Nachgefragt: Wie ist das mit den Zivilklauseln?

Nachgefragt: Wie ist das mit den Zivilklauseln?

Interview mit Falk Bornmüller (Universität Jena)

von David Scheuing

Die Zivilklauselbewegung hat an deutschen Hochschulen einiges bewirkt – an über 60 Hochschulen gibt es Zivilklauselbeschlüsse. Doch vielfach versauern diese Beschlüsse unwirksam durch mangelnde Institutionalisierung, hochschulpolitische Interessen einer Vielzahl an Akteur*innen und zu geringer Normbegründung. In seinem Buch »Zivile Wissenschaft« hat Falk Bornmüller den Prozess der nachhaltigen Umsetzung einer Zivilklausel analysiert und spezifische Bedingungen für die Hochschullandschaft identifiziert.

David Scheuing für W&F: Herr Bornmüller, Sie haben gerade ein schmales, aber pralles Büchlein zu Zivilklauseln an deutschen Hochschulen veröffentlicht. Seit Mitte 2022 wird bundesweit aber wieder über das Aussetzen von Zivilklauseln debattiert. In Zeiten der »Zeitenwende« wären diese nicht mehr aktuell, heißt es in Debattenbeiträgen. Warum brauchte es jetzt ein solches Buch?

Bornmüller: Ich denke, es braucht dieses Buch, weil das Anliegen nach wie vor aktuell ist. Ich habe mich ja in sehr komprimierter Form damit auseinandergesetzt, ein schmales Büchlein, das noch lesbar ist, wo aber viel drinsteckt. Ich habe mich damit beschäftigt, weil es mich interessiert hat, was denn aus den Initiativen zur Einführung von Friedens- und Zivilklauseln an Hochschulen konkret werden kann. Ich fand das sehr interessant, dass diese vor allem von studentischen Gruppen getragenen Initiativen oft leider nicht den Erfolg haben, den sie eigentlich haben sollten. Da ich das Anliegen von Zivilklauseln inhaltlich teile, habe ich mich dann gefragt, wie ein solcher Prozess eigentlich funktionieren könnte. Und als Mitarbeiter einer Hochschule, der täglich mit dieser Institution zu tun hat und von ihr immer wieder überrascht wird, habe ich mich dann gefragt, ob in diesem Zusammenhang das Unterfangen einer Zivilklausel nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein muss. Vor allem, wenn man eine Verbindlichkeit für eine gesamte Institution, die in sich so heterogen ist und wo Entscheidungen eigentlich eher Ausdruck des Konsenses sind, den alle noch gerade so mittragen können – wie also in einer solchen Organisation eine für alle so starke Verbindlichkeit wie die normative Forderung einer Zivilklausel überhaupt durchgesetzt werden kann.

W&F: Es soll also als eine Form von Handreichung verstanden werden?

Bornmüller: Da war ich etwas hin- und hergerissen, als ich das Buch verfasst habe. Also nicht im Sinne eines Ratgebers, „macht es genau so“. Was ich an diesem Fall der TU Darmstadt herausgearbeitet habe, scheint mir aber zumindest gute Hinweise zu geben, was möglich ist. Es ist keine Blaupause, um so zu einer Zivilklausel zu gelangen. Ich wollte vor allem zeigen: die Organisation von Hochschule ist komplex, aber die Hinweise in diesem Fall können helfen, sich für die je eigene Hochschulsituation zu überlegen, was die vor Ort wichtigen Voraussetzungen sind. Und da gibt es schon so einige Dinge, die man Ratschlag gebend mit auf den Weg geben könnte.

W&F: Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen »Zivil-« und »Friedensklauseln«. Weshalb und worin liegen überhaupt die Unterschiede? Ist dies auch für die Praxis relevant?

Bornmüller: Nun, nicht nur sprachlich, sondern auch normensetzend macht dies deutliche Unterschiede – und wir können schon sehen, dass wir ein weites Spannungsfeld haben zwischen allgemeinen Friedensbekenntnissen, etwa in den Präambeln von universitären Grundordnungen, bis hin zu sehr spezifischen Formulierungen von Zivilklauseln mit konkreten Regelungen. Eher allgemeine Friedensklauseln benennen oft etwas sehr Richtiges – beispielsweise die Zielorientierung des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen –, aber sie benennen gleichzeitig nicht konkret, was dies nun bedeutet und ganz spezifisch, was dies für eine Universität und das Handeln ihrer Mitglieder bedeutet. Hier meine ich, dass eine Zivilklausel den Friedensklauselgedanken in sich trägt, aber eben eine sehr spezifische Formulierung findet, um diese Verpflichtung auch operationalisierbar, handhabbar und durchsetzbar zu machen. Das ist in Darmstadt sprach- und normensensibel sehr gut gelungen. Hier würde ich mir für die Zivilklausel-Initiativen auch wünschen, dass sie sich gezielt überlegen, was denn eine Formulierung ist, die diese Durchsetzbarkeit bietet, gerade mit Blick auf die Akteur*innen, die daran dann später zwangsläufig mit beteiligt sein werden.

W&F: Muss dann jede Zivilklausel auf jeden Kontext spezifisch anders formuliert werden? Oder gibt es schon »Mindestelemente«, die eine durchsetzbare Zivilklausel ausmachen?

Bornmüller: Ich habe mich da im Buch mit der Bewertung etwas zurückgehalten, aber wo Sie jetzt so direkt fragen: Ich glaube, die Darmstädter Zivilklausel ist in der Hinsicht eigentlich schon mustergültig. Gerade wenn Sie sich vor Augen führen, wie dort »Ziele« und »Zwecke« und deren Zusammenhang genau aufgeschlüsselt werden, und wie der Entscheidungsprozess vorausgedacht ist. Das bietet einen guten Orientierungsrahmen für das, was andere Zivilklauseln auch mitbringen müssten. Und weil die Darmstädter Klausel nicht zu konkret formuliert ist, bietet sie die richtige Balance zwischen notwendiger Allgemeinheit, so dass sie für viele Anwendungsfälle passt, und zugleich einer spezifischen Anwendbarkeit.

W&F: Sie schildern auch die Vorbedingungen an der TU Darmstadt. Dazu zählen Sie unter anderem die spezifische Historie der Darmstädter Verweigerungsformel, zentrale Persönlichkeiten unter den Professor*innen und die Institutionalisierung der Forschungsgruppe »IANUS«. Sind das Bedingungen, die der Zivilklausel eigentlich automatisch einen »Homerun« ermöglicht haben?

Bornmüller: Naja, ich würde sagen: sowohl als auch. Es hat sich schon herausgestellt, dass das nicht einfach so ein »Homerun« war, sondern dass der Prozess tatsächlich auch herausfordernd war. Aber es war insofern natürlich ein günstiger und ermöglichender Kontext, dass eben diese Akteure zu dieser Zeit da waren und dass es dieses Interesse gab. Wichtig war aber auch, dass es – obwohl das mit einer solchen Untersuchung nur schwer fassbar ist – diese »Universitäts- oder Organisationskultur« gab, die offenbar dazu beigetragen hat, dass man sich in den Gremien oder den Arbeitsgruppen offenbar sehr wertschätzend, konstruktiv, an der Sache interessiert und fair auseinandergesetzt hat. Es ist klar, dass das natürlich nicht ohne Widerstände, auch anfängliche Skepsis, vonstatten ging. Aber dass es dann doch im Interesse aller war, dieses Anliegen zur Sache aller zu machen, das hat schon auch etwas mit den Vorbedingungen in Darmstadt zu tun. Das sind natürlich Faktoren, die sich schwer steuern lassen – Stichwort Ratgeberliteratur: Das Umfeld, das die Instrumente einer Zivilklausel nicht nur ermöglicht, sondern auch fördert. Also man kann das auch ohne solche Förderung versuchen, aber wenn die Gremien sich im Kreis drehen oder die Leute, die in den Gremien sitzen, nicht willens sind, sich darauf einzulassen, dann sind Sie in einem solchen Umfeld fast schon zum Scheitern verurteilt. Darmstadt war hier einfach ein gut bereitetes Feld. Und ein bisschen Glück war auch dabei: Der Impuls für die Zivilklausel in Darmstadt kam in einer Zeit, in der die politische Welle der Zivilklausel-Prozesse von 2009-2010 gerade schon wieder am Abebben war – und dennoch hat man sich an der Universität zusammengesetzt und sich dem Prozess in Ruhe gewidmet. Selbst als der akute Druck weg war, galt immer noch die Entscheidung, „dass wenn wir es machen, dann machen wir es richtig“ – und dann ist man fünf Jahre am Ball geblieben.

W&F: Ich würde gerne nochmal auf diese Bedingungen eingehen. In Ihrem Buch lassen Sie viel die »konstruktiven« Parteien sprechen, wenn man einer solchen Einteilung folgen mag. Aber an zwei oder drei Stellen kommt eine Person zu Wort, die für die »radikale« Flanke der Studierendenschaft steht, die nochmal deutlich macht, was möglich sein könnte als Maximalforderung. Ist Ihres Erachtens eine radikale Flanke notwendig, um diesen Prozess für eine Zivilklausel überhaupt in Gang zu bringen?

Bornmüller: Auf jeden Fall. Und gerade auch immer wieder als Mahnung. Mir geht das auch nicht mehr aus dem Kopf: Durch meine Daten konnte ich den Fall Darmstadt so lesen, dass der Prozess durchgezogen wurde und jetzt dieses Verfahren existiert – Fall abgeschlossen. Aber ist die Zivilklausel jetzt akut in Darmstadt überhaupt noch ein Thema? Diese Studierende wies darauf hin, dass es eigentlich mal die Intention gab, dass immer wieder auch die Diskussion an der Hochschule geführt werden sollte, was diese Zivilklausel mit der Hochschule macht, wo und wie sie immer wieder neu herausgefordert ist. Dass also immer wieder ein Verständigungsprozess stattfinden soll über diese normative Verbindlichkeit, die man sich auferlegt hat – auch für einen selbstkritischen Blick, nach dem Motto: „Werden wir den an uns selbst gesetzten Ansprüchen eigentlich überhaupt noch gerecht?“ Und wenn wir daran Zweifel haben, woran liegt das?

W&F: Sehr beeindruckend für den*die Leser*in ist, dass da ein Prozess von über vier Jahren angegangen wird und durchgehalten wird. Wissen Sie etwas dazu, wie mit Frustrationen in diesem langen Prozess umgegangen wurde, um das überhaupt durchzuhalten? Das spricht ja schon dafür, dass es da zumindest ein gutes Frustrations- oder Stimmungsmanagement gegeben haben muss.

Bornmüller: Ja, also ich vermute, dass es ein gutes Frustrations- und Stimmungsmanagement gegeben haben muss – das kam auch in den Interviews immer wieder zwischen den Zeilen durch: Der einhellige Tenor war, nochmal Stichwort »Universitätskultur«, dass man sich auch über kontroverse, strittige Punkte hinweg in einem fairen Austausch verständigt hat und dass es Usus war, dass sich da alle Statusgruppen auf Augenhöhe über Sachthemen verständigt haben, es also diese Dialogkultur offenbar schon gab. Klar, dass es da auch mal hoch herging, aber nicht in einer Weise, dass die Gremien dann auseinandergeflogen sind. Man war sozusagen an der Sache dran und in der Sache hart, aber in einer Form, die immer noch beschlussorientiert war. Das ist schon etwas, das die von mir interviewten Akteure auch wertschätzen im Vergleich zu anderen Universitäten.

W&F: Ein nicht unerklecklicher Teil von Hochschulen hat schon Zivilklauseln. Gleichzeitig geraten diese oft in Vergessenheit – Sie schreiben, dass selbst an der TU Darmstadt eine einstmalige Formel vor Beginn dieses Prozesses schon wieder in Vergessenheit geraten war. Wenn die in Vergessenheit geraten, sind das alles zahnlose Tiger?

Bornmüller: Da kann ich jetzt auch keine so klare Antwort geben, wie es damit steht. Eher anekdotisch kann ich sagen, was ich im Freundeskreis zu hören bekam, als ich von dieser Forschung erzählt habe: „Zivilklausel, was ist das eigentlich?“ Es gab viele Leute im akademischen Kontext, die erst mal nicht wussten, was eine Zivilklausel ist. Und vielen war dann entsprechend nicht bekannt, dass es auch an ihrer Hochschule eine Zivilklausel gibt. Das spricht, glaube ich, für ein Problem: Mit der Einführung einer Zivilklausel, die dann irgendwo in der Grundordnung oder in einem anderen Dokument steht, kann die direkte Verwandlung in einen »Papiertiger« verbunden sein. Es ist dann eben keine »gelebte Zivilklausel«, wenn man so möchte. Ich bin mir da auch nicht sicher, ob – und das soll kein Angriff sein – die Zivilklausel-Initiativen da manchmal etwas zu kurz denken, was das beabsichtigte Ergebnis ihrer Initiative ist. Denn es reicht eben nicht, dass die Klausel in einer Grundordnung steht, die kaum einer liest. Das war in Darmstadt zumindest zwei, drei Schritte weitergedacht. Die wollten das gerne so einführen, dass es sichtbar ist und dass man um dieses Prüfverfahren nicht drum herumkommt. Also ja, natürlich sollte es noch viel mehr Zivilklauseln geben an Hochschulen, wo es noch keine gibt. Aber gerade auch an Hochschulen, die sich bereits eine Zivilklausel gegeben haben, da sollte in den Bemühungen nicht nachgelassen werden – auch von den Initiativen, damit Zivilklauseln eben nicht zu Papiertigern werden.

W&F: Sie weigern sich zwar so ein bisschen, das jetzt als Blaupause zu verstehen, aber mich würde schon interessieren: Was wären denn die zentralen Impulse aus Ihrer Forschung, die die heutige Zivilklauselbewegung, so wie sie jetzt existiert, mindestens mitnehmen müsste, um effektiver zu sein?

Bornmüller: Ja, schwierig. Also zunächst einmal, dass eine Zivilklausel elaboriert genug und vor allem verfahrensorientiert sein sollte, so dass damit eben auch die Wirksamkeit zumindest grundsätzlich möglich ist. Zweitens, dass es – und das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt – eine hochschulinterne oder universitätsweite Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt. Also dass die Diskussion darüber wirklich wachgehalten wird.

W&F: …beispielsweise durch solche Hearings, wie in Darmstadt…

Bornmüller: …ja, genau. Ich konnte das jetzt im Nachhinein nicht mehr eruieren, wie viele Interessierte dann tatsächlich an diesen Hearings teilgenommen haben. Aber zumindest gab es dieses öffentliche Format und alle waren herzlich eingeladen zu kommen, ihre Meinung zu äußern, Vorschläge zu machen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, und in Darmstadt wurde es so gemacht. Das gilt dann aber natürlich auch für später, wenn die Zivilklausel verabschiedet ist: Diese muss eigentlich viel mehr im Diskurs sein, die Hochschule sollte sich auch ständig ein bisschen daran reiben, um sich sozusagen immer wieder selber zu kitzeln.

Und ein dritter Punkt ist – auch auf die Gefahr hin, jetzt in so einen Ratgebersprech zu verfallen – tatsächlich, dass bei allen Akteur*innen eine gewisse Sensibilität da sein muss für alles das, was in diesem Prozess eine Rolle spielt: Sich zu überlegen, was heißt es, sich eine solche normative Verbindlichkeit aufzuerlegen? Was heißt es, inhaltlich und strukturell bei der Planung und Durchführung von Forschungsprojekten, bei der Antragstellung für Drittmittel eine Zivilklausel berücksichtigen zu müssen? Und was heißt das mit Blick auf die spezifische Situation an der Hochschule, an der man so etwas umsetzen möchte?

W&F: Was würden Sie denn jetzt knapp zehn Jahre nach der Einführung sagen: Hat die Zivilklausel dazu geführt, die TU Darmstadt wirklich aktiv zu entmilitarisieren und zivil zu gestalten?

Bornmüller: Da kann ich keine entschiedene Antwort geben. An einer Stelle am Ende der Studie schreibe ich, dass es schon eine bemerkenswerte Tatsache ist, dass die Zahl der Fälle, über die die Ethikkommission entscheidet, wirklich im einstelligen Bereich liegt. Da ist dann die Frage: Hat die Zivilklausel zu einer Entmilitarisierung geführt? Ist es tatsächlich angekommen und universitätsweit so Konsens, dass niemand überhaupt auf die Idee kommt, ein Forschungsprojekt anzugehen, das mit der Zivilklausel nicht konform ist? Das wäre eine Schlussfolgerung, die man daraus ziehen könnte.

Eine andere wäre aber – und auch darauf brachte mich die »radikale« Stimme – dass wir auch sehen müssen, dass es zum Beispiel Fraunhofer-Institute als eine Art »An-Institute« gibt. Und die fallen formal nicht unter die Darmstädter Zivilklausel. Ich kann mir gut vorstellen, dass eventuell das eine oder andere – zumindest mit Blick auf die für die Zivilklausel relevanten Dimensionen kritisch zu bewertende – Projekt dann eher mal an ein Fraunhofer-Institut ausgelagert wird. Formell würde dann an der TU diese Art von Forschung, die mit der Zivilklausel nicht vereinbar ist, nicht stattfinden, aber sie würde eben trotzdem an der TU stattfinden, weil das Fraunhofer-Institut eng angebunden ist. Vor diesem Hintergrund wären da zumindest leise Zweifel angebracht, ob diese Entmilitarisierung tatsächlich so durchgängig erfolgreich war.

Nochmal eine ganz andere Möglichkeit wäre, dass es auch schon vor Einführung der Zivilklausel eigentlich gar keine kontro­versen Forschungsprojekte gab, die dann mit der eingeführten Zivilklausel als militärische oder kriegsförderliche Forschung hätten angesehen werden können. Es könnte auch sein, dass die TU Darmstadt schon vorher eine ziemlich zivile und entmilitarisierte Hochschule war. Das wäre vielleicht mal eine eigene Untersuchung wert.

Am Ende bleibt, dass an der TU Darmstadt – ich würde schon sagen: einigermaßen vorbildlich – eine Zivilklausel eingeführt wurde. Die Akteur*innen vor Ort haben gezeigt, wie das gehen kann, haben sich Gedanken gemacht, mit langem Atem und mit institutionellem Verständnis. Dennoch sollte man nicht immer das Maximum von einer Zivilklausel-Einführung erwarten. Wenn am Ende im Großen und Ganzen eine zivile Hochschule steht, in der über dieses Thema gesprochen wird, ist das schon mal gut. Und vielleicht lässt sich mit dieser Perspektive konstruktiver arbeiten als mit der strengen Frage danach, ob eine Hochschule nun wirklich absolut nichts mehr tut, was möglicherweise militärisch relevant sein könnte.

Falk Bornmüller ist als Referent für Lehrerbildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig und forscht u.a. zu Themen der Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftspolitik.

Bild von Buch

Falk Bornmüller (2023): Zivile Wissenschaft. Theorie und Praxis von Friedens- und Zivilklauseln an deutschen Hochschulen. Bielefeld: transcript, ISBN: 978-3-8376-6477-5, 134 S., 45 €.

Innergesellschaftliche Konflikte

Innergesellschaftliche Konflikte

Versuch einer systematischen Skizze

von Lotta Mayer

Konflikte in einer Gesellschaft zu thematisieren, kann oberflächlich schnell geschehen – doch was bedeutet es, sich dieser Frage systematisch zu widmen? Welches Wissen der Friedens- und Konfliktforschung kann helfen, den Blick »nach innen« zu wenden und dabei nicht rein selektiv und eklektisch zu arbeiten? Der Beitrag versucht eine Ordnung entlang verschiedener Typologien, um ein systematisches Fragen nach innergesellschaftlichen Konflikten zu erleichtern.

Deutschland und Konflikt. Konflikte in Deutschland. Der Einfluss von Konflikten in Deutschland auf Konflikte in anderen Ländern und vice versa. Ganz zu schweigen von: Die Wahrnehmung(en) von Konflikten anderswo in Deutschland. Die Wahrnehmung von Konflikten in Deutschland in der Öffentlichkeit anderer Länder. Und all das: Gegenwärtig. Historisch (wie weit zurück?). Zukünftig. Direkt. Indirekt. Für verschiedene Typen, Verlaufsformen, Phasen, Aspekte von Konflikten. Und was überhaupt heißt hier »Deutschland« – »Der Staat«? Oder »die Gesellschaft«? Und wer wiederum ist das, wenn man die Fiktionen eines unitarischen Staates und einer homogenen Gesellschaft aufgibt?

Schon dieser kurze Abriss, mehr semantische Spielerei als Analyse, zeigt, wie komplex das Thema ist, das »Wissenschaft und Frieden« sich in der vorliegenden Ausgabe vorgenommen hat. Dies gilt selbst dann, wenn der Schwerpunkt klar auf innergesellschaftlichen Konflikten in Deutschland liegt und die übrigen Bezüge nur kursorisch hergestellt werden. Dies impliziert, dass die Beiträge notwendigerweise nur ausgewählte Konflikte und Aspekte herausgreifen können – eine systematische Erfassung ergäbe ein dickes Handbuch, keinen Zeitschriftenband. Der vorliegende Beitrag will daher versuchen, den umfassenden und systematischen Zusammenhang zu skizzieren, in den sich die Beiträge der Ausgabe einordnen lassen. Typologisierende Ansätze mögen zwar etwas sperrig und bei knapper Darstellung auch nicht übermäßig angenehm zu lesen sein, aber sie ermöglichen es, begrifflich präzise zu fassen, worüber man überhaupt redet, bevor man in die tiefergehende Analyse einsteigt.

Dies bedeutet, die breite Frage nach den möglichen Verbindungen zwischen »Deutschland« und »Konflikt« ins Zentrum zu stellen, auch wenn sie nur in ganz groben Zügen beantwortet werden kann. Dazu eignen sich weniger Konflikttheorien, da diese entweder auf bestimmte Formen von Konflikten oder bestimmte Aspekte einer Analyse fokussieren, als vielmehr Typologien. Dabei bedarf es der Kombination von Konflikttypologien einerseits und Typologien unterschiedlicher Rollen von Akteur:innen in Konflikten andererseits. Dies ermöglicht es, die großen Linien möglicher Verbindungen dennoch mit einer gewissen Differenziertheit zu ziehen und dabei wenigstens Anschlussmöglichkeiten für einige der zahlreichen Fragen aufzuzeigen, die unbehandelt bleiben müssen.

Was heißt hier Konflikte?

Konflikte können grob verstanden werden als von den Trägergruppen als unvereinbar interpretierte Bedeutungskonstruktionen in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand, die im Handeln und in der Interaktion miteinander ausgetragen werden (Mayer 2019, S. 141ff.). Hier lassen sich verschiedene Arten von »Typologien« unterscheiden. Die im Folgenden herangezogenen Typologien beschränken sich dabei allesamt erstens auf Konflikte, die als Meso- oder Makrokonflikte bezeichnet werden können, d.h. sich zwischen sozialen Gruppen bzw. sozialen und politischen Entitäten vollziehen. Zweitens soll es nur um Konflikte gehen, die als »politisch« in einem breiten Sinn bzw. als »soziale Konflikte« im Sinne von »gesellschaftlich« bezeichnet werden können, d.h. bei denen es um Fragen nach der allgemeinverbindlichen Regelung des Zusammenlebens geht. Dies umfasst Fragen nach der Gestaltung des politischen Institutionensystems, Fragen nach durch formelle oder informelle Normen geregelten Gruppenverhältnissen (etwa: Geschlechterbeziehungen) oder auch Verteilungsfragen. Drittens soll der Begriff des Konflikts auf die direkte Auseinandersetzung zwischen Kollektiven beschränkt sein; indirekte Verhältnisse wie Konkurrenz bleiben außen vor.

Wer handelt und wo?

Eine zentrale Frage bei der Behandlung innerstaatlicher Konflikte1 ist, wer handelt und wo. Diese Unterscheidung verbindet die grundlegenden Akteursmerkmale der Konfliktparteien (Staat vs. nichtstaatliche:r Akteur:in) mit dem relationalen Aspekt des »wer gegen wen«, d.h. der Konstellation der Konfliktparteien, und bezieht dabei auch den Aspekt der Territorialität als konstitutiv für die Unterscheidung transnationaler Konflikte mit ein. Dabei ist sowohl einerseits die Verortung der Konfliktparteien selbst als auch der Ort ihres jeweiligen Handelns differenziert zu betrachten. Denn lässt es sich mit Sicherheit ausschließen, dass der Konfliktaustrag zweier Konfliktparteien auf einem dritten Territorium nicht doch letztendlich ein innergesellschaftlicher Konflikt ist? Ein Beispiel dafür könnten Auseinandersetzungen über kulturpolitische Veranstaltungen zwischen verschiedenen Gruppen einer Diaspora in dritten Staaten sein.

Eine weitere Differenzierung innerstaatlicher und transnationaler Konflikte ergibt sich daraus, ob in ihnen jeweils ein oder mehrere nichtstaatliche Akteur:innen dem Staat als gegnerische Konfliktparteien gegenüberstehen (klassische innerstaatliche Konflikte) oder aber mehrere nichtstaatliche Akteur:innen miteinander in Konflikt stehen (»nichtstaatliche Konflikte« – vgl. u.a. HIIK 2003, S. 8; Sundberg et al. 2012). Ebenso ist zu fragen, ob − idealtypisch gesprochen − die nichtstaatlichen Konfliktparteien gänzlich unabhängig agieren oder proxies eines Staates sind. Dies gilt nicht nur bei Konflikten, die auf den ersten Blick der klassischen Konstellation »Rebellengruppe gegen ›ihren‹ Staat« zu entsprechen scheinen, sondern auch da, wo eine nichtstaatliche Gruppe durch »Selbstverteidigungsmilizen« oder andere paramilitärische Gruppen bekämpft wird.

Quer dazu steht eine Unterscheidung, die ebenfalls den Blick auf die Konfliktparteien und deren Konstellation richtet (und üblicherweise nur für kriegerische Konflikte vorgenommen wird, aber problemlos allgemein auf Konflikte übertragbar ist): die zwischen dyadischen Konflikten, d.h. Konflikten, die der alltagsweltlichen Vorstellung zweier gegnerischer Parteien entsprechen, und multi-party conflicts (wegweisend Gochman und Maoz 1984). In dem Moment, in dem sich drei Konfliktparteien gegenüberstehen, sind andere Konstellationsstrukturen möglich als die klassisch-dyadische: Ganz so, wie für den konflikttheoretisch wegweisenden Soziologen Georg Simmel die Gesellschaft erst mit dem Dritten anfängt (vgl. Simmel 1992, S. 117ff.), wird es konfliktsoziologisch mit der Anwesenheit einer dritten Konfliktpartei (zu Dritten in anderen Rollen siehe unten , S. 9) erst richtig spannend.

Triadische Konstellationen sind dabei nur der Beginn der möglichen Komplexität. Je mehr Konfliktparteien involviert sind, desto komplexere Konstellationen und desto häufigere, dynamischere Positionswechsel von Konfliktparteien sind möglich, bis hin zum Hobbes’schen »all against all«.

Mit Blick auf die Charakteristika der Konfliktparteien selbst ist der Autorin kein Versuch einer systematischen Typologie bekannt; daher sei hier auf eine Reihe von (idealtypischen) Unterscheidungsmerkmalen verwiesen, die in der Konfliktforschung und/oder soziologischen Charakterisierungen sozialer Gruppen vorgenommen werden (vgl. Tabelle 1, S. 8). Dabei ist zu betonen, dass auch Akteur:innen, die als »staatlich«, »organisiert« oder »homogen« charakterisiert sind, allenfalls zu heuristischen Zwecken, aber nicht ihrem »Wesen« nach, als unitarisch begriffen werden dürfen. Auch »der Staat« als Akteur ist ein komplexes Gefüge aus Organisationen, die wiederum je intern nicht unitarisch sind − und in denen keineswegs nur formal gesetzte Regeln handlungsleitend sind. Kombiniert man diese Unterscheidungen und füllt sie inhaltlich, so erhält man so unterschiedliche Akteurstypen wie »politische Parteien«, »Sicherheitsbehörden«, »soziale Bewegungen«, »terroristische Gruppen« oder »Rebellenarmeen«.

Tabelle 1: Nicht abschließende Sammlung idealtypischer Charakteristika von Konfliktparteien

staatlich

vs.

nichtstaatlich

organisiert

vs.

unorganisiert

formal

vs.

informell

hierarchisch

vs.

nicht-hierarchisch

hinsichtlich des Verhältnisses ihrer Mitglieder bzw. organisationalen Subeinheiten zueinander

homogen

vs.

heterogen

hinsichtlich ihrer personellen Zusammensetzung

stabil

vs.

fluide

in ihrer inneren und/oder äußeren Form einerseits, hinsichtlich ihrer Mitglieder andererseits

scharf nach außen ­abgegrenzt

vs.

nach außen offen

»partikularistisch«

vs.

»universalistisch«

hinsichtlich ihrer Rekrutierung, vgl. Parsons’ »pattern variables« (Parsons 1951, insbes. S. 143)

Kleingruppe

vs.

Großgruppe

»Vergemeinschaftung«

vs.

»Vergesellschaftung«

im Sinne Max Webers
(d.h. grob gesagt: emotionale und wertbasierte Verbindungen zwischen den Gruppenmitgliedern vs. rein interessenbasierter Zusammenschluss)

klandestin

vs.

offen agierend

bewaffnet

vs.

nicht bewaffnet

Quelle: Eigene Darstellung der Autorin.

Themen, Gegenstände und »cleavages«

Quer zu all den bisher gemachten Unterscheidungen steht die Klassifikation danach, worum es eigentlich geht in Konflikten − worüber bzw. weshalb Konfliktparteien sich streiten. Auf der konkretesten bzw. oberflächlichsten Ebene richtet sich der Blick damit auf die Themen, um die die diskursive Auseinandersetzung der Konfliktparteien kreist bzw. die Gegenstände, auf die sich ihre Aneignungs- oder Kontrollversuche fokussieren. Hier bedarf es zum einen der klassifizierenden Abstraktion im Sinne von »Typologien der Konfliktgegenstände« und zum anderen des Blicks auf tieferliegende Konfliktlinien oder »cleavages«. Konfliktthemen und -gegenstände müssen letztlich als arbiträrer und entsprechend oft wechselnder Ausdruck dieser »cleavages« verstanden werden (zu letzterem Blumer 1988, S. 243). Einen Überblick über aus der Theorie bekannte Typologisierungen bietet Tabelle 2.

Tabelle 2: Konfliktgegenstände nach dem HIIK

1

»internationale Macht«, »nationale Macht« und »regionale Vorherrschaft«, d.h. Machtkonflikte in zwischenstaatlichen, »klassisch« innerstaatlichen und »nicht-staatlichen« Konflikten

2

Autonomie und Sezession, d.h. Konflikte um Selbstbestimmung (innerstaatlich)

3

System/Ideologie, d.h. Konflikte um Glaubensfragen oder die Ausrichtung des politischen Systems

4

Konflikte um (Sicherung von, Zugang zu) materielle Ressourcen

Dabei können Gegenstände auch in Verbindung miteinander auftreten − etwa ein Konflikt um nationale Macht, der verbunden ist mit der Auseinandersetzung um die Gestaltung des politischen Systems, oder ein Autonomiekonflikt mit Ressourcendimension.

Quelle: Systematisierung der HIIK-Methodologie für das Konfliktbarometer (HIIK 2023) durch die Autorin.

Diese Gegenstände lassen sich zumindest idealtypisch in die deutlich abstraktere Unterscheidung von Alfred O. Hirschman (1994) einordnen, der »teilbare« und »unteilbare« Konfliktgegenstände unterscheidet. Entlang dieser Differenz lassen sich, so Hirschman, (vereinfacht gesagt) »Interessenkonflikte« einerseits und sehr grundsätzliche Konflikte wie etwa Wertkonflikte unterscheiden. Sie unterscheiden sich in Eskalationsanfälligkeit und Lösbarkeit: Wertkonflikte neigen viel stärker zu einem konfrontativen, vielleicht auch gewaltsamen Austrag als Interessenkonflikte, da nur letztere kompromissförmig lösbar sind.

Derart bildet Hirschmans Unterscheidung schon einen Kern einer Theorie von Konflikt in modernen Gesellschaften. Die Verbindung zwischen einer Klassifikation von Konfliktgegenständen und einer Konflikt(ursachen)theorie wird am deutlichsten in der Unterscheidung sozialer »cleavages« oder Konfliktlinien, die die Wahlforscher Martin Seymour Lipset und Stein Rokkan (1967) entwickelten (siehe Tabelle 3). Wenn diese Trennlinien politisiert werden, werden sie zu genuinen Konfliktlinien (Kriesi et al. 1995). Die Eskalationsanfälligkeit dieser Konflikte hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Trennlinien »cross-cutting« oder kongruent sind, d.h. in welchem Maß sich hier verfestigte Lager ausbilden, die themen- und gesellschaftsbereichsunabhängig immer mehr trennt als vereint, oder ob die Trennlinien nur situativ relevant werden (vgl. Coser 1956, S. 78ff.).

Tabelle 3: Gesellschaftliche »Cleavages«

traditionell

Arbeit vs. Kapital (Marx)

Zentrum und Peripherie

Kirche und Staat

Stadt und Land

aktuell

»Materialisten vs. »Postmaterialisten«

»Somewheres« vs. »Anywheres«

Quelle: Zusammenstellung der Autorin nach Lipset und Rokkan (1967), Inglehard (1977) und Goodhard (2017)

Was wissen wir zu Konfliktaustrag und -verlauf?

Die wichtigste typologische Unterscheidung, die auf Prozessmerkmale abhebt und dabei hinreichend abstrakt zur Charakterisierung unterschiedlichster Konfliktformen ist, zielt auf die Frage der Gewaltsamkeit des Austrags (im Sinne einer engen, »physischen« Gewaltdefinition). Gewaltsame und nichtgewaltsame Handlungen bestehen zumeist nebeneinanderher bzw. in komplexer Verbindung miteinander. »Gewaltsamer Austrag« bedeutet nicht, dass nur gewaltsame Handlungen stattfinden (vielmehr wird gerade in Kriegen häufig zeitgleich gekämpft und verhandelt); und grundsätzlicher sind die nichtgewaltsamen Konflikte nicht zwingend konfrontativer Natur (etwa: Druck, Drohungen, Einschüchterung). Vielmehr können Konflikte sogar vollständig kooperativ im Sinne der gemeinsamen Suche nach einer Lösung oder wenigstens einem guten Umgang mit der Differenz ausgetragen werden (Mayer 2019, S. 195ff.).

Auf dieser Basis lassen sich dann zum einen unterschiedliche Intensitäten der Gewaltanwendung unterscheiden: Hier werden üblicherweise Kriege von in geringerem Maße gewaltsamen Konflikten unterschieden, wobei die präzisen Definitionen bzw. Operationalisierungen erheblich variieren.2 Teilweise werden dabei noch Unterscheidungen danach vorgenommen, ob in einem (dyadisch gedachten) Konflikt beide Seiten Gewalt anwenden oder nur eine (»one-sided violence«, Eck und Hultmann 2007). Die im Bereich der quantitativ orientierten Konfliktforschung wohl präziseste Unterscheidung bietet hier das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) (Schwank et al. 2016), das zwischen nur sporadisch gewaltsamen und hochgewaltsamen Konflikten unterscheidet und letztere in begrenzte Kriege und Kriege differenziert.

Bringt man die oben skizzierten strukturellen mit diesen prozessorientierten Unterscheidungen zusammen, ermöglicht dies nicht nur eine multidimensionale und temporalisierte Charakterisierung konkreter Konflikte (und potentiell auch eine anspruchsvollere, inhaltlich gesättigte Typologie). Sie erlaubt auch, systematisch nach dem Zusammenhang zwischen strukturellen Merkmalen, wie den Eigenschaften und Konstellationen von Konfliktparteien, und prozessualen Merkmalen des Konflik­taustrags und -verlaufs zu fragen − und zwar über die bisher bekannten Erkenntnisse hinaus, die immer nur auf eine strukturelle Dimension bezogen sind (beispielsweise eine höhere Eskalationsneigung von Konflikten um unteilbare Gegenstände oder innerstaatlicher im Vergleich zu zwischenstaatlichen Konflikten, vgl. u.a. Schwank 2012, Hasenclever 2002).

Rollen im Konflikt

Um die Frage nach der Involviertheit »Deutschlands in Konflikte« differenziert beantworten zu können, ist es nun noch ebenso erforderlich, verschiedene idealtypische Rollen von Akteur:innen im Kontext von Konflikten zu unterscheiden. Konstitutiv für Konflikte sind dabei (nur) die Konfliktparteien. An Konflikten beteiligt können aber zahlreiche andere Akteur:innen als verschiedenste Dritte in unterschiedlichen Dritten-Rollen sein, insbesondere Unterstützer:innen und Sympathisant:innen, Mediator:innen bzw. Intervenierende und Beobachter:innen (vgl. Mayer 2019, S. 160ff.). Im Kern dieser Unterscheidung stehen analytisch betrachtet zwei Achsen der Differenz, die üblicherweise implizit bleiben: zum einen und zentral der Grad der Involviertheit, zum anderen mit präzisierender Funktion die Parteilichkeit oder Unparteilichkeit bzw. die Art des Interesses am Konfliktgegenstand. Die Frage nach den Rollen, die konkrete Akteur:innen in bestimmten Konflikten einnehmen, steht quer zu den struktur- und prozessbezogenen Charakteristika von Konflikten.

Wenn etwa das Überlagern von Konfliktgegenständen und cleavages mit Rollen von Akteur:innen systematisch betrachtet wird, wird ersichtlich, dass zwischen den verschiedenen Konflikten, in die der deutsche Staat oder deutsche Akteur:innen in unterschiedlichsten Rollen involviert sind, einerseits und eben diesen Rollen andererseits Zusammenhänge bestehen können. Hiernach wäre ebenfalls systematisch zu fragen: Resultieren etwa aus Konflikten, die »Deutschland« − sei es als Kolonialstaat, sei es als Profiteur ungleicher terms of trade, etc. – strukturell mitverursacht hat, Externalitäten für »Deutschland« (wie etwa: Fluchtbewegungen), die wiederum einerseits intervenierendes Handeln »Deutschlands« (etwa: humanitäre Hilfe) und andererseits Konflikte innerhalb Deutschlands (weil Teile der Gesellschaft und einige politische Parteien Geflohene als negative Externalität definieren) sowie bzw. daraus wiederum Konflikte mit anderen Staaten (etwa: um die Verteilung von Geflohenen in der EU)? Derart wird wiederum ersichtlich, weshalb die ganz enge Frage nach innerstaatlichen Konflikten in Deutschland eines breiten Fokus auf der Grundlage systematischer typologischer Unterscheidungen bedarf: Nur so kommen die genannten Zusammenhänge in den Blick, und nur so wird die Analyse eine umfassende statt einer unbewusst selektiven, die entsprechend riskiert, zu systematisch verzerrten Resultaten zu gelangen.

Innerdeutsche Konflikte

Die oben vorgenommenen Unterscheidungen erlauben es, einen einigermaßen systematischen Blick auf Konflikte in Deutschland zu werfen, der über eine rein assoziative Zusammenstellung hinausgeht, ohne gleich das (über-)ehrgeizige Ziel einer vollständigen Erfassung zu verfolgen. Die große Vielfalt der möglichen Konfliktparteien einerseits in Verbindung mit der oben getroffenen Einschränkung auf politische bzw. gesellschaftliche Konflikte andererseits legt es nahe, für diese Zusammenstellung gesellschaftliche cleavages ins Zentrum zu stellen. Schließlich sind sie per definitionem Differenzen, die geeignet sind, dass aus ihnen relativ persistente und für größere Bevölkerungsteile relevante Konflikte erwachsen.

Angesichts der offenen Frage, inwiefern die »alten« cleavages noch relevant sind und welche neuen gegebenenfalls zu beachten wären (vgl. Tabelle 3), empfiehlt es sich nach Ansicht der Autorin, statt von den in der Debatte üblicherweise verhandelten Linien in einem ersten Schritt von den in der soziologischen Sozialstruktur- bzw. Ungleichheitsforschung etablierten Unterscheidungsstrukturen sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Schichtung auszugehen. Dies sind Alter; Geschlecht (auch als non-binäre Kategorie); sexuelle Orientierung; Stadt vs. Land; Religion bzw. Konfession; Migrationshintergrund sowie die Unterscheidung in sozio-ökonomische Klassen oder Schichten in Abhängigkeit von Vermögen bzw. Kapital, Einkommen und Bildungsgrad oder der Unterscheidung verschiedener Milieus oder Lebensstile.3 An letztere lässt sich − nicht in enger Kopplung, aber doch im Sinne von Affinitäten − die Frage nach der politischen Orientierung anschließen, die wiederum in derselben Weise mit der Positionierung zu jeweils konkreten politisch und gesellschaftlich mehr oder weniger umstrittenen Themen einhergeht.

Davon ausgehend lässt sich dann zum einen in einer Art Bestandsaufnahme fragen, welche cleavages denn aktuell als Themen Gegenstand öffentlich ausgetragener innerdeutscher Konflikte sind, zwischen welchen Akteur:innen (Individuen, Gruppen, Organisationen) sie kontrovers verhandelt bzw. gar gewaltsam ausgetragen werden. Die derzeit gesellschaftlich, teils auch politisch wohl am erhitztesten diskutierten Themen betreffen insbesondere Migration (zum einen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und solchen ohne, was sich sowohl in so abstrakten Themen wie Debatten um das Staatsbürgerschaftsrecht als auch in konkreten Themen wie etwa dem der »Clankriminalität« manifestiert (siehe dazu den Beitrag von Dreher und Henschel), zum anderen hinsichtlich der »Steuerung« von künftiger Migration nach Deutschland), Geschlecht (sowohl hinsichtlich des »klassischen« Themas der Gleichberechtigung von Mann und Frau als auch hinsichtlich der Akzeptanz von non-binären, inter- oder transsexuellen Menschen), und nach der vollen Gleichberechtigung von nicht-heterosexuellen Menschen insbesondere bei reproduktiven Rechten (siehe dazu den Beitrag von Mientus). Bei diesen Themen sind die Kontrahent:inn en häufig relativ deckungsgleich, sodass hier die Frage gestellt werden kann, ob sich eine Achse der Polarisierung identifizieren lässt (vgl. den Beitrag von Richter und Salheiser).

Zum anderen lässt sich fragen, welche Themen dies eigentlich sein sollten, und wieso sie es eben gerade nicht sind. »Latente« Konflikte zeichnen sich schließlich gerade dadurch aus, dass sie öffentlich eben nicht prominent verhandelt werden. Konflikt- und vielleicht auch gesellschaftstheoretisch ist das umso spannender, je stärker aufgrund der strukturellen Gegebenheiten zu erwarten wäre, dass die fraglichen Themen tatsächlich offene Konflikte konstituieren. Insofern ist es beispielsweise bemerkenswert, dass die in Deutschland im OECD-Vergleich eher große Einkommens- und insbesondere Vermögensungleichheit zwar durchaus wissenschaftlich und auch in den Qualitätsmedien behandelt wird, aber nicht dazu führt, dass bislang die cleavage zwischen Vermögenden und Nicht-Vermögenden (v.a. kapitallosen Werkstätigen) zur Mobilisierungslinie und wichtigen Konfliktlinie würde – wohl nicht zuletzt aufgrund der öffentlichen Unterschätzung des tatsächlichen Ausmaßes an Ungleichheit (vgl. Busemeyer et al. 2023). Jenseits von Tarifkonflikten und der gelegentlich aufflammenden Debatte über Vermögens- und Erbschaftssteuern bleibt das Thema weitgehend latent, erst recht in seiner ganz grundsätzlichen Dimension der Frage nach dem Verhältnis von Staat, Markt und Gesellschaft. Zudem positionieren sich in diesen Auseinandersetzungen auffällig viele Menschen nicht entsprechend ihrer »objektiven» ökonomischen Interessen (vgl. u.a. Beckert 2017).

Bei diesen Konflikten stellt sich dann die Frage, welche Rolle (Konfliktpartei? Unterstützer? Mediator? Beobachter? Unwissender?) dabei »der Staat« oder vielmehr welche staatlichen Instanzen (im Gröbsten: Exekutive, Judikative und Legislative) spielen, und zwar gegebenenfalls in ihrer Veränderung im Zeitverlauf − und welche Dynamiken wiederum daraus erwachsen sowohl innerhalb des jeweiligen Konflikts als auch hinsichtlich von Auswirkungen auf andere bestehende Konflikte und soziale Akteur:innen sowie auf die Entstehung neuer Konflikte und Konfliktparteien. Das resultierende Gesamtbild dürfte nicht nur hochkomplex, sondern durchaus auch sehr widersprüchlich sein.

Anmerkungen

1) Der Terminus »innerstaatlich« meint dabei im Kern dasselbe wie der »innergesellschaftlich«, wobei jedoch ersterer den Vorzug der klaren Abgrenzung hat – was »eine Gesellschaft« sei und wo ihre Grenzen verlaufen, ist schließlich sowohl theoretisch als auch empirisch deutlich schwieriger zu beantworten als die Frage danach, was ein Staat ist und wo dessen Grenzen seien. Da derart die Abgrenzung von innerstaatlich und transnational erheblich erschwert ist, wird im Folgenden von »innerstaatlichen« Konflikten die Rede sein.

2) Idealtypisch stehen sich hier beispielsweise die 1.000 dem Kampf zuordenbaren Toten des »Correlates of War Project« (vgl. Reid Sarkees 2010) und komplexere Definitionen wie das des HIIK (Schwank et al. 2016, S. 6ff) gegenüber.

3) Hier wäre zu beachten, dass diese teils als Alternative zu Klassen- oder Schichtkonzepten konstruiert und teils systematisch mit ihnen in Verbindung gebracht werden.

Literatur

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Busemeyer, M. R., et al. (2023): Eingetrübte Aussichten: Das Konstanzer Ungleichheitsbarometer belegt die Wahrnehmung zunehmender Ungleichheit. Policy Paper Nr. 12, Konstanz, Exzellenzcluster »The Politics of Inequality«.

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Mayer, Lotta (2019): Konfliktdynamiken – Kriegsdynamiken. Zur Konstitution und Eskalation innergesellschaftlicher Konflikte. Bielefeld: transcript.

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Sundberg, R. et al. (2012): Introducing the UCDP Non-State Conflict Dataset. Journal of Peace Research 49(2), S. 351-362.

Lotta Mayer ist Nachwuchsgruppenleiterin am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg und wissenschaftliche Referentin im Arbeitsbereich Frieden der FEST Heidelberg. In ihrer 2019 bei transcript erschienen Dissertation »Konfliktdynamiken – Kriegsdynamiken« entwickelte sie eine interaktionistische Theorie der Konstitution und Eskalation innergesellschaftlicher Konflikte.

Konflikt – und was hat das mit uns zu tun?

Konflikt – und was hat das mit uns zu tun?

Mit der öffentlichkeitswirksamen Verhaftung von vermutlichen Rechtsterrorist*­innen aus dem Reichsbürger*innenspek­trum rückte erst vor wenigen Monaten ein Konflikt in Deutschland um die Legitimität der politischen Ordnung wieder mit einem Paukenschlag ins »Licht der Öffentlichkeit«. Mit einem Großaufgebot der Polizei wurden Liegenschaften durchsucht und prominente Festnahmen sickerten schnell durch. Doch wo einerseits die juristischen Aufarbeitungen zunächst abseits der Öffentlichkeit stattfinden und andererseits die öffentliche Neugierde sich im Wesentlichen auf die emotionalen Personenstories der Verhafteten oder die konkreten Vorbereitungspläne erstreckte, gerieten die darin liegenden gesamtgesellschaftlich relevanten Konfliktlinien, vor allem um die empfundene Legitimität der politischen Ordnung, schnell wieder aus dem Fokus.

Ganz ähnlich tendiert auch die deutschsprachige Friedens- und Konfliktforschung im Gros dazu, diesen Konflikten weniger Aufmerksamkeit zu schenken und sich vor allem innergesellschaftlichen Konflikten außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu widmen. Dies betrifft auch uns bei W&F – thematisierten wir doch vor fast zehn Jahren zuletzt Konfliktlagen im »Globalen Norden« (Heft 1/2014).

Mit diesem Heft richten wir daher einen kritischen, wenn auch notwendig unabgeschlossenen Blick auf die vielschichtigen Konfliktlagen in unserer eigenen Gesellschaft. Dies soll keineswegs bedeuten, dass sich durch das Studieren dritter Kontexte kein wertvolles Wissen für Konflikttransformationen hierzulande erhalten ließe. Aber es ist notwendig, den Blick auch nach »innen« zu wenden. Die Relevanz zeigt das Konfliktbarometer 2022 des HIIK (vgl. S. 38ff.), das jährlich Staaten in Bezug auf ihre politischen Konflikte untersucht. Es ordnet Deutschland immerhin mit der Intensität »3« ein – von insgesamt »5« Formen von »gewaltsamen Krisen«. Klar wird mit dieser Perspektive, dass Ausbrüche von Gewalt in Deutschland keine Einzelfälle sind, sondern vielmehr frühzeitig als Konfliktlagen in der Gesellschaft anerkannt, bearbeitet und transformiert werden müss(t)en.

Eine der wenigen konfliktwissenschaftlichen Betrachtungen, die das Geschehen hierzulande in den Blick nehmen, sind die sogenannten »Mitte-Studien« der Friedrich-Ebert-Stiftung. Diese untersuchen die demokratiegefährdenden Einstellungen in der deutschen Bevölkerung und heben hervor, dass sich rechtspopulistische Einstellungen in den letzten Jahren verfestigt haben sowie in der Mitte angekommen sind. Die Gefahr einer diskursiven Normalisierung und Homogenisierung von nationalistischen und menschenfeindlichen Positionen in der Gesellschaft ist darin klar benannt.

Die Herausforderung mit der Beschäftigung mit Konflikten in der Gesellschaft ist die augenscheinliche Latenz vieler Konflikte, ihr vermeintliches »Unter-der-Oberfläche-treiben«. Immer wieder, wie im obigen Fall der Rechtsterrorist*innen, richtet sich die gesellschaftliche Aufmerksamkeit erst dann auf einzelne Ereignisse, wenn die Gewalt sichtbar wird – die Konfliktstrukturen, ihre Treiber und ihre Dynamiken aber bleiben weitgehend unangetastet. Dies erhöht auch gleichzeitig die Gefahr, den Zeitpunkt für notwendige Aushandlungsprozesse unter demokratischen Bedingungen zu übersehen. Zudem sind diese Konflikte längst nicht für alle Menschen, gerade nicht für Betroffene, »latent«, gar »unsichtbar«. Sich mit Konflikten in Gesellschaft zu beschäftigen, bedeutet auch, zu fragen, wessen Perspektiven, Kritik, Notrufe für wichtig und anerkennenswert erachtet werden. Denn in der Nichtbeachtung von Konfliktlinien kommen innergesellschaftliche Diskrimi­nierungs- und Machtverhältnisse zum Ausdruck – wie unsere Autor*innen eindrucksvoll zeigen. Durch den Analyserahmen, den der erste Beitrag von Lotta Mayer aufspannt, wird sichtbar, dass es auch um die Frage gehen muss, welche Konflikte thematisiert gehören – und welche aus welchen Gründen nicht thematisiert werden.

Die in diesem Heftschwerpunkt versammelten Beiträge zeigen exemplarisch einige dieser Konfliktlagen und mögliche Transformationspotentiale auf. Es ließen sich nun nahtlos Beispiele zu Klassismus, Armut und Ungleichheit, zu Rassismus und Sexismus, zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Konflikten um die politische Ordnung anschließen. Doch wozu?

Wir meinen, dass es friedenslogisch unabdingbar ist, eine Gesellschaft zu gestalten, in der es selbstverständlich wird, die eigene Involviertheit in Konfliktlagen zu hinterfragen und zu verändern; dass dies alltäglich sowohl strukturell (durch die Organisierung unseres Zusammenlebens) als auch individuell (als Haltungsfrage) ermöglicht wird; und dass sich durch die Sichtbarkeit der strukturellen und machtpolitischen Zwänge auch diese Gewalt transformieren und in Bearbeitung bringen lässt.

Mit diesem Heft wollen wir daher eine vertiefte Auseinandersetzung anregen, sich einen neuen Blick für die uns umgebenden Konflikte und eine Bereit­schaft anzueignen, anders hinsehen zu wollen. Dafür wünschen Ihnen eine anregende und diskussionswürdige ­Lektüre,

Ihre Melanie Hussak, Ulrika Mientus und David Scheuing

Transformation durch Eskalation?

Transformation durch Eskalation?

Klimaprotest zwischen Demokratie und Kriminalisierung

von Rebecca Froese, Jürgen Scheffran und Janpeter Schilling

Spätestens seit dem Aufkeimen der Klimaproteste und der von vielen als Radikalisierung der Klimabewegung beschriebenen Entwicklung der letzten Jahre ist klar geworden, dass Klimakonflikte nicht nur im Globalen Süden sondern auch in Deutschland an Relevanz gewinnen. Im Fokus steht hierzulande vor allem der politische Umgang mit Klimaschutzmaßnahmen bzw. deren Unzulänglichkeit. Der folgende Beitrag systematisiert drei Formen des Klimaprotestes, von Massenprotesten bis zu Aktionen gesellschaftlicher Disruption, und diskutiert ihre Relevanz für den demokratischen Umgang mit sozial-ökologischen Transformationskonflikten.

82 % der Deutschen sahen im November 2022 einen großen bis sehr großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz (Statista 2022b). Zusätzlich zur Verantwortung der Bürger*innen (63 %) und Unternehmen (64 %) bescheinigten 57 % der Befragten auch der Politik, deutlich zu wenig Verantwortung im Klimaschutz zu übernehmen (Statista 2022a). Trotz dieser expliziten Forderung in der deutschen Bevölkerung fehlt es an der Umsetzung effektiver und umfassender Klimaschutzmaßnahmen. Stattdessen werden seitens der Politik Entscheidungen für Energiewende und Klimaschutz u.a. mit der Begründung der Reaktion auf andere Krisen vertagt oder sogar zurückgenommen. Dies wurde zuletzt im Koalitionsbeschluss vom 28. März 2023 deutlich, in dem der noch im Koalitionsvertrag gestärkte Klimaschutzplan 2050 durch die Streichung der bereits beschlossenen Sektorziele aufgeweicht wurde.

Gegen diese Verzögerungen, Unentschlossenheit und Handlungsdefizite stemmen sich Protestierende diverser Gruppen und Allianzen der Klima- und Umweltbewegung mit Protestmärschen, Besetzungen von Dörfern, Wäldern und Konzernzentralen, der Blockierung von Straßen und anderen Aktionen. Während der Großteil dieser Proteste gewaltfrei und friedlich verläuft, sehen sich die Protestierenden vermehrt Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt, bis hin zum Vorwurf des „Klimaterrorismus“ (Poscher und Werner 2022). Doch welche Handlungsoptionen haben staatliche Akteure und Zivilgesellschaft, um den eskalierenden Klimarisiken friedlich und konstruktiv zu begegnen?

Konflikte um Klimapolitik

Seitdem die damals 15-jährige Greta Thunberg im August 2018 mit ihrem »Schulstreik für das Klima« begann, hat sich die Klimaprotestbewegung in ihren Methoden des zivilen Ungehorsams diversifiziert. Die damit einhergehenden politischen Auseinandersetzungen und innergesellschaftlichen Konflikte zeichnen wir hier entlang dreier Protestformen nach (Tabelle 1). Alle drei Protestformen richten sich, verstärkt durch mediale Berichterstattung, an erster Stelle an politisch Entscheidungstragende und die allgemeine Öffentlichkeit, unterscheiden sich jedoch in der Orts- und Methodenwahl und damit auch in ihrer gesellschaftlichen Resonanz und den Gewaltsituationen, denen die Akteur*innen ausgesetzt sind. Damit kann dieser Artikel im Kontext der Forschung zu sozial-ökologischen Transformationskonflikten verstanden werden, in denen nicht „die ökologische Krise […] die unmittelbare Ursache von Transformationskonflikten“ darstellt, sondern vielmehr die spezifischen Verarbeitungsweisen von Krisentendenzen und das sozial selektive Abwälzen von Krisenfolgen“ (Graf et al. 2023, S. 7).

Große Protestmärsche

Ausgelöst durch dezentrale Schulstreiks und Freitagsdemonstrationen weitete sich die »Fridays for Future (FFF)« Bewegung in kurzer Zeit vom zivilen und gewaltfreien Ungehorsam Einzelner zu einer Massenprotestbewegung aus (Sommer et al. 2019). Kontroversen in den Massenmedien und große Demonstrationen in hunderten Städten schafften 2019 weltweit Aufmerksamkeit. Die Leitfiguren der Bewegung wurden auf die nationale und internationale Bühne der UN oder zu Gesprächen mit führenden Repräsentant*innen der Politik eingeladen. Dadurch rückten klimapolitische Missstände ins Zentrum der öffentlichen Debatte und erhöhten den Druck auf die Politik, Maßnahmen für Klimagerechtigkeit und das Pariser Klimaabkommen zu ergreifen, um Schaden durch die Klimakrise für zukünftige Generationen zu verhindern. Die Aktionen mobilisierten verschiedene Unterstützergruppen, darunter die Scientists-, Doctors-, Teachers-, Entrepreneurs- oder auch Artists for Future. Aus der Kooperation entstanden wissenschaftlich begründete Vorschläge für Kohleausstieg, CO2-Steuer und das Ende fossiler Subventionen, Investitionen in eine nachhaltige Energiewende und den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs im Rahmen einer Verkehrswende. Darüber hinaus förderte die Bewegung auch das Engagement durch etablierte Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Kommunen. So folgten dem Beispiel der Stadt Konstanz, die im Mai 2019 als erste deutsche Stadt den Klimanotstand ausrief, viele Städte weltweit, und am 28.11.2019 auch das Europäische Parlament. Rucht (2019) sieht in den FFF gewisse Ähnlichkeiten mit anderen Bewegungen, wie der westdeutschen Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre, Occupy, Pulse of Europe und #unteilbar. Mit der Covid-19-Pandemie ab dem Frühjahr 2020 und dem Ukrainekrieg ab dem Frühjahr 2022 wurde die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit, Medien und Entscheidungstragenden abgelenkt und große Massenproteste schwieriger, auch durch Auflagen des Infektionsschutzes.

(Massen-)Blockaden fossiler Industrie

Der Protest an Orten großer, sichtbarer Präsenz der fossilen Industrie, beispielsweise die Aktionen der Gruppe »Ende Gelände« im rheinischen Braunkohlerevier, reicht von friedlichen Großdemonstrationen über Protestcamps, Mahnwachen und die Besetzung von Gebäuden, Baggern und Bäumen bis hin zu Sabotageakten. Zuletzt wurde im Januar 2023 das Protestcamp im Dorf Lützerath mit einem Großaufgebot der Polizei geräumt, einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Die Räumung verlief überwiegend friedlich und die zuvor befürchtete „Schlacht um Lützerath“ blieb aus (Stukenberg 2023). Dennoch wurde, ähnlich wie bei vorhergegangenen Einsätzen z.B. im Hambacher Wald, unverhältnismäßiger Gewalteinsatz seitens der Polizei beobachtet (Keller et al. 2023). Nach zweijähriger Besetzung Lützeraths konnten die Aktivist*innen die Räumung zwar verzögern aber nicht aufhalten. Während das ausgesprochene Betretungs- und Aufenthaltsverbot auf dem der RWE AG gehörenden Gelände voraussichtlich rechtmäßig war, wurde das demokratisch legitimierte und geschützte Recht der Protestierenden auf Versammlungsfreiheit kritisch diskutiert (Hohnerlein 2023). Unabhängig davon dürften die Bilder und Berichte der Räumung Lützeraths und die Zusammenstöße zwischen der Polizei und Aktivist*innen, die in der nationalen und internationalen Presse stark resonierten, dem Image des Konzerns und Deutschland als vermeintlichem Vorreiter in der Klimapolitik eher geschadet haben. Ähnliches gilt für die Landesregierung Nordrhein-Westfalens, der vorgeworfen wird, durch den massiven Polizeieinsatz die Staatsgewalt für den Schutz von Privatbesitz bzw. der „Festung eines Energieunternehmens“ (Nolting 2023) eingesetzt und damit gegen ebenfalls geltendes Recht des Klimaschutzes, wie es das Bundesverfassungsgericht jüngst bestätigte (BVerfGE 2021), verstoßen zu haben. Dieses Beispiel zeigt, dass Protest am Ort des Geschehens, zumindest für den Zeitraum der Räumung, starke mediale Aufmerksamkeit erzeugen und damit die Symbolwirkung derartiger Aktionen unterstreichen kann.

Gesellschaftliche Disruption

Unter die gesellschaftlich-disruptive Protestform fallen derzeit Aktionen zivilen Ungehorsams Einzelner oder kleinerer Gruppen, insbesondere der Gruppe »Letzte Generation«. Diese verfolgen das Ziel, eine gesellschaftlich kritische Protest-Masse für einen Systemwandel aufzubauen, einen „sozialen Kipppunkt und einen internationalen Dominoeffekt“ herbeizuführen (Letzte Generation 2023) und damit die Regierung in eine Dilemmasituation zu bringen, in der diese entweder repressiv handeln oder nachgeben kann. Die Gruppe setzt auf rapides Wachstum der eigenen Anhänger*innenschaft, zu dessen Zweck sie neben den bekannten Protestaktionen auch Vorträge und Trainings anbietet und sich mit diversen gesellschaftlichen Gruppen vernetzt, insbesondere mit NGOs, Kirchen, Gewerkschaften und der Wissenschaft. Die Protestaktionen der Letzten Generation werden von eigenen Öffentlichkeitsarbeitsteams dokumentiert und verbreitet. Auf der Suche nach Akzeptanz in der Bevölkerung setzt die Gruppe zudem auf ein »bürgerliches« Erscheinungsbild sowie auf »absolute« (körperliche und verbale) Gewaltfreiheit. Dennoch spalten die Aktionen der Letzten Generation die gesellschaftlichen Meinungen und führen zu Abwehrreaktionen, von der Ablehnung der Methoden und massivem Unverständnis, auch durch einseitige Narrative in Medien und Politik (z.B. die Darstellung blockierter Rettungswege), bis hin zu staatlicher Gewaltausübung. Neben Repressionen am Ort des Protestes werden Aktivist*innen durch Strafprozesse und Verwahrung kriminalisiert und nicht nur in den Medien, sondern auch von bekannten Politiker*innen als „Grüne RAF“ und Klimaterrorist*innen verurteilt (Schaible 2021), während viele Expert*innen keinen Grund für härtere Strafen gegen Klimaaktivist*innen sehen (Bundestag 2023). Gegen die Kriminalisierung richtet sich auch eine Erklärung von mehr als eintausend Unterstützer*innen aus der Wissenschaft vom 21.4.2023 (Paganini et al. 2023). Inwieweit die Protestierenden erfolgreich sind, scheint umstritten. So bescheinigt Rucht (2023) der Gruppe eine gesteigerte Aufmerksamkeit, die durch die Aufsplittung der geforderten Ziele jedoch an Schlagkraft verliert, und damit intern langfristig auch Fragen einer weiteren Radikalisierung aufwerfen könnte.

Protestform

Große Protestmärsche

(Massen-)Blockaden fossiler Industrie

Gesellschaftlich disruptive Aktionen Einzelner/kleinerer Gruppen

Ort

Zentren meist größerer Städte

(Groß-)Aktionen am Ort des Geschehens, Orte großer Präsenz fossiler Unternehmen

Im alltäglichen Straßenverkehr, Orte mit Symbolcharakter

Ziele

Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft verändern

Widerstand gegen ein bestehendes System und konkrete Anlagen

Widerstand gegen ein bestehendes System

Forderungen

Effektiverer Klimaschutz in allen Bereichen

Beendigung der Nutzung fossiler Energieträger, insbesondere Kohle

Tempolimit, Einführung eines Gesellschaftsrats, Verlängerung des 9-Euro Tickets

Methoden

Angekündigte und angemeldete Demonstrationen

Protestcamps, Besetzungen, Sabotageakte

(Spontane) Straßenblockaden, Protestaktionen mit (vermeidlicher) Sachbeschädigung, Erpressung, Hungerstreik

Akteur*innen

Schüler*innen, (Groß-)Eltern, Klimaschützer*innen, Wissenschaftler*innen, Naturschützer*innen, NGOs, Kirchen

Klimaschützer*innen,
Naturschützer*innen

Einzelne Mitglieder der Organisation »Letzte Generation«

Betroffene der Protestform

Allg. Öffentlichkeit, insb. Verkehrsteilnehmende

Akteure der fossilen Industrie

Allg. Öffentlichkeit, insb. Verkehrsteilnehmende

Ergebnis

Starke mediale und politische Aufmerksamkeit

Punktuelle, starke mediale und politische Aufmerksamkeit, besonders vor und während Räumungen

Starke mediale und politische Aufmerksamkeit, Denunzierung

Gesellschaftliche Resonanz

In großen Teilen akzeptiert und unterstützt

Punktuelle Wahrnehmung und generell Verstärkung von Polarisierung (bei Ereignissen wie Lützerath)

Geteilte Meinungen, Polarisierung und Zuspitzung

Gewaltsituation

Niedrig

Vereinzelte Beschimpfungen von frustrierten Verkehrsteilnehmenden, Gefährdung durch rücksichtsloses Fahrverhalten

Mittel-hoch

Polizeigewalt zur Durchsetzung von RWE-Interessen, Einkesseln, Körperverletzung durch Schlagstöcke, vereinzelte Steinwürfe, Pyrotechnik, ein Todesfall

Mittel-hoch

Handgreiflichkeiten von Verkehrsteilnehmenden, Repression, ungerechtfertigte Verhaftungen, Bezichtigung des Klimaterrorismus (Grüne RAF)

Ergebnis-Einschätzung

Mittel-hoch

Erhöht Druck auf politischen Entscheidungsprozess, zwischenzeitlich ambitioniertere Klimapolitik

Mittel-hoch

Erhöht Druck auf politischen Entscheidungsprozess und Industrie, erschwert den Einsatz von Polizeikräften für Räumungen

Niedrig-mittel

Aktionen scheinen geringen politischen Erfolg zu haben, wecken aber Emotionen der Faszination oder Empörung, die disruptive Transformation in die Debatte bringen

Beispiele

Fridays for Future, andere solidarisierende »for Future«-Bewegungen etc.

Ende Gelände, Protest im Hambacher Forst, Besetzung von Lützerath, Blockaden der Automesse IAA Mobility etc.

»Letzte Generation« mit punktuellen Blockaden und symbolischen Aktionen

Tabelle 1: Systematisierung von drei Protestformen

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Mit den Defiziten der Regierung in der Klimapolitik werden die Forderungen nach radikaleren Aktionen innerhalb der Klimabewegung lauter und von den Protestierenden vermehrt in Betracht gezogen. Bisher eint die Klimabewegten in ihren Protestformen die weitgehend friedliche Ausübung des zivilen Ungehorsams, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Denn auch wenn FFF im Schulstreik ihre eigene Form des zivilen Ungehorsams gefunden hat, so sehen viele unter ihnen die Aktionen der Letzten Generation kritisch und polarisierend (FAZ 2023). Sichtlich unterscheiden sich die Bewegungen auch in ihren Zielen, die sich zwischen der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse für eine effektivere Klimapolitik und dem Widerstand gegen ein bestehendes System bewegen. Entsprechend divers ist auch der bisherige gesellschaftliche Umgang mit den verschiedenen Protestformen, der von breiter Unterstützung bis hin zu starker Ablehnung und Kriminalisierung reicht und innerhalb der Gesellschaft die Meinungen polarisiert.

Und jetzt?

Die Diskussion über die Legitimität des zivilen Ungehorsams sagt viel mehr über das »bequeme« Demokratieverständnis einer Wohlstandsgesellschaft aus, als über den „ungehorsamen Klimaprotest“ (Mullis 2023). Solange der Einsatz von Gewalt sich nicht mehrheitlich zur Durchsetzungsmethode der Protestziele entwickelt, womit zunächst nicht zu rechnen ist, sollten die Protestbewegungen für Akzeptanz und Legitimität des zivilen Ungehorsams werben, denn in einem weiteren internationaleren und historischen Kontext betrachtet, müssen alle beschriebenen Protestbewegungen als weitgehend gemäßigt gelten (siehe auch Celikates 2023; Mullis 2023).

Zudem haben diese Bewegungen nicht nur die Wissenschaft auf ihrer Seite, z.B. in der Aussage, dass die Kohleverstromung zur Gewährleistung der Stromversorgung in Nordrhein-Westfalen nicht erforderlich ist (DIW Berlin 2023), sondern auch das geltende Recht, dessen Bruch in der konstanten Missachtung des Klimagesetzes und der Reproduktion struktureller Gewalt durch den Klimawandel billigend in Kauf genommen wird. Nicht zuletzt haben die Bewegungen die Option der sozial-ökologischen Bündnisbildung als Reaktion auf Transformationskonflikte, wie sie zuletzt in der gemeinsamen Mobilisierung während der ÖPNV Kampagne von ver.di und FFF im März 2023 zu beobachten war. In dieser Hinsicht sollte eine demokratische Gesellschaft sich die Frage stellen, welches Demokratieverständnis sie mit der Durchsetzung undemokratischer Mittel, Repressionen und Kriminalisierung von Klimaprotestierenden an jüngere Generationen weitergibt.

Literatur

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FAZ (2023): Nach Blockaden in Hamburg: Fridays for Future kritisiert „Letzte Generation“. FAZ, 12.4.2023.

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Keller, T.; Rabe, B.; Winkler, M. (2023): Entscheidung für Gewalt: Bericht über die Demonstrationsbeobachtung rund um die Räumung von Lützerath, Januar 2023. Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.

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Poscher, R.; Werner, M. (2022): Gewahrsam als letztes Mittel gegen die „Letzte Generation“? Verfassungsblog, 24.11.2022.

Rucht, D. (2019): Faszinosum Fridays for Future. APuZ 69(47/48), S. 4-9.

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Schaible, J. (2021): Aktivist Tadzio Müller im Interview: »Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF«. SPIEGEL, 21.11.2021.

Sommer, M.; Rucht, D.; Haunss, S.; Zajak, S. (2019): Fridays for Future: Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland. ipb working papers 2/2019. Berlin.

Statista (2022a): Was meinen Sie, tun Politik, Unternehmen und die Bürger genug oder zu wenig für den Klimaschutz? Umfrage, 11.11.2022.

Statista (2022b): Was meinen Sie, wie groß ist der Handlungsbedarf beim Klimaschutz? (im November 2022). Umfrage, 2.12.2022.

Stukenberg, K. (2023). SPIEGEL-Klimabericht: Die Schlacht um Lützerath ist noch nicht entschieden. SPIEGEL, 3.2.2023.

Dr. Rebecca Froese ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der Universität Münster.
Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Dr. Janpeter Schilling ist Klaus-Töpfer-­Juniorprofessor für Landnutzungskonflikte am Institut für Umweltwissenschaften der RPTU und wissenschaftlicher Leiter der Friedensakademie Rheinland-Pfalz.

Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

»Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

Sicherheitspolitische Konferenz, Evangelische Akademie Loccum, 26.-27. Oktober 2022.

Als unmittelbare Reaktion auf den Ukraine-Krieg wurde – beginnend mit der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz – Ende Februar 2022 ein verteidigungspolitischer Reformprozess angestoßen, der unter dem Schlagwort »Zeitenwende« diskutiert wird und der in Umfang und Zielsetzung eine sicherheitspolitische Zäsur markiert. Die »Zeitenwende« ist nicht unumstritten. Es konkurrieren unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen hinsichtlich Reichweite, Dauer, Gegenstand, Auslöser und Intensität der Reformbemühungen.

Ende Oktober 2022 war es das Ziel dieser Loccumer Tagung, ein erstes Zwischenfazit zu diesen verteidigungspolitischen Reform­anstrengungen zu ziehen. Besonders im Fokus stand dabei die Frage, welche Auswirkung die »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder haben wird und wie sich das etablierte Arrangement der bisherigen deutschen Außen-, Bündnis-, Friedens- und Entwicklungspolitik verändern könnte. In diesem Lichte geht der vorliegende Tagungsbericht im Folgenden auf drei zentrale Frage ein, die intensiv diskutiert wurden:

(1) An den Rand gedrängt?

  • Welche Auswirkungen hat »Zeitenwende« für die zivile Konfliktbearbeitung und die Entwicklungszusammenarbeit?

In der Debatte über die Auswirkung der »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder – insbesondere der zivilen Konfliktbearbeitung, der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit – wurde die Beobachtung unterstrichen, dass derzeit alle außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Debatten vom Militärischen geprägt seien. Die Diskutierenden, die der thematischen Ausrichtung dieses Parts der Tagung entsprechend vorangig aus der Entwicklungshilfe, der Friedensforschung und der zivilen Konfliktbearbeitung kamen, erwarten vorerst hierbei keine Änderung. Zwar würde in vielen politischen Wortbeiträgen derzeit die Notwendigkeit eines umfassenden Sicherheitsbegriffs betont, der über die rein militärische Gefahrenabwehr hinausgehe. Allerdings sei dieser breite Ansatz trotz aller Rhetorik weder mit ausreichenden Mitteln noch mit neuen politischen Initiativen unterlegt. Vielmehr zeichneten sich gar finanzielle Kürzungen ab. Auch wenn die ursprünglich für die Haushaltsberatung vorgesehenen drastischen Kürzungen des Entwicklungshilfeetats zurückgenommen wurden und weitere 1,7 Mrd. Euro aus der Krisenreserve des Finanzministeriums bereitgestellt wurden, sinken im kommenden Jahr (2023) die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit dennoch um neun Prozent im Vergleich zum laufenden Haushaltsjahr – so die Beobachtung der Diskutant*innen.

Zwar gab es großes Verständnis für die verstärkte finanzielle Unterstützung der Bundeswehr, um sicherzustellen, dass diese die Aufgaben, die ihr von Gesellschaft und Politik zugewiesen wurden, erfüllen kann. Dennoch wurde auf der Konferenz kritisch angemerkt, dass die Regierung und das Parlament 100 Mrd. Euro Sondervermögen an die Streitkräfte gegeben hätten, ohne eine breite Debatte zu führen, was von der Bundeswehr in Zukunft eigentlich erwartet würde und was sie in den kommenden Jahren zu leisten habe. Es sei insbesondere dieses aktionistische und überstürzte Vorgehen, das den Eindruck bei den Akteuren der Entwicklungshilfe und der zivilen Konfliktbearbeitung nähre, an den Rand gedrängt worden zu sein.

Zwar sei durch die Gestaltung des Sondervermögens als Sonderneuverschuldung aktuell eine direkte Konkurrenzsituation um finanzielle Ressourcen vermieden worden. Mittelfristig könnte sich diese jedoch einstellen und zu harten politischen Verteilungskämpfen führen, so die auf der Tagung geäußerte Befürchtung. Zum einen, weil die 100 Mrd. Euro Sondervermögen aller

Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichen werden, um das im NATO-Rahmen vereinbarte 2 %-Ziel zu erreichen. Zum anderen, weil auch der Bedarf an humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung aufgrund von Klimawandel, den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, der aktuellen Nahrungsmittelkrise sowie der Zunahme des globalen Gewaltgeschehens der letzten zehn Jahre stark angestiegen sei.

(2) Blick über den Tellerrand

  • Welche Perspektiven und Fragen entstehen durch die »Zeitenwende« bei europäischen Nachbarstaaten und Bündnispartnern?

Im Sinne eines Blicks über den sprichwörtlichen »Tellerrand« widmete sich die Loccumer Tagung auch der Frage, wie europäische Nachbarländer die deutsche »Zeitenwende« wahrnehmen. Die Diskussion, an der Expert*innen aus verschiedenen europäischen Ländern teilnahmen, ergab, dass die aktuellen verteidigungspolitischen Reformbemühungen Deutschlands in Europa überwiegend positiv aufgenommen werden und weitestgehend begrüßt werden. Selbst kleine europäische Staaten, die in der derzeitigen Konfrontation mit Russland geografisch eher randständig sind, wie beispielsweise Portugal, haben die »Zeitenwende« wie auch die Debatte, die hierzulande dazu geführt wird, sehr genau verfolgt.

Auf der Tagung wurde herausgearbeitet, dass in den Nachbarländern vor allem drei zentrale Forderungen an Deutschland formuliert werden: Die Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik solle dauerhaft, berechenbar und europäisch sein.

Im europäischen Ausland gäbe es einige Zweifel an der Dauerhaftigkeit der »Zeitenwende«, so die Einschätzung der Diskutierenden. Häufig würde diese als „verspätete Hausaufgabe“ wahrgenommen, die im Grunde schon 2014 mit der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine hätte angestoßen werden sollen – so wie dies viele andere europäische Staaten getan haben. In puncto Dauerhaftigkeit sei besonders fraglich, ob Deutschland tatsächlich einen tiefgründigen außen- und sicherheitspolitischen Mentalitätswandel vollziehe oder ob die jetzige »Zeitenwende« ein eher vorübergehendes Phänomen sei und nur in begrenztem Ausmaß zu Änderungen führe. Schließlich habe man in den vergangenen Jahrzehnten aus Deutschland häufig vergleichbare »Wende-Rhetorik« gehört (»Energiewende«, »Verkehrswende«, »Agrarwende« etc.), die zwar einen großen gesellschaftspolitischen Diskurs und viel mediales Getöse losgetreten, das Versprechen eines substanziellen Politikschwenks jedoch kaum eingelöst habe. Daher bestehe begründeter Zweifel, ob die »Zeitenwende« der Verteidigungspolitik nicht ein ähnliches Schicksal ereile.

Neben dem Aspekt der Dauerhaftigkeit sei Berechenbarkeit eine weitere zentrale Forderung, die häufig von außenpolitischen Expert*innen aus europäischen Nachbarländern zu hören sei. Wichtig sei, dass Deutschland im Zuge der derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen keine unvorhersehbaren Politikwechsel vollziehe und sich daher mit Bündnispartnern abstimme, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die »Zeitenwende« aber auch Folgevorhaben, wie die jüngst verkündete Initiative zur europäischen Luftverteidigung (»European Sky Shield«), seien für zahlreiche Bündnispartner überraschend gekommen. In diesem Lichte sei eine enge Kommunikation notwendig, um zu vermeiden, dass Nachbarländer von verteidigungspolitischen Vorhaben überrumpelt würden.

Unmittelbar mit dem Aspekt der Berechenbarkeit sei die Forderung nach einer stärkeren Europäisierung der deutschen »Zeitenwende« verbunden. In der Wahrnehmung vieler europäischer Bündnispartner betreibe Deutschland seine derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen vorrangig als ein nationales Projekt, so die Bewertung der Diskussionsteilnehmenden auf der Loccumer Konferenz. Auch wenn viele europäische Bündnispartner sich schon ab 2014 auf eine neue militärische Lage eingestellt haben, markiere der Februar 2022 doch für ganz Europa eine »Zeitenwende«. In fast allen Nachbarländern gäbe es eine verteidigungspolitische Neuausrichtung mit zum Teil tiefen historischen Einschnitten – wie beispielsweise dem Abschied von der Bündnisneutralität und der Hinwendung zur NATO in Finnland und Schweden.

Es sei daher sinnvoll, wenn Deutschland die verteidigungspolitische »Zeitenwende« als einen gesamteuropäischen Prozess begreifen würde. Zwar habe Berlin insbesondere in Skandinavien und Osteuropa aufgrund seiner zögernden Haltung im Ukraine-Krieg viel Vertrauen verspielt und erfahre derzeit außen- und sicherheitspolitisch einen erheblichen Ansehensverlust. Dennoch bleibe Deutschland de facto eine wichtige Führungsmacht in Europa – allein schon aufgrund seiner schieren Größe. Der Wunsch, dass Berlin diese Führungsrolle übernehmen und vor allem eingebettet in europäische Kontexte und Prozesse transparent ausgestalten soll, bleibe aber trotz aller deutschen Zögerlichkeit weiterhin in europäischen Nachbarländern bestehen.

(3) Bevölkerung mitnehmen

  • Wie kann ein breiter gesellschaftlicher Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik sinnvoll bewerkstelligt werden?

Der Bedeutungszuwachs fürs Militärische, der mit der »Zeitenwende« einhergeht, hat auch Auswirkungen auf den Nexus »Bundeswehr-Gesellschaft-Politik« und erfordert einen breiten Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik. Auf der Tagung wurde intensiv diskutiert, wie sich dies bewerkstelligen lässt. An diesem Diskussionsstrang wirkten vor allem Akteure mit, die in der Vergangenheit – entweder von Forschungsseite oder aus der Perspektive der politischen Praxis – die Beteiligungsprozesse im Auswärtigen Amt intensiv begleitet haben.

Während partizipative Prozesse mit Bürger*innen in vielen Politikfeldern bereits seit einiger Zeit zum normalen Repertoire gehörten und im Grunde auf allen Ebenen stattfänden – von der Kommunal- bis zur Bundespolitik – hinke das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik als ein Bereich, der traditionell überwiegend von exekutivem Handeln geprägt ist, hier hinterher. Spätestens seit 2014 könne jedoch beobachtet werden, so die Diskutierenden in diesem Teil der Tagung, dass es zunehmend Versuche von Seiten der politischen Eliten gäbe, stärker mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen.

Zu nennen sei hier beispielsweise der Review Prozess über die Bemühungen einer Reform des Auswärtigen Amts (2014) oder die Leitlinien über Zivile Konfliktbearbeitung (2017). Zuletzt gab es 2022 im Rahmen der Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie, die derzeit federführend im Auswärtigen Amt geschrieben wird, einen intensiven Beteiligungsprozess, bei dem eine ganze Palette unterschiedlicher Partizipationsformate zur Anwendung kam (Town Hall Meetings, vertiefende Bürger*innendialoge und Szenarien-Workshops).

In klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Gremien, die im außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsfindungsprozess ebenfalls eine relevante Rolle spielen, bestehe der gemeinsame Kern all dieser Beteiligungsprozesse darin, dass der Fokus auf »normalen« Bürger*innen liege, die über Losverfahren und mithilfe methodischer Auswahlprozesse in der Zusammensetzung ein möglichst repräsentatives Abbild der deutschen Bevölkerung darstellen sollen und somit hinsichtlich zentraler Kriterien wie Bildungsniveau, Wohnort, Herkunft, Alter, etc. möglichst divers zusammengesetzt sind.

Impulse zu außenpolitischen Sachthemen zum Teil in klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Debatten direkt aus der Bevölkerung zu beziehen, sei ein zentraler Mehrwert dieser Beteiligungsformen, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die bisherige Erfahrung mit Bürger*innenbeteiligung im Feld der Außen- und Sicherheitspolitik zeige aber, dass bei diesen Formaten noch einige Hürden bestehen. Denn um sinnvoll über außen- und sicherheitspolitische Fragen diskutieren zu können, bedürfe es sehr viel Wissens und viel Verständnisses über komplexe Zusammenhänge. Trotz dem allgemein großen öffentlichen Interesse an und der hohen medialen Aufmerksamkeit auf diese Fragen, haben in Deutschland die allermeisten Bürger*innen in ihrem Alltag kaum praktische Berührungspunkte mit Außenpolitik und sind von sicherheitspolitischen Prozessen in der Regel nur mittelbar betroffen. Dies unterscheide die Außen- und Sicherheitspolitik deutlich von anderen Themenfeldern, wie bspw. der Bildungs- oder der Verkehrspolitik.

Bezüglich partizipativer Formate befinde sich deshalb die deutsche Außenpolitik weiterhin in einer Probier- und Sondierungsphase. In den partizipativen Formaten würde noch viel Aufwand darauf verwendet, zu erklären, was eigentlich internationale Politik sei und welche Rolle Deutschland darin spiele. Gleichzeitig würde von den außenpolitischen Entscheidungsträger*innen durchaus die Erfahrung gemacht, dass die Prozesse der Bürger*innenbeteiligung interessante und durchaus ernstzunehmende Impulse für auswärtiges Handeln liefern würden. Klar sei aber auch, dass diese Formate Gegensätzlichkeiten zwischen außenpolitischen Eliten und Sichtweisen der Bevölkerung in besonderer Deutlichkeit zutage treten lassen. Mit Bezug auf das Loccumer Tagungsthema werde beispielsweise deutlich, dass das Konzept der militärischen Führungsrolle in Europa von den Bürger*innen mehrheitlich nicht favorisiert werde. Zwar empfehlen diese Formate regelmäßig, dass sich Deutschland international stärker engagieren solle, der Fokus liege aber deutlich auf einem kooperativen, zivilen und dezidiert nicht-militärischen Ansatz.

Mit dieser Herausforderung für die Gestaltung der »Zeitenwende« kamen die Tage gemeinsamer Diskussion zu einem gemischten vorläufigen Fazit: Die »Zeitenwende« sein ein langwieriges Vorhaben zu dem bestenfalls die ersten Schritte gegangen sein und in dessen weiteren Verlauf noch erhebliche politische Sprengkraft schlummere. Neben der eigentlichen Umsetzung der verteidigungspolitischen Reform, stelle vor allem die gesellschaftspolitische wie auch die europäische Einbettung vermutlich die größte Herausforderung der kommenden Jahre dar.

Thomas Müller-Färber

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Workshop, Universitäten Klagenfurt und Augsburg, Klagenfurt, 05.-07. Juli 2022

Was bedeutet es, eine dekoloniale Perspektive auf die Forschung anzuwenden, insbesondere wenn es um die Friedens- und Konfliktforschung selbst geht? Welche Verantwortung und Rechenschaftspflicht haben Forscher*innen – und wem gegenüber? Wie können wir sicherstellen, dass die Forschung nicht gewaltsame und koloniale Praktiken innerhalb und außerhalb akademischer Einrichtungen reproduziert, sondern stattdessen privilegienbewusst und konfliktsensibel ist?

Diese und viele weitere Fragen wurden während eines dreitägigen Workshops an der Universität Klagenfurt im Juli 2022 diskutiert. Dieser Workshop war eine Erweiterung und Vertiefung eines Online-Workshops, der im Oktober 2021 zum gleichen Thema stattgefunden hatte (siehe W&F 1/2022). Der Workshop wurde von Claudia Brunner, Viktorija Ratković und Daniela Lehner (alle Universität Klagenfurt, Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung) sowie Christoph Weller und Christina Pauls (beide Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung, Universität Augsburg) organisiert und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert.

Ziel des Workshops war es, die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis, Haltungen und Handlungen in der Friedens- und Konfliktforschung weiter zu beleuchten und Methoden und Praktiken innerhalb des Feldes selbst, insbesondere im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen in der Ukraine, kritisch zu hinterfragen. Daher wurden im Laufe des Workshops vor allem Fragen aufgeworfen, anstatt Antworten gegeben – und diese ermöglichten intensive Diskussionen, aus denen neue Allianzen und Ansätze für dekoloniale Arbeit in der Friedensforschung und -bildung hervorgegangen sind. Viele dieser Aufgaben wurden durch den Online-Workshop schon 2021 initiiert, nun hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, ihre Themen zu vertiefen und praktisch zu erkunden. Alle Beiträge wurden nach dem »Gegenleseprinzip« präsentiert, d.h. der Text wurde nicht von Autor*innen, sondern von anderen Teilnehmer*innen vorgestellt und in der Gruppe diskutiert. Neben der reinen Textarbeit hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, an einer von Christoph Weller (Universität Augsburg) konzipierten und moderierten Sitzung teilzunehmen, die sich dem Ukrainekrieg als Herausforderung für Friedensstudien, Friedenserziehung und (De-)Kolonisierung widmete, und in einem von Joschka Köck (Theater der Unterdrückten Wien) gestalteten Begegnungsraum einen Einblick in das körperliche und szenische Forschen zu erhalten.

Der Beitrag von Sebastian Garbe befasste sich mit der Positionierung von Forscher*innen im wissenschaftlichen Prozess und reflektierte die Doppelrolle von Aktivist*innen und Forscher*innen, wobei er den Unterschied zwischen Selbstzentrierung und Transparenz der Forschung hinterfragte. In der Diskussion sind die Teilnehmer*innen zu der Einsicht gelangt, dass auch hegemoniale Selbstkritik selbst Forscher*innen in den Mittelpunkt stellen kann und dass Phänomene, die von Natur aus relational sind, nicht immer von einer einzigen Person angemessen erklärt bzw. theoretisiert werden können. Daher sprach sich Garbe für mehr Transparenz in der Kommunikation von Forschungsmethodologie, -prozessen und -ergebnissen aus. Das zentrale Thema seines Beitrags war jedoch die Solidarität mit und von den Mapuche als Forschungssubjekten, insbesondere basierend auf einem relationalen Verständnis von Solidarität, sowie die Ausübung von Solidarität als Einzelperson oder bei fehlenden Ressourcen. Relationale Verständnisse von Solidarität basieren weder auf Gegner*innenschaft noch auf Abgrenzungen von »Innen« und »Außen«, sondern betrachten Solidarität als eine gegenseitige dauerhafte Verpflichtung, die immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

Juliana Krohn setzte das Gespräch über Solidarität fort, indem sie auf die Diskrepanzen zwischen den erklärten Verpflichtungen zur Beendigung institutioneller Gewalt und dem tatsächlichen Mangel an Solidarität in der Praxis hinwies. Sie warf auch die Frage auf, wer zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wenn in bestimmten Situationen Gewalt beobachtet oder ausgeübt wird. Auch wenn es in vielen Fällen nicht möglich ist, eine generalisierte Anleitung für diese Fälle zu finden, waren sich die Diskussionsteilnehmer*innen einig, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Impliziertheit, wie auch den eigenen Gefühlen der Ohnmacht und Überforderung als Zeug*innen auseinanderzusetzen, um diejenigen zu unterstützen, die direkt von Gewalt betroffen sind. Die Autorin betonte, dass selbst an Universitäten Gewalt ausgeübt wird, und dass die Friedens- und Konfliktforschung selbst möglicherweise nicht konfliktsensibler als andere Disziplinen ist, sondern sogar eine geringere Selbstwahrnehmung haben kann, wenn es um den Umgang mit unterschiedlichen Formen von Gewalt, wie institutioneller und symbolischer Gewalt, geht. Die Problematik läge darin, dass Vertreter*innen der Disziplin sich für besonders friedensorientiert und konfliktsensibel halten, aber in eigenen lebensweltlichen Kontexten kaum gegen Gewalt einstehen. Dadurch sei die Lücke zwischen Theorie und Praxis der Friedens- und Konfliktforschung sehr groß, was die Glaubwürdigkeit von Vertreter*innen der Disziplin zunehmend reduziere.

Den zweiten Tag des Workshops begann Cora Bieß mit einer Diskussion über den »Do No Harm«-Ansatz, indem sie ihn mit dem »HEADS UP«-Tool von Vanessa Andreotti konterkarierte (siehe S. 37ff. in dieser Ausgabe). Es wurde darüber diskutiert, wer definiert, was als schädlich oder wohltuend definiert wird. Um zu vermeiden, dass Do No Harm zu einem leeren Slogan ohne Substanz verkommt, muss sichergestellt werden, dass sich alle Konfliktparteien darüber im Klaren sind, wer die Entscheidungsgewalt darüber hat, was als nützlich und was als schädlich in einem bestimmten Kontext angesehen wird. Die Diskussion führte zu einem Gespräch darüber, welche wissenschaftlichen Ansätze der Friedenspädagogik Schaden anrichten können und welche materiellen Konsequenzen verschiedene Ansätze haben können. Dabei wurde beispielsweise die Messbarkeit und Operationalisierbarkeit von Bildungsprozessen kritisiert, welche oft durch Projektlogiken begrenzt und verkürzt werden. Weitere potentielle Schäden könnten entstehen, wenn ein geringes Maß an Machtsensibilität besteht und Friedenspädagogik nur als konfliktsensibles, nicht aber machtsensibles Handeln aufgefasst wird. Es wurde auch darüber gesprochen, dass die strenge Einhaltung von HEADS UP auch dazu führen kann, dass bestimmte Projekte oder Interventionen, die nicht dem Ansatz entsprechen, gar nicht erst angefangen werden. Dies könnte direkte materielle Konsequenzen haben, wenn die finanziellen Ressourcen solcher Projekte an den erforderlichen Stellen nicht verfügbar sind. Der Beitrag hob auch die Bedeutung einer privilegien- und konfliktsensiblen Haltung in der Praxis der friedenspädagogischen Arbeit hervor und ging der Frage nach, wie Konflikte von den Beteiligten, einschließlich der Interventionspartei, transformiert werden können.

Michaela Zöhrer und Christina Pesch berichteten über das partizipative Forschungsprojekt »Farida Global«, das als Versuch gestartet wurde, denjenigen die Entscheidungsmacht und die Macht der Wissensproduktion zurückzugeben, deren Situation von Forscher*innen und Journalist*innen oft ausgenutzt wird, in diesem Fall den Überlebenden des Völkermords an den Jesiden. Es wurden Fragen der Repräsentation, der Präsenz und der Abwesenheit im wissenschaftlichen Kontext aufgeworfen sowie die Art und Weise, wie die Betroffenen selbst Wissen produzieren oder verfügbar machen können, wobei auch das Schweigen eine Form des Widerstands darstellt. In der Diskussion wurde festgestellt, dass die (universitären) Räume, in denen Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen, so gestaltet sein müssen, dass diese Menschen – Überlebende – einbezogen werden. Diese Inklusivität muss jedoch die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen und sie nicht nur um der Forschungsgerechtigkeit willen einbeziehen. Das könnte beinhalten, dass zentrale Begriffe von ihnen selbst hervorgebracht und mit Inhalt gefüllt werden, wie beispielsweise der Begriff des »respektvollen Umgangs«, den sich die Überlebenden von der Wissenschaft wünschen.

Widerstand als zentrales Element in der Menschenrechtsbildung wurde im Beitrag von Josefine Scherling ausführlich diskutiert. Sie ging darauf ein, was Widerstand ist und welche Arten von Widerstand in verschiedenen Gesellschaften erlaubt (oder legal) sind, sowie darauf, wie er manchmal romantisiert oder vereinnahmt wird. Im Gespräch wurde thematisiert, dass Widerstand nicht selten mit Gewalt, Unterdrückung und Konflikten einhergehe, auch wenn Gewaltfreiheit immer wieder deklariertes Ziel konkreter Widerstandsbewegungen sei: Widerstand ist gefährlich, in manchen Kontexten mehr als in anderen. Deshalb sollten Friedensforscher*innen sensibel dafür sein, wie sie über Widerstand nachdenken und ihre eigene soziale wie geographische Verortung mit einbeziehen. Die Genealogie der Menschenrechte wurde erörtert, insbesondere die Tatsache, dass sie in ihrer Entwicklung selbst soziale Hierarchien hervorgebracht haben. Ein weiterer Diskussionspunkt war ein nicht-eurozentrischer Blick auf die Geschichte der Menschenrechte, z.B. anhand einer Ausrichtung von Geschichtserzählungen an der Haitianischen Revolution, sowie auf Visionen und Alternativen und unterschiedliche lokale Bezugsrahmen zu diesem Thema. Dabei wurde festgehalten, dass Perspektiven aus dem Globalen Süden als Ausgangspunkt für historische Erzählungen der Menschenrechte dienen sollten.

Die Diskussion der Beiträge der Teilnehmer*innen wurde mit der Präsentation des Beitrags von Maria Zhiguleva abgeschlossen, in dem sie sich mit post- und dekolonialen Theorien und deren Anwendung im postsowjetischen Raum befasste: insbesondere mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Anwendungen. Obwohl es strukturelle Unterschiede zwischen den Imperien (in diesem Fall in Europa und Russland/UdSSR) gibt, sind die Beziehungen zwischen dem Zentrum in Moskau und den Regionen in der Peripherie zu beobachten, und der interne Kolonialismus kann für diese Region relevant sein. Ein Schwerpunkt lag auf den praktischen Implikationen für die Friedensbildung, wobei die Frage gestellt wurde, ob es Maßnahmen gibt, die ergriffen werden können, um das Ende der Gewalt gegenüber der Ukraine heute zu fördern und die Bedingungen und den Kontext des postkolonialen Friedens in der Region in Zukunft zu überprüfen. In der Diskussion sprachen die Teilnehmenden die Tatsache an, dass Kolonialität vielfältig und vielschichtig ist und dass es für die Analyse des Kolonialismus im postsowjetischen Raum sinnvoll sein könnte, spezifische Verbindungen zu neuen imperialen und maskulinen Regimen zu identifizieren. Darüber hinaus wurde Trauma als Instrument der Kolonisierung genannt, insbesondere das transgenerationale Trauma als Instrument zur Verursachung von Schäden, die über Generationen hinweg andauern – wie etwa am Beispiel des Stalinismus zu sehen.

Die Sitzung, die dem Krieg in der Ukraine als Herausforderung für die Friedens- und Konfliktforschung gewidmet war, wurde von Christoph Weller organisiert und moderiert. Ziel war es, die persönliche Positionierung, Erwartungen und Verantwortung jedes Einzelnen als soziales, politisches und wissenschaftliches Subjekt zu reflektieren. Fragen der Gewaltfreiheit als Thema, getrieben durch das Privileg, nicht in einem kriegsgebeutelten Land zu leben, wurden ebenso diskutiert wie Fragen der (Un-)Sichtbarkeit im Hinblick auf aktuelle Konflikte in anderen Weltregionen, die durch Doppelmoral und unterschiedliche Haltungen geprägt sind (z.B. Afghanistan oder Syrien). Gewaltfreiheit, Gewaltreduzierung und die Mittel zu ihrer Erreichung wurden im Zusammenhang mit dem Krieg (und Cyberwar) in der Ukraine erörtert, und die Positionierung des Westens und der deutschsprachigen Länder als Teil (oder nicht Teil) des Konflikts wurde ebenfalls diskutiert. Die Gruppe ist zu dem Schluss gekommen, dass Forscher*innen in der Friedens- und Konfliktforschung eine besondere Verantwortung haben, hegemoniale Konfliktquellen zur Sprache zu bringen und die Aufmerksamkeit für andere laufende Konflikte, in denen teils akute Unterversorgung herrscht, nicht zu verlieren. Die Positionierung Europas als »Friedensmacht« wurde hervorgehoben und kritisiert, ebenso wie die Notwendigkeit, die Analyse auf alle Aspekte des Krieges auszuweiten: der Diskurs über Waffenlieferung kann nicht andere wichtige Sachleistungen, Unterstützungsstrukturen und Programme der psychischen Gesundheit und psychosozialen Unterstützung ersetzen, die ebenfalls dringend notwendig sind.

Am dritten und letzten Tag des Workshops wurden die Teilnehmer*innen in einer von Michaela Zöhrer konzipierten und moderierten Abschlusssitzung gebeten, über die während des Workshops aufgeworfenen Fragen zu reflektieren, ihre Meinung zu offenen und ungelösten Lücken und Diskrepanzen zu äußern und über ihre Erwartungen sowie über mögliche Lösungen und nächste Schritte zu sprechen, die Forscher*innen in ihrer weiteren wissenschaftlichen Arbeit nutzen könnten. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, Aktion und Haltung, war eines der drängendsten Themen, die auf dem Workshop diskutiert wurden. Die Wichtigkeit, das eigene Selbstbild und die tatsächlichen Handlungen zu betrachten, sowie die Notwendigkeit, generell mehr zu handeln, wurde geäußert. Das Zusammentreffen im Workshop und die Arbeit in der Gruppe hat die Teilnehmer*innen dazu gebracht, über die Bedeutung von Gemeinschaft und Solidarisierung in der Friedens- und Konfliktforschung nachzudenken. In dem Rahmen wurde die Bedeutung der Schaffung sicherer – und mutiger – Räume praktisch erprobt und theoretisch als Grundlage dafür reflektiert, wie jede*r Forscher*in zu ihrer Schaffung beitragen kann, um die eigene Verantwortung zu übernehmen.

Kontakt: decolonizepeace@aau.at

Maria Zhiguleva

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Militarisierung und geschlechts­spezifische Gewalt

Wir haben ein (Daten-)Problem!

von Lamis Saleh und Fiona Wilshusen

Wir leben in einer militarisierten Welt – und die weltweiten Militärausgaben sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dass mehr Waffen jedoch auch mehr Sicherheit bedeuten, ist umstritten. Im Gegenteil, eine steigende Militarisierung kann eben auch größere (physische) Unsicherheit bedeuten, wie ein Blick auf geschlechtsspezifische Effekte zeigt. So wird Militarisierung in Verbindung gesetzt mit Gewalt gegen Frauen1. Wollen wir diese Beziehung jedoch empirisch analysieren, stoßen wir bald auf ein Problem – uns fehlen die Daten.

Frauen sind auf vielen Ebenen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen. Grundsätzlich beschreibt geschlechtsspezifische Gewalt (auf Englisch: gender-based violence, kurz GBV) physische, psychische oder strukturelle Gewalt, von der eine Person aufgrund ihrer biologischen oder sozialen Geschlechtszugehörigkeit betroffen ist. Auch wenn diese Definition so Gewalt gegen alle Geschlechter einbezieht, sind Frauen und Mädchen überproportional stark davon betroffen2 – z.B. in Form von sexualisierter Gewalt, struktureller Machtungleichheit oder finanzieller Abhängigkeit. Deshalb wird er oft synonym verwendet mit dem Begriff Gewalt gegen Frauen. Da bei psychischer, physischer und/oder sexualisierter Gewalt der Täter in vielen Fällen der (Ex-)Partner ist, wird diese Form der Gewalt oft auch als Partnergewalt bezeichnet.

Faktoren, die geschlechtsspezifische Gewalt begünstigen, können laut WHO mangelnde Gleichberechtigung der Geschlechter, ökonomische Abhängigkeit und soziale Normen, die Frauen einen niedrigeren Status als Männern zuschreiben, sein (WHO 2021). Doch wie hängen diese Dynamiken mit Militarisierung zusammen?

Militarisierung und geschlechtsspezifische Gewalt

Grundannahme des Militarisierungskonzeptes ist, dass das Militär auch in politische, ökonomische und gesellschaftliche Räume wirkt. Militarisierung beschreibt dabei einen Prozess, innerhalb dessen nicht nur militärische Werte an Gewicht in der Gesellschaft gewinnen, auch die Art der Ressourcenverteilung kann Teil einer zunehmenden Militarisierung sein (Enloe 2000).

Mit einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft werden nicht nur Gewalt und Aggression eher als legitime Mittel der Konfliktlösung angesehen, auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern kann stärker hierarchisiert werden. Bereits in den 1980ern etablierten Wissenschaftler*innen eine theoretische Verbindung zwischen Militarisierung und der patriarchalen Ordnung – diese sind demnach eng verwoben und verstärken sich gegenseitig (Enloe 1983; Reardon 1985). Zentral ist dabei das hierarchisierte Konzept einer militarisierten Männlichkeit – tough, dominant, aggressiv – und einer passiven, schutzbedürftigen Weiblichkeit (Elshtain 1982; Whitworth 2004; Eichler 2014).3 Durch diese Hierarchisierung einerseits und das Propagieren militärischer Werte wie Härte und Dominanz andererseits, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum, wird zunehmende Militarisierung assoziiert mit einem Anstieg an physischer, struktureller und kultureller Gewalt, von der Frauen in besonderem Maße betroffen sind (Sharoni 2016). So geben (hoch-)militarisierte Staaten hohe Summen ihres Staatshaushaltes für den militärischen Sektor aus, was oft einhergeht mit geringeren Ausgaben für soziale Belange, im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Andere Studien wiederum identifizieren eine direkte Verbindung zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, da staatliche Sicherheitskräfte (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Bereich und privaten Raum ausüben – und oft Täter von Partnergewalt sind. Doch Militarisierung kann auch indirekt wirken. So hat eine empirische Analyse gezeigt, dass sich steigende Militarisierung negativ auf Geschlechtergerechtigkeit und die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirken kann (Elveren, Moghadam und Dudu 2022). Beides hat die WHO als Faktoren identifiziert, die GBV begünstigen.

Die (empirischen) Zusammenhänge?

Trotz des starken theoretisch begründeten Zusammenhangs zwischen dem Militarisierungsgrad eines Landes und der Prävalenz von geschlechtsspezifischer Gewalt, fehlt es erstaunlicherweise weitgehend an empirischen Analysen. Soweit uns bekannt ist, hat keine Studie einen solchen Zusammenhang quantitativ nachgewiesen. Ein Hauptgrund dafür ist wohl die mangelnde Verfügbarkeit von Daten.

In einem ersten Schritt haben wir in unserer Forschung daher versucht, den Grad der Militarisierung mit geschlechtsspezifischer Gewalt zu verknüpfen. Der Globale Militarisierungsindex (GMI, siehe bicc 2022) ist der einzige Index, der die weltweite Militarisierung abbildet. Dabei legt er aber seinen Schwerpunkt auf Ressourcenverteilung und Bedeutung des Militärapparats von Staaten im Verhältnis zur Gesellschaft als Ganzem und hat daher eher ein strukturelles Militarisierungskonzept zugrunde liegen. Kulturelle und geschlechtsspezifische Implikationen werden so außer Acht gelassen. Wenn wir hier also bereits auf erste Limitationen stoßen, ergibt sich hinsichtlich der Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt ein desaströses Bild: Soweit wir wissen, gibt es keinen indexbasierten und aktuellen Datensatz zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt. Alle verfügbaren Daten sind entweder über die Jahre hinweg nicht konsistent oder für eine gründliche Analyse nicht in einem ausreichend großen geografischen Maßstab verfügbar. Um dennoch eine erste empirische Analyse zu wagen, greifen wir auf einen Datensatz der Vereinten Nationen zurück. In ihrem Bemühen, die Gleichstellung der Geschlechter unter dem entsprechenden Nachhaltigen Entwicklungsziel (SDG 5) zu fördern, stellen die Vereinten Nationen einige Statistiken zur Messung geschlechtsspezifischer Gewalt zur Verfügung. Basierend auf Erhebungen und Initiativen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in den Jahren 2000-2018, misst dieser Datensatz den Prozentsatz von Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, die in den vergangenen zwölf Monaten Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner erfahren haben. So sind diese Daten aber nicht nur zeitlich limitiert, sondern bilden nur einen kleinen Teilaspekt von geschlechtsspezifischer Gewalt ab, nämlich Partnergewalt.

Daher stellt unsere Analyse nur eine – sowohl zeitlich als auch bezüglich der Datenqualität stark limitierte – Momentaufnahme der vermuteten Beziehung dar. Wir versuchen zunächst, den allgemeinen Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt zu messen. Abbildung 1 zeigt die Korrelation zwischen beiden Variablen für alle 153 Länder in unserem Datensatz für das Jahr 2018.

Abbildung 1: Korrelation von Militarisierung und »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Sie zeigt eine signifikant negative Korrelation, was darauf hindeutet, dass eine höhere Militarisierungsrate mit einem niedrigeren Niveau geschlechtsspezifischer Gewalt verbunden ist. Was vor dem Hintergrund der theoretischen Verbindung auf den ersten Blick große Fragen aufwirft, wird mit einem zweiten Blick klarer. Die negative Korrelation deutet nicht zwangsläufig darauf hin, dass steigende Militarisierung zu sinkender GBV führt. Vielmehr deuten sich hier die Folgen des Datenproblems an: Die jeweiligen Charakter der zur Verfügung stehenden Datensätze (limitiertes Militarisierungsverständnis, limitiertes GBV-Verständnis) und die eklatanten Datenlücken verzerren das Bild.

Da diese erste grobe Korrelation eine massive Diskrepanz zu theoretischen Ableitungen darstellte, wollten wir das Verhältnis der Daten tiefer ergründen. Für unsere Analyse betrachten wir nun die Karte 1. Die Größe der Staatsterritorien auf unserer Karte hängt von ihrem relativen Militarisierungsgrad ab. Einige Länder erscheinen größer, als ihre maßstabsgetreue Größe wäre, während andere kleiner erscheinen. Die geschlechtsspezifische Gewalt wird durch die farbige Visualisierung dargestellt. Je höher der Grad der Gewalt ist, desto mehr bewegen sich die Länder im roten Farbspektrum.

Karte 1: Weltkarte zu »Gender-Based Violence«, Quelle: die Autorinnen.

Bei einem Blick auf die Karte ergibt sich ein etwas anderes Bild als bei der vorhergehenden Korrelation. Länder in Zentralafrika mit einem höheren Militarisierungsgrad haben mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen höheren Wert von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Für einige Länder mit sehr hohen Militarisierungsraten, z.B. Russland, liegen keine GBV-Daten vor. Diese Beobachtungen helfen, die Zusammenhänge zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt empirisch besser zu verstehen. Am Beispiel Russland zeigt sich auch, inwieweit die Datenlücken das Gesamtbild verzerren: Sowohl das Komitee der Frauenrechtskonvention als auch Human Rights Watch weisen auf die hohe Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Russland hin – es gibt aber schlicht keine offiziellen Statistiken. Im Jahr 2017 wurde darüber hinaus ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte häusliche Gewalt in Russland dekriminalisiert. Dies führt nicht nur zur Straflosigkeit der Täter*innen, sondern mit Blick auf die Datenverfügbarkeit auch zu steigenden Dunkelziffern.

Es zeigt sich vor allem eins: Wir haben zu wenig Informationen. Da uns nur limitierte Daten zur Verfügung stehen, gibt es zwar Anhaltspunkte aber nicht genügend Evidenzen, um kausale Beziehungen herzustellen. So kann unsere empirische Analyse zwar eine erste Tendenz abbilden für den Zusammenhang zwischen Militarisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt, aber das Gesamtbild bleibt trübe. Es zeigt sich also deutlich, dass die Daten für gehaltvolle Analysen – und in der Konsequenz auch politische Empfehlungen – fehlen. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund (inter-)nationaler Bekenntnisse zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt besorgniserregend – und muss sich dringend ändern!

Anmerkungen

1) Der Begriff »Frauen« umfasst alle Personen, die sich als Frau identifizieren.

2) Gewalt, die dich explizit gegen LGBTQIA*-Personen richtet, fällt theoretisch auch unter diese Begriffsdefinition, allerdings wird der Begriff in diesem Zusammenhang selten verwendet.

3) Dieses Machtgefälle wirkt nicht nur geschlechtsspezifisch, die Konstruktion von militarisierter Maskulinität ist ein Gegenentwurf zu jeglichem »Anderen« und basiert damit gleichermaßen auf Homophobie, Misogynie und Rassismus. Hier fokussieren wir aber auf geschlechtsspezifische Implikationen.

Literatur

BICC (2022): Globaler Militarisierungsindex, Online: gmi.bicc.de.

Eichler, M. (2014): Militarized masculinities in international relations. The Brown Journal of World Affairs 21(1), S. 81-93.

Elshtain, J. B. (1982): On beautiful souls, just warriors and feminist consciousness. Women’s Studies International Forum 5 (3/4), S. 341-348.

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Dr. Lamis Saleh ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Unterstützung der Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen in Afrika« am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC).
Fiona Wilshusen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte«, ebenso am BICC.

Der Russland-Ukraine-Krieg

Der Russland-Ukraine-Krieg

Impulse für einen umfassenden und nachhaltigen Friedensprozess

von Karim P. Fathi

Der Russland-Ukraine-Krieg hält die Welt in Atem. Dabei findet sich in der emotionalisierenden Berichterstattung wenig über die Frage, was für einen nachhaltigen Frieden notwendig wäre. Beiträge aus der Friedensforschung und -arbeit wurden und werden in der aktuellen Diskussion unzureichend berücksichtigt, sind sogar Gegenstand von antipazifistischer Kritik. Letztlich gilt jedoch: Friedensforschung kann voraus- und über eine enge Debatte über Waffenlieferungen und militärische Erfolge hinausblicken. Wie kann ein nachhaltiger Frieden nach dem Ende des Russland-Ukraine-Kriegs gefunden werden, auch und gerade in Anbetracht seiner Tiefendimensionen? An welchen Stellschrauben könnte Friedenspolitik ansetzen?

Ein nachhaltiger Friedensprozess bedarf einer entsprechend komplexitätsangemessenen Analyse der Konfliktsituation und einer ebenso angemessenen Interventionsgestaltung. Die folgende Darstellung erhebt nicht den Anspruch einer vollständigen Analyse dieses Kriegs. Vielmehr geht es darum, mehrere Dimensionen und Ebenen der Konfliktanalyse und -intervention aufzuzeigen, bei denen Friedensforschung und -arbeit wichtige Beiträge leisten können und die in der aktuellen Diskussion sowie der internationalen Politik vernachlässigt werden.

Ebene 1 – Konstellation Russland vs. Ukraine

Vordergründig stellt sich der vorliegende Krieg in erster Linie als eine militärische Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland dar. Dem müssen im Kontext einer vielschichtigen Analyse die psychische, strukturelle und kulturelle Dimension zur Seite gestellt werden. Nur so können inhärente Risikopotenziale jenseits des aktuellen Schlachtfelds umfassend berücksichtigt werden.

Die psychische Dimension betrifft unter anderem den erheblichen Stress und die seelischen Schäden in der Bevölkerung, die mit der Fortdauer des Kriegs zunehmen und im Sinne posttraumatischer Behandlungsbedarfe und einer „Jetzt erst recht“-Revanchehaltung den Konflikt verlängern können.

Strukturelle Gewalt prägt sich vor allem als systematische Diskriminierung aus, von der mehrere ethnische Gruppen betroffen waren und sind. So mahnte das EU-Parlament im Vorfeld des Kriegsausbruches „gravierende“ Fälle von Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung an. Die Ukraine, die nunmehr seit einigen Jahren durch ein Assoziierungsabkommen zunehmend enger mit der EU verbunden ist, verstoße mit ihrer Sprach‐ und Minderheitenpolitik immer wieder gegen internationale Minderheitenstandards. Unter anderem hob die Staatsanwaltschaft des Gebiets Donezk laut Medienberichten den Status des Russischen als regionale Amtssprache auf, obwohl dort ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Russisch spricht (Europäisches Parlament 2018). Zugleich wird auch über ähnliche Formen struktureller und direkter Unterdrückung von Nicht-Russ*innen in den von Russland besetzten Gebieten berichtet (Dornblüth und Adler 2022). Strukturelle Gewalt trägt insgesamt erheblich zur Kriegspropaganda auf beiden Seiten bei und wird zugleich von ihr legitimiert.

Dies zeigt sich im Ausmaß kultureller Gewalt, die sich im Russland-Ukraine-Krieg vielfältig ausprägt. Kulturelle Gewalt umfasst Muster in verschiedenen Kulturbereichen und Medien, z.B. in der Kunst, Berichterstattung, Folklore, die direkte und strukturelle Gewalt legitimieren (Galtung 1998). Eine verbreitete Manifestation kultureller Gewalt besteht in der moralisierenden und polarisierenden Berichterstattung und entsprechenden Bildern, die Russland und die Ukraine voneinander zeichnen. „Faschismus“ (Kotsev 2022) oder „genozidales“ Verhalten (Tacke und Busche 2022) assoziieren beide Seiten miteinander. Kulturelle Gewalt erhält im sich abzeichnenden »Informationskrieg« und »Kampf der Narrative« besondere Bedeutung: Längst ist der Russland-Ukraine-Krieg auch ein Ringen um Deutungshoheit und moralische Legitimation geworden, das im digitalen Raum ausgefochten wird (Hate Aid 2022).

Zusammengefasst sollten auf der hier vorgestellten Analyseebene »Russland vs. Ukraine« mindestens folgende Dimensionen im Rahmen einer ganzheitlich ausgerichteten Konfliktanalyse berücksichtigt werden: eine Dimension der qualitativen Analyse, die auf subjektive bzw. »softe« Faktoren wie z.B. Psyche, Kultur, Narrative und Traumata Bezug nimmt, und eine Dimension der quantitativen Analyse, die eher objektive und empirisch-beobachtbare Faktoren untersucht, wie z.B. Strukturen, Interaktionen, beobachtbare Fakten und Handlungen sowie juristische Rahmenbedingungen. Diese Kategorisierung ermöglicht, wie unten zu zeigen sein wird, eine ganzheitliche Berücksichtigung unterschiedlicher Konfliktdimensionen für die Konfliktintervention.

Um die unterschiedlichen Konfliktdimensionen etwas zu systematisieren dient die hier beigefügte Vier-Feld-Matrix (Tabelle 1). Ein solches Schema wird typischerweise in der Tradition der Konflikttransformation verwendet, z.B. von Norbert Ropers (1995) oder John Paul Lederach (2003).

Ebene 2 – Russland-Ukraine-NATO-Konflikt

Auf einer tieferen Analyse- und Interventionsebene werden nicht nur die Positionen der Konfliktparteien, sondern die tieferliegenden Bedürfnisse berücksichtigt. Unerfüllte Bedürfnisse, wie z.B. Identität, Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, stellen die tiefere Antriebsfeder jedes Konflikts dar (Galtung 1998). Darüber hinaus beinhaltet dieser Konflikt eine weiter gefasste regionale Konstellation, aus der sich weitere Antriebskräfte und Themen ergeben.

Jeder bedürfnisbasierte Konfliktlösungsprozess erfordert eine differenzierte Betrachtung der betroffenen Bedürfnisse aller Konfliktparteien und damit ein Berücksichtigen von Mitverantwortung aller Beteiligten an der gemeinsamen Konfliktdynamik.

Auf Seiten der Ukraine sind Bedürfnisse nach Sicherheit, Überleben, Identität, Freiheit/Gerechtigkeit betroffen. Sie entsprechen auch den von Johan Galtung definierten vier Grundbedürfnissen. Demnach sieht sich die Ukraine in dieser asymmetrischen Konfliktkonstellation Gewalt auf allen nur denkbaren Dimensionen ausgesetzt. Auf Seiten Russlands scheinen vor allem die Bedürfnisse nach Sicherheit, Identität und Gerechtigkeit betroffen zu sein. Dies wird erst ersichtlich, wenn der Beitrag mittelbar beteiligter Akteure, wie z.B. der USA oder der NATO, in der Analyse miterfasst wird.

Diese Russland-Ukraine-NATO-Konfliktkonstellation zu betrachten ist für den Friedensprozess unerlässlich. Seit Jahren fordert Russland von der NATO und den USA Sicherheitsgarantien, eine Verringerung der Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke und einen Stopp der Ausdehnung des westlichen Bündnisses in Richtung Russland. In der Vergangenheit forderte Putin von der NATO schriftliche Garantien, künftig keine weiteren osteuropäischen Staaten wie Georgien oder eben die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Hinsichtlich der geografischen Reichweite der NATO, forderte Russland, sie solle wieder auf den Stand von 1997 zurückgeführt werden. Die USA und die NATO wiesen diese Forderungen als in weiten Teilen unannehmbar zurück. Daher sieht Putin den Krieg als einen Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland an (lpb 2022).

Sicherheitsinteressen sind konfliktrelevant

Russland sieht sich in seinen Sicherheits­interessen von der NATO-Osterweiterung bedroht. Tatsächlich hat dieser Prozess bis heute zu einer zunehmenden Einbindung ehemaliger Sowjetstaaten, wie Polen, Rumänien, Bulgarien oder den Baltischen Staaten geführt (Sarotte 2021). Selbst John Mearsheimer, einer der bekanntesten Vertreter der politischen Theorie des Realismus, interpretiert die russische Ablehnung dieser Situation als durchaus erwartbares Verhalten zur Sicherung der Interessensphäre (Mearsheimer 2022).1 Dies ist insofern bemerkenswert, da der Realismus weder eine Bedürfnisorientierung, noch eine friedenslogisch-pazifistische Ausrichtung aufweist. Doch selbst nach diesem Ansatz sind die geäußerten Sicherheitsinteressen Russlands klar als konfliktrelevante Dimension zu sehen – sie in einer zukünftigen Friedensfindung auszuschließen, kann fast nur zum Scheitern aller Verhandlungen führen. Dies bedürfte dann aufseiten dritter Konfliktparteien, wie den NATO-Staaten, einer Kernanforderung des Projektes der »Friedenslogik« (vgl. Jaberg 2014): Sicherheit dürfte nicht mit Frieden gleichgesetzt werden, Hochrüstung und Kriege nicht als normale Handlungsformen anerkannt und vor allem der eigene Beitrag zur Entstehung dessen, was als Bedrohung wahrgenommen wird, gesehen werden.

Konfliktdimension »Doppelmoral«

Eine weitere Ausprägung struktureller Konfliktpotenziale stellt die Kritik an der »Doppelmoral« des Westens dar, die mit dem aktuellen Propagandakrieg an Fahrt aufgenommen hat. Heute wird Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg stärker verurteilt als andere illegale Kriege, die von westlichen Staaten in der jüngeren Zeit, wie z.B. Irak 2003 oder Libyen 2011, geführt wurden (Fischer 2022). Der Politikwissenschaftler Ivan Krastev sieht die wachsende Kritik an der westlichen Doppelmoral im Wesentlichen als Ausdruck der Krise der liberalen Hegemonie (Krastev 2019). Aus friedenslogischer Sicht erzeugt die „Hybris desjenigen Akteurs, der sich als Sieger des Kalten Kriegs begreift, ebenso wie die normative und praktische Selbstbevorzugung, gemäß derer sich der Westen dazu berechtigt sieht, sich selbst mehr zu erlauben, als er anderen zuzugestehen bereit ist“ (PZKB 2022, S. 12) eine weitere Dimension in diesem konkreten Krieg – etwas das für eine zu schaffende Friedensordnung beachtet werden müsste. Die Zusammenfassung der oben skizzierten Punkte ist in der begleitenden Vier-Feld-Matrix aufgeführt (Tabelle 1).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Tiefergehende Motivationen auf allen Seiten, insbesondere Sicherheitsbedürfnisse.

Ggf. tiefergehende Traumata bei Betei­ligten auf allen Seiten.

Verhalten, Interaktionen:

Historischer Verlauf und aktuelle Handlungen der Parteien (hier: zusätzlich NATO, EU, USA)

Juristische, vor allem völkerrechtliche Rahmenbedingungen: Russland, NATO, EU.

Weitere Rahmenbedingungen: ökono­misch, militärisch, geostrategisch.

Kollektiv

Kultur:

Kulturelle Gewalt, in Form konflikt­verschärfender Bedrohungsdarstellungen (z.B. Gegenseite als feindliche Großmacht).

Kulturelle Gewalt in Form historisch, ideologisch etc. begründeter Legitimierung von geokultureller Expan­sion.

Propagandakrieg, verschärfte Kritik an der Doppelmoral des Westens.

Struktur:

Strukturelle Konstellation: Liberale Hegemonie des Westens.

Great Game zwischen Russland und dem Westen auf dem Schachbrett Europas.

Innerstaatlich: Strukturelle Unterdrückung von Minderheiten (je nach Gebiet: Russ*innen und Nicht-Russ*­innen).

Tabelle 1: Dimensionen zur Analyse des Russland-Ukraine-NATO-Konflikts in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

Impulse für den Friedensprozess

Auf Grundlage der oben skizzierten Reflexionen ergeben sich mehrere Hebelpunkte für nicht-militärische Interventionen im Russland-Ukraine-Krieg.

Maßnahmen für die Zivilbevölkerung

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung hält eine Vielzahl von Handlungsfeldern und Maßnahmen bereit, die bereits in internationalen Konflikten umgesetzt werden. Ein Großteil dieser Maßnahmen adressiert die Zivilbevölkerung(-en) der direkt betroffenen Konfliktparteien. Dies erscheint unumgänglich, um ein Wiederaufflammen von Gewalt, nachdem politische Vereinbarungen getroffen wurden, zu verhindern.

Ein wichtiges Handlungsfeld, das in der Ukraine durchaus abgedeckt wird, ist Leidmilderung und Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe. Vom Angriffskrieg ist besonders die ukrainische Zivilbevölkerung betroffen. Humanitäre Hilfe von Staaten und NGOs oder UN-Hilfsorganisationen leistet Schadensbegrenzung (EU Kommission 2022). Neben materieller Versorgung muss diese Hilfe auch psychologische Unterstützung zur Behandlung von Depressionen, Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) beinhalten.

Maßnahmen gegen kulturelle Gewalt

In einem weiteren Handlungsfeld geht es vor allem darum, den Unterbau kultureller Gewalt anzugehen, der sich in Form direkter Gewalt wie Hassrede, Verschwörungsmythen, Kriegsrhetorik ausdrückt. Denn kulturelle Gewalt befeuert maßgeblich den Konflikt und kann ihn vor allem über Generationen am Leben halten. Diese Dimension bedarf langfristiger Ansätze. Hierzu ein paar knappe Notizen:

  • Ein wichtiger und derzeit unterschätzter Ansatzpunkt wäre ein Sensibilisieren für kulturelle Gewalt beispielsweise durch die Förderung von »Friedensjournalismus«. Letzterer zielt darauf ab, den Konflikt differenziert darzustellen, die Hintergründe zu verdeutlichen und mögliche friedliche Lösungen aufzuzeigen und auf diese aktiv hinzuarbeiten (Kempf und Shinar 2014).
  • Ein zweites Handlungsfeld, das auf Eindämmung kultureller Gewalt und gleichzeitig Förderung von Verständigung abzielt, könnte das Einrichten von Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative sein. Eine solche Plattform wurde bereits in der Vergangenheit anlässlich des Krim-Kriegs vom IMSD-Netzwerk ins Leben gerufen und erfolgreich umgesetzt (Inmedio o.J). Dabei ging es darum, umstrittene Narrative in der öffentlichen Berichterstattung Deutschlands (und im weitesten Sinne des Westens), der Ukraine und Russlands zu erkunden und einen Raum für Diskussionen zu schaffen, der auf ein tiefes Verständnis der Standpunkte ihrer Teilnehmer*innen abzielte. Dieser mediative Dialog fokussiert auf die Idee des Wertes aller Standpunkte und dem Recht eines jeden, zu sprechen und gehört zu werden (Inmedio o.J).
  • Eine dritte Dimension soziokultureller Interventionen, die in einer späteren Phase des Friedensprozesses an Bedeutung gewinnen dürfte, widmet sich der Frage nach einem friedlichen Zusammenleben russisch- und ukrainischsprachiger Bevölkerungsgruppen, insbesondere im Donbas. Hier wird es auf intra- und transnationaler Ebene darum gehen, das Etablieren einer Sprach- und Minderheitenpolitik zu ermöglichen, die internationalen Mindeststandards entspricht.
  • Auch die Schulbildung als Träger kulturell gewaltvoller Inhalte darf als Konfliktdimension nicht unterschätzt werden. Entsprechende Erfahrungswerte bestehen unter anderem im Israel-Palästina-Konflikt und dem Konzept der »parallelen Geschichten«. Diese Initiative trägt dem Umstand Rechnung, dass Konfliktgruppen historische Ereignisse sehr unterschiedlich wahrnehmen und erklären. Oft werden für diese Auseinandersetzungen Geschichtsbücher in Schulen instrumentalisiert. Das von Samir Adwan und Dan Bar-On ins Leben gerufene Schulbuchprojekt berücksichtigt die Sichtweisen beider Seiten und ermöglicht es den Schüler*innen, beide kennenzulernen (Adwan und Bar-On 2012). Dieser erfolgreiche Ansatz ließe sich auch auf die Ukraine, insbesondere im Donbas, anwenden.

Staatliche Ebene: Verhandlungen möglich machen

Angesichts der fortgeschrittenen Eskalation und Verhärtung dürfte es sich als sinnvoll erweisen, wenn die unterschiedlichen internationalen Unterstützer*innen die Konfliktparteien dazu bewegen, die Waffen niederzulegen und sich konstruktiv an einer Friedenslösung zu beteiligen. Nach klassischer Konflikteskalationslogik sind die Akteure in diesem Zustand kaum mehr in der Lage, aus eigenen Kräften aus der Verhärtung auszubrechen. Im Falle der Ukraine hätten die USA entsprechenden Einfluss, auf russischer Seite eventuell China.

Grundsätzlich erweist es sich als friedensförderlich, Dialogkanäle zwischen den Beteiligten aufrechtzuerhalten und den Raum für Verhandlungen offen zu lassen (Purkarthofer 2000). Die Mediator*innen vom IMSD empfehlen dabei für den Prozess, keine hohen Erwartungen an inhaltliche Kompromissbereitschaft zu stellen, da ein Drängen von Drittparteien zu weiterer Verhärtung führen könnte. Vielmehr gehe es darum, auf niedrigschwellige Zwischenziele, etwa als „Identifikation der Bedingungen zur Co-Existenz“, hinzuarbeiten (IMSD 2022). Tatsächlich bestanden im ersten Kriegsmonat durchaus Chancen auf eine Verhandlungslösung. Nach Beratungen in Istanbul Ende März bot die Ukraine ihre Neutralität und den Verzicht auf einen NATO-Beitritt an. Die Verhandlungen kamen zu keinem Ergebnis (ZEIT 2022). In den späteren Monaten wurden zumindest Teilerfolge in Form von Abkommen zu Gefangenenaustauschen und Getreide realisiert (Apelt 2022). Darauf ließe sich aufbauen. Letztlich gilt: Das Ende des Krieges kann nur in Form von Verhandlungen erfolgen, in denen strittige Punkte, wie z.B. die Territorialfrage, geklärt werden müssen. So stellt sich aufgrund der steigenden Kriegskosten auf beiden Seiten und der geringen Wahrscheinlichkeit eines schnellen militärischen Sieges „weniger die (…) Frage, ob es weitere Verhandlungen geben wird, sondern eher wann und unter welchen Bedingungen“ (IMSD 2022).

Bei der Frage nach geeigneten Mediator*innen eignen sich von allen Beteiligten gleichermaßen akzeptierte Staaten, wie z.B. die Türkei oder die Schweiz, oder spezialisierte NGOs, wie z.B. die Berghof Stiftung, inmedio oder das IMSD-Netzwerk. Dabei wird in der zivilen Konfliktbearbeitung betont, alle »Tracks« mit einzubeziehen – die der politischen Entscheidungsträger*innen (Track 1), gesellschaftlicher (Track 2) und zivilgesellschaftlicher Führungspersönlichkeiten (Track 3) (Lederach 1997) – was im Falle der Ukraine vor allem auch aufgrund ihrer innerstaatlichen Konfliktdimensionen sinnvoll erscheint (Herrberg 2017). Insgesamt, so betonen die Expert*innen des IMSD-Netzwerks, empfiehlt sich das Einrichten unterschiedlich zusammengesetzter Akteursforen. Um z.B. den Ursachen für die Außeneinmischungen in diesem Konflikt auf den Grund zu gehen und den übergeordneten russischen Sicherheits- und Anerkennungsinteressen begegnen zu können, ist eine Einbindung relevanter westlicher Mächte, insbesondere der USA und NATO, auf der Track 1-Ebene erforderlich (IMSD 2022).

Das selbstkritische Reflektieren des eigenen Beitrags beinhaltet, wie die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) in ihrer Stellungnahme vom 11.05.2022 betonen, nicht die moralische Schuldfrage. Vielmehr gilt es, die eigenen Anteile an der Zuspitzung der letzten Jahre zu thematisieren und die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien nachzuvollziehen, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. So ist im westlichen Diskurs weitgehend tabuisiert, dass die aktuelle Herrschafts- und Sicherheitsordnung nicht auf Grundlage eines gleichberechtigten Mitwirkens aller Beteiligten entstand. Schon früh geäußerte Einwände und Sicherheitsbedenken Moskaus wurden ignoriert und seine Initiativen – wie beispielsweise der Entwurf für einen Sicherheitsvertrag im Jahre 2009 – wurden nicht aufgegriffen (PZKB 2022). Selbstkritisches Reflektieren des Eigenanteils bedeutet für den Westen auch eine Auseinandersetzung mit dem vermehrt geäußerten Vorwurf der Doppelmoral. Ein solcher, vom Westen selbst angestoßener Diskurs über eigene Fehler und Versäumnisse könnte wesentlich dazu beitragen, Größe zu zeigen und verlorengegangenes Vertrauen in der internationalen Staatengemeinschaft zurückzugewinnen.

Pufferzonen und Demilitarisierung

Aus einer lösungsfokussierten Perspektive nehmen im Russland-Ukraine-Krieg vor allem Sicherheitsbedürfnisse und die Frage nach dem Status der Ukraine, zumindest der Ostukraine, einen zentralen Wert ein. Einige Beobachter*innen aus der zivilen Konfliktbearbeitung, wie z.B. Johan Galtung oder Antje Herrberg, empfehlen das Etablieren einer neutralen bzw. demilitarisierten Pufferzone, im Sinne eines oder mehrerer autonomer Gebiete entlang der westrussischen Grenze (Herrberg 2017; Galtung 2014). Aus friedenspolitischer Sicht läge es im nationalen Interesse der Ukraine, die Multiethnizität der Region zu sichern und die russische Kultur als koexistierende Kultur zu begreifen. Als Inspirationsbeispiele ließen sich z.B. das Föderalismuskonzept der Schweiz (Wolffsohn 2019) oder das Modell der Autonomen Provinz Bozen (2022) heranziehen.

Die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung sehen vor allem die OSZE als am besten geeigneten Ort für solche Verhandlungen, als Projekt so genannter „gemeinsamer Sicherheit wider Willen“, weil sie den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung stellt (PZKB 2022).

All die oben skizzierten vielfältigen Beiträge und Überlegungen für einen nachhaltigen Friedensprozess lassen sich erneut in einer Vier-Feld-Matrix zuordnen (Tabelle 2).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Leidmilderung der Opfer durch humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerungen durch Nichtregierungsorganisationen oder UN-Organisationen. Fokus: PTBS und weitere psychische Verletzungen.

Friedensgespräche auf politischer Ebene (Track 1) sollten inoffiziell und gesichtswahrend laufen.

Verhalten, Interaktionen:

Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand auf allen Seiten.

Durchführung von Friedensgesprächen unter Einbindung mehrerer Ebenen (Multi-Track) und lokaler Vermittler.

Bestehende Abkommen (wie z.B. Minsk-Abkommen) als Ausgangsbasis für den weiteren Prozess, ggf. im Rahmen eines Projekts „Gemeinsame Sicherheit wider Willen“, moderiert über die OSZE.

Kollektiv

Kultur:

Behebung kultureller Gewalt, z.B. in Form moralisierender Berichterstattung, durch Friedensjournalismus. Entwicklung einer differenzierteren Diskurs­kultur.

Bekämpfung von Desinformation durch unabhängige Organisationen, z.B. der UN.

Anti-diskriminierende Integrationspolitik in der Ukraine.

Empathie: Sensibilisierung für eigene Anteile am Konfliktsystem.

Schulbuchprojekte der „zwei Seiten“, inspiriert am Erfolgsbeispiel Israel-­Palästina.

Einrichtung von „Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative“.

Struktur:

Behebung struktureller Gewalt, z.B. in Form von Diskriminierungen russischsprachiger Minderheiten in der Ukraine. Denkbar wäre ein föderales Konzept (z.B. Schweizer oder Südtiroler Modell).

Kritische Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse aller Seiten, die sich aus der geostrategischen Konstellation ergeben.

Aushandlung weiterer Win-Win-Lösungen zur Territorialfrage: UN-überwachte Sicherheitsgarantien; Einrichtung eines demilitarisierten Puffers an der Ostgrenze zu Russland.

Tabelle 2: Ansatzpunkte und Interventionen für den Friedensprozess im Russland-Ukraine-­NATO-Konflikt in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

»Nadelstiche« nicht unterschätzen

Einige der oben skizzierten Punkte mögen utopisch erscheinen, weil sie zur Durchsetzung idealerweise durchsetzungsfähige transnationale Institutionen, im Idealfall eine handlungsfähige UN und entsprechende Weltinnenpolitik voraussetzen würden. Nicht zu unterschätzen ist jedoch, dass in nahezu all diesen Bereichen NGOs aus der Zivilgesellschaft tätig sind und in der Lage sind und wären, »Nadelstiche« für den Frieden zu setzen.

Der Russland-Ukraine-Krieg ist von erheblicher globaler Tragweite, seine Befriedung in seiner Bedeutung und den Herausforderungen nicht zu unterschätzen. Die primär diskutierten Dimensionen der Durchsetzbarkeit internationalen Rechts sowie die Fragen der aktiven Kriegsführung müssen durch die hier angesetzte Betrachtung erweitert werden. Hier gilt es für Friedensforschung und -arbeit vorauszudenken und immer wieder zu betonen, dass Dimensionen psychischer und kultureller Gewalt, struktureller Gewalt sowie größerer Auseinandersetzungen über die Kritik an der westlich-dominierten liberalen Hegemonie ebenso eine Rolle spielen und im Rahmen der Konflikttransformation berücksichtigt werden müssen.

Anmerkung

1) Ganz ähnlich schätzen dies weitere prominente Vertreter*innen geostrategischer Denkschulen ein. Beispiele seien hier u.a. die Einschätzung des Geostrategen des Beratungsinstituts Stratfor, George Friedman. In einem Vortrag am »Chicago Council on Global Affairs« von 2015 bestätigte er Russlands Befürchtungen eines geostrategischen Plans des »Sicherheitsgürtels« entlang der Westgrenze zu Russland. Hier käme der Ukraine und der Frage, ob das Land pro-westlich oder pro-russisch ausgerichtet sei, eine besondere strategische Bedeutung zu (Friedman 2015). Diese Einschätzung wird vom Geogstrategiker Zbigniew Brzezinski geteilt (siehe Brzezinski 2001).

Literatur

Adwan, S.; Bar-On (2012): Side by side: Parallel histories of Israel-Palestine. The New Press, New York

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Autonome Provinz Bozen (2022): Eine Autonomie für drei Sprachgruppen. URL: provinz.bz.it/autonomietag/autonomie.asp

Brzezinski, Z. (2001): Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Dornblüth, G.; Adler, S. (2022): Russlands Besatzungspolitik in der Ukraine. Deutschlandfunk, 05.04.2022.

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Herrberg, A. (2017): Is peace mediation in Ukraine possible, and how? Conciliation Ressources, Februar 2017.

IMSD (2022): Krieg in der Ukraine: Haben Verhandlungen eine Chance? 10 Punkte der Initiative Mediation Support Deutschland (IMSD). April 2022.

Inmedio (o.J.): Platform for mediative dialogue on contested narratives. URL: contested-narratives-dialogue.org

Jaberg, S. (2014): Sicherheitslogik: Eine historisch-genetische Analyse und mögliche Konsequenzen. W&F 02/2014, Dossier 75, S. 8-11.

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Tacke, S.; Busche, L. (2022): Genozid-Vorwurf im Ukraine-Krieg: Wann spricht man von Völkermord? ZDF heute, 07.04.2022.

Wolffsohn, M. (2019): Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München: dtv Verlag.

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Karim P. Fathi ist Friedens- und Resilienzforscher und Partner diverser Beratungsorganisationen. Schwerpunktmäßig forscht er zu gesellschaftlicher Multiresilienz und integrierter Konfliktbearbeitung.

Vom Fremden zum Nächsten

Vom Fremden zum Nächsten

Empathische Wahrnehmung als Startpunkt einer Friedensethik

von Konstantin Funk

Auch wenn wir um die Entstehung unserer moralischen Überzeugungen in einer bestimmten Kultur und Zeit, in einem konkreten Ort wissen, so halten wir unsere dort gemachten Erkenntnisse in der Regel doch für kategorisch wahr. Diese Situiertheit unserer moralischen Rezeption stellt den prominenteren Ansatz in Frage, Ethik rein rational, also ohne (emotionale) Involviertheit und gerade zeit- und ortsunabhängig, zu begründen. Wie können wir angesichts unserer unabdingbaren soziokulturellen Eingebundenheit wahrnehmen, was wahrzunehmen ist, um (auch außerhalb unseres soziokulturellen Nahhorizonts) richtig handeln zu können? Ist es vernünftig, auf unser moralisches Bauchgefühl zu hören?

Wenn wir uns die Frage stellen, welche Bedeutung Emotion und Empathie1 im (friedens-)ethischen Nachdenken und Handeln zukommt, so lässt sich diese Frage nicht beantworten ohne Rückgriff auf den eigenen ethischen Erfahrungsschatz2: Inwiefern hängt unser moralisches Verhalten davon ab, wie wir mit dem Gegenüber mitfühlen? Begründen wir – auch vor uns selbst – logisch-rational, was wir tun und unterlassen, oder dekodiert uns handlungsleitend Empathie und Emotion eine moralisch aufgeladene Szene?

Sicher wird man sich mit Blick auf eigene Erfahrungen mit einer Entweder-Oder-Logik nicht zufrieden geben; zu verwoben und aufeinander angewiesen sind beide Komponenten ethischer Entscheidungsfindung. Mehr noch: Das intuitive Handeln, der situative Impuls stellen sich, gerade in der nachträglichen Reflexion derselben, als Destillate gemachter (und verpasster) Erfahrungen dar. Sie sind deshalb alles andere als »stumpfe« Affekte. In der moralischen Intuition bildet sich offensichtlich unsere ganze Biographie ab. Das führt in einer pluralen Welt womöglich zu Auseinandersetzungen. Denn obwohl wir um die Ursprünge unseres moralischen Empfindens wissen, haben unsere Überzeugungen doch kategorischen Anspruch: Was heute und hier falsch ist – so behauptet es unser ethisches Gefühl –, ist falsch; »Gut« und »Schlecht« sind keine Geschmackssachen!

Nun ist es ein Leichtes, sich Szenen vorzustellen, in denen dieser jeweilige Anspruch zu großem Streit, womöglich Gewalt, führt. Man stelle sich beispielsweise vor, so Christoph Ammann, der über die komplexen Voraussetzungen moralischer Wahrnehmung und die Rolle der Emotion darin nachdenkt, zwei Menschen säßen in einer Stierkampfarena und betrachteten das Spektakel (vgl. Ammann 2007, S. 113). Der eine, ein spanischer Stierkampf-Aficionado, ist begeistert: Er entdeckt in der Szenerie Mut, Erhabenheit, Stolz, fühlt sich verbunden mit der bedeutungsgeladenen Tradition und verlässt – der Stier ist endlich besiegt – beeindruckt die Arena. Sein Freund, der vielleicht zum ersten Mal zu Besuch ist, kann kaum glauben, was er sieht: Unnötiges Tierleid, Elend und sich daran berauschende Massen, die dem stundenlang gequälten Tier kein Mitleid entgegenbringen wollen. Immerhin, so könnten Stierkampffans argumentieren, hatten diese Zuchttiere im Gegensatz zu all dem armen Mastvieh ein hervorragendes Leben auf grünen Weiden, Mitleid ist gar nicht angebracht. Oder doch? Wie kommt es, dass beide doch die selben Fakten vor Augen haben – einen Stier, einen Torero, Blut, jubelnde Menschenmassen, … – und doch etwas gänzlich anderes, ja Gegensätzliches sehen? Und vor allem: Wie würde ein gewinnbringender Streit zwischen den beiden im Anschluss aussehen?

Gelungene Mitleidsethik? Der barmherzige Samariter

Man kann die Parabel um den barmherzigen Samariter im Lukasevangelium als eine Geschichte gelungener Mitleidsethik lesen. Was Nächstenliebe ist, so scheint die Geschichte sagen zu wollen, zeigt sich in einer bestimmten rezeptiven Aufmerksamkeit dem anderen, Fremden gegenüber. Auf die Frage, was denn einen Nächsten zum Nächsten mache, antwortet Jesus einem Gesetzeslehrer wie folgt:

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“ (Lk 10, 30-33 Luther 2017; Hervorh. des Autors)

„Und als er ihn sah, jammerte es ihn“. Hier, im Mitgefühl, ist der Handlungsimpuls des Samariters verbürgt. Auf die nachträgliche Frage, warum er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, hätte der Samariter womöglich schlicht geantwortet: „Weil der Mensch Hilfe brauchte.“ Diese knappe Antwort verwiese auf das Zutrauen in die Vernünftigkeit seiner situativen Wahrnehmung, die zwar nachträglich Handlungsgründe zu liefern und formulieren weiß, zuvorderst aber als mitfühlende Intuition moralische Wirklichkeit erschließt. Jene bedarf keiner weiteren Begründungen als der der gesehenen Hilfsbedürftigkeit. Sein Handeln ist eine Konsequenz empathischer Rezeption des unter die Räuber Gefallenen, die Gründe – ohne sie als Handlungsgrund im Moment des Handelns ausformulieren zu müssen – „zu Gründen werden [lässt]“ (Roth 2019, S. 79), weil sie als Bestreben mit- und nachzuempfinden sichtbar macht, was nicht ohne Weiteres zu sehen ist. Dies wird in der Parabel am Beispiel der angesehenen Charaktere, des Priesters und des Leviten, deutlich. Sie, obwohl sie dem geschundenen Mitmenschen eher als der Samariter – ein „verfemter Dissident“ (Harnisch 2001, S. 287, zit. nach Zimmermann 2007, S. 550) – ein Nächster sein müssten, nehmen ihn in seinem Leiden nicht wahr – oder ignorieren das Leiden gänzlich. Beide blockieren empathisch-emotional; sie lassen sich nicht anrühren (vgl. zur Empathie-Blockade: Breithaupt 2019). Das macht sie trotz soziokultureller Nähe zu Fremden, den verhassten Samariter zum Nächsten.

Was bedeutet das für die Ethik?

In der Parabel wie in der Stierkampfarena wird in Ansätzen bereits deutlich, wie vor­aussetzungsreich moralische Rezeption tatsächlich ist – Zeit, Ort, die eigene Biographie sowie empathische Aufmerksamkeit sind nur einige Faktoren, die sich zu einem Wahrnehmungsakt synthetisieren. Das stellt gleichzeitig den wirkungsgeschichtlich prominenten Ansatz in Frage, Ethik rein rational, also unter Ausschluss jeglicher emotionaler Involviertheit, zu begründen. „Jetzt lassen wir unsere Gefühle einmal beiseite“ ist eine Forderung, die nicht nur die akademische Ethik, sondern auch die vermeintlich vernünftige alltägliche Auseinandersetzung kennzeichnet. Und sie ist sicher in aller Regel sinnvoll. Doch laut Johannes Fischer „können [wir] kein einziges moralisches Urteil und keine einzige moralische Entscheidung treffen, ohne dabei emotional involviert zu sein“ (Fischer 2012, S. 15). Auch die in der Parabel des Samariters herausgestellte Nächstenliebe konstituiert sich durch empathisches Mitleiden. Moralische Gründe und Urteile werden hier vorgestellt als Gründe und Urteile, die in der emotional-empathischen Nachvollziehbarkeit, also zeigend und nachempfindend, ihren hermeneutischen Startpunkt haben.

Für die Forderung des Einbezugs von Emotionen in den (akademischen) ethischen Erkenntnisprozess gibt es freilich prominente Beispiele. James Hal Cone (1938-2018), Mitbegründer schwarzer Befreiungstheologie in den USA, beginnt sein erstes Buch »Schwarze Theologie. Eine Interpretation der Black Power Bewegung« (1971[1969]) ganz bewusst provozierend emotional:

Dieses Buch ist darum mit einer ganz bestimmten Haltung geschrieben: mit der Haltung eines zornigen schwarzen Mannes, der angewidert ist von der Unterdrückung der Schwarzen in Amerika und von der akademischen Forderung, das doch »objektiv« zu betrachten. Zu viele sind gestorben, und zu viele stehen an der Schwelle des Todes“ (Cone 1971, S. 10).

Gewisse Missstände, bestimmtes notwendiges Zu-Tuendes würde nach Cone nicht erfahrbar in einer „leidenschaftslosen, unverbindlichen Debatte“ (ebd.), oder indem man es „verstandesgemäß […] mechanisiert“ (ebd., S. 21), sondern im engagierten Beteiligtsein innerhalb moralischer Praxis. Beeindruckend früh, nämlich 1967 – also weit vor dem sogenannten emotional turn der späten 1980er und 90er Jahre –, beschwört auch der afroamerikanische Menschenrechtler Kenneth B. Clark (1914-2005) das Erkenntnispotential empathisch-emotionaler Wahrnehmung für den akademischen Diskurs. Cone zitiert Clarks Buch »Schwarzes Getto«, in dem dieser behauptet, „es könnte in Wirklichkeit so sein, daß dort, wo grundlegende psychologische und moralische Fragen zur Debatte stehen, das Unbeteiligtsein und der Ausschluß gefühlsmäßiger Reaktionen weder besonders intelligent noch objektiv, sondern naiv sind und den Geist der Wissenschaft in seinem besten Kern kränken. Wo menschliche Gefühle Teil der Beweisführung sind, dürfen sie nicht unbeachtet bleiben. […] Wenn ein Wissenschaftler, der die Konzentrationslager der Nazis studierte, sich durch das vorkommende Beweismaterial nicht in Aufregung versetzt fühlte, so würde niemand sagen, er sei objektiv, sondern man würde vielmehr um seine geistige Gesundheit und sein moralisches Empfinden besorgt sein. Gefühle können ein Urteil verzerren, aber Gefühllosigkeit kann es noch mehr entstellen.“ (Clark 1967, S. 111, zit. nach Cone 1971, S. 10f.)

Nächste und Fremde

„Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat.(Lk 10, 36-37 Luther 2017; Hervorh. des Autors)

In der oben angeführten Frage nach den Voraussetzungen für Handlungsgründe entdeckt Bernard Williams in seinem Erstlingswerk »Der Begriff der Moral« (1972) die Ansatzpunkte „von denen wir die Moral gewissermaßen »in Bewegung setzen« können“ (Williams 1978, S. 18). Denn im empathischen Handlungsimpuls mit dem Nächsten – das Beispiel von Williams ist nicht ein barmherziger Samariter, sondern ein egozentrischer, amoralischer Schurke, wie er in alten Gangsterfilmen vorkommt; einer, der sich um nichts als sich selbst und seinen engsten Familienkreis, sein altes Mütterchen oder seine Freundin schert – stecke das Potential, jenes ursprüngliche Mitgefühl als handlungsleitenden Impuls auch auf den Fremden auszuweiten. Warum? Weil der Handelnde, wir haben es oben bereits geschrieben, eben bloß denkt „‘Der braucht Hilfe’ und nicht ‘Ich mag ihn, und er braucht Hilfe’“ (Williams 1978, S. 18). Das »Mögen« also ist für das Handeln zwar Horizont und Hintergrund, nicht aber Handlungsauslöser – das ist selbst bei einem amoralischen Schurken die benötigte Hilfe allein, ein im Mitgefühl erschlossener Fakt. Wenn der amoralische Schurke also kein Psychopath ist, liebt er seine wenigen Nächsten und handelt deshalb gut an ihnen. Von jenem bei Williams als anthropologische Grundkonstante beschriebenen Nahhorizont aus, innerhalb dessen wir unsere Nächsten aufgrund von Zuneigung empathisch wahrnehmen, wäre durch eine bestimmte ethische Bildungsanstrengung jenes empathisch-emotionale Vorstellungsvermögen auch auf den Fremden zu übertragen, weil auch dem Fremden gleiche oder ähnliche Leidensfähigkeiten wie dem alten Mütterchen oder der Freundin unterstellt werden muss.

Der Beginn moralischen Verstehens obliegt damit weniger dem „zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995, S. 52f.) als vielmehr wiederum dem „Und als er ihn sah, jammerte es ihn“. Erst dadurch werden potentiell zwingende moralische Argumente überhaupt sicht- und nachvollziehbar. Der Samariter wäre also im Williams’schen Verständnis schlicht weit im ethischen Bildungsprozess fortgeschritten: Trotz soziokultureller Differenzen erkennt er sich selbst »aus den Augen des Fremden« als Nächsten. Dieser Perspektivwechsel, der im Gleichnis selbst angesprochen ist, ist meines Erachtens zentral, weil er berühmte Kritikpunkte an Mitleidsethiken entkräftet (vgl. z.B. Nietzsches Verhöhnung der Schopenhauerschen Mitleidsethik als „beliebte und heiliggesprochene Theorie eines mystischen Processes […], vermöge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eines macht (Nietzsche 1971, S. 133, Hervorh. des Autors). Die neutestamentliche Parabel verlangt sogar mehr als der Ansatz der empathischen »Horizontdehnung« bei Bernard Williams. Jesus fragt den Gesetzeslehrer nach der Parabel nicht, wer der Figuren (Priester, Levit, Samariter) den Notleidenden im Mitleid als seinen Nächsten begriffen hat, sondern wer dem Notleidenden ein Nächster durch sein im Mitgefühl begründetes Handeln zum Nächsten „geworden ist“ (vgl. Lk 10, 36-37). Hier wird aus der Perspektive des unter die Räuber Gefallenen gefragt, nicht aus der des Samariters. Jesus fordert diese Blickrichtung in der Frage ein. Dadurch entsteht im Mitleiden ein Perspektivengewinn (nicht eine Perspektivenreduktion von zwei Wesen zu einem, wie Nietzsche meint), weil der Samariter, als zentrale Figur der Erzählung, sich selbst aus den Augen des Notleidenden als Nächster zu begreifen sucht und nicht in egoistischer Vereinnahmung des eigenen Mitleids den Notleidenden schlicht als seinen Nächsten bestimmt. Daraus erwachsen praktische friedensethische Konsequenzen…

Dieser Essay ist der erste Teil eines längeren Beitrags, der im kommenden Heft mit einem Text zu praktischen friedensethischen Konsequenzen fortgesetzt wird.

Anmerkungen

1) Emotion und Empathie sind wechselseitig aufeinander angewiesen, weshalb sie für den folgenden Gedankenschritt ebenfalls zusammengedacht werden: „Die funktionale Verbindung von Empathie und Emotion ist eng. Weil wir Emotionen haben, kann unser Erleben von anderen empathisch miterlebt werden. Weil wir Empathie haben, sind andere für uns als emotionale Wesen zugänglich“ (Breithaupt 2019, S. 209).

2) Der Beitrag basiert auf meinem ausführlicheren Aufsatz »‘Man muß mit menschlichen Gefühlen rechnen.‘ Zur Bedeutung von Emotion und Empathie im friedensethischen Nachdenken« im ersten gemeinsamen Sammelband des Friedensinstituts Freiburg und des Freiburger Instituts für Menschenrechtspädagogik (Harbeck-Pingel und Schwendemann 2022).

Literatur

Ammann, Ch. (2007): Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik (Forum Systematik, Bd. 26). Stuttgart: Kohlhammer.

Breithaupt, F. (2019): Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin: Suhrkamp.

Clark, K. B. (1967): Schwarzes Getto. Düsseldorf: Econ.

Cone, J. H. (1971 [1969]): Schwarze Theologie. Eine Interpretation der Black Power Bewegung. München: Chr. Kaiser Verlag.

Fischer, J. (2012): Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht. Stuttgart: Kohlhammer.

Habermas, J. (1995): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Harbeck-Pingel, B.; Schwendemann, W. (Hrsg.) (2022): Menschen Recht Frieden. Paderborn: V&R Unipress.

Nietzsche, F. (1971): Morgenröthe. Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Frühjahr 1881, Abt. 5, Bd. 1 d. Reihe: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York: De Gruyter.

Roth, M. (2019): Nichts als Illusion? Zur Realität der Moral. Stuttgart: Kohlhammer.

Williams, B. (1978) [1972]: Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik. Stuttgart: Reclam.

Zimmermann, R. (2007): Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10, 30-35. In: (Ders.) (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 538-555.

Konstantin Funk studierte evangelische Theologie, Religionslehre, Musik und Bildungswissenschaften in Mainz und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Friedens­instituts Freiburg an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Dort lehrt er in Sozialethik, Systematischer Theologie und Politischer Philosophie in verschiedenen Studiengängen.

Für wen oder was schreiben sie?

Für wen oder was schreiben sie?

Die Unzugänglichkeit der Friedensforschung

von Primitivo III Cabanes Ragandang

Wenn wir über die aktive Friedensforschung im Feld schreiben, wozu dient dies? Welchen Wert hat es für die Gemeinschaft(en), die unter der Abwesenheit von Frieden leiden? Schreiben wir für die reine Wissensproduktion? Welchen Nutzen können Gemeinschaften aus unseren Schriften ziehen? Diesen Fragen geht der vorliegende Artikel aus der Perspektive eines Friedensforschers nach, der sich in der Gemeinschaft engagiert und zum Wissenschaftler geworden ist.

Bevor ich mich der akademischen Welt zuwandte, arbeitete ich in Vollzeit in einer von Jugendlichen geleiteten gemeinnützigen Organisation, die sich für die Gewaltprävention in Mindanao auf den Philippinen einsetzt. Mindanao wird als die Heimat des zweit­ältesten Konflikts der Welt bezeichnet, eines Konfliktes, der sich um das Streben der islamisierten Moro-Stämme nach Selbstbestimmung dreht. Mein Interesse an der Friedensarbeit begann bereits während des Studiums, als ich mich in außerschulischen Friedensinitiativen engagierte, Hilfsgüter für die Evakuierten sammelte und Sitzungen zur Traumaheilung mit Jugendlichen und Kindern durchführte. Als Praktiker verstand ich die Friedensarbeit als ein direktes Engagement für die Gemeinschaft, insbesondere für diejenigen, die von langwierigen Konflikten betroffen sind.

Eines Tages sagte mir mein ehemaliger Professor, ich solle Zeit finden, um einen Master-Abschluss zu machen, denn „die Leute hören mehr auf Akademiker*innen als auf Praktiker*innen“. Später schloss ich einen Aufbaustudiengang ab und fand eine Stelle im akademischen Bereich, wo ich in Vollzeit als Assistenzprofessor in der Abteilung für Politikwissenschaften tätig bin. Da ich von einer Universität in Mindanao komme, folge ich einer Erkenntnisweise, die besagt, dass Friedens»forschung« genauso wichtig ist wie die Friedens»arbeit« in der Praxis mit der Gemeinschaft. Es ist für mich zu einer eingeprägten erkenntnistheoretischen Haltung geworden, die dem ähnelt, was Furlong und Marsh (2002) als „Haut, nicht Pullover“ beschrieben haben. Selbst in meiner neuen Rolle in der Wissenschaft ist diese erkenntnistheoretische Einstellung wie eine Haut, die sich nur schwer abstreifen lässt, da sie sich durch jahrelanges Friedensengagement vor Ort entwickelt hat.

Nach drei Jahren im akademischen Bereich erhielt ich ein Promotionsstipendium in Australien. Auf einer akademischen Konferenz, auf der ich meine Forschung als Friedenspraktiker vorstellte, wurde mir gesagt, ich solle in der Wissenschaft nicht zwei Hüte gleichzeitig tragen. Denn in der Wissenschaft zu sein bedeute, den Hut der Praktiker*in zurückzulassen. Ich wurde auch gebeten, von normativ geprägten Forschungsfragen abzusehen und einen Mittelweg in der Auseinandersetzung mit Theorien beizubehalten, was bedeutet, dass ich mich selbst nicht in meine Analyse einbeziehen sollte. Es fiel mir schwer zu verstehen, dass es 17 Revisionen meiner Forschungsfragen für meine Dissertation brauchte, bevor sie akademisch akzeptabel wurden. Dies war ein Wendepunkt für mich. Mir wurde klar, dass Wissenschaftler*innen leicht Zugang zum Feld der Praktiker*innen haben, um Daten zu sammeln, während es für einen Praktiker schwierig ist, Zugang zum Feld der Wissenschaftler*innen zu bekommen.

Bloße Beschreibung der Gemeinschaft, keine Intervention

In meiner Diplomarbeit im Grundstudium untersuchte ich einen indigenen Stamm im Hinterland in Nord-Mindanao. Nach den Interviews schenkte ich den Teilnehmer*innen Salz, getrockneten Fisch, einige alte Jeans und Hemden sowie Nudeln. Das war meine Art, mich bei ihnen zu bedanken, eine Praxis, die ich bei meiner Arbeit in einer gemeinnützigen Organisation gelernt hatte. Später erfuhr ich auf einer Reihe internationaler Konferenzen, dass das Geben von Geschenken an die Teilnehmer*innen als problematische Praxis angesehen wird, die gewisse ethische Dilemmata birgt (siehe Collins et al. 2017; Head 2009). Diese Ansicht war für mich jedoch rätselhaft. Warum sollten wir der Gemeinschaft, zu der wir vor der Datenerhebung eine Beziehung aufgebaut und die erforderlichen Rituale eingehalten haben, keine Geschenke machen? Wenn das Geben von Geschenken möglicherweise die Antworten der Teilnehmer*innen verändert, wie authentisch sind wir dann beim Aufbau einer Beziehung zu der Gemeinschaft, zu der wir Zugang haben?

Die Praktiker*innen bringen die Erfahrungen, die sie in der Praxis gesammelt haben, in das akademische Umfeld ein. Eine jahrzehntelange Erfahrung vor Ort ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Vorteil in der akademischen Welt. Vielmehr ist es für den*die Praktiker*in eine Herausforderung, sich an die wissenschaftlichen Standards anzupassen, die es oft erfordern, den Hut des*der Praktiker*in abzulegen. So ist beispielsweise die strategische Fallauswahl eine methodische Angelegenheit, da das Versäumnis, den ausgewählten Fall zu begründen, ein Grund für eine Verzerrung der Auswahl sein kann. Für eine*n Praktiker*in stellt sich die Frage der Voreingenommenheit nicht, wenn er*sie seinen*ihren eigenen Hinterhof untersucht, vor allem, wenn er*sie auf den Nutzen für die Gemeinschaft abzielt.

Die Praktiker*innen (und die Gemeinschaften, in denen sie tätig sind) werden zu Versuchstieren, deren Aktionen und Reaktionen bei der Arbeit vor Ort von den Wissenschaftler*innen beobachtet, interpretiert und diskutiert werden. Es gibt also eine Durchlässigkeit in der Welt der Praktiker*innen, aber kaum eine Durchlässigkeit auf der anderen Seite des Kontinuums.

Spivak (2004) beschrieb diese Form des Beobachtetwerdens als die Produktion einer zeitgenössischen Form der Subalternität: eine Umwandlung der Subalternität in eine Eigenschaft. Wissenschaftler*innen begeben sich ins Feld, holen als ethische Voraussetzung die Zustimmung ein, führen Interviews, kodieren Daten und veröffentlichen Ergebnisse, die auf ihrer Interpretation beruhen. Die Interpretation wird fortgesetzt, da die Wissenschaftler*innen eher dazu neigen, zu debattieren, als sich mit dem Problem zu befassen, von dem sie vor Ort erfahren haben. In diesem Fall werden die Gemeinschaft und der*die Praktiker*in zu einer Eigenschaft, auf die sich die Wissenschaft stützt, um Daten und Textinhalte zu produzieren. Die Beziehungen, die der*die Wissenschaftler*in während der Datenerhebung in der Gemeinschaft aufbaut, haben keinen greifbaren Nutzen für den Ort, an dem die Beziehungen aufgebaut werden. Dies steht im Einklang mit dem Argument von Todd (2016), dass in der Wissenschaft zwar Wissen geschaffen, legitimiert und reproduziert wird, dass es aber auch diese akademischen Strukturen sind, die die Verwirklichung von transformativen Zielen verhindern. In der Tat wird die Gemeinschaft manchmal gewarnt, keine Hilfe von einem Forschungsengagement zu erwarten, da es nicht in erster Linie darauf abziele, ihre Situation zu verbessern. Es dient nur zu Forschungszwecken.

Implikationen dieser Diskrepanz

Diese Herangehensweise und akademische Tradition der Wissensproduktion ist eine generationenübergreifend sedimentierte, tief verwurzelte Kultur. Sie lässt den Wissenschaftler*innen kaum Raum für eine direkte Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft. Die Starrheit dieser Tradition bleibt selbst dann bestehen, wenn dringende Probleme nicht aus der Ferne, sondern direkt vor der Haustür der Hochschulen und der umliegenden Gemeinschaften auftreten. Wenn diese Kultur in Frage gestellt wird, verteidigt sie sich mit dem Begriff der »Forschungsfreiheit«. Da die Kultur stärker ist als die Politik, wird ein bloßes Memorandum der Universität diese Kultur nicht ändern. Es wird Zeit brauchen, dies zu ändern, und der Globale Süden sollte die Führung übernehmen, wie es einige bereits getan haben.

Wenn wissenschaftliche Arbeiten hauptsächlich im Hinblick auf die Bedürfnisse und Ziele der politischen Entscheidungsträger*innen verfasst werden, bedeutet dies, dass wir die Hilfe bürokratisieren und unsere guten Absichten aufschieben, der Gemeinschaft helfen zu wollen. Ausgehend von den Rohdaten interpretieren die Wissenschaftler*innen diese und verfassen Ergebnisse, die dann von den politischen Entscheidungsträger*innen neu interpretiert und als Grundlage für die Ausarbeitung von Interventionsprogrammen verwendet werden. Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Programme dann die Gemeinschaft(en) erreichen, gibt es bereits eine nicht unerhebliche Interpretationslücke gegenüber der Zeit und der Bedeutung, als die Rohdaten von der Gemeinschaft gesammelt wurden. Dies führt zu Interventionsprogrammen, die manchmal nicht unbedingt den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Um solche prozessverzögerten Interventionen anzugehen, können die Wissenschaft und die Wissenschaftler*innen selbst den Rahmen dafür ändern, wie der aktuelle Prozess der Wissensproduktion aussieht und welche Rolle er bei der Herbeiführung eines progressiven Wandels in den Gemeinschaften spielen kann.

Da gesellschaftliche Probleme direkt vor der Haustür der Wissenschaftler*innen auftreten können, bedeutet dies, dass es eine moralische Verpflichtung ist, auf sie zu reagieren, und dies die dringende Aufmerksamkeit der Forscher*innen erfordert. In diesem Fall ist es angebracht, dass die Wissenschaftler*innen bei ihrer Friedensforschung stets die Gemeinschaft im Auge behalten. Natürlich ist die theoretische Forschung ebenso wichtig, aber ich behaupte, dass der Einsatz unserer wissenschaftlichen Arbeit zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mindestens ebenso wichtig ist. Es ist wichtig, am Ende eines jeden wissenschaftlichen Artikels einen Abschnitt mit Vorschlägen für eine Aktionsagenda zu geben, anstatt mit Argumenten zu enden, die die Punkte akademischer Debatten wiederholen. Eine solche Aktionsagenda sollte jedoch die Ansichten der Gemeinschaft einbeziehen und nicht nur die Ansichten der Forscher*innen.

Romantisierung des Wissenschaft-Aktivismus-Nexus?

In diesem Beitrag soll der »Vorteil« von Friedenspraktiker*innen beim Zutritt zur Friedensforschung (und zur akademischen Welt im Allgemeinen) nicht romantisiert werden. Ich erkenne die Herausforderung an, zwei Herren gleichzeitig zu dienen, und die potenziellen Risiken, wenn Wissenschaft und Aktivismus zusammenkommen. Zu diesen Risiken gehört, dass man zu sehr mit Forschung, Lehre und aktivistischer Arbeit beschäftigt ist, die zu den administrativen Aufgaben hinzukommen, die ein*e Akademiker*in normalerweise auch noch wahrnimmt. Letztendlich kann dies zu gesundheitlichen Risiken durch Burnout und zu zu wenig Ruhezeiten führen. Für einen Akademiker aus dem Globalen Süden, der in einem Konfliktgebiet lebt, ist dies eine noch größere Herausforderung, wenn die strukturelle Unterstützung geringer und die familiären Verpflichtungen größer sind.

Ich behaupte jedoch, dass im Zusammenhang mit der Hilfe für notleidende Gemeinschaften die Vorteile diese Risiken überwiegen. Die Verbindung von Wissenschaft und Aktivismus bietet uns eine neue Sichtweise und ein neues Instrumentarium zur Nutzung der Forschung, um Gemeinschaften in (Post-)Konfliktsituationen zu helfen (siehe Bracamonte, Boza und Poblete 2011; Ragandang 2020). Die Kombination beider Ansätze ist wirkungsvoller, als den einen über den anderen zu stellen. Mein Hauptargument ist, dass wir einen Paradigmenwechsel bei der Herangehensweise an die Forschung brauchen: weg von der reinen Wissensproduktion, hin zu einer Forschung, die mit einem proaktiven Engagement für die Gemeinschaft verbunden ist. Die Einbindung in die Gemeinschaft ist eine moralische Verpflichtung, die sicherstellt, dass die Disziplin auch in Zukunft für diejenigen Sinn ergibt, die am Rande der akademischen Türme stehen.

Solche Erwartungen gelten insbesondere für die Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus den (Post-)Konfliktkontexten des Globalen Südens: Wir sind in einer strategischen Position, um die Geschichte zu erzählen und die Sichtweise für die Menschen im Globalen Norden und darüber hinaus zu beschreiben. Wir sehen die Situation aus erster Hand oder leben mit der (Gewalt-)Situation, die wir in unserem täglichen Leben zu bewältigen versuchen.

Während ich diesen Artikel schreibe, flüstert der Subalterne in mir, dass ich nicht zu provokante Argumente nutzen sollte, die den Status Quo in Frage stellen. Das ist ein Tabu, vor dem mich meine Großmutter und unsere Kultur gewarnt haben. Aber ich denke, genau das ist der Zweck dieses Artikels (siehe Ragandang 2022) – also hoffe ich, dass mein subalternes Ich mich jetzt beruhigen wird. Angesichts der drängenden Probleme, mit denen (Post-)Konfliktgesellschaften konfrontiert sind, müssen Friedensforscher*innen ihre derzeitige Rolle in der Wissensproduktion unbedingt neu konfigurieren, damit ihre Präsenz für die Gemeinschaft einen Sinn ergibt. Wird diese Rolle nicht überdacht, vergrößert sich die Kluft zwischen Friedenspraktiker*innen und Friedenswissenschaftler*innen. Außerdem wird sich dann immer wieder die Frage stellen: „Für wen oder was schreiben sie denn?“

Literatur

Bracamonte, N. L.; Boza, A. S.; Poblete, T. O. (2011): From the seas to the streets: The Bajau in diaspora in the Philippines. International Proceedings of Economics Development and Research 20 (2011), S. 287-291.

Collins, A. B. et al. (2017): “We’re giving you something so we get something in return”: Perspectives on research participation and compensation among people living with HIV who use drugs. International Journal of Drug Policy 39, S. 92-98.

Head, E. (2009): The ethics and implications of paying participants in qualitative research. International Journal of Social Research Methodology 12(4), S. 335-344.

Marsh, D.; Furlong, P. (2002): A skin, not a sweater: ontology and epistemology in political science. In: Marsh, D.; Stoker, G. (Hrsg.): Theory and Methods in Political Science. Cham: Palgrave Macmillan, S. 17-41.

Ragandang, P. (2020): Youth as conflict managers. Peacebuilding of two youth-led non-profit organizations in Mindanao. Conflict Studies Quarterly 30, S. 87-106.

Ragandang, P. (2022): What are they writing for? Peace research as an impermeable metropole. Peacebuilding 10(3), S. 265-277.

Spivak, G. (2004): The trajectory of the subaltern in my work. Video, University of California Television, 8.2.2004.

Todd, Z. (2016): An indigenous feminist‘s take on the ontological turn:‘Ontology’ is just another word for colonialism. Journal of Historical Sociology 29(1), S. 4-22.

Primitivo III Cabanes Ragandang ist Doktorand an der Australian National University und erforscht die Rolle des kollektiven Gedächtnisses bei der Entstehung von generationenübergreifender Resilienz. Er ist der Gründer des »BHOLI Youth Centre« auf den Philippinen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.