils bedeutet für den Westen auch eine Auseinandersetzung mit dem vermehrt geäußerten Vorwurf der Doppelmoral. Ein solcher, vom Westen selbst angestoßener Diskurs über eigene Fehler und Versäumnisse könnte wesentlich dazu beitragen, Größe zu zeigen und verlorengegangenes Vertrauen in der internationalen Staatengemeinschaft zurückzugewinnen.

Pufferzonen und Demilitarisierung

Aus einer lösungsfokussierten Perspektive nehmen im Russland-Ukraine-Krieg vor allem Sicherheitsbedürfnisse und die Frage nach dem Status der Ukraine, zumindest der Ostukraine, einen zentralen Wert ein. Einige Beobachter*innen aus der zivilen Konfliktbearbeitung, wie z.B. Johan Galtung oder Antje Herrberg, empfehlen das Etablieren einer neutralen bzw. demilitarisierten Pufferzone, im Sinne eines oder mehrerer autonomer Gebiete entlang der westrussischen Grenze (Herrberg 2017; Galtung 2014). Aus friedenspolitischer Sicht läge es im nationalen Interesse der Ukraine, die Multiethnizität der Region zu sichern und die russische Kultur als koexistierende Kultur zu begreifen. Als Inspirationsbeispiele ließen sich z.B. das Föderalismuskonzept der Schweiz (Wolffsohn 2019) oder das Modell der Autonomen Provinz Bozen (2022) heranziehen.

Die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung sehen vor allem die OSZE als am besten geeigneten Ort für solche Verhandlungen, als Projekt so genannter „gemeinsamer Sicherheit wider Willen“, weil sie den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung stellt (PZKB 2022).

All die oben skizzierten vielfältigen Beiträge und Überlegungen für einen nachhaltigen Friedensprozess lassen sich erneut in einer Vier-Feld-Matrix zuordnen (Tabelle 2).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Leidmilderung der Opfer durch humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerungen durch Nichtregierungsorganisationen oder UN-Organisationen. Fokus: PTBS und weitere psychische Verletzungen.

Friedensgespräche auf politischer Ebene (Track 1) sollten inoffiziell und gesichtswahrend laufen.

Verhalten, Interaktionen:

Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand auf allen Seiten.

Durchführung von Friedensgesprächen unter Einbindung mehrerer Ebenen (Multi-Track) und lokaler Vermittler.

Bestehende Abkommen (wie z.B. Minsk-Abkommen) als Ausgangsbasis für den weiteren Prozess, ggf. im Rahmen eines Projekts „Gemeinsame Sicherheit wider Willen“, moderiert über die OSZE.

Kollektiv

Kultur:

Behebung kultureller Gewalt, z.B. in Form moralisierender Berichterstattung, durch Friedensjournalismus. Entwicklung einer differenzierteren Diskurs­kultur.

Bekämpfung von Desinformation durch unabhängige Organisationen, z.B. der UN.

Anti-diskriminierende Integrationspolitik in der Ukraine.

Empathie: Sensibilisierung für eigene Anteile am Konfliktsystem.

Schulbuchprojekte der „zwei Seiten“, inspiriert am Erfolgsbeispiel Israel-­Palästina.

Einrichtung von „Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative“.

Struktur:

Behebung struktureller Gewalt, z.B. in Form von Diskriminierungen russischsprachiger Minderheiten in der Ukraine. Denkbar wäre ein föderales Konzept (z.B. Schweizer oder Südtiroler Modell).

Kritische Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse aller Seiten, die sich aus der geostrategischen Konstellation ergeben.

Aushandlung weiterer Win-Win-Lösungen zur Territorialfrage: UN-überwachte Sicherheitsgarantien; Einrichtung eines demilitarisierten Puffers an der Ostgrenze zu Russland.

Tabelle 2: Ansatzpunkte und Interventionen für den Friedensprozess im Russland-Ukraine-­NATO-Konflikt in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

»Nadelstiche« nicht unterschätzen

Einige der oben skizzierten Punkte mögen utopisch erscheinen, weil sie zur Durchsetzung idealerweise durchsetzungsfähige transnationale Institutionen, im Idealfall eine handlungsfähige UN und entsprechende Weltinnenpolitik voraussetzen würden. Nicht zu unterschätzen ist jedoch, dass in nahezu all diesen Bereichen NGOs aus der Zivilgesellschaft tätig sind und in der Lage sind und wären, »Nadelstiche« für den Frieden zu setzen.

Der Russland-Ukraine-Krieg ist von erheblicher globaler Tragweite, seine Befriedung in seiner Bedeutung und den Herausforderungen nicht zu unterschätzen. Die primär diskutierten Dimensionen der Durchsetzbarkeit internationalen Rechts sowie die Fragen der aktiven Kriegsführung müssen durch die hier angesetzte Betrachtung erweitert werden. Hier gilt es für Friedensforschung und -arbeit vorauszudenken und immer wieder zu betonen, dass Dimensionen psychischer und kultureller Gewalt, struktureller Gewalt sowie größerer Auseinandersetzungen über die Kritik an der westlich-dominierten liberalen Hegemonie ebenso eine Rolle spielen und im Rahmen der Konflikttransformation berücksichtigt werden müssen.

Anmerkung

1) Ganz ähnlich schätzen dies weitere prominente Vertreter*innen geostrategischer Denkschulen ein. Beispiele seien hier u.a. die Einschätzung des Geostrategen des Beratungsinstituts Stratfor, George Friedman. In einem Vortrag am »Chicago Council on Global Affairs« von 2015 bestätigte er Russlands Befürchtungen eines geostrategischen Plans des »Sicherheitsgürtels« entlang der Westgrenze zu Russland. Hier käme der Ukraine und der Frage, ob das Land pro-westlich oder pro-russisch ausgerichtet sei, eine besondere strategische Bedeutung zu (Friedman 2015). Diese Einschätzung wird vom Geogstrategiker Zbigniew Brzezinski geteilt (siehe Brzezinski 2001).

Literatur

Adwan, S.; Bar-On (2012): Side by side: Parallel histories of Israel-Palestine. The New Press, New York

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Autonome Provinz Bozen (2022): Eine Autonomie für drei Sprachgruppen. URL: provinz.bz.it/autonomietag/autonomie.asp

Brzezinski, Z. (2001): Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Dornblüth, G.; Adler, S. (2022): Russlands Besatzungspolitik in der Ukraine. Deutschlandfunk, 05.04.2022.

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Herrberg, A. (2017): Is peace mediation in Ukraine possible, and how? Conciliation Ressources, Februar 2017.

IMSD (2022): Krieg in der Ukraine: Haben Verhandlungen eine Chance? 10 Punkte der Initiative Mediation Support Deutschland (IMSD). April 2022.

Inmedio (o.J.): Platform for mediative dialogue on contested narratives. URL: contested-narratives-dialogue.org

Jaberg, S. (2014): Sicherheitslogik: Eine historisch-genetische Analyse und mögliche Konsequenzen. W&F 02/2014, Dossier 75, S. 8-11.

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Tacke, S.; Busche, L. (2022): Genozid-Vorwurf im Ukraine-Krieg: Wann spricht man von Völkermord? ZDF heute, 07.04.2022.

Wolffsohn, M. (2019): Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München: dtv Verlag.

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Karim P. Fathi ist Friedens- und Resilienzforscher und Partner diverser Beratungsorganisationen. Schwerpunktmäßig forscht er zu gesellschaftlicher Multiresilienz und integrierter Konfliktbearbeitung.

Vom Fremden zum Nächsten

Vom Fremden zum Nächsten

Empathische Wahrnehmung als Startpunkt einer Friedensethik

von Konstantin Funk

Auch wenn wir um die Entstehung unserer moralischen Überzeugungen in einer bestimmten Kultur und Zeit, in einem konkreten Ort wissen, so halten wir unsere dort gemachten Erkenntnisse in der Regel doch für kategorisch wahr. Diese Situiertheit unserer moralischen Rezeption stellt den prominenteren Ansatz in Frage, Ethik rein rational, also ohne (emotionale) Involviertheit und gerade zeit- und ortsunabhängig, zu begründen. Wie können wir angesichts unserer unabdingbaren soziokulturellen Eingebundenheit wahrnehmen, was wahrzunehmen ist, um (auch außerhalb unseres soziokulturellen Nahhorizonts) richtig handeln zu können? Ist es vernünftig, auf unser moralisches Bauchgefühl zu hören?

Wenn wir uns die Frage stellen, welche Bedeutung Emotion und Empathie1 im (friedens-)ethischen Nachdenken und Handeln zukommt, so lässt sich diese Frage nicht beantworten ohne Rückgriff auf den eigenen ethischen Erfahrungsschatz2: Inwiefern hängt unser moralisches Verhalten davon ab, wie wir mit dem Gegenüber mitfühlen? Begründen wir – auch vor uns selbst – logisch-rational, was wir tun und unterlassen, oder dekodiert uns handlungsleitend Empathie und Emotion eine moralisch aufgeladene Szene?

Sicher wird man sich mit Blick auf eigene Erfahrungen mit einer Entweder-Oder-Logik nicht zufrieden geben; zu verwoben und aufeinander angewiesen sind beide Komponenten ethischer Entscheidungsfindung. Mehr noch: Das intuitive Handeln, der situative Impuls stellen sich, gerade in der nachträglichen Reflexion derselben, als Destillate gemachter (und verpasster) Erfahrungen dar. Sie sind deshalb alles andere als »stumpfe« Affekte. In der moralischen Intuition bildet sich offensichtlich unsere ganze Biographie ab. Das führt in einer pluralen Welt womöglich zu Auseinandersetzungen. Denn obwohl wir um die Ursprünge unseres moralischen Empfindens wissen, haben unsere Überzeugungen doch kategorischen Anspruch: Was heute und hier falsch ist – so behauptet es unser ethisches Gefühl –, ist falsch; »Gut« und »Schlecht« sind keine Geschmackssachen!

Nun ist es ein Leichtes, sich Szenen vorzustellen, in denen dieser jeweilige Anspruch zu großem Streit, womöglich Gewalt, führt. Man stelle sich beispielsweise vor, so Christoph Ammann, der über die komplexen Voraussetzungen moralischer Wahrnehmung und die Rolle der Emotion darin nachdenkt, zwei Menschen säßen in einer Stierkampfarena und betrachteten das Spektakel (vgl. Ammann 2007, S. 113). Der eine, ein spanischer Stierkampf-Aficionado, ist begeistert: Er entdeckt in der Szenerie Mut, Erhabenheit, Stolz, fühlt sich verbunden mit der bedeutungsgeladenen Tradition und verlässt – der Stier ist endlich besiegt – beeindruckt die Arena. Sein Freund, der vielleicht zum ersten Mal zu Besuch ist, kann kaum glauben, was er sieht: Unnötiges Tierleid, Elend und sich daran berauschende Massen, die dem stundenlang gequälten Tier kein Mitleid entgegenbringen wollen. Immerhin, so könnten Stierkampffans argumentieren, hatten diese Zuchttiere im Gegensatz zu all dem armen Mastvieh ein hervorragendes Leben auf grünen Weiden, Mitleid ist gar nicht angebracht. Oder doch? Wie kommt es, dass beide doch die selben Fakten vor Augen haben – einen Stier, einen Torero, Blut, jubelnde Menschenmassen, … – und doch etwas gänzlich anderes, ja Gegensätzliches sehen? Und vor allem: Wie würde ein gewinnbringender Streit zwischen den beiden im Anschluss aussehen?

Gelungene Mitleidsethik? Der barmherzige Samariter

Man kann die Parabel um den barmherzigen Samariter im Lukasevangelium als eine Geschichte gelungener Mitleidsethik lesen. Was Nächstenliebe ist, so scheint die Geschichte sagen zu wollen, zeigt sich in einer bestimmten rezeptiven Aufmerksamkeit dem anderen, Fremden gegenüber. Auf die Frage, was denn einen Nächsten zum Nächsten mache, antwortet Jesus einem Gesetzeslehrer wie folgt:

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“ (Lk 10, 30-33 Luther 2017; Hervorh. des Autors)

„Und als er ihn sah, jammerte es ihn“. Hier, im Mitgefühl, ist der Handlungsimpuls des Samariters verbürgt. Auf die nachträgliche Frage, warum er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, hätte der Samariter womöglich schlicht geantwortet: „Weil der Mensch Hilfe brauchte.“ Diese knappe Antwort verwiese auf das Zutrauen in die Vernünftigkeit seiner situativen Wahrnehmung, die zwar nachträglich Handlungsgründe zu liefern und formulieren weiß, zuvorderst aber als mitfühlende Intuition moralische Wirklichkeit erschließt. Jene bedarf keiner weiteren Begründungen als der der gesehenen Hilfsbedürftigkeit. Sein Handeln ist eine Konsequenz empathischer Rezeption des unter die Räuber Gefallenen, die Gründe – ohne sie als Handlungsgrund im Moment des Handelns ausformulieren zu müssen – „zu Gründen werden [lässt]“ (Roth 2019, S. 79), weil sie als Bestreben mit- und nachzuempfinden sichtbar macht, was nicht ohne Weiteres zu sehen ist. Dies wird in der Parabel am Beispiel der angesehenen Charaktere, des Priesters und des Leviten, deutlich. Sie, obwohl sie dem geschundenen Mitmenschen eher als der Samariter – ein „verfemter Dissident“ (Harnisch 2001, S. 287, zit. nach Zimmermann 2007, S. 550) – ein Nächster sein müssten, nehmen ihn in seinem Leiden nicht wahr – oder ignorieren das Leiden gänzlich. Beide blockieren empathisch-emotional; sie lassen sich nicht anrühren (vgl. zur Empathie-Blockade: Breithaupt 2019). Das macht sie trotz soziokultureller Nähe zu Fremden, den verhassten Samariter zum Nächsten.

Was bedeutet das für die Ethik?

In der Parabel wie in der Stierkampfarena wird in Ansätzen bereits deutlich, wie vor­aussetzungsreich moralische Rezeption tatsächlich ist – Zeit, Ort, die eigene Biographie sowie empathische Aufmerksamkeit sind nur einige Faktoren, die sich zu einem Wahrnehmungsakt synthetisieren. Das stellt gleichzeitig den wirkungsgeschichtlich prominenten Ansatz in Frage, Ethik rein rational, also unter Ausschluss jeglicher emotionaler Involviertheit, zu begründen. „Jetzt lassen wir unsere Gefühle einmal beiseite“ ist eine Forderung, die nicht nur die akademische Ethik, sondern auch die vermeintlich vernünftige alltägliche Auseinandersetzung kennzeichnet. Und sie ist sicher in aller Regel sinnvoll. Doch laut Johannes Fischer „können [wir] kein einziges moralisches Urteil und keine einzige moralische Entscheidung treffen, ohne dabei emotional involviert zu sein“ (Fischer 2012, S. 15). Auch die in der Parabel des Samariters herausgestellte Nächstenliebe konstituiert sich durch empathisches Mitleiden. Moralische Gründe und Urteile werden hier vorgestellt als Gründe und Urteile, die in der emotional-empathischen Nachvollziehbarkeit, also zeigend und nachempfindend, ihren hermeneutischen Startpunkt haben.

Für die Forderung des Einbezugs von Emotionen in den (akademischen) ethischen Erkenntnisprozess gibt es freilich prominente Beispiele. James Hal Cone (1938-2018), Mitbegründer schwarzer Befreiungstheologie in den USA, beginnt sein erstes Buch »Schwarze Theologie. Eine Interpretation der Black Power Bewegung« (1971[1969]) ganz bewusst provozierend emotional:

Dieses Buch ist darum mit einer ganz bestimmten Haltung geschrieben: mit der Haltung eines zornigen schwarzen Mannes, der angewidert ist von der Unterdrückung der Schwarzen in Amerika und von der akademischen Forderung, das doch »objektiv« zu betrachten. Zu viele sind gestorben, und zu viele stehen an der Schwelle des Todes“ (Cone 1971, S. 10).

Gewisse Missstände, bestimmtes notwendiges Zu-Tuendes würde nach Cone nicht erfahrbar in einer „leidenschaftslosen, unverbindlichen Debatte“ (ebd.), oder indem man es „verstandesgemäß […] mechanisiert“ (ebd., S. 21), sondern im engagierten Beteiligtsein innerhalb moralischer Praxis. Beeindruckend früh, nämlich 1967 – also weit vor dem sogenannten emotional turn der späten 1980er und 90er Jahre –, beschwört auch der afroamerikanische Menschenrechtler Kenneth B. Clark (1914-2005) das Erkenntnispotential empathisch-emotionaler Wahrnehmung für den akademischen Diskurs. Cone zitiert Clarks Buch »Schwarzes Getto«, in dem dieser behauptet, „es könnte in Wirklichkeit so sein, daß dort, wo grundlegende psychologische und moralische Fragen zur Debatte stehen, das Unbeteiligtsein und der Ausschluß gefühlsmäßiger Reaktionen weder besonders intelligent noch objektiv, sondern naiv sind und den Geist der Wissenschaft in seinem besten Kern kränken. Wo menschliche Gefühle Teil der Beweisführung sind, dürfen sie nicht unbeachtet bleiben. […] Wenn ein Wissenschaftler, der die Konzentrationslager der Nazis studierte, sich durch das vorkommende Beweismaterial nicht in Aufregung versetzt fühlte, so würde niemand sagen, er sei objektiv, sondern man würde vielmehr um seine geistige Gesundheit und sein moralisches Empfinden besorgt sein. Gefühle können ein Urteil verzerren, aber Gefühllosigkeit kann es noch mehr entstellen.“ (Clark 1967, S. 111, zit. nach Cone 1971, S. 10f.)

Nächste und Fremde

„Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat.(Lk 10, 36-37 Luther 2017; Hervorh. des Autors)

In der oben angeführten Frage nach den Voraussetzungen für Handlungsgründe entdeckt Bernard Williams in seinem Erstlingswerk »Der Begriff der Moral« (1972) die Ansatzpunkte „von denen wir die Moral gewissermaßen »in Bewegung setzen« können“ (Williams 1978, S. 18). Denn im empathischen Handlungsimpuls mit dem Nächsten – das Beispiel von Williams ist nicht ein barmherziger Samariter, sondern ein egozentrischer, amoralischer Schurke, wie er in alten Gangsterfilmen vorkommt; einer, der sich um nichts als sich selbst und seinen engsten Familienkreis, sein altes Mütterchen oder seine Freundin schert – stecke das Potential, jenes ursprüngliche Mitgefühl als handlungsleitenden Impuls auch auf den Fremden auszuweiten. Warum? Weil der Handelnde, wir haben es oben bereits geschrieben, eben bloß denkt „‘Der braucht Hilfe’ und nicht ‘Ich mag ihn, und er braucht Hilfe’“ (Williams 1978, S. 18). Das »Mögen« also ist für das Handeln zwar Horizont und Hintergrund, nicht aber Handlungsauslöser – das ist selbst bei einem amoralischen Schurken die benötigte Hilfe allein, ein im Mitgefühl erschlossener Fakt. Wenn der amoralische Schurke also kein Psychopath ist, liebt er seine wenigen Nächsten und handelt deshalb gut an ihnen. Von jenem bei Williams als anthropologische Grundkonstante beschriebenen Nahhorizont aus, innerhalb dessen wir unsere Nächsten aufgrund von Zuneigung empathisch wahrnehmen, wäre durch eine bestimmte ethische Bildungsanstrengung jenes empathisch-emotionale Vorstellungsvermögen auch auf den Fremden zu übertragen, weil auch dem Fremden gleiche oder ähnliche Leidensfähigkeiten wie dem alten Mütterchen oder der Freundin unterstellt werden muss.

Der Beginn moralischen Verstehens obliegt damit weniger dem „zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995, S. 52f.) als vielmehr wiederum dem „Und als er ihn sah, jammerte es ihn“. Erst dadurch werden potentiell zwingende moralische Argumente überhaupt sicht- und nachvollziehbar. Der Samariter wäre also im Williams’schen Verständnis schlicht weit im ethischen Bildungsprozess fortgeschritten: Trotz soziokultureller Differenzen erkennt er sich selbst »aus den Augen des Fremden« als Nächsten. Dieser Perspektivwechsel, der im Gleichnis selbst angesprochen ist, ist meines Erachtens zentral, weil er berühmte Kritikpunkte an Mitleidsethiken entkräftet (vgl. z.B. Nietzsches Verhöhnung der Schopenhauerschen Mitleidsethik als „beliebte und heiliggesprochene Theorie eines mystischen Processes […], vermöge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eines macht (Nietzsche 1971, S. 133, Hervorh. des Autors). Die neutestamentliche Parabel verlangt sogar mehr als der Ansatz der empathischen »Horizontdehnung« bei Bernard Williams. Jesus fragt den Gesetzeslehrer nach der Parabel nicht, wer der Figuren (Priester, Levit, Samariter) den Notleidenden im Mitleid als seinen Nächsten begriffen hat, sondern wer dem Notleidenden ein Nächster durch sein im Mitgefühl begründetes Handeln zum Nächsten „geworden ist“ (vgl. Lk 10, 36-37). Hier wird aus der Perspektive des unter die Räuber Gefallenen gefragt, nicht aus der des Samariters. Jesus fordert diese Blickrichtung in der Frage ein. Dadurch entsteht im Mitleiden ein Perspektivengewinn (nicht eine Perspektivenreduktion von zwei Wesen zu einem, wie Nietzsche meint), weil der Samariter, als zentrale Figur der Erzählung, sich selbst aus den Augen des Notleidenden als Nächster zu begreifen sucht und nicht in egoistischer Vereinnahmung des eigenen Mitleids den Notleidenden schlicht als seinen Nächsten bestimmt. Daraus erwachsen praktische friedensethische Konsequenzen…

Dieser Essay ist der erste Teil eines längeren Beitrags, der im kommenden Heft mit einem Text zu praktischen friedensethischen Konsequenzen fortgesetzt wird.

Anmerkungen

1) Emotion und Empathie sind wechselseitig aufeinander angewiesen, weshalb sie für den folgenden Gedankenschritt ebenfalls zusammengedacht werden: „Die funktionale Verbindung von Empathie und Emotion ist eng. Weil wir Emotionen haben, kann unser Erleben von anderen empathisch miterlebt werden. Weil wir Empathie haben, sind andere für uns als emotionale Wesen zugänglich“ (Breithaupt 2019, S. 209).

2) Der Beitrag basiert auf meinem ausführlicheren Aufsatz »‘Man muß mit menschlichen Gefühlen rechnen.‘ Zur Bedeutung von Emotion und Empathie im friedensethischen Nachdenken« im ersten gemeinsamen Sammelband des Friedensinstituts Freiburg und des Freiburger Instituts für Menschenrechtspädagogik (Harbeck-Pingel und Schwendemann 2022).

Literatur

Ammann, Ch. (2007): Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik (Forum Systematik, Bd. 26). Stuttgart: Kohlhammer.

Breithaupt, F. (2019): Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin: Suhrkamp.

Clark, K. B. (1967): Schwarzes Getto. Düsseldorf: Econ.

Cone, J. H. (1971 [1969]): Schwarze Theologie. Eine Interpretation der Black Power Bewegung. München: Chr. Kaiser Verlag.

Fischer, J. (2012): Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht. Stuttgart: Kohlhammer.

Habermas, J. (1995): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Harbeck-Pingel, B.; Schwendemann, W. (Hrsg.) (2022): Menschen Recht Frieden. Paderborn: V&R Unipress.

Nietzsche, F. (1971): Morgenröthe. Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Frühjahr 1881, Abt. 5, Bd. 1 d. Reihe: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York: De Gruyter.

Roth, M. (2019): Nichts als Illusion? Zur Realität der Moral. Stuttgart: Kohlhammer.

Williams, B. (1978) [1972]: Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik. Stuttgart: Reclam.

Zimmermann, R. (2007): Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10, 30-35. In: (Ders.) (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 538-555.

Konstantin Funk studierte evangelische Theologie, Religionslehre, Musik und Bildungswissenschaften in Mainz und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Friedens­instituts Freiburg an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Dort lehrt er in Sozialethik, Systematischer Theologie und Politischer Philosophie in verschiedenen Studiengängen.

Für wen oder was schreiben sie?

Für wen oder was schreiben sie?

Die Unzugänglichkeit der Friedensforschung

von Primitivo III Cabanes Ragandang

Wenn wir über die aktive Friedensforschung im Feld schreiben, wozu dient dies? Welchen Wert hat es für die Gemeinschaft(en), die unter der Abwesenheit von Frieden leiden? Schreiben wir für die reine Wissensproduktion? Welchen Nutzen können Gemeinschaften aus unseren Schriften ziehen? Diesen Fragen geht der vorliegende Artikel aus der Perspektive eines Friedensforschers nach, der sich in der Gemeinschaft engagiert und zum Wissenschaftler geworden ist.

Bevor ich mich der akademischen Welt zuwandte, arbeitete ich in Vollzeit in einer von Jugendlichen geleiteten gemeinnützigen Organisation, die sich für die Gewaltprävention in Mindanao auf den Philippinen einsetzt. Mindanao wird als die Heimat des zweit­ältesten Konflikts der Welt bezeichnet, eines Konfliktes, der sich um das Streben der islamisierten Moro-Stämme nach Selbstbestimmung dreht. Mein Interesse an der Friedensarbeit begann bereits während des Studiums, als ich mich in außerschulischen Friedensinitiativen engagierte, Hilfsgüter für die Evakuierten sammelte und Sitzungen zur Traumaheilung mit Jugendlichen und Kindern durchführte. Als Praktiker verstand ich die Friedensarbeit als ein direktes Engagement für die Gemeinschaft, insbesondere für diejenigen, die von langwierigen Konflikten betroffen sind.

Eines Tages sagte mir mein ehemaliger Professor, ich solle Zeit finden, um einen Master-Abschluss zu machen, denn „die Leute hören mehr auf Akademiker*innen als auf Praktiker*innen“. Später schloss ich einen Aufbaustudiengang ab und fand eine Stelle im akademischen Bereich, wo ich in Vollzeit als Assistenzprofessor in der Abteilung für Politikwissenschaften tätig bin. Da ich von einer Universität in Mindanao komme, folge ich einer Erkenntnisweise, die besagt, dass Friedens»forschung« genauso wichtig ist wie die Friedens»arbeit« in der Praxis mit der Gemeinschaft. Es ist für mich zu einer eingeprägten erkenntnistheoretischen Haltung geworden, die dem ähnelt, was Furlong und Marsh (2002) als „Haut, nicht Pullover“ beschrieben haben. Selbst in meiner neuen Rolle in der Wissenschaft ist diese erkenntnistheoretische Einstellung wie eine Haut, die sich nur schwer abstreifen lässt, da sie sich durch jahrelanges Friedensengagement vor Ort entwickelt hat.

Nach drei Jahren im akademischen Bereich erhielt ich ein Promotionsstipendium in Australien. Auf einer akademischen Konferenz, auf der ich meine Forschung als Friedenspraktiker vorstellte, wurde mir gesagt, ich solle in der Wissenschaft nicht zwei Hüte gleichzeitig tragen. Denn in der Wissenschaft zu sein bedeute, den Hut der Praktiker*in zurückzulassen. Ich wurde auch gebeten, von normativ geprägten Forschungsfragen abzusehen und einen Mittelweg in der Auseinandersetzung mit Theorien beizubehalten, was bedeutet, dass ich mich selbst nicht in meine Analyse einbeziehen sollte. Es fiel mir schwer zu verstehen, dass es 17 Revisionen meiner Forschungsfragen für meine Dissertation brauchte, bevor sie akademisch akzeptabel wurden. Dies war ein Wendepunkt für mich. Mir wurde klar, dass Wissenschaftler*innen leicht Zugang zum Feld der Praktiker*innen haben, um Daten zu sammeln, während es für einen Praktiker schwierig ist, Zugang zum Feld der Wissenschaftler*innen zu bekommen.

Bloße Beschreibung der Gemeinschaft, keine Intervention

In meiner Diplomarbeit im Grundstudium untersuchte ich einen indigenen Stamm im Hinterland in Nord-Mindanao. Nach den Interviews schenkte ich den Teilnehmer*innen Salz, getrockneten Fisch, einige alte Jeans und Hemden sowie Nudeln. Das war meine Art, mich bei ihnen zu bedanken, eine Praxis, die ich bei meiner Arbeit in einer gemeinnützigen Organisation gelernt hatte. Später erfuhr ich auf einer Reihe internationaler Konferenzen, dass das Geben von Geschenken an die Teilnehmer*innen als problematische Praxis angesehen wird, die gewisse ethische Dilemmata birgt (siehe Collins et al. 2017; Head 2009). Diese Ansicht war für mich jedoch rätselhaft. Warum sollten wir der Gemeinschaft, zu der wir vor der Datenerhebung eine Beziehung aufgebaut und die erforderlichen Rituale eingehalten haben, keine Geschenke machen? Wenn das Geben von Geschenken möglicherweise die Antworten der Teilnehmer*innen verändert, wie authentisch sind wir dann beim Aufbau einer Beziehung zu der Gemeinschaft, zu der wir Zugang haben?

Die Praktiker*innen bringen die Erfahrungen, die sie in der Praxis gesammelt haben, in das akademische Umfeld ein. Eine jahrzehntelange Erfahrung vor Ort ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Vorteil in der akademischen Welt. Vielmehr ist es für den*die Praktiker*in eine Herausforderung, sich an die wissenschaftlichen Standards anzupassen, die es oft erfordern, den Hut des*der Praktiker*in abzulegen. So ist beispielsweise die strategische Fallauswahl eine methodische Angelegenheit, da das Versäumnis, den ausgewählten Fall zu begründen, ein Grund für eine Verzerrung der Auswahl sein kann. Für eine*n Praktiker*in stellt sich die Frage der Voreingenommenheit nicht, wenn er*sie seinen*ihren eigenen Hinterhof untersucht, vor allem, wenn er*sie auf den Nutzen für die Gemeinschaft abzielt.

Die Praktiker*innen (und die Gemeinschaften, in denen sie tätig sind) werden zu Versuchstieren, deren Aktionen und Reaktionen bei der Arbeit vor Ort von den Wissenschaftler*innen beobachtet, interpretiert und diskutiert werden. Es gibt also eine Durchlässigkeit in der Welt der Praktiker*innen, aber kaum eine Durchlässigkeit auf der anderen Seite des Kontinuums.

Spivak (2004) beschrieb diese Form des Beobachtetwerdens als die Produktion einer zeitgenössischen Form der Subalternität: eine Umwandlung der Subalternität in eine Eigenschaft. Wissenschaftler*innen begeben sich ins Feld, holen als ethische Voraussetzung die Zustimmung ein, führen Interviews, kodieren Daten und veröffentlichen Ergebnisse, die auf ihrer Interpretation beruhen. Die Interpretation wird fortgesetzt, da die Wissenschaftler*innen eher dazu neigen, zu debattieren, als sich mit dem Problem zu befassen, von dem sie vor Ort erfahren haben. In diesem Fall werden die Gemeinschaft und der*die Praktiker*in zu einer Eigenschaft, auf die sich die Wissenschaft stützt, um Daten und Textinhalte zu produzieren. Die Beziehungen, die der*die Wissenschaftler*in während der Datenerhebung in der Gemeinschaft aufbaut, haben keinen greifbaren Nutzen für den Ort, an dem die Beziehungen aufgebaut werden. Dies steht im Einklang mit dem Argument von Todd (2016), dass in der Wissenschaft zwar Wissen geschaffen, legitimiert und reproduziert wird, dass es aber auch diese akademischen Strukturen sind, die die Verwirklichung von transformativen Zielen verhindern. In der Tat wird die Gemeinschaft manchmal gewarnt, keine Hilfe von einem Forschungsengagement zu erwarten, da es nicht in erster Linie darauf abziele, ihre Situation zu verbessern. Es dient nur zu Forschungszwecken.

Implikationen dieser Diskrepanz

Diese Herangehensweise und akademische Tradition der Wissensproduktion ist eine generationenübergreifend sedimentierte, tief verwurzelte Kultur. Sie lässt den Wissenschaftler*innen kaum Raum für eine direkte Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft. Die Starrheit dieser Tradition bleibt selbst dann bestehen, wenn dringende Probleme nicht aus der Ferne, sondern direkt vor der Haustür der Hochschulen und der umliegenden Gemeinschaften auftreten. Wenn diese Kultur in Frage gestellt wird, verteidigt sie sich mit dem Begriff der »Forschungsfreiheit«. Da die Kultur stärker ist als die Politik, wird ein bloßes Memorandum der Universität diese Kultur nicht ändern. Es wird Zeit brauchen, dies zu ändern, und der Globale Süden sollte die Führung übernehmen, wie es einige bereits getan haben.

Wenn wissenschaftliche Arbeiten hauptsächlich im Hinblick auf die Bedürfnisse und Ziele der politischen Entscheidungsträger*innen verfasst werden, bedeutet dies, dass wir die Hilfe bürokratisieren und unsere guten Absichten aufschieben, der Gemeinschaft helfen zu wollen. Ausgehend von den Rohdaten interpretieren die Wissenschaftler*innen diese und verfassen Ergebnisse, die dann von den politischen Entscheidungsträger*innen neu interpretiert und als Grundlage für die Ausarbeitung von Interventionsprogrammen verwendet werden. Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Programme dann die Gemeinschaft(en) erreichen, gibt es bereits eine nicht unerhebliche Interpretationslücke gegenüber der Zeit und der Bedeutung, als die Rohdaten von der Gemeinschaft gesammelt wurden. Dies führt zu Interventionsprogrammen, die manchmal nicht unbedingt den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Um solche prozessverzögerten Interventionen anzugehen, können die Wissenschaft und die Wissenschaftler*innen selbst den Rahmen dafür ändern, wie der aktuelle Prozess der Wissensproduktion aussieht und welche Rolle er bei der Herbeiführung eines progressiven Wandels in den Gemeinschaften spielen kann.

Da gesellschaftliche Probleme direkt vor der Haustür der Wissenschaftler*innen auftreten können, bedeutet dies, dass es eine moralische Verpflichtung ist, auf sie zu reagieren, und dies die dringende Aufmerksamkeit der Forscher*innen erfordert. In diesem Fall ist es angebracht, dass die Wissenschaftler*innen bei ihrer Friedensforschung stets die Gemeinschaft im Auge behalten. Natürlich ist die theoretische Forschung ebenso wichtig, aber ich behaupte, dass der Einsatz unserer wissenschaftlichen Arbeit zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mindestens ebenso wichtig ist. Es ist wichtig, am Ende eines jeden wissenschaftlichen Artikels einen Abschnitt mit Vorschlägen für eine Aktionsagenda zu geben, anstatt mit Argumenten zu enden, die die Punkte akademischer Debatten wiederholen. Eine solche Aktionsagenda sollte jedoch die Ansichten der Gemeinschaft einbeziehen und nicht nur die Ansichten der Forscher*innen.

Romantisierung des Wissenschaft-Aktivismus-Nexus?

In diesem Beitrag soll der »Vorteil« von Friedenspraktiker*innen beim Zutritt zur Friedensforschung (und zur akademischen Welt im Allgemeinen) nicht romantisiert werden. Ich erkenne die Herausforderung an, zwei Herren gleichzeitig zu dienen, und die potenziellen Risiken, wenn Wissenschaft und Aktivismus zusammenkommen. Zu diesen Risiken gehört, dass man zu sehr mit Forschung, Lehre und aktivistischer Arbeit beschäftigt ist, die zu den administrativen Aufgaben hinzukommen, die ein*e Akademiker*in normalerweise auch noch wahrnimmt. Letztendlich kann dies zu gesundheitlichen Risiken durch Burnout und zu zu wenig Ruhezeiten führen. Für einen Akademiker aus dem Globalen Süden, der in einem Konfliktgebiet lebt, ist dies eine noch größere Herausforderung, wenn die strukturelle Unterstützung geringer und die familiären Verpflichtungen größer sind.

Ich behaupte jedoch, dass im Zusammenhang mit der Hilfe für notleidende Gemeinschaften die Vorteile diese Risiken überwiegen. Die Verbindung von Wissenschaft und Aktivismus bietet uns eine neue Sichtweise und ein neues Instrumentarium zur Nutzung der Forschung, um Gemeinschaften in (Post-)Konfliktsituationen zu helfen (siehe Bracamonte, Boza und Poblete 2011; Ragandang 2020). Die Kombination beider Ansätze ist wirkungsvoller, als den einen über den anderen zu stellen. Mein Hauptargument ist, dass wir einen Paradigmenwechsel bei der Herangehensweise an die Forschung brauchen: weg von der reinen Wissensproduktion, hin zu einer Forschung, die mit einem proaktiven Engagement für die Gemeinschaft verbunden ist. Die Einbindung in die Gemeinschaft ist eine moralische Verpflichtung, die sicherstellt, dass die Disziplin auch in Zukunft für diejenigen Sinn ergibt, die am Rande der akademischen Türme stehen.

Solche Erwartungen gelten insbesondere für die Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus den (Post-)Konfliktkontexten des Globalen Südens: Wir sind in einer strategischen Position, um die Geschichte zu erzählen und die Sichtweise für die Menschen im Globalen Norden und darüber hinaus zu beschreiben. Wir sehen die Situation aus erster Hand oder leben mit der (Gewalt-)Situation, die wir in unserem täglichen Leben zu bewältigen versuchen.

Während ich diesen Artikel schreibe, flüstert der Subalterne in mir, dass ich nicht zu provokante Argumente nutzen sollte, die den Status Quo in Frage stellen. Das ist ein Tabu, vor dem mich meine Großmutter und unsere Kultur gewarnt haben. Aber ich denke, genau das ist der Zweck dieses Artikels (siehe Ragandang 2022) – also hoffe ich, dass mein subalternes Ich mich jetzt beruhigen wird. Angesichts der drängenden Probleme, mit denen (Post-)Konfliktgesellschaften konfrontiert sind, müssen Friedensforscher*innen ihre derzeitige Rolle in der Wissensproduktion unbedingt neu konfigurieren, damit ihre Präsenz für die Gemeinschaft einen Sinn ergibt. Wird diese Rolle nicht überdacht, vergrößert sich die Kluft zwischen Friedenspraktiker*innen und Friedenswissenschaftler*innen. Außerdem wird sich dann immer wieder die Frage stellen: „Für wen oder was schreiben sie denn?“

Literatur

Bracamonte, N. L.; Boza, A. S.; Poblete, T. O. (2011): From the seas to the streets: The Bajau in diaspora in the Philippines. International Proceedings of Economics Development and Research 20 (2011), S. 287-291.

Collins, A. B. et al. (2017): “We’re giving you something so we get something in return”: Perspectives on research participation and compensation among people living with HIV who use drugs. International Journal of Drug Policy 39, S. 92-98.

Head, E. (2009): The ethics and implications of paying participants in qualitative research. International Journal of Social Research Methodology 12(4), S. 335-344.

Marsh, D.; Furlong, P. (2002): A skin, not a sweater: ontology and epistemology in political science. In: Marsh, D.; Stoker, G. (Hrsg.): Theory and Methods in Political Science. Cham: Palgrave Macmillan, S. 17-41.

Ragandang, P. (2020): Youth as conflict managers. Peacebuilding of two youth-led non-profit organizations in Mindanao. Conflict Studies Quarterly 30, S. 87-106.

Ragandang, P. (2022): What are they writing for? Peace research as an impermeable metropole. Peacebuilding 10(3), S. 265-277.

Spivak, G. (2004): The trajectory of the subaltern in my work. Video, University of California Television, 8.2.2004.

Todd, Z. (2016): An indigenous feminist‘s take on the ontological turn:‘Ontology’ is just another word for colonialism. Journal of Historical Sociology 29(1), S. 4-22.

Primitivo III Cabanes Ragandang ist Doktorand an der Australian National University und erforscht die Rolle des kollektiven Gedächtnisses bei der Entstehung von generationenübergreifender Resilienz. Er ist der Gründer des »BHOLI Youth Centre« auf den Philippinen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Wirtschaftlicher Zwang für politische Ziele

Wirtschaftlicher Zwang für politische Ziele

Boykotte und Sanktionen als Instrumente der internationalen Politik

von Julia Grauvogel und Christian von Soest

Westliche Staaten – allen voran die USA und EU-Mitgliedsländer – haben nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine Sanktionen in ungekannter Härte gegen ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats verhängt. Die Zwangsmaßnahmen haben die Diskussion über die Wirkung von Sanktionen als Instrumente des Konflikt- und Kriegsmanagements neu belebt. Oft verbinden Politiker*innen und die Öffentlichkeit jedoch übersteigerte Erwartungen mit Sanktionen: Sie sind nur eines von mehreren außenpolitischen Instrumenten, das immer im Zusammenspiel mit Diplomatie sowie unter Umständen militärischer Gewalt wirkt.

Sanktionen werden von internationalen Organisationen, Regional­organisationen oder Staaten gegen andere Staaten, Terrorgruppen oder Einzelpersonen verhängt. Artikel 41 der UN-Charta sieht explizit vor, dass der UN-Sicherheitsrat nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen verhängen kann, wenn eine Gefahr für Frieden und Sicherheit in der Welt besteht. Dies macht deutlich, weshalb UN-Sanktionen im Fall des Angriffs der Vetomacht Russland von vornherein unrealistisch waren, schließlich kann das ständige Mitglied im Sicherheitsrat jede Resolution blockieren. Gemäß der UN-Charta können Regionalorganisationen ebenfalls Sanktionen aussprechen. Für die EU sind eigenständige »restriktive Maßnahmen« ein zentrales Mittel ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Äußerst aktiv bei der Sanktionsanwendung ist zudem die Afrikanische Union, die als Reaktion auf Staatsstreiche zahlreiche Sanktionen gegen betroffene Mitgliedsstaaten (und die Putschisten selbst) erlassen hat.

Bei weitem am häufigsten greifen die USA zu Sanktionen und verhängen diese regelmäßig auch ohne UN-Mandat. Jedoch wenden andere Staaten, unter anderem Russland und zunehmend auch China, ebenfalls unilaterale Sanktionen an. Da der UN-Sicherheitsrat wie im Kalten Krieg mehr und mehr blockiert ist, steht zu erwarten, dass die Nutzung von unilateralen Beschränkungen weiter anwachsen wird. Zahlreiche Staaten, vor allem im Globalen Süden, lehnen Sanktionen ohne UN-Mandat jedoch grundsätzlich ab.

Trends in der Anwendung von Sanktionen

Hinter dem Begriff der Sanktionen verbergen sich unterschiedliche Maßnahmen, die im Einzelfall spezifisch kombiniert werden. Wir können genauer die in Tabelle 1 aufgelisteten Sanktionsformen unterscheiden (siehe S. 26).

1.

Umfassende Handelsembargos,

2.

Sektoralsanktionen

a. Import- und Exportbeschränkungen,

b. Investitionsbeschränkungen,

c. Stopp von Waffenlieferungen und militärischer Zusammenarbeit,

3.

Finanzkontrollen und Unterbrechung des Zugangs zum internationalen Finanzmarkt,

4.

Aussetzen von Entwicklungshilfe,

5.

Individual-Sanktionen gegen einzelne Personen und Organisationen (»schwarze Listen«), vor allem durch Einreiseverbote und das Einfrieren von deren Vermögen,

6.

Diplomatie-Sanktionen (Ausweisung von Diplomat*innen oder Abbruch der diplomatischen Beziehungen).

Tabelle 1: Formen von Sanktionen

Die Auslöser von Sanktionen reichen von Menschenrechtsverletzungen, der Unterstützung von Terrorgruppen, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bis hin zur Beteiligung an Kriegen wie im Fall der russischen Invasion in die Ukraine. Der von Sanktionen ausgehende Zwang soll damit zur Friedensförderung beitragen.

Von 1990 bis 2015 wurden 59 % der UN-Sanktionen in Reaktion auf einen bewaffneten Konflikt, 14 % zur Bekämpfung von Terrorismus, 11 % wegen der Weiterverbreitung von Atomwaffen und 10 % zur Förderung der Demokratie verhängt (Biersteker, Eckert und Tourinho 2016, S. 25). Verschiedene Sanktionierende, in der Forschung oft als Sanktionssender bezeichnet, setzen dabei auf unterschiedliche Mittel. Während im Fall der Vereinten Nationen nahezu jedes Sanktionsregime Waffenembargos umfasst, setzen die EU und die USA oft auf ein breiteres Spektrum an Individual- und Sektoralsanktionen.

In der Vergangenheit sollten Sanktionen ganze Volkswirtschaften oder Gesellschaften wie das Apartheidregime in Südafrika isolieren. Heutzutage zielen die Maßnahmen in der Regel nicht darauf, die gesamte Bevölkerung zu treffen. Zunehmend verhängen die USA, die EU und die Vereinten Nationen Beschränkungen direkt gegen verantwortliche Personen, Terrorgruppen oder Unternehmen (von Soest 2019). So umfasst die »Specially Designated Nationals and Blocked Persons«-Liste des amerikanischen Finanzministeriums über 1900 engbedruckte Seiten mit sanktionierten Personen und Organisationen. Zudem ist die Unterbrechung von Finanzströmen und des Zugangs zum internationalen Finanzmarkt in der globalisierten Weltwirtschaft immer bedeutender geworden. Finanzsanktionen, wie der Ausschluss aus dem internationalen Banken-Kommunikationssystem SWIFT, wirken heute als schnellstes und schärfstes Sanktionsschwert.

Aus zwei Gründen sind die aktuellen Wirtschaftssanktionen gegen Russland damit außergewöhnlich: Erstens nehmen Sanktionierende in der Regel kleinere und weniger mächtige Staaten in den Blick. Dadurch halten sie die eigenen wirtschaftlichen und politischen Kosten niedrig und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Gegenseite einlenkt (von Soest und Wahman 2015). Zweitens sind die gegen Russland verhängten Wirtschafts-, Finanz-, Technologie- und Individualsanktionen äußerst umfassend. So setzen sie sogar die Devisenreserven der russischen Zentralbank im westlichen Ausland fest und unterbinden Technologie-Exporte ins Land fast vollständig. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland nähern sich damit traditionellen Embargos und Boykotten an; jedoch gibt es bedeutende Ausnahmen, zum Beispiel für landwirtschaftliche und medizinische Güter.

Erfolgsbedingungen von Sanktionen

Die Wirksamkeit von internationalen Sanktionen ist in der Forschung bis heute umstritten. Eine wegweisende Studie stellte fest, dass auferlegte Wirtschaftssanktionen in ungefähr einem Drittel der Fälle zu einer Politikänderung beitragen (Hufbauer et al. 2007). Das heißt umgekehrt, dass die Zwangsmaßnahmen in mindestens zwei von drei Fällen scheitern. Zudem verbergen sich hinter diesen Durchschnittswerten große Unterschiede. Wie wir später zeigen, sind die Erfolgsaussichten, ein Einlenken der russischen Führung zu erzwingen, bedeutend geringer.

Als Mittel der Friedensförderung wirken Sanktionen nur bedingt, sie tragen nicht automatisch zur friedlichen Beilegung innerstaatlicher Gewaltkonflikte bei: Die Androhung von Wirtschaftssanktionen kann die Intensität eines Konfliktes sogar erhöhen, da die beteiligten Parteien oft versuchen, ihre Position zu verbessern, bevor Sanktionen die Kampfhandlungen erschweren. Auch wenn Sanktionen die Kräfteverhältnisse einseitig zugunsten einer Bürgerkriegspartei verschieben, erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass sich die bewaffnete Auseinandersetzung verschärft (Hultman und Peksen 2017). Andererseits können Sanktionen die Konfliktdauer verringern, wenn sie den Nachschub mit Waffen und finanziellen Mitteln effektiv unterbinden. Dies gilt vor allem für Sanktionen von multilateralen Organisationen wie der UN. Außerdem sind Sanktionen ungeeignet, Kriege sofort zu stoppen, da sie weniger schnell wirken als militärische Gewalt.

Jedoch sollten bei der Bewertung von Sanktionen neben dem »coercing« (also dem Erzwingen einer Verhaltensänderung) noch zwei weitere wichtige Funktionen in den Blick genommen werden: Sie schränken auch den Handlungsspielraum des Gegenübers ein (»constraining«). So unterbinden die westlichen Technologiesanktionen den Nachschub mit Mikrochips, die dringend in der russischen Wirtschaft und auch in der Rüstungsindustrie gebraucht werden. Und schließlich senden Sanktionen kostspielige Signale an Sanktionsziele wie die russische Regierung, an mögliche Nachahmer*innen sowie an die eigene Bevölkerung (»signaling«). Sanktionen wirken damit nicht nur als direkte Zwangsinstrumente, sondern bekräftigen auch fundamentale Normen des Völkerrechts wie die nationalstaatliche Souveränität und die Unverletzbarkeit der Grenzen. Selbst wenn die Aussichten auf einen Politikwechsel gering sind, können Sanktionen damit eine wichtige Funktion erfüllen. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass Sanktionen mittlerweile als Instrument derart fest etabliert sind, dass ihre Nicht-Anwendung einen eklatanten Bruch des Völkerrechts fast schon legitimieren würde.

Doch wann tragen diese verschiedenen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen dazu bei, politische Ziele zu erreichen? Die Forschung zu internationalen Sanktionen hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Erfolgsbedingungen identifiziert (vgl. zusammenfassend Peksen 2019). Allerdings können die Sanktionssender viele dieser Faktoren nicht aktiv beeinflussen. So zeigen Studien, dass Sanktionen eher wirken, wenn sie gegen ein demokratisches Land verhängt werden. Dort funktioniert die Übersetzung von ökonomischem Druck in politische Verhaltensänderung besser, da die Bevölkerung ihre Regierung für die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionierung zur Rechenschaft ziehen kann, zum Beispiel indem sie die Machthabenden abwählt. Außerdem sind Sanktionen erfolgreicher, wenn sie begrenzte Ziele verfolgen – also beispielsweise die internationale Untersuchung einer bestimmten Menschenrechtsverletzung statt eines umfassenden Regimewandels – und wenn sie sich gegen wichtige Handelspartner und/oder politische Verbündete richten. Mit Russland sanktioniert die EU einen wichtigen Handelspartner. Schätzungen zufolge kosten die Maßnahmen ihre Mitgliedsstaaten mehrere Milliarden Euro jährlich.

Zahlreichen Studien haben einen generellen statistischen Zusammenhang zwischen der Härte der Sanktionen und deren Erfolg bestätigt – es gibt aber auch Ausnahmen. So zeigen wir in unserer Forschung zu regimekritischen Protesten in sanktionierten Staaten, dass bereits die Androh­ung von Sanktionen die Bereitschaft der Bevölkerung, gegen autoritäre Herrscher auf die Straße zu gehen, signifikant erhöht (Grauvogel, Licht und von Soest 2017). Es geht den Menschen also nicht nur um die möglichen ökonomischen Kosten der Sanktionen. Vielmehr empfinden sie diese – vor allem wenn sie auf Demokratisierung und den Schutz von Menschenrechten abzielen – als Zeichen der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Bezogen auf die jüngsten Sanktionen gegen Russland ist also nicht nur wichtig, ob die Zwangsmaßnahmen, aber auch der freiwillige Rückzug zahlreicher internationaler Unternehmen wie McDonalds oder IKEA, die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung verschlechtert und so letztlich ihre Unzufriedenheit mit der Regierung verstärkt. Vielmehr ist zentral, wie glaubwürdig das Signal der Unterstützung von Regimekritiker*innen ist, was nicht zuletzt von der Bereitschaft der Sanktionssender abhängt, eigene wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen.

Der Westen sanktioniert also oftmals Staaten, bei denen die Annahme, mehr wirtschaftlicher Druck müsse zwangsläufig zu besseren politischen Ergebnissen führen, durch die autoritäre Natur der sanktionierten Regime ausgehebelt wird. Der Friedensforscher Johan Galtung hatte diese Annahme schon 1967 als „naive Theorie“ bezeichnet (Galtung 1967). Vielmehr können Sanktionen in Autokratien sogar eine Wagenburgmentalität befeuern (Grauvogel und von Soest 2014). So versucht Putin, die westlichen Sanktionen als Angriff auf das gesamte Volk zu diskreditieren und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Russland zu stärken. Allerdings sind offizielle Umfragen über die Zustimmung zu Putin mit Blick auf mangelnde Meinungs- und Pressefreiheit im Land mit Vorsicht zu genießen. Zu den nicht-intendierten Konsequenzen umfassender Sanktionen gehören neben der eben beschriebenen möglichen Legitimierung autoritärer Herrschender auch ihre humanitären Folgen.

Einem umfassenden Verständnis folgend können Sanktionen somit auch als eine Gewaltform betrachtet werden, die mit ökonomischen Mitteln wirkt (Gordon 1999). Seit Ende der 1990er Jahre wurden Sanktionen zunehmend zielgerichteter gegen verantwortliche Personen, Organisationen und bestimmte Wirtschaftsbereiche verhängt. Neuerdings ist hingegen wieder, wie im Fall der westlichen Sanktionen gegen Russland, eine Ausweitung der Maßnahmen festzustellen (siehe oben). Diese gehen trotz humanitärer Ausnahmen eher zulasten breiter Bevölkerungsgruppen. Die bestehenden Sanktionen gegen Afghanistan unterstreichen, welche gravierenden Schäden umfassende Finanzbeschränkungen anrichten können: Neben mangelndem politischem Willen der Taliban behindern dort derzeit auch Sanktionen Nothilfe gegen den Hunger, weil Hilfsorganisationen nicht unbeschränkt Güter einführen und Gelder transferieren können. Angesichts dieses und anderer Fälle wie Iran, Syrien und Venezuela, wo Sanktionen mit den sozioökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie zusammentrafen, ist die politische und wissenschaftliche Diskussion (Moret 2021) über die humanitären Auswirkungen von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen (und mögliche Auswege) wieder intensiver geworden. Dies zeigte sich nicht zuletzt am Aufruf des UN-Generalsekretärs António Guterres, humanitäre Ausnahmen bestehender Sanktionsregime in der Pandemie deutlich auszuweiten.

Das Wechselspiel zwischen wirtschaftlichem Druck und politischem Erfolg von Sanktionen ist also komplexer, als der statistische Zusammenhang zwischen dem Umfang der Maßnahmen und ihrer Effektivität auf den ersten Blick vermuten lässt. Dies zeigt sich auch daran, wie Sanktionen und Boykotte im zeitlichen Verlauf wirken: Viele Maßnahmen entfalten erst mittelfristig ihre volle Wirkung. So treffen beispielsweise Exportbeschränkungen für Technologien die zivile Luftfahrt in Russland mit längerem Fortbestehen stärker, da Verschleißteile von Flugzeugen nicht ersetzt werden können. Sanktionen sind daher – anders als die öffentliche Debatte zu den Zwangsmaßnahmen gegen Russland oft nahelegt – unabhängig von ihrer Schärfe ungeeignet, Kriege oder andere Konflikte sofort zu stoppen. Gleichzeitig können sich sanktionierte Regime wirtschaftlich anpassen. In Russland haben lokale Alternativen westliche Konsumgüter wie Burger von McDonalds oder Möbel von IKEA teilweise abgelöst. Sie können aber auf die Schnelle keine Hochtechnologie ersetzen. Zudem schränken die westlichen Finanzsanktionen die international vernetzte russische Wirtschaft extrem ein.

Trotz dieser differenzierten Befunde wird der mittel- und langfristige Effekt von Sanktionen – und vor allem ihre mögliche Beendigung – zu Beginn der Sanktionierung bisher häufig nicht ausreichend mitgedacht (Attia, Grauvogel und von Soest 2020). Wenn wirtschaftliche Kosten nicht nur das sanktionierte Land, sondern auch die Sanktionssender treffen, kann die Unterstützung der dortigen Bevölkerung für die Maßnahmen nachlassen. Eine Aufhebung von wirtschaftlich kostspieligen, aber politisch wenig erfolgreichen Sanktionen kann dabei jedoch das problematische Signal senden, dass ein eklatanter Bruch des Völkerrechts nur so lange sanktioniert wird, wie es für die eigene Bevölkerung und Wirtschaft nicht zu teuer wird – und so die Glaubwürdigkeit des Instrumentes untergraben. Andererseits werden wirtschaftlich ineffektive Maßnahmen aus einer politischen Logik heraus oft beibehalten, wenn wichtige Ziele noch nicht erreicht sind. Unsere Forschung zeigt, dass klar formulierte politische Ziele – also beispielsweise die Abhaltung verfassungsgemäßer Wahlen statt vager Forderungen nach mehr Demokratie – die Erfolgswahrscheinlichkeit von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen erhöht und ihre Dauer reduziert. Außerdem tragen Überprüfungsklauseln dazu bei, die politische Zweckmäßigkeit von Sanktionen regelmäßig zu evaluieren. Die EU-Sanktionen gegen Russland müssen, wie auch andere Sanktionsregimes, regelmäßig verlängert werden, ansonsten würden sie auslaufen. In der Regel geschieht dies im halbjährlichen oder jährlichen Abstand.

Ein wichtiges Instrument – aber kein Allheilmittel

Sanktionen und Boykotte sind ein außenpolitisches Instrument neben anderen. Daher gilt es, keine unrealistischen Erwartungen damit zu verbinden – nicht zuletzt, weil Sanktionssender wichtige Erfolgsfaktoren wie die politische Verfasstheit des sanktionierten Staates und den Umfang der verfolgten Ziele kaum beeinflussen können. Die Art der Maßnahmen liegt hingegen in der Hand der Sanktionierenden. Forderungen nach weitergehenden Sanktionen gegen Russland sind dabei von der Forschung gedeckt, die zeigt, dass umfassendere Maßnahmen in der Regel erfolgreicher sind. Allerdings dürfen dabei mögliche humanitäre Folgen umfassender Sanktionen sowie die Versuche autoritärer Regime, externen Druck zu nutzen, um sich innenpolitisch zu legitimieren, nicht aus dem Blick geraten.

Literatur

Attia, H.; Grauvogel, J.; von Soest, C. (2020): The termination of international sanctions: Explaining target compliance and sender capitulation. European Economic Review, 129, Artikel 103565.

Biersteker, T. J.; Eckert, S. E.; Tourinho, M. (2016): Targeted sanctions: The impacts and effectiveness of United Nations action. Cambridge: Cambridge University Press.

Galtung, J. (1967). On the effects of international economic sanctions: With examples from the case of Rhodesia. World Politics 19(3), S. 378-416.

Gordon, J. (1999): A peaceful, silent, deadly Remedy: The ethics of economic sanctions. Ethics & International Affairs 13(1), S. 123–142.

Grauvogel, J.; Licht, A. A.; von Soest, C. (2017): Sanctions and signals: How international sanction threats trigger domestic protest in targeted regimes. International Studies Quarterly, 61(1), S. 86-97.

Grauvogel, J.; von Soest, C. (2014): Claims to legitimacy count: Why sanctions fail to instigate democratisation in authoritarian regimes. European Journal of Political Research, 53(4), S. 635-653.

Hufbauer, G. C.; Schott, J. J.; Elliott, K. A.; Oegg, B. (2007): Economic sanctions reconsidered. Washington, DC: Peterson Institute of International Economics.

Hultman, L.; Peksen, D. (2017): Successful or counterproductive coercion? The effect of international sanctions on conflict intensity. Journal of Conflict Resolution, 61(6), S. 1315–1339.

Moret, E. (2021): The role of sanctions in Afghanistan’s humanitarian crisis. IPI Global Observatory. 9.11.2021.

Peksen, D. (2019): When do imposed economic sanctions work? A critical review of the sanctions effectiveness literature. Defence and Peace Economics, 30(6), S. 635-647.

von Soest, C. (2019): Individual sanctions: Toward a new research agenda. CESifo Forum, 20(4), S. 28-31.

von Soest, C.; Wahman, M. (2015): Not all dictators are equal: Coups, fraudulent elections, and the selective targeting of democratic sanctions. Journal of Peace Research, 52(1), S. 17-31.

Dr. Julia Grauvogel ist Senior Research Fellow am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und Sprecherin des Forschungsteams »Interventionen und Sicherheit«. Sie leitet das Forschungsprojekt »Die Beendigung von Sanktionen in Krisenzeiten: die Rolle externer Schocks«, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.
Dr. Christian von Soest ist Lead Research Fellow am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und Leiter des Forschungsschwerpunkts »Frieden und Sicherheit«. Er arbeitet zu Legitimationsstrategien und zur Wirkung von internationalen Sanktionen in autoritären Regimen.

Die unproduktive Last der Gewalt

Die unproduktive Last der Gewalt

Wirtschaftswissenschaft für den Frieden

von Raul Caruso

Der Bereich der Wirtschaftswissenschaften hat in der etablierten Friedens- und Konfliktforschung bisher keine große Rolle gespielt. Der eher reduzierte Fokus auf die auf Freiwilligkeit beruhenden Austauschbedingungen und auf rationale Akteure hat die Wirtschaftstheorie als wichtiges Feld der Konflikttheorie und -erklärung verkommen lassen. Der folgende Artikel zeigt den Weg zu einer friedensorientierten Ökonomik in drei Teilbereichen auf: bei der Rüstungskontrolle, den Militärausgaben und im forcierten Börsenabgang von Waffenproduzenten.

In den letzten Jahren hat sich eine wachsende Zahl von Wissenschaftler*innen mit den wirtschaftlichen Aspekten von Gewalt in ihren verschiedenen Formen befasst. Bei der Betrachtung von Gewalt, Konflikten und Frieden fühlen sich die meisten Wirtschaftswissenschaftler*innen unwohl, da dieser Bereich seit vielen Jahren nicht mehr zu den Hauptgebieten der Wirtschaftsforschung gehört. Ein entscheidender theoretischer Aspekt, der Ökonom*innen davon abgehalten hat, sich mit Konflikten zu beschäftigen, liegt in ihrer Vorstellung von menschlichen Interaktionen begründet. In der Tat haben sich die Hardliner unter den Ökonom*innen bisher immer als Wissenschaftler*innen gesehen, die sich ausschließlich auf den »auf Freiwilligkeit beruhenden Austausch« konzentrieren. In Wirklichkeit erschöpft der freiwillige Austausch jedoch nicht die Komplexität der realen Wirtschaft. Viele menschliche Interaktionen sind nicht freiwillig und nicht durch die Existenz von Märkten und Preisen gekennzeichnet.

Leider gibt es in der Realität eine Vielzahl schlimmer Verhaltensweisen wie Zwang, Aneignung, Gewalt und Erpressung, die ihrem Wesen nach trotzdem wirtschaftlich sind. Wie jede andere wirtschaftliche Aktivität sind sie mit der Nutzung knapper Ressourcen verbunden und führen letztendlich zu einer Umverteilung von Einkommen und Vermögen zwischen Einzelpersonen und Organisationen. Diese Verhaltensweisen sind zwar wirtschaftlich, aber unproduktiv in dem Sinne, dass sie keinen nennenswerten Mehrwert für die Wirtschaft erbringen. Sie führen zu einer Verzerrung der Ressourcenallokation in den verschiedenen Sektoren und zerstören – im schlimmsten Fall eines bewaffneten Konflikts – sowohl Human- als auch Sachkapital. Kurz gesagt, sie sind schädlich für die gesellschaftliche Entwicklung.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das Vorwort von North et al. (2009, S. xvii) zu zitieren: „Das Fehlen einer praktikablen integrierten Theorie von Wirtschaft und Politik spiegelt den Mangel an systematischem Denken über das zentrale Problem der Gewalt in menschlichen Gesellschaften wider. Die Art und Weise, wie Gesellschaften mit der allgegenwärtigen Bedrohung durch Gewalt umgehen, formt und beschränkt die Formen, die menschliche Interaktion annehmen kann […]“.

Das Fehlen systematischer Untersuchungen zu den verschiedenen Aspekten und Quellen kollektiver oder individueller Gewalt hat dazu geführt, dass Ökonom*innen die Auswirkungen der unproduktiven Belastung durch tatsächliche oder potenzielle Konflikte sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene unterschätzt haben.

In jüngster Zeit versuchen nun einige Wirtschaftswissenschaftler*innen, diese Lücke zu schließen. Insbesondere Wissenschaftler*innen der »Friedensökonomie« wollen darüber hinausgehen und auch wirtschaftspolitische Maßnahmen konzipieren, um die wirtschaftlichen Wurzeln der Gewalt zu beseitigen und so langfristig friedliche Szenarien zu ermöglichen. Im Folgenden stelle ich einige zentrale Themen vor, die sowohl von Wissenschaftler*innen als auch von politischen Entscheidungsträger*innen als wichtig erachtet werden sollten: (1) Abschreckung, Wettrüsten und Rüstungskontrolle; (2) die Belastung durch Militärausgaben; (3) das (De-)Listing, also der freiwillige oder forcierte Rückzug von Waffenproduzenten von der Börse.

Abschreckung, Rüstungswett­läufe und Rüstungskontrolle

Wenn politische Entscheidungsträger*innen und Analyst*innen militärische Fragen ansprechen, erwähnen sie häufig das Konzept der Abschreckung. Es war das wichtigste Sicherheitskonzept des Kalten Krieges und scheint gemessen an den eskalierenden Reaktionen im Zuge des russischen Krieges in der Ukraine immer noch aktuell zu sein. Abschreckung in ihrer einfachsten Form basiert auf der Anschaffung von Waffen, von denen erwartet wird, dass sie Feinde von Aggressionen abhalten. Angesichts des Ergebnisses des Kalten Krieges – nämlich, dass es nicht zu einem Atomkrieg kam – sind die politischen Entscheidungsträger*innen immer noch bereit, ihre Militärausgaben zu erhöhen, um das zu erreichen, was Thomas Schelling in »The Strategy of Conflict« (1960) treffend als „glaubwürdige Bedrohung“ definiert hat.

Abschreckung darf jedoch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die wünschenswerte Folge eines Abschreckungssystems sollte vor allem Stabilität sein. Tatsächlich ist die Abschreckung selbst nicht nützlich, wenn sie nicht stabil ist. Allerdings ist die Abschreckung nur unter bestimmten Bedingungen stabil, die in der Geschichte nicht oft vorgekommen sind.

Greif (2007) beispielsweise erläutert die Folgen eines Abschreckungsgleichgewichts, das im mittelalterlichen Genua zwischen rivalisierenden Clans hergestellt wurde. Dieses Gleichgewicht war vom Wunsch gekennzeichnet, gegenseitige Abschreckung zu erreichen. Die Clans verstärkten kontinuierlich ihre militärische Stärke. Langfristig wurde dieses Gleichgewicht jedoch instabil und in Genua brachen soziale Unruhen aus. Die Erhöhung der Militärausgaben führt nämlich häufig nicht zu einer wirksamen Abschreckung, sondern zu einem »Wettrüsten«, das per definitionem eine instabile Situation darstellt. Aus diesem Grund hatte Schelling in »Strategy and Arms Control« (1961 zusammen mit M.H. Halperin verfasst) auch die Möglichkeit der Rüstungskontrolle vertieft.

In diesem Buch wiesen Schelling und Halperin darauf hin, dass Fortschritte in der Rüstungstechnologie notwendigerweise Vereinbarungen zwischen rivalisierenden Ländern über die Begrenzung der Arsenale erfordern. Die Vereinbarungen selbst müssen Glaubwürdigkeit besitzen und sind daher nicht veränderbar, es sei denn, es gäbe einen Informationsaustausch und eine kontinuierliche Kommunikation zwischen den Rivalen. Kurzum, ein Rüstungskontrollsystem hätte laut Schelling und Halperin größere Auswirkungen auf die Sicherheit in einem bestimmten Staat als eine bedingungslose und einseitige Aufrüstung. Letztere wäre nicht sinnvoll, um das Ziel der Stabilität zu erreichen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass eine Erhöhung der Militärausgaben bei fehlenden Kontrollvereinbarungen – paradoxerweise – die Glaubwürdigkeit der Bedrohung verringern dürfte. Wenn nämlich eine Regierung ihre Militärausgaben erhöht, würden die rivalisierenden Länder mit einer Erhöhung ihrer Militärausgaben reagieren. Ohne Rüstungskontrollabkommen und gegenseitige Kommunikation ist die abschreckende Wirkung der Bedrohung also weniger glaubwürdig und ein Konflikt wahrscheinlicher. Einfacher ausgedrückt: Mehr Waffen könnten die Unsicherheit erhöhen und nicht umgekehrt. Abschreckung kann illusorisch sein.

Im Gegensatz dazu könnte ein Rüstungskontrollsystem, insbesondere wenn es mit der Zustimmung und dem Engagement der wichtigsten Länder der Welt aufgebaut wird, wirklich glaubwürdig sein und zu einer höheren Stabilität führen. Wir müssen daher den Gedanken bekräftigen, dass der Ausgangspunkt jeder stabilen Weltordnung nur ein glaubwürdiges System der Rüstungskontrolle sein kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass der Ende 2014 in Kraft getretene »Vertrag über den Waffenhandel« (»Arms Trade Treaty«, ATT) sich bisher nicht als wirksam erwiesen hat. Die größten Waffenexporteure (USA und Russland) sind nämlich keine Vertragsparteien. Es ist allgemein bekannt, dass Großmächte die Entscheidungen anderer Akteure beeinflussen und gestalten. Somit wäre der ATT, auch wenn er in Kraft ist, erst dann wirklich wirksam, wenn die Großmächte Mitglieder würden. Dies hat konkrete negative Auswirkungen auf die Sicherheit und den Frieden in der Welt, denn die Verfügbarkeit von Waffen macht bewaffnete Konflikte wahrscheinlicher und untergräbt somit die Friedenskonsolidierung.

Die unproduktive Last der Gewalt

Wie bereits erwähnt, führt tatsächliche und potenzielle Gewaltanwendung zu einer Fehlallokation knapper Ressourcen und damit zu einer schweren Belastung der wirtschaftlichen Entwicklung. Gesellschaftliche Systeme, die von Bedrohung und bewaffneten Konflikten geprägt sind – auch wenn sie nicht zwangsläufig in einem Krieg münden –, tätigen hohe Investitionen in Waffensysteme und militärische Ausrüstung. Dies bläht den Anteil der Investitionen in unproduktive Aktivitäten dieser Gesellschaft auf und kann in der Tat zu einem lang anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang führen.

Um dies zu verstehen, können wir auf das klassische Argument der Umlenkung von Ressourcen zurückgreifen. Das besagt, dass in diesem Fall Militärausgaben Ressourcen binden, die andernfalls für produktivere Zwecke eingesetzt werden könnten – sie verdrängen also zivile Investitionen und die Produktion von zivilen Gütern. Es war Paul Samuelson (1970, S. 18), der erstmals produktive und unproduktive Aktivitäten als »Butter« bzw. »Kanonen« bezeichnete. Bei dieser Begriffsschöpfung hatte Samuelson die Erfahrungen des nationalsozialistischen Deutschlands vor Augen, wo sich die Regierung für die Erhöhung der Militärausgaben (»Kanonen«) auf Kosten der zivilen Produktion (»Butter«) eingesetzt hatte. Das Gleichgewicht zwischen »Butter« und »Kanonen« muss bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik jedoch berücksichtigt werden. Das zugrundeliegende Konzept lässt sich leicht zusammenfassen: Es gibt wirtschaftliche Aktivitäten, die zwar individuelle Gewinne abwerfen können, die aber nicht von Natur aus produktiv sind und daher nicht zum allgemeinen Wohl der Gesellschaft beitragen.

In einer allgemeinen Betrachtung dieses Konzepts erläutert Baumol (1990), wie historische Entwicklungsmuster verschiedener Gesellschaften in hohem Maße vom Gleichgewicht zwischen produktiven und unproduktiven Tätigkeiten und von den Belohnungen für diese Tätigkeiten abhingen. Interessanterweise erwähnt der Autor das Frühmittelalter als eine historische Periode, in der der Erwerb und die Sicherung von Reichtum im Wesentlichen durch militärische Aktivitäten gesteuert wurde. Die wirtschaftliche Entwicklung und das menschliche Wohlergehen wurden dadurch untergraben. Er merkt insbesondere an, dass Innovationen in der Kriegsführung nicht mehr zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen könnten als Innovationen, die im verarbeitenden Gewerbe entwickelt würden. Es ist daher nicht überraschend, dass die meisten Studien über die Auswirkungen von Militärausgaben auf das Wirtschaftswachstum zeigen, dass sie sich als nachteilig erweisen. Eine Untersuchung von Dunne und Tian (2013) zeigt, dass die meisten Studien die negativen Auswirkungen von Militärausgaben auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft bestätigen.

Da Militärausgaben die Entwicklung untergraben, muss es ein Gegengewicht geben, das stattdessen produktive Aktivitäten aktiviert. In meinem Dafürhalten ist es vernünftig, die öffentlichen Investitionen in die Bildung als diesen Faktor zu wählen – im Lichte ihrer unbestrittenen langfristig positiven Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Mein normativer Vorschlag besteht darin, das Verhältnis der öffentlichen Bildungsinvestitionen zu den Militärausgaben als relevante Variable für eine friedliche Wirtschaftspolitik zu betrachten. Das Argument wird in Caruso (2017) und Balestra und Caruso (2022) vertieft.

Kurz gesagt, wenn ein solches Verhältnis als politische Zielvariable in der Wirtschaftspolitik betrachtet würde, würden die Entscheidungsträger*innen berücksichtigen, dass für jeden Euro, der für das Militär ausgegeben wird, ein Vielfaches in die Bildung investiert werden muss, um den negativen Auswirkungen der Militärausgaben entgegenzuwirken. Dies wäre heutzutage besonders dringlich, da die Militärausgaben in den letzten Jahren weltweit gestiegen sind (siehe SIPRI 2022, Kap. 8).

Forcierte Börsenabgänge von Rüstungsunternehmen

Entscheidend für eine vertiefte Debatte über Militärausgaben ist natürlich auch die Betrachtung der Strukturierung und der Governance der Rüstungsindustrie. Die vielleicht wichtigste Frage dabei ist die Börsennotierung von Waffenfirmen. Bei börsennotierten Unternehmen ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Führungsebene der Rüstungsindustrie auf private Anreize reagiert und nicht nur auf Sicherheitsbelange der Staaten. Es ist insbesondere erwähnenswert, dass neben privaten Unternehmen auch staatliche Rüstungsunternehmen an der Börse notiert sind. Dies hat einen erheblichen Einfluss auf Sicherheit und Frieden.

Im Allgemeinen hat die Börsennotierung eines Unternehmens erheblichen Einfluss auf die Maßnahmen der Unternehmensleitung. Die Börsennotierung von Waffenherstellern kann sogar einen Anreiz für das Management darstellen, die Produktion trotz gegenläufiger Sicherheits- und Friedensbedenken zu maximieren. Es ist natürlich bekannt, dass private Anreize für das Management börsennotierter Unternehmen relevant werden können. Dies gilt insbesondere dann, wenn es zu einer Trennung zwischen Eigentum und Management kommt. Im Allgemeinen folgen Manager*innen dem Anreiz, ihre Gewinne sehr kurzfristig zu steigern. Aus diesem Grund fragen sich Wirtschaftswissenschaftler*innen und Expert*innen, welches die optimalen Mechanismen sein könnten, um diese Unternehmen wirksam zu binden und Marktanreize zu vermeiden und so in diesen Fällen die von den Hauptaktionär*innen vorgegebene Stoßrichtung auf Profitmaximierung zu überwinden. Denn bei Waffenfirmen kann eine solche Maximierungshaltung ernsthafte Probleme hervorrufen. In der Tat kann sie sich sehr kritisch auf die internationalen Beziehungen auswirken, da die Manager*innen möglicherweise vor dem Hintergrund ihrer Einnahmenmaximierung Sicherheitsbelangen weniger Aufmerksamkeit schenken. Ein weiteres wichtiges Thema für börsennotierte Unternehmen ist der Einfluss von Kleinaktionär*innen, insbesondere von institutionellen Aktionären. Obwohl diese nicht an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind, können sie diese in einigen Fällen dennoch beeinflussen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Börsennotierung von Rüstungsunternehmen äußerst problematisch ist, auch wenn ihnen durch nationale Sicherheitsanforderungen und außenpolitische Erfordernisse erhebliche Grenzen gesetzt sind. Diese Beschränkungen sollten die Aktivitäten des Managements und auch die der Minderheitsaktionär*innen erheblich einschränken. Zur Vereinfachung des Konzepts lässt sich nicht ausschließen, dass das Management von Waffenherstellern durch private Anreize im Zusammenhang mit ihren eigenen Vergütungssystemen oder durch den Einfluss von Minderheitsaktionär*innen, insbesondere von institutionellen Anlegern, beeinflusst werden könnte. In der Praxis könnten diese Aspekte Verhaltensweisen und Entscheidungen fördern, die darauf abzielen, die kurzfristigen wirtschaftlich-finanziellen Ergebnisse zu maximieren, was zu einem höheren Absatzniveau führen muss. Dies wird letztendlich zu einem positiven Trend bei den Waffenverkäufen auf globaler Ebene führen und somit eine Bedrohung für Sicherheit und Frieden darstellen.

Angesichts der Verschärfung vieler Konflikte wäre es vernünftig, forcierte Börsenabgänge der Waffenproduzenten zu erwägen. Wenn sich die Regierungen für diese spezifische Maßnahme entscheiden, würden sie die privaten Anreize zur Maximierung von Waffenverkäufen drastisch verringern. Durch dieses »Delisting« würden auch die bereits bestehenden Beschränkungen restriktiver Rüstungsproduktion und -verkäufe wirksamer werden. Es ist vielleicht einfacher, diese Lösung für staatliche Unternehmen in Europa in Betracht zu ziehen, auch wenn eine weltweite Debatte darüber erforderlich ist. Ein Delisting auf globaler Ebene würde es den Staaten ermöglichen, effektiver dem Frieden näherzukommen.

Hin zu einer Friedensökonomie

Hier wurden aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht einige zentrale Punkte vorgestellt, die bei der Anwendung einer ökonomischen Sichtweise auf Gewalt, Konflikt und Frieden zu berücksichtigen sind. Der Ausgangspunkt für jede*n Friedensökonom*in muss zwangsläufig die Frage der Militärausgaben sein, die einerseits bewaffnete Konflikte auslösen können und andererseits langfristig negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung haben und zu gesellschaftlich unerwünschten Folgen führen.

Das diesem Artikel zugrunde liegende Konzept besagt, dass für die Schaffung der wirtschaftlichen Säulen eines friedlichen Szenarios die Regeln für die Ökonomie von Gewalt, Sicherheit und Frieden entscheidend sind, nämlich die Regeln für die Waffenproduktion und den Waffenhandel.

Die Beachtung dieser »Spielregeln« erinnert an eine Definition der Friedensökonomie, die von Brauer und Caruso (2013, S. 151) vorgeschlagen wurde: „Die Friedensökonomie befasst sich mit der ökonomischen Untersuchung und Gestaltung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Institutionen, ihrer Wechselbeziehungen und ihrer Politiken, um jede Art von latenter oder tatsächlicher Gewalt oder anderen destruktiven Konflikten innerhalb und zwischen Gesellschaften zu verhindern, zu mildern oder zu lösen […]“.

Literatur

Baumol, W.J. (1990): Entrepreneurship: Productive, unproductive, and destructive. The Journal of Political Economy 98(5), S. 893-921.

Balestra, A.; Caruso, R. (2022): Should education and military expenditures be combined for government economic policy? The Economics of Peace and Security Journal 17(1), S. 37-54.

Brauer, J.; Caruso, R. (2013): Economists and Peacebuilding. In: Mac Ginty, R. (Hrsg.): Handbook of Peacebuilding. London: Routledge, S. 147-158.

Caruso, R. (2017): Peace economics and peaceful economic policies. The Economics of Peace and Security Journal 12(2), S. 16-20.

Dunne, J.P.; Tian, N. (2013): Military expenditure and economic growth: A survey. The Economics of Peace and Security Journal 8(1), S. 5-11.

Greif, A. (2007): Institutions and the path to the modern economy. Lessons from medieval trade. New York: Cambridge University Press.

North, D.C.; Wallis, J.J.; Weingast, B.R. (2009): Violence and social orders. A conceptual framework for interpreting recorded human istory. Cambridge: Cambridge University Press.

Samuelson, P.A. (1970): Economics. New York: McGraw-Hill.

Schelling, T.C. (1960): The strategy of conflict. Cambridge: Harvard University Press.

Schelling, T.C.; Halperin, M.H. (1961): Strategy and arms control. New York: Twentieth Century Fund.

Sipri (2022): SIPRI Yearbook 2022. Oxford: Oxford University Press.

Raul Caruso ist ordentlicher Professor für Wirtschaftspolitik an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand (Italien). Dort hat er den Lehrstuhl für Friedensökonomie inne. Außerdem ist er Direktor des »European Center of Peace Science, Integration and Cooperation« (CESPIC) an der Katholischen Universität in Tirana (Albanien). Er ist Chefredakteur von »Peace Economics, Peace Science and Public Policy« und war von 2009 bis 2019 Geschäftsführer des »Network of European Peace Scientists«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing und Melanie Hussak.

Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt

Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt

Fünf Thesen und ein Überblick

von Kai Koddenbrock

Im Kapitalismus sind Krieg und Gewalt nie weit. Sie sind sogar konstitutiver Teil unseres Zusammenlebens und betreffen sowohl autoritäre Staaten wie auch demokratisch organisierte. Gewalt ist dabei im Kapitalismus vielgestaltig und durchdringt fast alle Lebensbereiche – vom Lohnverhältnis bis zur Kriegswirtschaft. Wie sich die ökonomische Friedens- und Konfliktforschung dieser Realität in Deutschland jetzt erneut widmet und gewidmet hat und welche Zukunft wir vor uns haben, diskutiert dieser Text in fünf Thesen.

Zum ersten Mal seit den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre ist 2022 der Krieg wieder so nah an Deutschland herangerückt, dass seine Brutalität und das Leid, das er schafft, auch in deutschen Wohnzimmern vorstellbar werden. Bis dahin hatte sich die deutsche Regierung zwar an vielfältigen Militärmissionen von Afghanistan bis Mali beteiligt. Sie hatte sich auch mit den Konsequenzen der Kriege in Syrien und Libyen durch eine kurzzeitig liberale Migrationspolitik aber vor allem tödliche Abschottungspolitik im Mittelmeer und in der Türkei auseinandergesetzt. Unmittelbar bedrohlich wurden diese Kriege jedoch für die meisten Menschen in Deutschland nicht. Nun »steht« Russland vor den Toren der Europäischen Union, Gasrohre in der Ostsee explodieren und die deutsche Regierung vollzieht vorläufig eine Abkehr von ihrer Verflechtungspolitik mit Russland, die der deutschen Industrie und den Wähler*innen über Jahrzehnte billiges Gas garantiert hatte. Die Zeit gemütlicher Exportweltmeisterschaften unter dem US-amerikanischen Atomschutzschirm scheint zunächst vorbei und wirft grundsätzliche politische und analytische Fragen nach dem Zusammenhang von Kapitalismus, Gewalt und Krieg auf.

Vergessene Ursprünge

Dieser Zusammenhang wurde zuletzt Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Banner der Imperialismustheorien diskutiert, die die Großmächte, vertreten durch Finanzkapital und Regierung, in expansivem Wettbewerb um »ökonomisches Territorium« sahen, sei dies nun in der Nachbarschaft oder auf weiter entfernten – noch kolonisierten – Kontinenten (Luxemburg 1913). Bis in die frühen 1990er Jahre existierten in Deutschland Analysen, die aus einer grundsätzlich marxistischen Perspektive der Kritik der Politischen Ökonomie ökonomische und politische Zwänge und Machtbeziehungen systematisch in den Blick nahmen, so z.B. in den Arbeiten von Krippendorf (1987), Ziebura (1984) oder Mahnkopf und Altvater (1996). Im neoliberalen Deutschland von 1990 bis heute wurden diese Arbeiten, die sich für den globalen Kapitalismus interessierten, weitgehend vergessen und nur noch an wenigen Stellen universitär verfolgt.1 Stattdessen brach sich in diesen Jahre eine politiknahe, policy-Analyse Bahn, die sich eher für das Management von Konflikten, die Analyse der UN-Institutionen, ihrer Normen und der »multi-level governance« interessierte (Daase 1996; Risse 2000; Deitelhoff 2006; Zimmermann 2017). Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Schlichte dar (z.B. 2005) und jüngst auch diejenigen Scherrers (2021). Aber der Umschwung beginnt bereits. Think Tanks und Wissenschaft beginnen sich stärker für Wirtschaft zu interessieren, so zum Beispiel sichtbar am neuen Geoökonomie-Schwerpunkt der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik oder die sich auch für wirtschaftliche Interdependenzen interessierende »49Security«-Blogreihe des Global Public Policy Institutes, die vom Auswärtigen Amt finanziert ist. Zudem beginnen auch Ökonom*innen sich für Geopolitik zu interessieren, so z.B das Deutsche Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Die Ökonomie wird so schnell wieder mitgedacht, wie sie einst vergessen und verdrängt wurde.

Grundbegriffe und theoretische Ansätze

Um den Boden zum Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt zu bereiten, zunächst einige Begriffsklärungen: Der Gewaltbegriff in dieser Forschung reicht von struktureller (klassisch bei Galtung 1969) bis physischer Gewalt (Koloma-Beck und Schlichte 2020). Der Begriff des Konfliktes erstreckt sich dabei von Auseinandersetzungen um Interessen verschiedenster Art bis zum Klassenkampf oder dem zwischenstaatlichen Krieg (Bonacker 2005).

Wirtschaft und Ökonomie werden im Deutschen weitgehend synonym gebraucht. Wie Mitchell schön gezeigt hat, wird die nationale »Wirtschaft« jedoch zunächst diskursiv hergestellt und existiert nicht einfach so (Mitchell 1998). Der Begriff politische Ökonomie transportiert bereits, dass jede Ökonomie auch politisch hergestellt und stabilisiert wird. Je nach theoretischer und politischer Couleur spielt der Kapitalismusbegriff dabei eine unterstützende Rolle, indem vom globalen Kapitalismus und nationalen Kapitalismen gesprochen wird (May et al. 2023).

Während in Deutschland lange der Begriff »Marktwirtschaft« präferiert wurde und Kapitalismus eher als linker Kampfbegriff erschien (Koddenbrock 2017), haben Finanz-, Covid-19- und Energiekrise ein für alle Mal deutlich gemacht, dass Kapitalismus existiert und auch so genannt und bearbeitet werden muss. Kapitalismus ist mehr als Markt und Wirtschaft, denn der Begriff umfasst unsere Weltgesellschaft, das Privateigentum, die internationale Arbeitsteilung und damit auch die (sich verändernde) Trennung in Zentren und Peripherien (Amin 1974; Brand und Wissen 2017). Er umfasst auch die Konflikte zwischen Arbeit und Kapital sowie die globale und nationale Interaktion durch Geld und Währungen mit unterschiedlicher Verbreitung, die als Kapital nach Verwertung und Vermehrung strebt. Dabei zeigt ältere und jüngere Forschung immer wieder, dass der Kapitalismus intersektional zu fassen ist (Buckel 2012), denn Rassismus (Robinson 1983; Loick und Thompson 2022), Patriarchat (bell hooks 2022; Federici 2004) und die Zerstörung der »Natur« (Moore 2015; Mies 1986) sind ihm inhärent. Die Klimakrise muss folglich als ein Ergebnis des kapitalistischen Wirtschaftens und seines Wachstumsimperativs betrachtet werden (Schmelzer und Vetter 2021).

Aus dieser kurzen Begriffsdiskussion lässt sich bereits erkennen, dass das Forschungsfeld zum Zusammenhang von Ökonomie und (kriegerischer) Gewalt riesig ist. Aus einer Perspektive der kritischen Politischen Ökonomie daher im Folgenden ein paar Thesen zu ihrem Zusammenhang. Wichtig ist für jede Beschäftigung mit Kapitalismus und Gewalt (Gerstenberger 2016; Siegelberg 1994), dass sowohl die nationalen, internationalen und globalen Ebenen in ihren Verflechtungen mitgedacht werden müssen und das Akteurshandeln in diesen Strukturen verortet und analysiert wird (Cox 1981; Schmalz 2018).

Fünf Thesen zum Zusammenhang

1. Kapitalismus und Gewalt sind immer eng verbunden.

Dass der Aufstieg des Kapitalismus in den aktuellen Zentren des Weltsystems maßgeblich durch die Gewalt der Sklaverei und des Kolonialismus ermöglicht wurde, ist mittlerweile Stand der Forschung (vgl. für viele Williams 1944; Rodney 1972; Galeano 2009; Mies 1986; Beckert 2014; Andrews 2021). Diese Gewalt betrifft nicht nur den »stummen Zwang« der Verhältnisse (Mau 2021) oder institutionalisierte Herrschaft, sondern auch ganz direkte körperliche Gewaltausübung (Gerstenberger 2016). Eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Ökonomie und gewaltförmigen Konflikten muss also diesen unterschiedlichen Formen der Gewaltausübung im Prozess der Verwertung des Kapitals Aufmerksamkeit schenken. Die Literatur über globale Wertschöpfungsketten bietet dafür hilfreiche Anknüpfungspunkte, da sie sich auch für die »Drecksarbeit« am Ende der Wertschöpfungsketten interessiert (Marlsev, Staritz und Raj-Reichert 2022; Milberg und Winkler 2013).

2. Ökonomie und Politik sind im Kapitalismus notwendigerweise verflochten.

Staatliches Handeln, und damit auch Wirtschaftssanktionen oder aktive Kriegsführung, beruhen immer auf einer relativen Autonomie des Politischen (Poulantzas 1978; Hirsch 2005) in Beziehung zu seinen ökonomischen Strukturbedingungen. Das heißt aber auch, dass die genaue Beziehung zwischen diesen ökonomischen Bedingungen, sowohl im Inland als auch global, und den Aktivitäten der Regierungen analysiert werden muss und nicht einfach vernachlässigt oder strukturdeterministisch abgelesen werden kann. Übertragen auf die derzeitige Kriegseskalation in Europa bedeutet dies: Ob und wie sehr der deutsche Schwenk hin zu höheren Militärausgaben also von der Notwendigkeit, das eigene Exportmodell mittelfristig abzusichern, mitbestimmt wurde oder vor allem eine spontane, quasi-moralische Reaktion auf einen überraschend entstandenen Krieg war, ist genau zu untersuchen und nicht einfach vorauszusetzen (Koddenbrock und Mertens 2022). Gleichzeitig wird durch die verschränkte Analyse global-nationaler Strukturen und Akteure die semi-periphere Stellung Russlands im globalen Kapitalismus sichtbar. Es zeigt sich dann auch die Tatsache, dass die russische Regierung zumindest eine gewisse Unterstützung bestimmter Kapitalfraktionen haben muss und gleichzeitig von einer expansiven Ideologie getrieben ist.

3. Es gibt unterschiedlich abstrakte »Flughöhen« in der Analyse der Kriegsursachen und ihrer Beziehung zu Kapitalismus.

Während die Kriegsführung zu Zeiten Machiavellis oder von Clausewitz’ noch als ein natürliches Instrument der Politik verstanden wurde, haben die beiden Weltkriege in der Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen zu einer normativen Orientierung an der Verhinderung des Krieges durch Kooperation beigetragen (Deitelhoff und Zürn 2016). Aber die fundamentale Konflikthaftigkeit der internationalen Ordnung haben sowohl Anhänger*innen der Theorieschule des Realismus wie auch Marxist*innen nie vergessen (Koddenbrock 2022). Realist*innen gehen davon aus, dass Staaten immer (auch militärisch) an ihrem Machterhalt interessiert sind. Marxist*innen analysieren, dass die inhärente Logik des Kapitals, sich immer neue und weitere Verwertungsmöglichkeiten zu suchen, notwendigerweise zu Kriegen führen muss, wenn sich diese Expansion nicht mehr auf friedliche Weise herstellen lässt. Auf dieser Abstraktionsebene trägt die kapitalistische Art und Weise, unsere Weltordnung zu organisieren, immer bereits zu ihrer Kriegsförmigkeit und Konflikthaftigkeit bei.

Aufgrund der relativen Autonomie des Politischen sind Kriege und Konflikte jedoch nicht schematisch vorauszusagen, sondern hängen von den Interessen und Motivationen konkreter Akteure ab. Diese akteursbezogenen bzw. institutionellen Forschungsperspektiven zielen auf die konkreten Kriegs- und Konfliktursachen jenseits der inhärenten Gewaltförmigkeit des globalen Kapitalismus. Hierzu gab es anders als beim grundlegenderen Zusammenhang von Kapitalismus und Gewaltförmigkeit eine durchgehende Debatte in der Konfliktforschung. Aufgrund zahlreicher innerstaatlicher Konflikte, z.B. auf dem afrikanischen Kontinent nach dem vorläufigen Ende des Ost-West-Konfliktes, wurde hier die »Gier und Leid«-Debatte (»greed and grievances«) populär, die den Ausbruch solcher Konflikte entweder mit dem Blick auf die Kosten-Nutzen-Maximierung politischer Gewaltakteure (Rebell*innen u.a.) analysierte oder mit Blick auf die (nicht nur) polit-ökonomischen Leiden, die Akteure zu einem Gewaltakt treiben, wie z.B. Fragen territorialer, identitärer oder sozialer Deprivation (siehe v.a. Collier und Hoeffler 2004). Mit dem Abebben vieler dieser langandauernden und gleichwohl weniger intensiven Konflikte ist es ruhiger um diese Debatte geworden. Nun hat sich hingegen ein neues Interesse für die Kriegsbeendigung ergeben, die gerade auch für die Frage danach, wie lange der Krieg in der Ukraine wohl noch dauern wird, relevant ist (Schreiber 2022).

4. Krieg und gewaltförmige Konfliktführung sind kein Monopol autoritärer Staaten, sondern globales Phänomen und Machtmittel.

In Deutschland hat die Friedens- und Konfliktforschung viel Zeit und Ressourcen in die Erforschung des »demokratischen Friedens« gesteckt (Geis und Wagner 2006). Unter diesem Begriff wurde debattiert, ob Demokratien inhärent friedlicher seien und deshalb weniger Krieg führten. Auf den offensichtlichen Einwand hin, dass die USA, Frankreich, und andere formal demokratische Staaten in diverse Kriege seit 1945 verwickelt waren, wurde dieser Forschungsstrang in Richtung der These weiterentwickelt, dass Demokratien keinen Krieg gegen andere Demokratien führen. Das ist empirisch einigermaßen belegt, lenkt aber primär vom zuerst genannten Befund ab, dass der sogenannte Westen ebenso Krieg führt. Die Beispiele dafür reichen von der Ermordung gewählter Regierungschefs wie Patrice Lumumba und Thomas Sankara über die Ermordung Muammar Gaddafis oder Saddam Husseins, von CIA-Operationen in Lateinamerika oder Indonesien zur Unterstützung autoritärer Regime (Bevins 2020) bis hin zu direkten Kriegen wie dem Vietnamkrieg oder der indirekten Beteiligung am Krieg im Jemen. Eine abgewogene, globale Sicht auf das Konfliktgeschehen kommt nicht umhin, den wichtigen Anteil des Westens am globalen Kriegsgeschehen zu nennen. Die vielen hundert US-Militärbasen auf der ganzen Welt sind nur der sichtbarste Ausdruck dieser Gewalt(-beteiligung). Dies ist aus einer historisch und polit-ökonomisch informierten Perspektive auch nicht überraschend, denn alle kapitalistischen Staaten befinden sich in Konkurrenz zueinander, die nur phasenweise über Normen und Institutionen befriedet wird. Auch Demokratien und der sogenannte Westen können es sich nicht leisten, ihre Weltmarktposition nur mit netten Worten und luftigen Idealen abzusichern.

5. Die Klimakrise und neue Formen der imperialen Konkurrenz (zwischen USA, Russland, China und der EU) werden die Wahrscheinlichkeit gewaltförmiger Konflikte weltweit erhöhen.

30 Jahre eindeutiger US-Hegemonie stehen heute in Frage und der Krieg in der Ukraine ist nur der erste Krieg in einer Reihe von weiteren militärischen Konflikten, die mit der neu anbrechenden Weltordnung einhergehen könnten. Wirtschaftliche Unsicherheit führt zu instabilen Regierungen oder der vermeintlichen Notwendigkeit massiver Repression interner Widersprüche, die wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, über den Kampf mit äußeren Feinden von diesen Problemen abzulenken. Der Aufstieg offen rechtsradikaler Parteien und Personen in Europa, den USA aber auch z.B. in Indien ist dafür Beleg. Ein zunehmend krisenhafter Kapitalismus mit immer weiter wachsender Ungleichheit, Dürren und Überflutungen wird definitiv die Stabilität der US-Hegemonie nicht wiederherstellen, sondern zu neuen, eher instabilen Allianzen zwischen den Kontinenten führen, da alle Staaten immer verzweifelter um die notwendigen Ressourcen für die Klimaanpassung kämpfen werden. Formen der globalen Kooperation wie das »Pariser Klimaabkommen« von 2015 oder die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (»Sustainable Development Goals«) werden in zunehmend offenem Gegensatz zu den wachsenden Konflikten stehen.

Die Aussichten sind nicht gut. Der Titel dieses Heftes zu »Ökonomie und gewaltförmigen Konflikten« drückt die Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch zurückhaltend aus. Kapitalismus, Krieg und Gewalt waren historisch immer wieder symbiotisch verbunden. Phasen relativen Friedens waren zumeist regional und zeitlich begrenzt. Der Weg aus dem Kapitalismus muss heute ernsthaft in Betracht gezogen werden, denn die Krisen nehmen überhand (vgl. Dörre in dieser Ausgabe, S. 14-18). Wie und durch welche Allianzen wir diese Wege suchen könnten, das könnte ein Beitrag einer »friedens-politischen Ökonomie« sein.

Anmerkung

1) Der Neo-Gramscianismus war in Deutschland das letzte Refugium der kritischen politischen Ökonomie (bspw. Bieling 2011), bevor die Finanzkrise in den Jahren nach 2007 einer neuen und wachsenden Generation der politischen Ökonomie den Boden bereitete.

Literatur

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Kai Koddenbrock ist Nachwuchsgruppenleiter an der Universität Bayreuth und ab Sommer 2023 Professor für Politische Ökonomie am Bard College Berlin. Er leitet mit Benjamin Braun das Forschungsnetzwerk »Politics of money« (politicsofmoney.org).

Mehrsprachigkeit als Friedensinstrument

Mehrsprachigkeit als Friedensinstrument

Statistische Notizen aus der Eurolinguistik

von Joachim Grzega

Der folgende Beitrag setzt die Zahl der Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen in Relation zu friedensbezogenen nicht-sprachlichen Aspekten. Ob ein Zusammenhang besteht, wird mithilfe statistischer Tests ermittelt. Es zeigt sich im Vergleich der EU-Länder, dass je höher der Anteil von Personen ist, die in mindestens drei Fremdsprachen an Gesprächen teilnehmen können, desto geringer sind die Militärausgaben und desto besser die Werte auf dem allgemeineren Global Peace Index. Bezüglich Russland ist in einem Land ein positives Russland-Bild umso verbreiteter, je mehr Menschen Russisch auf Konversationsniveau beherrschen.

Schon viele haben geäußert, dass die Kenntnis von Fremdsprachen beziehungsweise Mehrsprachigkeit zu Friedfertigkeit und Frieden führen. Oft verbleiben die Beschreibungen jedoch im Theoretischen und Allgemein-Programmatischen (z.B. Kroff 1943, Marti 1996). Gelegentlich gibt es diesbezüglich auch konkrete praktische Vorschläge für den Zweit- und Fremdsprachenunterricht (z.B. Friedrich 2007, Grzega 2012, S. 302-305, mehrere Beiträge in Oxford et al. 2020). Der Nachweis, dass Mehrsprachigkeit tatsächlich von mehr Friedfertigkeit begleitet wird, steht jedoch noch weitgehend aus. Diese Studie will einen kleinen Beitrag dazu leisten.

Fragestellung und bisherige Forschung

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat man die Aussöhnung der Völker durch die Pflege von Städtepartnerschaften zu fördern versucht. Diese waren und sind vielerorts auch begleitet von der Durchführung von Sprachkursen (teils über Bildungseinrichtungen, teils über Partnerschaftsvereine, teils privat), um eine möglichst intensive Freundschaft zwischen den Menschen zu ermöglichen. Ich selbst habe in unserem Landkreis mit Blick auf vorhandene Städtepartnerschaften Anfängerkurse in Französisch, Italienisch und Ungarisch durchgeführt. Doch: Lässt sich der Nutzen von Mehrsprachigkeit für Friedfertigkeit mit statistischen Mitteln zeigen? In einer Studie von Keysar, Hayakawa und An (2012) wurde gezeigt, dass man Informationen allgemein weniger emotional verarbeitet, wenn sie in einer Fremdsprache aufgenommen werden. In diesem Falle fokussiert man nämlich mehr auf die Fakten als auf die Stimmung des Gelesenen. Indirekt lässt sich daraus ableiten, dass diese geringere Emotionalität letztlich auch gilt, wenn andere Länder das Thema eines fremdsprachlichen Textes sind. Eine solche Entemotionalisierung kann auch der Bereitschaft für friedliche Konflikttransformation helfen – Fremdsprachenkenntnisse scheinen dafür eine wichtige Voraussetzung zu schaffen.

Friedfertigkeit kann man individuell oder national betrachten. Im Buch »Wort-Waffen abschaffen!« (Grzega 2019) lege ich dar– während es sonst hauptsächlich um den Effekt von Wortgebrauch innerhalb von Sprachen geht –, dass EU-Staaten mit mehr als einer Amtssprache friedfertiger sind (Ebd., S. 52ff.). Zu dieser Aussage gelange ich durch den Vergleich zweier Gruppen von Ländern in der EU sowie der kulturell eng verwandten Länder Großbritannien, Norwegen und Schweiz: (1) Länder, die auf nationaler Ebene mehrsprachig sind, also jedes Gesetz in mehr als einer Sprache veröffentlichen müssen, und (2) Länder, die auf nationaler Ebene einsprachig sind. Vergleicht man diese beiden Gruppen mit ihren »Noten« auf dem Global Peace Index (GPI), so erzielt die erste Gruppe bessere Resultate für die Jahre 2010 bis 2017. Für die Jahre 2010 bis 2016 zeigt sich zudem, dass die Gruppe mit mehr als einer Amtssprache weniger für militärische Belange ausgegeben hat, gemessen am Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes – solche Ausgaben ließen sich auch als Parameter für nationale Friedfertigkeit heranziehen. In diesem Beitrag jedoch blicken wir nun auf den Zusammenhang von individuellen Fremdsprachenkompetenzen und nationaler Friedfertigkeit

Methodisches

Eine ideale Analyse achtet dabei darauf, dass nur die Variablen »Sprache« und der »friedensbezogene Aspekt« die Ausprägungen wechseln, andere Aspekte hingegen möglichst gleich sind. Die ausgewählten Länder sollten also möglichst dem gleichen »Kulturraum« entstammen – im Sinne von allgemeinen Werten, aber auch der politisch-juristischen Rahmenbedingungen. Betrachtet seien hier daher – gemäß einem der Ansätze in der Eurolinguistik (vgl. z.B. Grzega 2013, S. 3f.) – die Staaten der Europäischen Union. Dies soll nicht leugnen, dass es auch innerhalb der EU Unterschiede gibt (immerhin lautet das EU-Motto »In Vielfalt geeint«); doch die EU-Verträge liefern zumindest gewisse Bekenntnisse und Rahmenbedingungen, die für das Thema Friedfertigkeit eine grobe Zusammenfassung als Gruppe zu erlauben scheinen.

Welche sprachbezogenen Kennzahlen bieten sich an? Zur Feststellung der Anzahl von Fremdsprachen, die in einem Staat von den Menschen für ein Gespräch beherrscht werden, werden die Erhebungen von Eurostat (o.J.) herangezogen, d.h. der statistischen Datenbank der Europäischen Kommission. Zur Feststellung der Kenntnisse einzelner Fremdsprachen konkret lässt sich jedoch nur auf eine 2012 durchgeführte Umfrage im Auftrag der Europäischen Union zurückgreifen, die unter der Nummerierung Spezial-Eurobarometer 386 und dem Titel »Die europäischen Bürger und ihre Sprachen« zu finden ist (vgl. Eurobarometer 2012); sie wird ergänzend einbezogen.

Als Maß für Friedfertigkeit kann der schon erwähnte Global Peace Index herangezogen werden (vgl. Institute for Economics and Peace o.J.). In diesen Index fließen verschiedene Kriterien ein. Objektive Kriterien sind beispielsweise die Anzahl der geführten Kriege im In- und Ausland, die finanzielle Beteiligung an UN-Einsätzen, die Anzahl der Morde, die Anzahl der importierten und exportierten konventionellen Waffen, die Anzahl der inhaftierten Personen, die Anzahl der Bediensteten der Polizei und der staatlichen Sicherheitsorgane, der Umfang der Armee sowie die militärischen Ausgaben in Prozent des Bruttoinlandsproduktes; daneben finden sich auf Fachmeinung beruhende subjektive Kriterien, wie etwa die geschätzte Anzahl der Kriegstoten, der Grad des Misstrauens in Mitmenschen, der Grad der politischen Instabilität, das Ausmaß von Terroranschlägen, die Möglichkeit von gewalttätigen Demonstrationen sowie politischer Terror im Sinne der Verletzung von Menschenrechten. Am Ende wird daraus der Grad der Friedfertigkeit rechnerisch bestimmt, wobei der Wert 1,000 für das beste Ausmaß von Friedfertigkeit stehen soll und höhere Werte geringere Friedfertigkeit darstellen. Da die Daten zu den allgemeinen Fremdsprachenkenntnissen 2016-2018 erhoben wurden, seien für diese Analyse die GPI-Werte für 2016-2018 herangezogen.

Dazu können speziell die militärischen Ausgaben in Prozent des Bruttoinlands­produktes herangezogen werden, wie sie vom Stockholm International Peace Re­search Institute veröffentlicht werden (vgl. SIPRI); diese Zahlen können auch als Ausdruck von Friedfertigkeit interpretiert werden.

Des Weiteren eignen sich zum Vergleich einige Ergebnisse zum Fragebogen des World Values Survey der Periode 2017-2020 (vgl. WVS o.J.). Besonders interessant scheinen die Zustimmungswerte zu Aussage 21 „Ich hätte gerne keine Immigranten oder ausländische Arbeiter als Nachbarn“, Aussage 63 „Ich vertraue Menschen anderer Nationalität völlig oder einigermaßen“ und Aussage 259 „Ich fühle mich der Welt sehr nah oder nah“. Es sind Fragen der Toleranz und der Empathie; wenn diese weit verbreitet sind, dürfte dies ein Ausdruck von großer Friedfertigkeit einer Bevölkerung sein.

Der Haltung der EU-Länder auf politischer und individueller Ebene gegenüber Russland kommt für die zukünftige Friedenslage zentrale Bedeutung zu.1 Daher seien Teil-Resultate einer weiteren Umfrage aus der Eurobarometer-Reihe der EU hinzugezogen: Sie trägt den Titel »Zukunft Europas« und wurde als Spezial-Eurobarometer 451 im Oktober 2016 durchgeführt (vgl. Eurobarometer 2016). In Frage QB8.6 sollen die Interviewten beantworten, ob sie ein positives oder negatives Bild von Russland hätten (Ebd., S. 79). Frühere Erhebungen zu dieser Frage gibt es nicht. Im darauffolgenden Jahr war die Frage im Spezial-Eurobarometer 467 als Frage QC5.6 wieder vertreten (vgl. Eurobarometer 2017). Diese Fragen enthalten beide Bewertungsadjektive, „Haben Sie ein positives oder negatives Bild von Russland?“, und sind daher frei von einem häufigen Problem, das für die Eurobarometer-Reihe beschrieben worden ist (vgl. z.B. Höpner/Jurczyk 2012).

Bezüglich der statistischen Analyse zur Bestimmung von Korrelationen wurde in dieser Analyse der Spearman’sche Rangkorrelationskoeffizient (rho bzw. rs) verwendet. Er wird statt der Pearson-Korrelation verwendet, da einige Zahlenreihen gemäß eines Shapiro-Wilk-Tests nicht normal verteilt sind. In diesem Verfahren fallen die Ergebnisse mit Werten zwischen -1 und +1 aus. Je näher der Wert an -1 ist, desto größer ist eine negative Korrelation im Sinne von „Je mehr Punkte bei A, desto weniger Punkte bei B“; je näher der Wert an +1 ist, desto größer ist eine positive Korrelation im Sinne von „Je mehr Punkte bei A, desto mehr Punkte bei B“. Werte geringer als ±0,20 sind dabei vernachlässigbar; als signifikant soll, wie üblich, ein dazugehöriger p-Wert von unter 0,05 gelten (vgl. Cohen 1988, Ellis 2010).

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Korrelationen sind in Tabelle 1 dargestellt.

Blicken wir zunächst auf die Antworten aus dem World Values Survey für 2017-2020 (Tabelle 1, Zeilen WVS, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen). Das Ausmaß der Fremdsprachenkenntnisse 2016-2018 hängt offenbar nicht mit der Haltung gegenüber ausländischen Personen als Nachbarn oder mit dem Vertrauen in ausländische Personen zusammen (alle Werte dieser Korrelationen sind nicht signifikant). Erstaunlicherweise zeigt sich jedoch: je größer die Verbreitung von Kenntnissen in zwei oder mehr Fremdsprachen ist, desto weniger verbreitet ist ein starkes Gefühl der Nähe zur Welt. Umgekehrt gilt interessanterweise auch: je weniger Fremdsprachenkenntnisse verbreitet sind, desto mehr gibt es ein Gefühl der Nähe zur Welt (0 Sprachen: rho=+0,47; p=0,0232; 2+ Sprachen: rho=-0,46, p=0,0270; 3+ Sprachen: rho=-0,50, p=0,0147).

Widmen wir uns nun den Werten des Global Peace Index (Tabelle 1, Zeilen GPI2016-2018, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen). Betrachtet man jeweils den Prozentsatz derjenigen in einem Land, die keine, eine oder zwei Fremdsprachen gesprächsfähig beherrschen, so zeigen sich in Verbindung mit den GPI-Werten keine signifikanten Korrelationen. Wohl aber ergeben sich bedeutsame Zusammenhänge beim Prozentsatz von Menschen, die in mindestens drei Fremdsprachen an Gesprächen teilnehmen können. Hier lässt sich als Ergebnis festhalten: Je höher der Anteil von Personen mit mindestens drei Fremdsprachen, desto niedriger/besser der Wert auf dem Global Peace Index (2016: rho=0,44, p=0,0236; 2017: rho=0,38, p=0,0117).

Konzentriert man sich auf die militärischen Ausgaben (gemessen in Prozent am Bruttoinlandsprodukt), wie sie von SIPRI festgehalten werden, bestätigt sich dieses Bild (Tabelle 1, Zeilen SIPRI2016-2018, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen): Je mehr Menschen in einem Land mindestens drei Fremdsprachen sprechen, desto geringere staatliche Militärausgaben gibt es (2016: rho=0,43, p=0,0232; 2017: rho=0,36, p=0,0134; 2018: rho0,45, p=0,0176).

Betrachtet man speziell den Anteil der Personen in einem Staat, die 2012 einem Gespräch in russischer Sprache folgen konnten, und setzt dies in Relation zum Anteil der Personen in einem Staat, die 2016 und 2017 ein positives Russland-Bild hatten (Tabelle 1, Zeilen pos. Russlandbild 2016-2017, signifikante Zeilen sind unterstrichen), so ergibt sich ebenfalls ein statistisch bedeutsamer Zusammenhang (2016: rho=+0,42, p=0,0091; 2017: rho=+0,61, p=0,0069). Wohlgemerkt handelt es sich wiederum um aggregierte Ausprägungen auf der gesamtstaatlichen Ebene; die zur Sprachkompetenz befragten Individuen sind nicht dieselben wie die zum Russland-Bild befragten.

rho

p (2-seitig)

N

WVS: Ausländer ungern als Nachbar!

0 Frspr.

+0,18

0,4098

23

1 Frspr.

-0,02

0,9442

23

2 Frspr.

-0,17

0,4394

23

3 oder mehr Frspr.

-0,21

0,3246

23

2 oder mehr Frspr.

-0,22

0,3086

23

WVS: Vertrauen in Ausländer!

0 Frspr.

-0,17

0,4283

23

1 Frspr.

-0,21

0,3289

23

2 Frspr.

-0,25

0,2596

23

3 oder mehr Frspr.

+0,34

0,1175

23

2 oder mehr Frspr.

+0,30

0,1692

23

WVS: Gefühl der Nähe zur Welt!

0 Frspr.

+0,47

0,0232

23

1 Frspr.

-0,18

0,4220

23

2 Frspr.

+0,44

0,0321

23

3 oder mehr Frspr.

-0,50

0,0147

23

2 oder mehr Frspr.

-0,46

0,0270

23

GPI 2016

0 Frspr.

+0,19

0,3496

26

1 Frspr.

+0,15

0,4704

26

2 Frspr.

-0,24

0,2334

26

3 oder mehr Frspr.

-0,44

0,0236

26

2 oder mehr Frspr.

-0,34

0,0916

26

GPI 2017

0 Frspr.

+0,11

0,6039

26

1 Frspr.

+0,19

0,3399

26

2 Frspr.

-0,18

0,3857

26

3 oder mehr Frspr.

-0,38

0,0555

26

2 oder mehr Frspr.

-0,26

0,2076

26

GPI 2018

0 Frspr.

+0,23

0,2410

26

1 Frspr.

+0,22

0,2774

26

2 Frspr.

-0,28

0,1611

26

3 oder mehr Frspr.

-0,49

0,0117

26

2 oder mehr Frspr.

-0,37

0,0609

26

SIPRI 2016

0 Frspr.

+0,25

0,1971

28

1 Frspr.

+0,17

0,3771

28

2 Frspr.

-0,24

0,2237

28

3 oder mehr Frspr.

-0,43

0,0232

28

2 oder mehr Frspr.

-0,33

0,0879

28

SIPRI 2017

0 Frspr.

-0,24

0,2240

28

1 Frspr.

-0,20

0,3182

28

2 Frspr.

-0,25

0,1988

28

3 oder mehr Frspr.

-0,36

0,0134

28

2 oder mehr Frspr.

-0,36

0,0627

28

SIPRI 2018

0 Frspr.

+0,20

0,3080

28

1 Frspr.

+0,20

0,3094

28

2 Frspr.

-0,21

0,2920

28

3 oder mehr Frspr.

-0,45

0,0176

28

2 oder mehr Frspr.

-0,33

0,0846

28

pos. Russland-Bild 2016

Russisch-Kompetenz

+0,42

0,0091

27

pos. Russland-Bild 2017

Russisch-Kompetenz

+0,61

0,0069

27

Tabelle 1

Zusammenfassung und Ausblick

Es kann festgehalten werden, dass gilt: je höher der Anteil der Bevölkerung, der über Gesprächskompetenzen in mindestens drei Fremdsprachen verfügt, desto eher zeigt ein Land geringere Militärausgaben und – allgemeiner – bessere Werte auf dem Global Peace Index bei gleichzeitig schwächerem Verbundenheitsgefühl der Bevölkerung mit der Welt. Speziell mit Bezug auf Russland ist in einem Land ein positives Russland-Bild umso verbreiteter, je mehr Menschen auf Russisch an einem Gespräch teilnehmen können.

Freilich lässt eine Korrelation noch nicht auf eine Kausalität schließen. Beispielsweise könnte eine weitere Komponente der Auslöser für die Korrelation sein. Dennoch liefert dieses Resultat Hinweise darauf, dass es wert ist, mindestens drei Fremdsprachen auf einem Niveau zu erlernen, das eine Gesprächsteilnahme erlaubt – es könnte der Friedfertigkeit der Welt zuträglich sein.2

Anmerkungen

1) Der Aufsatz wurde ursprünglich im August 2021 erstellt. Er wurde verfasst in der Hoffnung, dass er einen Beitrag dazu leisten kann, dass es nicht zu einer Situation kommt, wie sie sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine nun ergeben hat. Für eine zukünftige Entwicklung Richtung Frieden sollte man aufgrund der hier vorgetragenen Beobachtungen dennoch die mögliche Kraft von Sprachkompetenzen als einen Faktor bedenken. Dabei sollte auch die Kraft von Schlüsselbegriffen verstanden, wie sie etwa Bundeskanzler Willy Brandt für die Beziehung zu Russland (und zu anderen Ländern) erkannt hatte (vgl. etwa Grzega 2021).

2) Hierzu braucht nicht auf eine langwierige politische Entscheidungsfindung für das Schulwesen gewartet zu werden. Es bieten sich verschiedene Möglichkeiten zu individuellem Sprachenlernen. In Deutschland etwa bieten die Volkshochschulen umfangreiche Sprachangebote. An der VHS Donauwörth gibt es im Rahmen des Projektbereichs »Innovative Europäische Sprachlehre« (InES) einen eintägigen Sieben-Sprachen-Schnupperkurs. Als Türöffner zu weiteren Sprachen werden Ideen für friedensfördernde Gesprächsstrategien eingebaut, die sich dann auch im Unterricht weiterer Sprachen widerspiegeln sollen. Alle genannten Konzepte richten sich auch an Personen ohne besonderes Sprachtalent.

Literatur

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Grzega, J. (2021): Eurolinguistischer Blick auf Willy Brandt – Frieden fördern durch Überwindung rhetorischer Grenzen. In: Roczniki Humanistyczne 69 (5), S. 167-180.

Höpner, M.; Jurczyk, B. (2012): Kritik des Eurobarometers: Über die Verwischung der Grenze zwischen seriöser Demoskopie und interessengeleiteter Propaganda. In: Leviathan 40 (3), S. 326-349.

Keysar, B.; Hayakawa, S.; An, S. G. (2012): The ­foreign-language effect: Thinking in a foreign tongue reduces decision biases. In: Psychological Sciences 23, S. 661-668.

Kroff, A. Y. (1943): Education for the peace through the foreign languages. In: The Modern Language Journal 27(4), S. 236-239.

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Oxford, R. L.; Olivero, M. M; Harrison, M.; Gregersen, T. (Hg.) (2020): Peacebuuilding in language education: Innovations in theory and practice. Bristol: Multilingual Matters.

Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) (o.J.): Military Expenditure Database. sipri.org/databases/milex.

World Values Survey (WVS) (o.J.): Online Data Analysis. Wave 2017-2020. worldvaluessurvey.org/WVSOnline.jsp

Dr. Joachim Grzega ist Leiter des Bereichs »Innovative Europäische Sprachlehre (InES)« an der Volkshochschule Donauwörth und außerplanmäßiger Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.