Wirtschaftlicher Zwang für politische Ziele

Wirtschaftlicher Zwang für politische Ziele

Boykotte und Sanktionen als Instrumente der internationalen Politik

von Julia Grauvogel und Christian von Soest

Westliche Staaten – allen voran die USA und EU-Mitgliedsländer – haben nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine Sanktionen in ungekannter Härte gegen ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats verhängt. Die Zwangsmaßnahmen haben die Diskussion über die Wirkung von Sanktionen als Instrumente des Konflikt- und Kriegsmanagements neu belebt. Oft verbinden Politiker*innen und die Öffentlichkeit jedoch übersteigerte Erwartungen mit Sanktionen: Sie sind nur eines von mehreren außenpolitischen Instrumenten, das immer im Zusammenspiel mit Diplomatie sowie unter Umständen militärischer Gewalt wirkt.

Sanktionen werden von internationalen Organisationen, Regional­organisationen oder Staaten gegen andere Staaten, Terrorgruppen oder Einzelpersonen verhängt. Artikel 41 der UN-Charta sieht explizit vor, dass der UN-Sicherheitsrat nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen verhängen kann, wenn eine Gefahr für Frieden und Sicherheit in der Welt besteht. Dies macht deutlich, weshalb UN-Sanktionen im Fall des Angriffs der Vetomacht Russland von vornherein unrealistisch waren, schließlich kann das ständige Mitglied im Sicherheitsrat jede Resolution blockieren. Gemäß der UN-Charta können Regionalorganisationen ebenfalls Sanktionen aussprechen. Für die EU sind eigenständige »restriktive Maßnahmen« ein zentrales Mittel ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Äußerst aktiv bei der Sanktionsanwendung ist zudem die Afrikanische Union, die als Reaktion auf Staatsstreiche zahlreiche Sanktionen gegen betroffene Mitgliedsstaaten (und die Putschisten selbst) erlassen hat.

Bei weitem am häufigsten greifen die USA zu Sanktionen und verhängen diese regelmäßig auch ohne UN-Mandat. Jedoch wenden andere Staaten, unter anderem Russland und zunehmend auch China, ebenfalls unilaterale Sanktionen an. Da der UN-Sicherheitsrat wie im Kalten Krieg mehr und mehr blockiert ist, steht zu erwarten, dass die Nutzung von unilateralen Beschränkungen weiter anwachsen wird. Zahlreiche Staaten, vor allem im Globalen Süden, lehnen Sanktionen ohne UN-Mandat jedoch grundsätzlich ab.

Trends in der Anwendung von Sanktionen

Hinter dem Begriff der Sanktionen verbergen sich unterschiedliche Maßnahmen, die im Einzelfall spezifisch kombiniert werden. Wir können genauer die in Tabelle 1 aufgelisteten Sanktionsformen unterscheiden (siehe S. 26).

1.

Umfassende Handelsembargos,

2.

Sektoralsanktionen

a. Import- und Exportbeschränkungen,

b. Investitionsbeschränkungen,

c. Stopp von Waffenlieferungen und militärischer Zusammenarbeit,

3.

Finanzkontrollen und Unterbrechung des Zugangs zum internationalen Finanzmarkt,

4.

Aussetzen von Entwicklungshilfe,

5.

Individual-Sanktionen gegen einzelne Personen und Organisationen (»schwarze Listen«), vor allem durch Einreiseverbote und das Einfrieren von deren Vermögen,

6.

Diplomatie-Sanktionen (Ausweisung von Diplomat*innen oder Abbruch der diplomatischen Beziehungen).

Tabelle 1: Formen von Sanktionen

Die Auslöser von Sanktionen reichen von Menschenrechtsverletzungen, der Unterstützung von Terrorgruppen, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bis hin zur Beteiligung an Kriegen wie im Fall der russischen Invasion in die Ukraine. Der von Sanktionen ausgehende Zwang soll damit zur Friedensförderung beitragen.

Von 1990 bis 2015 wurden 59 % der UN-Sanktionen in Reaktion auf einen bewaffneten Konflikt, 14 % zur Bekämpfung von Terrorismus, 11 % wegen der Weiterverbreitung von Atomwaffen und 10 % zur Förderung der Demokratie verhängt (Biersteker, Eckert und Tourinho 2016, S. 25). Verschiedene Sanktionierende, in der Forschung oft als Sanktionssender bezeichnet, setzen dabei auf unterschiedliche Mittel. Während im Fall der Vereinten Nationen nahezu jedes Sanktionsregime Waffenembargos umfasst, setzen die EU und die USA oft auf ein breiteres Spektrum an Individual- und Sektoralsanktionen.

In der Vergangenheit sollten Sanktionen ganze Volkswirtschaften oder Gesellschaften wie das Apartheidregime in Südafrika isolieren. Heutzutage zielen die Maßnahmen in der Regel nicht darauf, die gesamte Bevölkerung zu treffen. Zunehmend verhängen die USA, die EU und die Vereinten Nationen Beschränkungen direkt gegen verantwortliche Personen, Terrorgruppen oder Unternehmen (von Soest 2019). So umfasst die »Specially Designated Nationals and Blocked Persons«-Liste des amerikanischen Finanzministeriums über 1900 engbedruckte Seiten mit sanktionierten Personen und Organisationen. Zudem ist die Unterbrechung von Finanzströmen und des Zugangs zum internationalen Finanzmarkt in der globalisierten Weltwirtschaft immer bedeutender geworden. Finanzsanktionen, wie der Ausschluss aus dem internationalen Banken-Kommunikationssystem SWIFT, wirken heute als schnellstes und schärfstes Sanktionsschwert.

Aus zwei Gründen sind die aktuellen Wirtschaftssanktionen gegen Russland damit außergewöhnlich: Erstens nehmen Sanktionierende in der Regel kleinere und weniger mächtige Staaten in den Blick. Dadurch halten sie die eigenen wirtschaftlichen und politischen Kosten niedrig und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Gegenseite einlenkt (von Soest und Wahman 2015). Zweitens sind die gegen Russland verhängten Wirtschafts-, Finanz-, Technologie- und Individualsanktionen äußerst umfassend. So setzen sie sogar die Devisenreserven der russischen Zentralbank im westlichen Ausland fest und unterbinden Technologie-Exporte ins Land fast vollständig. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland nähern sich damit traditionellen Embargos und Boykotten an; jedoch gibt es bedeutende Ausnahmen, zum Beispiel für landwirtschaftliche und medizinische Güter.

Erfolgsbedingungen von Sanktionen

Die Wirksamkeit von internationalen Sanktionen ist in der Forschung bis heute umstritten. Eine wegweisende Studie stellte fest, dass auferlegte Wirtschaftssanktionen in ungefähr einem Drittel der Fälle zu einer Politikänderung beitragen (Hufbauer et al. 2007). Das heißt umgekehrt, dass die Zwangsmaßnahmen in mindestens zwei von drei Fällen scheitern. Zudem verbergen sich hinter diesen Durchschnittswerten große Unterschiede. Wie wir später zeigen, sind die Erfolgsaussichten, ein Einlenken der russischen Führung zu erzwingen, bedeutend geringer.

Als Mittel der Friedensförderung wirken Sanktionen nur bedingt, sie tragen nicht automatisch zur friedlichen Beilegung innerstaatlicher Gewaltkonflikte bei: Die Androhung von Wirtschaftssanktionen kann die Intensität eines Konfliktes sogar erhöhen, da die beteiligten Parteien oft versuchen, ihre Position zu verbessern, bevor Sanktionen die Kampfhandlungen erschweren. Auch wenn Sanktionen die Kräfteverhältnisse einseitig zugunsten einer Bürgerkriegspartei verschieben, erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass sich die bewaffnete Auseinandersetzung verschärft (Hultman und Peksen 2017). Andererseits können Sanktionen die Konfliktdauer verringern, wenn sie den Nachschub mit Waffen und finanziellen Mitteln effektiv unterbinden. Dies gilt vor allem für Sanktionen von multilateralen Organisationen wie der UN. Außerdem sind Sanktionen ungeeignet, Kriege sofort zu stoppen, da sie weniger schnell wirken als militärische Gewalt.

Jedoch sollten bei der Bewertung von Sanktionen neben dem »coercing« (also dem Erzwingen einer Verhaltensänderung) noch zwei weitere wichtige Funktionen in den Blick genommen werden: Sie schränken auch den Handlungsspielraum des Gegenübers ein (»constraining«). So unterbinden die westlichen Technologiesanktionen den Nachschub mit Mikrochips, die dringend in der russischen Wirtschaft und auch in der Rüstungsindustrie gebraucht werden. Und schließlich senden Sanktionen kostspielige Signale an Sanktionsziele wie die russische Regierung, an mögliche Nachahmer*innen sowie an die eigene Bevölkerung (»signaling«). Sanktionen wirken damit nicht nur als direkte Zwangsinstrumente, sondern bekräftigen auch fundamentale Normen des Völkerrechts wie die nationalstaatliche Souveränität und die Unverletzbarkeit der Grenzen. Selbst wenn die Aussichten auf einen Politikwechsel gering sind, können Sanktionen damit eine wichtige Funktion erfüllen. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass Sanktionen mittlerweile als Instrument derart fest etabliert sind, dass ihre Nicht-Anwendung einen eklatanten Bruch des Völkerrechts fast schon legitimieren würde.

Doch wann tragen diese verschiedenen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen dazu bei, politische Ziele zu erreichen? Die Forschung zu internationalen Sanktionen hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Erfolgsbedingungen identifiziert (vgl. zusammenfassend Peksen 2019). Allerdings können die Sanktionssender viele dieser Faktoren nicht aktiv beeinflussen. So zeigen Studien, dass Sanktionen eher wirken, wenn sie gegen ein demokratisches Land verhängt werden. Dort funktioniert die Übersetzung von ökonomischem Druck in politische Verhaltensänderung besser, da die Bevölkerung ihre Regierung für die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionierung zur Rechenschaft ziehen kann, zum Beispiel indem sie die Machthabenden abwählt. Außerdem sind Sanktionen erfolgreicher, wenn sie begrenzte Ziele verfolgen – also beispielsweise die internationale Untersuchung einer bestimmten Menschenrechtsverletzung statt eines umfassenden Regimewandels – und wenn sie sich gegen wichtige Handelspartner und/oder politische Verbündete richten. Mit Russland sanktioniert die EU einen wichtigen Handelspartner. Schätzungen zufolge kosten die Maßnahmen ihre Mitgliedsstaaten mehrere Milliarden Euro jährlich.

Zahlreichen Studien haben einen generellen statistischen Zusammenhang zwischen der Härte der Sanktionen und deren Erfolg bestätigt – es gibt aber auch Ausnahmen. So zeigen wir in unserer Forschung zu regimekritischen Protesten in sanktionierten Staaten, dass bereits die Androh­ung von Sanktionen die Bereitschaft der Bevölkerung, gegen autoritäre Herrscher auf die Straße zu gehen, signifikant erhöht (Grauvogel, Licht und von Soest 2017). Es geht den Menschen also nicht nur um die möglichen ökonomischen Kosten der Sanktionen. Vielmehr empfinden sie diese – vor allem wenn sie auf Demokratisierung und den Schutz von Menschenrechten abzielen – als Zeichen der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Bezogen auf die jüngsten Sanktionen gegen Russland ist also nicht nur wichtig, ob die Zwangsmaßnahmen, aber auch der freiwillige Rückzug zahlreicher internationaler Unternehmen wie McDonalds oder IKEA, die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung verschlechtert und so letztlich ihre Unzufriedenheit mit der Regierung verstärkt. Vielmehr ist zentral, wie glaubwürdig das Signal der Unterstützung von Regimekritiker*innen ist, was nicht zuletzt von der Bereitschaft der Sanktionssender abhängt, eigene wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen.

Der Westen sanktioniert also oftmals Staaten, bei denen die Annahme, mehr wirtschaftlicher Druck müsse zwangsläufig zu besseren politischen Ergebnissen führen, durch die autoritäre Natur der sanktionierten Regime ausgehebelt wird. Der Friedensforscher Johan Galtung hatte diese Annahme schon 1967 als „naive Theorie“ bezeichnet (Galtung 1967). Vielmehr können Sanktionen in Autokratien sogar eine Wagenburgmentalität befeuern (Grauvogel und von Soest 2014). So versucht Putin, die westlichen Sanktionen als Angriff auf das gesamte Volk zu diskreditieren und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Russland zu stärken. Allerdings sind offizielle Umfragen über die Zustimmung zu Putin mit Blick auf mangelnde Meinungs- und Pressefreiheit im Land mit Vorsicht zu genießen. Zu den nicht-intendierten Konsequenzen umfassender Sanktionen gehören neben der eben beschriebenen möglichen Legitimierung autoritärer Herrschender auch ihre humanitären Folgen.

Einem umfassenden Verständnis folgend können Sanktionen somit auch als eine Gewaltform betrachtet werden, die mit ökonomischen Mitteln wirkt (Gordon 1999). Seit Ende der 1990er Jahre wurden Sanktionen zunehmend zielgerichteter gegen verantwortliche Personen, Organisationen und bestimmte Wirtschaftsbereiche verhängt. Neuerdings ist hingegen wieder, wie im Fall der westlichen Sanktionen gegen Russland, eine Ausweitung der Maßnahmen festzustellen (siehe oben). Diese gehen trotz humanitärer Ausnahmen eher zulasten breiter Bevölkerungsgruppen. Die bestehenden Sanktionen gegen Afghanistan unterstreichen, welche gravierenden Schäden umfassende Finanzbeschränkungen anrichten können: Neben mangelndem politischem Willen der Taliban behindern dort derzeit auch Sanktionen Nothilfe gegen den Hunger, weil Hilfsorganisationen nicht unbeschränkt Güter einführen und Gelder transferieren können. Angesichts dieses und anderer Fälle wie Iran, Syrien und Venezuela, wo Sanktionen mit den sozioökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie zusammentrafen, ist die politische und wissenschaftliche Diskussion (Moret 2021) über die humanitären Auswirkungen von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen (und mögliche Auswege) wieder intensiver geworden. Dies zeigte sich nicht zuletzt am Aufruf des UN-Generalsekretärs António Guterres, humanitäre Ausnahmen bestehender Sanktionsregime in der Pandemie deutlich auszuweiten.

Das Wechselspiel zwischen wirtschaftlichem Druck und politischem Erfolg von Sanktionen ist also komplexer, als der statistische Zusammenhang zwischen dem Umfang der Maßnahmen und ihrer Effektivität auf den ersten Blick vermuten lässt. Dies zeigt sich auch daran, wie Sanktionen und Boykotte im zeitlichen Verlauf wirken: Viele Maßnahmen entfalten erst mittelfristig ihre volle Wirkung. So treffen beispielsweise Exportbeschränkungen für Technologien die zivile Luftfahrt in Russland mit längerem Fortbestehen stärker, da Verschleißteile von Flugzeugen nicht ersetzt werden können. Sanktionen sind daher – anders als die öffentliche Debatte zu den Zwangsmaßnahmen gegen Russland oft nahelegt – unabhängig von ihrer Schärfe ungeeignet, Kriege oder andere Konflikte sofort zu stoppen. Gleichzeitig können sich sanktionierte Regime wirtschaftlich anpassen. In Russland haben lokale Alternativen westliche Konsumgüter wie Burger von McDonalds oder Möbel von IKEA teilweise abgelöst. Sie können aber auf die Schnelle keine Hochtechnologie ersetzen. Zudem schränken die westlichen Finanzsanktionen die international vernetzte russische Wirtschaft extrem ein.

Trotz dieser differenzierten Befunde wird der mittel- und langfristige Effekt von Sanktionen – und vor allem ihre mögliche Beendigung – zu Beginn der Sanktionierung bisher häufig nicht ausreichend mitgedacht (Attia, Grauvogel und von Soest 2020). Wenn wirtschaftliche Kosten nicht nur das sanktionierte Land, sondern auch die Sanktionssender treffen, kann die Unterstützung der dortigen Bevölkerung für die Maßnahmen nachlassen. Eine Aufhebung von wirtschaftlich kostspieligen, aber politisch wenig erfolgreichen Sanktionen kann dabei jedoch das problematische Signal senden, dass ein eklatanter Bruch des Völkerrechts nur so lange sanktioniert wird, wie es für die eigene Bevölkerung und Wirtschaft nicht zu teuer wird – und so die Glaubwürdigkeit des Instrumentes untergraben. Andererseits werden wirtschaftlich ineffektive Maßnahmen aus einer politischen Logik heraus oft beibehalten, wenn wichtige Ziele noch nicht erreicht sind. Unsere Forschung zeigt, dass klar formulierte politische Ziele – also beispielsweise die Abhaltung verfassungsgemäßer Wahlen statt vager Forderungen nach mehr Demokratie – die Erfolgswahrscheinlichkeit von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen erhöht und ihre Dauer reduziert. Außerdem tragen Überprüfungsklauseln dazu bei, die politische Zweckmäßigkeit von Sanktionen regelmäßig zu evaluieren. Die EU-Sanktionen gegen Russland müssen, wie auch andere Sanktionsregimes, regelmäßig verlängert werden, ansonsten würden sie auslaufen. In der Regel geschieht dies im halbjährlichen oder jährlichen Abstand.

Ein wichtiges Instrument – aber kein Allheilmittel

Sanktionen und Boykotte sind ein außenpolitisches Instrument neben anderen. Daher gilt es, keine unrealistischen Erwartungen damit zu verbinden – nicht zuletzt, weil Sanktionssender wichtige Erfolgsfaktoren wie die politische Verfasstheit des sanktionierten Staates und den Umfang der verfolgten Ziele kaum beeinflussen können. Die Art der Maßnahmen liegt hingegen in der Hand der Sanktionierenden. Forderungen nach weitergehenden Sanktionen gegen Russland sind dabei von der Forschung gedeckt, die zeigt, dass umfassendere Maßnahmen in der Regel erfolgreicher sind. Allerdings dürfen dabei mögliche humanitäre Folgen umfassender Sanktionen sowie die Versuche autoritärer Regime, externen Druck zu nutzen, um sich innenpolitisch zu legitimieren, nicht aus dem Blick geraten.

Literatur

Attia, H.; Grauvogel, J.; von Soest, C. (2020): The termination of international sanctions: Explaining target compliance and sender capitulation. European Economic Review, 129, Artikel 103565.

Biersteker, T. J.; Eckert, S. E.; Tourinho, M. (2016): Targeted sanctions: The impacts and effectiveness of United Nations action. Cambridge: Cambridge University Press.

Galtung, J. (1967). On the effects of international economic sanctions: With examples from the case of Rhodesia. World Politics 19(3), S. 378-416.

Gordon, J. (1999): A peaceful, silent, deadly Remedy: The ethics of economic sanctions. Ethics & International Affairs 13(1), S. 123–142.

Grauvogel, J.; Licht, A. A.; von Soest, C. (2017): Sanctions and signals: How international sanction threats trigger domestic protest in targeted regimes. International Studies Quarterly, 61(1), S. 86-97.

Grauvogel, J.; von Soest, C. (2014): Claims to legitimacy count: Why sanctions fail to instigate democratisation in authoritarian regimes. European Journal of Political Research, 53(4), S. 635-653.

Hufbauer, G. C.; Schott, J. J.; Elliott, K. A.; Oegg, B. (2007): Economic sanctions reconsidered. Washington, DC: Peterson Institute of International Economics.

Hultman, L.; Peksen, D. (2017): Successful or counterproductive coercion? The effect of international sanctions on conflict intensity. Journal of Conflict Resolution, 61(6), S. 1315–1339.

Moret, E. (2021): The role of sanctions in Afghanistan’s humanitarian crisis. IPI Global Observatory. 9.11.2021.

Peksen, D. (2019): When do imposed economic sanctions work? A critical review of the sanctions effectiveness literature. Defence and Peace Economics, 30(6), S. 635-647.

von Soest, C. (2019): Individual sanctions: Toward a new research agenda. CESifo Forum, 20(4), S. 28-31.

von Soest, C.; Wahman, M. (2015): Not all dictators are equal: Coups, fraudulent elections, and the selective targeting of democratic sanctions. Journal of Peace Research, 52(1), S. 17-31.

Dr. Julia Grauvogel ist Senior Research Fellow am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und Sprecherin des Forschungsteams »Interventionen und Sicherheit«. Sie leitet das Forschungsprojekt »Die Beendigung von Sanktionen in Krisenzeiten: die Rolle externer Schocks«, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.
Dr. Christian von Soest ist Lead Research Fellow am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und Leiter des Forschungsschwerpunkts »Frieden und Sicherheit«. Er arbeitet zu Legitimationsstrategien und zur Wirkung von internationalen Sanktionen in autoritären Regimen.

Die unproduktive Last der Gewalt

Die unproduktive Last der Gewalt

Wirtschaftswissenschaft für den Frieden

von Raul Caruso

Der Bereich der Wirtschaftswissenschaften hat in der etablierten Friedens- und Konfliktforschung bisher keine große Rolle gespielt. Der eher reduzierte Fokus auf die auf Freiwilligkeit beruhenden Austauschbedingungen und auf rationale Akteure hat die Wirtschaftstheorie als wichtiges Feld der Konflikttheorie und -erklärung verkommen lassen. Der folgende Artikel zeigt den Weg zu einer friedensorientierten Ökonomik in drei Teilbereichen auf: bei der Rüstungskontrolle, den Militärausgaben und im forcierten Börsenabgang von Waffenproduzenten.

In den letzten Jahren hat sich eine wachsende Zahl von Wissenschaftler*innen mit den wirtschaftlichen Aspekten von Gewalt in ihren verschiedenen Formen befasst. Bei der Betrachtung von Gewalt, Konflikten und Frieden fühlen sich die meisten Wirtschaftswissenschaftler*innen unwohl, da dieser Bereich seit vielen Jahren nicht mehr zu den Hauptgebieten der Wirtschaftsforschung gehört. Ein entscheidender theoretischer Aspekt, der Ökonom*innen davon abgehalten hat, sich mit Konflikten zu beschäftigen, liegt in ihrer Vorstellung von menschlichen Interaktionen begründet. In der Tat haben sich die Hardliner unter den Ökonom*innen bisher immer als Wissenschaftler*innen gesehen, die sich ausschließlich auf den »auf Freiwilligkeit beruhenden Austausch« konzentrieren. In Wirklichkeit erschöpft der freiwillige Austausch jedoch nicht die Komplexität der realen Wirtschaft. Viele menschliche Interaktionen sind nicht freiwillig und nicht durch die Existenz von Märkten und Preisen gekennzeichnet.

Leider gibt es in der Realität eine Vielzahl schlimmer Verhaltensweisen wie Zwang, Aneignung, Gewalt und Erpressung, die ihrem Wesen nach trotzdem wirtschaftlich sind. Wie jede andere wirtschaftliche Aktivität sind sie mit der Nutzung knapper Ressourcen verbunden und führen letztendlich zu einer Umverteilung von Einkommen und Vermögen zwischen Einzelpersonen und Organisationen. Diese Verhaltensweisen sind zwar wirtschaftlich, aber unproduktiv in dem Sinne, dass sie keinen nennenswerten Mehrwert für die Wirtschaft erbringen. Sie führen zu einer Verzerrung der Ressourcenallokation in den verschiedenen Sektoren und zerstören – im schlimmsten Fall eines bewaffneten Konflikts – sowohl Human- als auch Sachkapital. Kurz gesagt, sie sind schädlich für die gesellschaftliche Entwicklung.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das Vorwort von North et al. (2009, S. xvii) zu zitieren: „Das Fehlen einer praktikablen integrierten Theorie von Wirtschaft und Politik spiegelt den Mangel an systematischem Denken über das zentrale Problem der Gewalt in menschlichen Gesellschaften wider. Die Art und Weise, wie Gesellschaften mit der allgegenwärtigen Bedrohung durch Gewalt umgehen, formt und beschränkt die Formen, die menschliche Interaktion annehmen kann […]“.

Das Fehlen systematischer Untersuchungen zu den verschiedenen Aspekten und Quellen kollektiver oder individueller Gewalt hat dazu geführt, dass Ökonom*innen die Auswirkungen der unproduktiven Belastung durch tatsächliche oder potenzielle Konflikte sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene unterschätzt haben.

In jüngster Zeit versuchen nun einige Wirtschaftswissenschaftler*innen, diese Lücke zu schließen. Insbesondere Wissenschaftler*innen der »Friedensökonomie« wollen darüber hinausgehen und auch wirtschaftspolitische Maßnahmen konzipieren, um die wirtschaftlichen Wurzeln der Gewalt zu beseitigen und so langfristig friedliche Szenarien zu ermöglichen. Im Folgenden stelle ich einige zentrale Themen vor, die sowohl von Wissenschaftler*innen als auch von politischen Entscheidungsträger*innen als wichtig erachtet werden sollten: (1) Abschreckung, Wettrüsten und Rüstungskontrolle; (2) die Belastung durch Militärausgaben; (3) das (De-)Listing, also der freiwillige oder forcierte Rückzug von Waffenproduzenten von der Börse.

Abschreckung, Rüstungswett­läufe und Rüstungskontrolle

Wenn politische Entscheidungsträger*innen und Analyst*innen militärische Fragen ansprechen, erwähnen sie häufig das Konzept der Abschreckung. Es war das wichtigste Sicherheitskonzept des Kalten Krieges und scheint gemessen an den eskalierenden Reaktionen im Zuge des russischen Krieges in der Ukraine immer noch aktuell zu sein. Abschreckung in ihrer einfachsten Form basiert auf der Anschaffung von Waffen, von denen erwartet wird, dass sie Feinde von Aggressionen abhalten. Angesichts des Ergebnisses des Kalten Krieges – nämlich, dass es nicht zu einem Atomkrieg kam – sind die politischen Entscheidungsträger*innen immer noch bereit, ihre Militärausgaben zu erhöhen, um das zu erreichen, was Thomas Schelling in »The Strategy of Conflict« (1960) treffend als „glaubwürdige Bedrohung“ definiert hat.

Abschreckung darf jedoch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die wünschenswerte Folge eines Abschreckungssystems sollte vor allem Stabilität sein. Tatsächlich ist die Abschreckung selbst nicht nützlich, wenn sie nicht stabil ist. Allerdings ist die Abschreckung nur unter bestimmten Bedingungen stabil, die in der Geschichte nicht oft vorgekommen sind.

Greif (2007) beispielsweise erläutert die Folgen eines Abschreckungsgleichgewichts, das im mittelalterlichen Genua zwischen rivalisierenden Clans hergestellt wurde. Dieses Gleichgewicht war vom Wunsch gekennzeichnet, gegenseitige Abschreckung zu erreichen. Die Clans verstärkten kontinuierlich ihre militärische Stärke. Langfristig wurde dieses Gleichgewicht jedoch instabil und in Genua brachen soziale Unruhen aus. Die Erhöhung der Militärausgaben führt nämlich häufig nicht zu einer wirksamen Abschreckung, sondern zu einem »Wettrüsten«, das per definitionem eine instabile Situation darstellt. Aus diesem Grund hatte Schelling in »Strategy and Arms Control« (1961 zusammen mit M.H. Halperin verfasst) auch die Möglichkeit der Rüstungskontrolle vertieft.

In diesem Buch wiesen Schelling und Halperin darauf hin, dass Fortschritte in der Rüstungstechnologie notwendigerweise Vereinbarungen zwischen rivalisierenden Ländern über die Begrenzung der Arsenale erfordern. Die Vereinbarungen selbst müssen Glaubwürdigkeit besitzen und sind daher nicht veränderbar, es sei denn, es gäbe einen Informationsaustausch und eine kontinuierliche Kommunikation zwischen den Rivalen. Kurzum, ein Rüstungskontrollsystem hätte laut Schelling und Halperin größere Auswirkungen auf die Sicherheit in einem bestimmten Staat als eine bedingungslose und einseitige Aufrüstung. Letztere wäre nicht sinnvoll, um das Ziel der Stabilität zu erreichen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass eine Erhöhung der Militärausgaben bei fehlenden Kontrollvereinbarungen – paradoxerweise – die Glaubwürdigkeit der Bedrohung verringern dürfte. Wenn nämlich eine Regierung ihre Militärausgaben erhöht, würden die rivalisierenden Länder mit einer Erhöhung ihrer Militärausgaben reagieren. Ohne Rüstungskontrollabkommen und gegenseitige Kommunikation ist die abschreckende Wirkung der Bedrohung also weniger glaubwürdig und ein Konflikt wahrscheinlicher. Einfacher ausgedrückt: Mehr Waffen könnten die Unsicherheit erhöhen und nicht umgekehrt. Abschreckung kann illusorisch sein.

Im Gegensatz dazu könnte ein Rüstungskontrollsystem, insbesondere wenn es mit der Zustimmung und dem Engagement der wichtigsten Länder der Welt aufgebaut wird, wirklich glaubwürdig sein und zu einer höheren Stabilität führen. Wir müssen daher den Gedanken bekräftigen, dass der Ausgangspunkt jeder stabilen Weltordnung nur ein glaubwürdiges System der Rüstungskontrolle sein kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass der Ende 2014 in Kraft getretene »Vertrag über den Waffenhandel« (»Arms Trade Treaty«, ATT) sich bisher nicht als wirksam erwiesen hat. Die größten Waffenexporteure (USA und Russland) sind nämlich keine Vertragsparteien. Es ist allgemein bekannt, dass Großmächte die Entscheidungen anderer Akteure beeinflussen und gestalten. Somit wäre der ATT, auch wenn er in Kraft ist, erst dann wirklich wirksam, wenn die Großmächte Mitglieder würden. Dies hat konkrete negative Auswirkungen auf die Sicherheit und den Frieden in der Welt, denn die Verfügbarkeit von Waffen macht bewaffnete Konflikte wahrscheinlicher und untergräbt somit die Friedenskonsolidierung.

Die unproduktive Last der Gewalt

Wie bereits erwähnt, führt tatsächliche und potenzielle Gewaltanwendung zu einer Fehlallokation knapper Ressourcen und damit zu einer schweren Belastung der wirtschaftlichen Entwicklung. Gesellschaftliche Systeme, die von Bedrohung und bewaffneten Konflikten geprägt sind – auch wenn sie nicht zwangsläufig in einem Krieg münden –, tätigen hohe Investitionen in Waffensysteme und militärische Ausrüstung. Dies bläht den Anteil der Investitionen in unproduktive Aktivitäten dieser Gesellschaft auf und kann in der Tat zu einem lang anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang führen.

Um dies zu verstehen, können wir auf das klassische Argument der Umlenkung von Ressourcen zurückgreifen. Das besagt, dass in diesem Fall Militärausgaben Ressourcen binden, die andernfalls für produktivere Zwecke eingesetzt werden könnten – sie verdrängen also zivile Investitionen und die Produktion von zivilen Gütern. Es war Paul Samuelson (1970, S. 18), der erstmals produktive und unproduktive Aktivitäten als »Butter« bzw. »Kanonen« bezeichnete. Bei dieser Begriffsschöpfung hatte Samuelson die Erfahrungen des nationalsozialistischen Deutschlands vor Augen, wo sich die Regierung für die Erhöhung der Militärausgaben (»Kanonen«) auf Kosten der zivilen Produktion (»Butter«) eingesetzt hatte. Das Gleichgewicht zwischen »Butter« und »Kanonen« muss bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik jedoch berücksichtigt werden. Das zugrundeliegende Konzept lässt sich leicht zusammenfassen: Es gibt wirtschaftliche Aktivitäten, die zwar individuelle Gewinne abwerfen können, die aber nicht von Natur aus produktiv sind und daher nicht zum allgemeinen Wohl der Gesellschaft beitragen.

In einer allgemeinen Betrachtung dieses Konzepts erläutert Baumol (1990), wie historische Entwicklungsmuster verschiedener Gesellschaften in hohem Maße vom Gleichgewicht zwischen produktiven und unproduktiven Tätigkeiten und von den Belohnungen für diese Tätigkeiten abhingen. Interessanterweise erwähnt der Autor das Frühmittelalter als eine historische Periode, in der der Erwerb und die Sicherung von Reichtum im Wesentlichen durch militärische Aktivitäten gesteuert wurde. Die wirtschaftliche Entwicklung und das menschliche Wohlergehen wurden dadurch untergraben. Er merkt insbesondere an, dass Innovationen in der Kriegsführung nicht mehr zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen könnten als Innovationen, die im verarbeitenden Gewerbe entwickelt würden. Es ist daher nicht überraschend, dass die meisten Studien über die Auswirkungen von Militärausgaben auf das Wirtschaftswachstum zeigen, dass sie sich als nachteilig erweisen. Eine Untersuchung von Dunne und Tian (2013) zeigt, dass die meisten Studien die negativen Auswirkungen von Militärausgaben auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft bestätigen.

Da Militärausgaben die Entwicklung untergraben, muss es ein Gegengewicht geben, das stattdessen produktive Aktivitäten aktiviert. In meinem Dafürhalten ist es vernünftig, die öffentlichen Investitionen in die Bildung als diesen Faktor zu wählen – im Lichte ihrer unbestrittenen langfristig positiven Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Mein normativer Vorschlag besteht darin, das Verhältnis der öffentlichen Bildungsinvestitionen zu den Militärausgaben als relevante Variable für eine friedliche Wirtschaftspolitik zu betrachten. Das Argument wird in Caruso (2017) und Balestra und Caruso (2022) vertieft.

Kurz gesagt, wenn ein solches Verhältnis als politische Zielvariable in der Wirtschaftspolitik betrachtet würde, würden die Entscheidungsträger*innen berücksichtigen, dass für jeden Euro, der für das Militär ausgegeben wird, ein Vielfaches in die Bildung investiert werden muss, um den negativen Auswirkungen der Militärausgaben entgegenzuwirken. Dies wäre heutzutage besonders dringlich, da die Militärausgaben in den letzten Jahren weltweit gestiegen sind (siehe SIPRI 2022, Kap. 8).

Forcierte Börsenabgänge von Rüstungsunternehmen

Entscheidend für eine vertiefte Debatte über Militärausgaben ist natürlich auch die Betrachtung der Strukturierung und der Governance der Rüstungsindustrie. Die vielleicht wichtigste Frage dabei ist die Börsennotierung von Waffenfirmen. Bei börsennotierten Unternehmen ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Führungsebene der Rüstungsindustrie auf private Anreize reagiert und nicht nur auf Sicherheitsbelange der Staaten. Es ist insbesondere erwähnenswert, dass neben privaten Unternehmen auch staatliche Rüstungsunternehmen an der Börse notiert sind. Dies hat einen erheblichen Einfluss auf Sicherheit und Frieden.

Im Allgemeinen hat die Börsennotierung eines Unternehmens erheblichen Einfluss auf die Maßnahmen der Unternehmensleitung. Die Börsennotierung von Waffenherstellern kann sogar einen Anreiz für das Management darstellen, die Produktion trotz gegenläufiger Sicherheits- und Friedensbedenken zu maximieren. Es ist natürlich bekannt, dass private Anreize für das Management börsennotierter Unternehmen relevant werden können. Dies gilt insbesondere dann, wenn es zu einer Trennung zwischen Eigentum und Management kommt. Im Allgemeinen folgen Manager*innen dem Anreiz, ihre Gewinne sehr kurzfristig zu steigern. Aus diesem Grund fragen sich Wirtschaftswissenschaftler*innen und Expert*innen, welches die optimalen Mechanismen sein könnten, um diese Unternehmen wirksam zu binden und Marktanreize zu vermeiden und so in diesen Fällen die von den Hauptaktionär*innen vorgegebene Stoßrichtung auf Profitmaximierung zu überwinden. Denn bei Waffenfirmen kann eine solche Maximierungshaltung ernsthafte Probleme hervorrufen. In der Tat kann sie sich sehr kritisch auf die internationalen Beziehungen auswirken, da die Manager*innen möglicherweise vor dem Hintergrund ihrer Einnahmenmaximierung Sicherheitsbelangen weniger Aufmerksamkeit schenken. Ein weiteres wichtiges Thema für börsennotierte Unternehmen ist der Einfluss von Kleinaktionär*innen, insbesondere von institutionellen Aktionären. Obwohl diese nicht an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind, können sie diese in einigen Fällen dennoch beeinflussen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Börsennotierung von Rüstungsunternehmen äußerst problematisch ist, auch wenn ihnen durch nationale Sicherheitsanforderungen und außenpolitische Erfordernisse erhebliche Grenzen gesetzt sind. Diese Beschränkungen sollten die Aktivitäten des Managements und auch die der Minderheitsaktionär*innen erheblich einschränken. Zur Vereinfachung des Konzepts lässt sich nicht ausschließen, dass das Management von Waffenherstellern durch private Anreize im Zusammenhang mit ihren eigenen Vergütungssystemen oder durch den Einfluss von Minderheitsaktionär*innen, insbesondere von institutionellen Anlegern, beeinflusst werden könnte. In der Praxis könnten diese Aspekte Verhaltensweisen und Entscheidungen fördern, die darauf abzielen, die kurzfristigen wirtschaftlich-finanziellen Ergebnisse zu maximieren, was zu einem höheren Absatzniveau führen muss. Dies wird letztendlich zu einem positiven Trend bei den Waffenverkäufen auf globaler Ebene führen und somit eine Bedrohung für Sicherheit und Frieden darstellen.

Angesichts der Verschärfung vieler Konflikte wäre es vernünftig, forcierte Börsenabgänge der Waffenproduzenten zu erwägen. Wenn sich die Regierungen für diese spezifische Maßnahme entscheiden, würden sie die privaten Anreize zur Maximierung von Waffenverkäufen drastisch verringern. Durch dieses »Delisting« würden auch die bereits bestehenden Beschränkungen restriktiver Rüstungsproduktion und -verkäufe wirksamer werden. Es ist vielleicht einfacher, diese Lösung für staatliche Unternehmen in Europa in Betracht zu ziehen, auch wenn eine weltweite Debatte darüber erforderlich ist. Ein Delisting auf globaler Ebene würde es den Staaten ermöglichen, effektiver dem Frieden näherzukommen.

Hin zu einer Friedensökonomie

Hier wurden aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht einige zentrale Punkte vorgestellt, die bei der Anwendung einer ökonomischen Sichtweise auf Gewalt, Konflikt und Frieden zu berücksichtigen sind. Der Ausgangspunkt für jede*n Friedensökonom*in muss zwangsläufig die Frage der Militärausgaben sein, die einerseits bewaffnete Konflikte auslösen können und andererseits langfristig negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung haben und zu gesellschaftlich unerwünschten Folgen führen.

Das diesem Artikel zugrunde liegende Konzept besagt, dass für die Schaffung der wirtschaftlichen Säulen eines friedlichen Szenarios die Regeln für die Ökonomie von Gewalt, Sicherheit und Frieden entscheidend sind, nämlich die Regeln für die Waffenproduktion und den Waffenhandel.

Die Beachtung dieser »Spielregeln« erinnert an eine Definition der Friedensökonomie, die von Brauer und Caruso (2013, S. 151) vorgeschlagen wurde: „Die Friedensökonomie befasst sich mit der ökonomischen Untersuchung und Gestaltung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Institutionen, ihrer Wechselbeziehungen und ihrer Politiken, um jede Art von latenter oder tatsächlicher Gewalt oder anderen destruktiven Konflikten innerhalb und zwischen Gesellschaften zu verhindern, zu mildern oder zu lösen […]“.

Literatur

Baumol, W.J. (1990): Entrepreneurship: Productive, unproductive, and destructive. The Journal of Political Economy 98(5), S. 893-921.

Balestra, A.; Caruso, R. (2022): Should education and military expenditures be combined for government economic policy? The Economics of Peace and Security Journal 17(1), S. 37-54.

Brauer, J.; Caruso, R. (2013): Economists and Peacebuilding. In: Mac Ginty, R. (Hrsg.): Handbook of Peacebuilding. London: Routledge, S. 147-158.

Caruso, R. (2017): Peace economics and peaceful economic policies. The Economics of Peace and Security Journal 12(2), S. 16-20.

Dunne, J.P.; Tian, N. (2013): Military expenditure and economic growth: A survey. The Economics of Peace and Security Journal 8(1), S. 5-11.

Greif, A. (2007): Institutions and the path to the modern economy. Lessons from medieval trade. New York: Cambridge University Press.

North, D.C.; Wallis, J.J.; Weingast, B.R. (2009): Violence and social orders. A conceptual framework for interpreting recorded human istory. Cambridge: Cambridge University Press.

Samuelson, P.A. (1970): Economics. New York: McGraw-Hill.

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Raul Caruso ist ordentlicher Professor für Wirtschaftspolitik an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand (Italien). Dort hat er den Lehrstuhl für Friedensökonomie inne. Außerdem ist er Direktor des »European Center of Peace Science, Integration and Cooperation« (CESPIC) an der Katholischen Universität in Tirana (Albanien). Er ist Chefredakteur von »Peace Economics, Peace Science and Public Policy« und war von 2009 bis 2019 Geschäftsführer des »Network of European Peace Scientists«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing und Melanie Hussak.

Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt

Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt

Fünf Thesen und ein Überblick

von Kai Koddenbrock

Im Kapitalismus sind Krieg und Gewalt nie weit. Sie sind sogar konstitutiver Teil unseres Zusammenlebens und betreffen sowohl autoritäre Staaten wie auch demokratisch organisierte. Gewalt ist dabei im Kapitalismus vielgestaltig und durchdringt fast alle Lebensbereiche – vom Lohnverhältnis bis zur Kriegswirtschaft. Wie sich die ökonomische Friedens- und Konfliktforschung dieser Realität in Deutschland jetzt erneut widmet und gewidmet hat und welche Zukunft wir vor uns haben, diskutiert dieser Text in fünf Thesen.

Zum ersten Mal seit den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre ist 2022 der Krieg wieder so nah an Deutschland herangerückt, dass seine Brutalität und das Leid, das er schafft, auch in deutschen Wohnzimmern vorstellbar werden. Bis dahin hatte sich die deutsche Regierung zwar an vielfältigen Militärmissionen von Afghanistan bis Mali beteiligt. Sie hatte sich auch mit den Konsequenzen der Kriege in Syrien und Libyen durch eine kurzzeitig liberale Migrationspolitik aber vor allem tödliche Abschottungspolitik im Mittelmeer und in der Türkei auseinandergesetzt. Unmittelbar bedrohlich wurden diese Kriege jedoch für die meisten Menschen in Deutschland nicht. Nun »steht« Russland vor den Toren der Europäischen Union, Gasrohre in der Ostsee explodieren und die deutsche Regierung vollzieht vorläufig eine Abkehr von ihrer Verflechtungspolitik mit Russland, die der deutschen Industrie und den Wähler*innen über Jahrzehnte billiges Gas garantiert hatte. Die Zeit gemütlicher Exportweltmeisterschaften unter dem US-amerikanischen Atomschutzschirm scheint zunächst vorbei und wirft grundsätzliche politische und analytische Fragen nach dem Zusammenhang von Kapitalismus, Gewalt und Krieg auf.

Vergessene Ursprünge

Dieser Zusammenhang wurde zuletzt Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Banner der Imperialismustheorien diskutiert, die die Großmächte, vertreten durch Finanzkapital und Regierung, in expansivem Wettbewerb um »ökonomisches Territorium« sahen, sei dies nun in der Nachbarschaft oder auf weiter entfernten – noch kolonisierten – Kontinenten (Luxemburg 1913). Bis in die frühen 1990er Jahre existierten in Deutschland Analysen, die aus einer grundsätzlich marxistischen Perspektive der Kritik der Politischen Ökonomie ökonomische und politische Zwänge und Machtbeziehungen systematisch in den Blick nahmen, so z.B. in den Arbeiten von Krippendorf (1987), Ziebura (1984) oder Mahnkopf und Altvater (1996). Im neoliberalen Deutschland von 1990 bis heute wurden diese Arbeiten, die sich für den globalen Kapitalismus interessierten, weitgehend vergessen und nur noch an wenigen Stellen universitär verfolgt.1 Stattdessen brach sich in diesen Jahre eine politiknahe, policy-Analyse Bahn, die sich eher für das Management von Konflikten, die Analyse der UN-Institutionen, ihrer Normen und der »multi-level governance« interessierte (Daase 1996; Risse 2000; Deitelhoff 2006; Zimmermann 2017). Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Schlichte dar (z.B. 2005) und jüngst auch diejenigen Scherrers (2021). Aber der Umschwung beginnt bereits. Think Tanks und Wissenschaft beginnen sich stärker für Wirtschaft zu interessieren, so zum Beispiel sichtbar am neuen Geoökonomie-Schwerpunkt der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik oder die sich auch für wirtschaftliche Interdependenzen interessierende »49Security«-Blogreihe des Global Public Policy Institutes, die vom Auswärtigen Amt finanziert ist. Zudem beginnen auch Ökonom*innen sich für Geopolitik zu interessieren, so z.B das Deutsche Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Die Ökonomie wird so schnell wieder mitgedacht, wie sie einst vergessen und verdrängt wurde.

Grundbegriffe und theoretische Ansätze

Um den Boden zum Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt zu bereiten, zunächst einige Begriffsklärungen: Der Gewaltbegriff in dieser Forschung reicht von struktureller (klassisch bei Galtung 1969) bis physischer Gewalt (Koloma-Beck und Schlichte 2020). Der Begriff des Konfliktes erstreckt sich dabei von Auseinandersetzungen um Interessen verschiedenster Art bis zum Klassenkampf oder dem zwischenstaatlichen Krieg (Bonacker 2005).

Wirtschaft und Ökonomie werden im Deutschen weitgehend synonym gebraucht. Wie Mitchell schön gezeigt hat, wird die nationale »Wirtschaft« jedoch zunächst diskursiv hergestellt und existiert nicht einfach so (Mitchell 1998). Der Begriff politische Ökonomie transportiert bereits, dass jede Ökonomie auch politisch hergestellt und stabilisiert wird. Je nach theoretischer und politischer Couleur spielt der Kapitalismusbegriff dabei eine unterstützende Rolle, indem vom globalen Kapitalismus und nationalen Kapitalismen gesprochen wird (May et al. 2023).

Während in Deutschland lange der Begriff »Marktwirtschaft« präferiert wurde und Kapitalismus eher als linker Kampfbegriff erschien (Koddenbrock 2017), haben Finanz-, Covid-19- und Energiekrise ein für alle Mal deutlich gemacht, dass Kapitalismus existiert und auch so genannt und bearbeitet werden muss. Kapitalismus ist mehr als Markt und Wirtschaft, denn der Begriff umfasst unsere Weltgesellschaft, das Privateigentum, die internationale Arbeitsteilung und damit auch die (sich verändernde) Trennung in Zentren und Peripherien (Amin 1974; Brand und Wissen 2017). Er umfasst auch die Konflikte zwischen Arbeit und Kapital sowie die globale und nationale Interaktion durch Geld und Währungen mit unterschiedlicher Verbreitung, die als Kapital nach Verwertung und Vermehrung strebt. Dabei zeigt ältere und jüngere Forschung immer wieder, dass der Kapitalismus intersektional zu fassen ist (Buckel 2012), denn Rassismus (Robinson 1983; Loick und Thompson 2022), Patriarchat (bell hooks 2022; Federici 2004) und die Zerstörung der »Natur« (Moore 2015; Mies 1986) sind ihm inhärent. Die Klimakrise muss folglich als ein Ergebnis des kapitalistischen Wirtschaftens und seines Wachstumsimperativs betrachtet werden (Schmelzer und Vetter 2021).

Aus dieser kurzen Begriffsdiskussion lässt sich bereits erkennen, dass das Forschungsfeld zum Zusammenhang von Ökonomie und (kriegerischer) Gewalt riesig ist. Aus einer Perspektive der kritischen Politischen Ökonomie daher im Folgenden ein paar Thesen zu ihrem Zusammenhang. Wichtig ist für jede Beschäftigung mit Kapitalismus und Gewalt (Gerstenberger 2016; Siegelberg 1994), dass sowohl die nationalen, internationalen und globalen Ebenen in ihren Verflechtungen mitgedacht werden müssen und das Akteurshandeln in diesen Strukturen verortet und analysiert wird (Cox 1981; Schmalz 2018).

Fünf Thesen zum Zusammenhang

1. Kapitalismus und Gewalt sind immer eng verbunden.

Dass der Aufstieg des Kapitalismus in den aktuellen Zentren des Weltsystems maßgeblich durch die Gewalt der Sklaverei und des Kolonialismus ermöglicht wurde, ist mittlerweile Stand der Forschung (vgl. für viele Williams 1944; Rodney 1972; Galeano 2009; Mies 1986; Beckert 2014; Andrews 2021). Diese Gewalt betrifft nicht nur den »stummen Zwang« der Verhältnisse (Mau 2021) oder institutionalisierte Herrschaft, sondern auch ganz direkte körperliche Gewaltausübung (Gerstenberger 2016). Eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Ökonomie und gewaltförmigen Konflikten muss also diesen unterschiedlichen Formen der Gewaltausübung im Prozess der Verwertung des Kapitals Aufmerksamkeit schenken. Die Literatur über globale Wertschöpfungsketten bietet dafür hilfreiche Anknüpfungspunkte, da sie sich auch für die »Drecksarbeit« am Ende der Wertschöpfungsketten interessiert (Marlsev, Staritz und Raj-Reichert 2022; Milberg und Winkler 2013).

2. Ökonomie und Politik sind im Kapitalismus notwendigerweise verflochten.

Staatliches Handeln, und damit auch Wirtschaftssanktionen oder aktive Kriegsführung, beruhen immer auf einer relativen Autonomie des Politischen (Poulantzas 1978; Hirsch 2005) in Beziehung zu seinen ökonomischen Strukturbedingungen. Das heißt aber auch, dass die genaue Beziehung zwischen diesen ökonomischen Bedingungen, sowohl im Inland als auch global, und den Aktivitäten der Regierungen analysiert werden muss und nicht einfach vernachlässigt oder strukturdeterministisch abgelesen werden kann. Übertragen auf die derzeitige Kriegseskalation in Europa bedeutet dies: Ob und wie sehr der deutsche Schwenk hin zu höheren Militärausgaben also von der Notwendigkeit, das eigene Exportmodell mittelfristig abzusichern, mitbestimmt wurde oder vor allem eine spontane, quasi-moralische Reaktion auf einen überraschend entstandenen Krieg war, ist genau zu untersuchen und nicht einfach vorauszusetzen (Koddenbrock und Mertens 2022). Gleichzeitig wird durch die verschränkte Analyse global-nationaler Strukturen und Akteure die semi-periphere Stellung Russlands im globalen Kapitalismus sichtbar. Es zeigt sich dann auch die Tatsache, dass die russische Regierung zumindest eine gewisse Unterstützung bestimmter Kapitalfraktionen haben muss und gleichzeitig von einer expansiven Ideologie getrieben ist.

3. Es gibt unterschiedlich abstrakte »Flughöhen« in der Analyse der Kriegsursachen und ihrer Beziehung zu Kapitalismus.

Während die Kriegsführung zu Zeiten Machiavellis oder von Clausewitz’ noch als ein natürliches Instrument der Politik verstanden wurde, haben die beiden Weltkriege in der Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen zu einer normativen Orientierung an der Verhinderung des Krieges durch Kooperation beigetragen (Deitelhoff und Zürn 2016). Aber die fundamentale Konflikthaftigkeit der internationalen Ordnung haben sowohl Anhänger*innen der Theorieschule des Realismus wie auch Marxist*innen nie vergessen (Koddenbrock 2022). Realist*innen gehen davon aus, dass Staaten immer (auch militärisch) an ihrem Machterhalt interessiert sind. Marxist*innen analysieren, dass die inhärente Logik des Kapitals, sich immer neue und weitere Verwertungsmöglichkeiten zu suchen, notwendigerweise zu Kriegen führen muss, wenn sich diese Expansion nicht mehr auf friedliche Weise herstellen lässt. Auf dieser Abstraktionsebene trägt die kapitalistische Art und Weise, unsere Weltordnung zu organisieren, immer bereits zu ihrer Kriegsförmigkeit und Konflikthaftigkeit bei.

Aufgrund der relativen Autonomie des Politischen sind Kriege und Konflikte jedoch nicht schematisch vorauszusagen, sondern hängen von den Interessen und Motivationen konkreter Akteure ab. Diese akteursbezogenen bzw. institutionellen Forschungsperspektiven zielen auf die konkreten Kriegs- und Konfliktursachen jenseits der inhärenten Gewaltförmigkeit des globalen Kapitalismus. Hierzu gab es anders als beim grundlegenderen Zusammenhang von Kapitalismus und Gewaltförmigkeit eine durchgehende Debatte in der Konfliktforschung. Aufgrund zahlreicher innerstaatlicher Konflikte, z.B. auf dem afrikanischen Kontinent nach dem vorläufigen Ende des Ost-West-Konfliktes, wurde hier die »Gier und Leid«-Debatte (»greed and grievances«) populär, die den Ausbruch solcher Konflikte entweder mit dem Blick auf die Kosten-Nutzen-Maximierung politischer Gewaltakteure (Rebell*innen u.a.) analysierte oder mit Blick auf die (nicht nur) polit-ökonomischen Leiden, die Akteure zu einem Gewaltakt treiben, wie z.B. Fragen territorialer, identitärer oder sozialer Deprivation (siehe v.a. Collier und Hoeffler 2004). Mit dem Abebben vieler dieser langandauernden und gleichwohl weniger intensiven Konflikte ist es ruhiger um diese Debatte geworden. Nun hat sich hingegen ein neues Interesse für die Kriegsbeendigung ergeben, die gerade auch für die Frage danach, wie lange der Krieg in der Ukraine wohl noch dauern wird, relevant ist (Schreiber 2022).

4. Krieg und gewaltförmige Konfliktführung sind kein Monopol autoritärer Staaten, sondern globales Phänomen und Machtmittel.

In Deutschland hat die Friedens- und Konfliktforschung viel Zeit und Ressourcen in die Erforschung des »demokratischen Friedens« gesteckt (Geis und Wagner 2006). Unter diesem Begriff wurde debattiert, ob Demokratien inhärent friedlicher seien und deshalb weniger Krieg führten. Auf den offensichtlichen Einwand hin, dass die USA, Frankreich, und andere formal demokratische Staaten in diverse Kriege seit 1945 verwickelt waren, wurde dieser Forschungsstrang in Richtung der These weiterentwickelt, dass Demokratien keinen Krieg gegen andere Demokratien führen. Das ist empirisch einigermaßen belegt, lenkt aber primär vom zuerst genannten Befund ab, dass der sogenannte Westen ebenso Krieg führt. Die Beispiele dafür reichen von der Ermordung gewählter Regierungschefs wie Patrice Lumumba und Thomas Sankara über die Ermordung Muammar Gaddafis oder Saddam Husseins, von CIA-Operationen in Lateinamerika oder Indonesien zur Unterstützung autoritärer Regime (Bevins 2020) bis hin zu direkten Kriegen wie dem Vietnamkrieg oder der indirekten Beteiligung am Krieg im Jemen. Eine abgewogene, globale Sicht auf das Konfliktgeschehen kommt nicht umhin, den wichtigen Anteil des Westens am globalen Kriegsgeschehen zu nennen. Die vielen hundert US-Militärbasen auf der ganzen Welt sind nur der sichtbarste Ausdruck dieser Gewalt(-beteiligung). Dies ist aus einer historisch und polit-ökonomisch informierten Perspektive auch nicht überraschend, denn alle kapitalistischen Staaten befinden sich in Konkurrenz zueinander, die nur phasenweise über Normen und Institutionen befriedet wird. Auch Demokratien und der sogenannte Westen können es sich nicht leisten, ihre Weltmarktposition nur mit netten Worten und luftigen Idealen abzusichern.

5. Die Klimakrise und neue Formen der imperialen Konkurrenz (zwischen USA, Russland, China und der EU) werden die Wahrscheinlichkeit gewaltförmiger Konflikte weltweit erhöhen.

30 Jahre eindeutiger US-Hegemonie stehen heute in Frage und der Krieg in der Ukraine ist nur der erste Krieg in einer Reihe von weiteren militärischen Konflikten, die mit der neu anbrechenden Weltordnung einhergehen könnten. Wirtschaftliche Unsicherheit führt zu instabilen Regierungen oder der vermeintlichen Notwendigkeit massiver Repression interner Widersprüche, die wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, über den Kampf mit äußeren Feinden von diesen Problemen abzulenken. Der Aufstieg offen rechtsradikaler Parteien und Personen in Europa, den USA aber auch z.B. in Indien ist dafür Beleg. Ein zunehmend krisenhafter Kapitalismus mit immer weiter wachsender Ungleichheit, Dürren und Überflutungen wird definitiv die Stabilität der US-Hegemonie nicht wiederherstellen, sondern zu neuen, eher instabilen Allianzen zwischen den Kontinenten führen, da alle Staaten immer verzweifelter um die notwendigen Ressourcen für die Klimaanpassung kämpfen werden. Formen der globalen Kooperation wie das »Pariser Klimaabkommen« von 2015 oder die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (»Sustainable Development Goals«) werden in zunehmend offenem Gegensatz zu den wachsenden Konflikten stehen.

Die Aussichten sind nicht gut. Der Titel dieses Heftes zu »Ökonomie und gewaltförmigen Konflikten« drückt die Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch zurückhaltend aus. Kapitalismus, Krieg und Gewalt waren historisch immer wieder symbiotisch verbunden. Phasen relativen Friedens waren zumeist regional und zeitlich begrenzt. Der Weg aus dem Kapitalismus muss heute ernsthaft in Betracht gezogen werden, denn die Krisen nehmen überhand (vgl. Dörre in dieser Ausgabe, S. 14-18). Wie und durch welche Allianzen wir diese Wege suchen könnten, das könnte ein Beitrag einer »friedens-politischen Ökonomie« sein.

Anmerkung

1) Der Neo-Gramscianismus war in Deutschland das letzte Refugium der kritischen politischen Ökonomie (bspw. Bieling 2011), bevor die Finanzkrise in den Jahren nach 2007 einer neuen und wachsenden Generation der politischen Ökonomie den Boden bereitete.

Literatur

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Kai Koddenbrock ist Nachwuchsgruppenleiter an der Universität Bayreuth und ab Sommer 2023 Professor für Politische Ökonomie am Bard College Berlin. Er leitet mit Benjamin Braun das Forschungsnetzwerk »Politics of money« (politicsofmoney.org).

Mehrsprachigkeit als Friedensinstrument

Mehrsprachigkeit als Friedensinstrument

Statistische Notizen aus der Eurolinguistik

von Joachim Grzega

Der folgende Beitrag setzt die Zahl der Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen in Relation zu friedensbezogenen nicht-sprachlichen Aspekten. Ob ein Zusammenhang besteht, wird mithilfe statistischer Tests ermittelt. Es zeigt sich im Vergleich der EU-Länder, dass je höher der Anteil von Personen ist, die in mindestens drei Fremdsprachen an Gesprächen teilnehmen können, desto geringer sind die Militärausgaben und desto besser die Werte auf dem allgemeineren Global Peace Index. Bezüglich Russland ist in einem Land ein positives Russland-Bild umso verbreiteter, je mehr Menschen Russisch auf Konversationsniveau beherrschen.

Schon viele haben geäußert, dass die Kenntnis von Fremdsprachen beziehungsweise Mehrsprachigkeit zu Friedfertigkeit und Frieden führen. Oft verbleiben die Beschreibungen jedoch im Theoretischen und Allgemein-Programmatischen (z.B. Kroff 1943, Marti 1996). Gelegentlich gibt es diesbezüglich auch konkrete praktische Vorschläge für den Zweit- und Fremdsprachenunterricht (z.B. Friedrich 2007, Grzega 2012, S. 302-305, mehrere Beiträge in Oxford et al. 2020). Der Nachweis, dass Mehrsprachigkeit tatsächlich von mehr Friedfertigkeit begleitet wird, steht jedoch noch weitgehend aus. Diese Studie will einen kleinen Beitrag dazu leisten.

Fragestellung und bisherige Forschung

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat man die Aussöhnung der Völker durch die Pflege von Städtepartnerschaften zu fördern versucht. Diese waren und sind vielerorts auch begleitet von der Durchführung von Sprachkursen (teils über Bildungseinrichtungen, teils über Partnerschaftsvereine, teils privat), um eine möglichst intensive Freundschaft zwischen den Menschen zu ermöglichen. Ich selbst habe in unserem Landkreis mit Blick auf vorhandene Städtepartnerschaften Anfängerkurse in Französisch, Italienisch und Ungarisch durchgeführt. Doch: Lässt sich der Nutzen von Mehrsprachigkeit für Friedfertigkeit mit statistischen Mitteln zeigen? In einer Studie von Keysar, Hayakawa und An (2012) wurde gezeigt, dass man Informationen allgemein weniger emotional verarbeitet, wenn sie in einer Fremdsprache aufgenommen werden. In diesem Falle fokussiert man nämlich mehr auf die Fakten als auf die Stimmung des Gelesenen. Indirekt lässt sich daraus ableiten, dass diese geringere Emotionalität letztlich auch gilt, wenn andere Länder das Thema eines fremdsprachlichen Textes sind. Eine solche Entemotionalisierung kann auch der Bereitschaft für friedliche Konflikttransformation helfen – Fremdsprachenkenntnisse scheinen dafür eine wichtige Voraussetzung zu schaffen.

Friedfertigkeit kann man individuell oder national betrachten. Im Buch »Wort-Waffen abschaffen!« (Grzega 2019) lege ich dar– während es sonst hauptsächlich um den Effekt von Wortgebrauch innerhalb von Sprachen geht –, dass EU-Staaten mit mehr als einer Amtssprache friedfertiger sind (Ebd., S. 52ff.). Zu dieser Aussage gelange ich durch den Vergleich zweier Gruppen von Ländern in der EU sowie der kulturell eng verwandten Länder Großbritannien, Norwegen und Schweiz: (1) Länder, die auf nationaler Ebene mehrsprachig sind, also jedes Gesetz in mehr als einer Sprache veröffentlichen müssen, und (2) Länder, die auf nationaler Ebene einsprachig sind. Vergleicht man diese beiden Gruppen mit ihren »Noten« auf dem Global Peace Index (GPI), so erzielt die erste Gruppe bessere Resultate für die Jahre 2010 bis 2017. Für die Jahre 2010 bis 2016 zeigt sich zudem, dass die Gruppe mit mehr als einer Amtssprache weniger für militärische Belange ausgegeben hat, gemessen am Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes – solche Ausgaben ließen sich auch als Parameter für nationale Friedfertigkeit heranziehen. In diesem Beitrag jedoch blicken wir nun auf den Zusammenhang von individuellen Fremdsprachenkompetenzen und nationaler Friedfertigkeit

Methodisches

Eine ideale Analyse achtet dabei darauf, dass nur die Variablen »Sprache« und der »friedensbezogene Aspekt« die Ausprägungen wechseln, andere Aspekte hingegen möglichst gleich sind. Die ausgewählten Länder sollten also möglichst dem gleichen »Kulturraum« entstammen – im Sinne von allgemeinen Werten, aber auch der politisch-juristischen Rahmenbedingungen. Betrachtet seien hier daher – gemäß einem der Ansätze in der Eurolinguistik (vgl. z.B. Grzega 2013, S. 3f.) – die Staaten der Europäischen Union. Dies soll nicht leugnen, dass es auch innerhalb der EU Unterschiede gibt (immerhin lautet das EU-Motto »In Vielfalt geeint«); doch die EU-Verträge liefern zumindest gewisse Bekenntnisse und Rahmenbedingungen, die für das Thema Friedfertigkeit eine grobe Zusammenfassung als Gruppe zu erlauben scheinen.

Welche sprachbezogenen Kennzahlen bieten sich an? Zur Feststellung der Anzahl von Fremdsprachen, die in einem Staat von den Menschen für ein Gespräch beherrscht werden, werden die Erhebungen von Eurostat (o.J.) herangezogen, d.h. der statistischen Datenbank der Europäischen Kommission. Zur Feststellung der Kenntnisse einzelner Fremdsprachen konkret lässt sich jedoch nur auf eine 2012 durchgeführte Umfrage im Auftrag der Europäischen Union zurückgreifen, die unter der Nummerierung Spezial-Eurobarometer 386 und dem Titel »Die europäischen Bürger und ihre Sprachen« zu finden ist (vgl. Eurobarometer 2012); sie wird ergänzend einbezogen.

Als Maß für Friedfertigkeit kann der schon erwähnte Global Peace Index herangezogen werden (vgl. Institute for Economics and Peace o.J.). In diesen Index fließen verschiedene Kriterien ein. Objektive Kriterien sind beispielsweise die Anzahl der geführten Kriege im In- und Ausland, die finanzielle Beteiligung an UN-Einsätzen, die Anzahl der Morde, die Anzahl der importierten und exportierten konventionellen Waffen, die Anzahl der inhaftierten Personen, die Anzahl der Bediensteten der Polizei und der staatlichen Sicherheitsorgane, der Umfang der Armee sowie die militärischen Ausgaben in Prozent des Bruttoinlandsproduktes; daneben finden sich auf Fachmeinung beruhende subjektive Kriterien, wie etwa die geschätzte Anzahl der Kriegstoten, der Grad des Misstrauens in Mitmenschen, der Grad der politischen Instabilität, das Ausmaß von Terroranschlägen, die Möglichkeit von gewalttätigen Demonstrationen sowie politischer Terror im Sinne der Verletzung von Menschenrechten. Am Ende wird daraus der Grad der Friedfertigkeit rechnerisch bestimmt, wobei der Wert 1,000 für das beste Ausmaß von Friedfertigkeit stehen soll und höhere Werte geringere Friedfertigkeit darstellen. Da die Daten zu den allgemeinen Fremdsprachenkenntnissen 2016-2018 erhoben wurden, seien für diese Analyse die GPI-Werte für 2016-2018 herangezogen.

Dazu können speziell die militärischen Ausgaben in Prozent des Bruttoinlands­produktes herangezogen werden, wie sie vom Stockholm International Peace Re­search Institute veröffentlicht werden (vgl. SIPRI); diese Zahlen können auch als Ausdruck von Friedfertigkeit interpretiert werden.

Des Weiteren eignen sich zum Vergleich einige Ergebnisse zum Fragebogen des World Values Survey der Periode 2017-2020 (vgl. WVS o.J.). Besonders interessant scheinen die Zustimmungswerte zu Aussage 21 „Ich hätte gerne keine Immigranten oder ausländische Arbeiter als Nachbarn“, Aussage 63 „Ich vertraue Menschen anderer Nationalität völlig oder einigermaßen“ und Aussage 259 „Ich fühle mich der Welt sehr nah oder nah“. Es sind Fragen der Toleranz und der Empathie; wenn diese weit verbreitet sind, dürfte dies ein Ausdruck von großer Friedfertigkeit einer Bevölkerung sein.

Der Haltung der EU-Länder auf politischer und individueller Ebene gegenüber Russland kommt für die zukünftige Friedenslage zentrale Bedeutung zu.1 Daher seien Teil-Resultate einer weiteren Umfrage aus der Eurobarometer-Reihe der EU hinzugezogen: Sie trägt den Titel »Zukunft Europas« und wurde als Spezial-Eurobarometer 451 im Oktober 2016 durchgeführt (vgl. Eurobarometer 2016). In Frage QB8.6 sollen die Interviewten beantworten, ob sie ein positives oder negatives Bild von Russland hätten (Ebd., S. 79). Frühere Erhebungen zu dieser Frage gibt es nicht. Im darauffolgenden Jahr war die Frage im Spezial-Eurobarometer 467 als Frage QC5.6 wieder vertreten (vgl. Eurobarometer 2017). Diese Fragen enthalten beide Bewertungsadjektive, „Haben Sie ein positives oder negatives Bild von Russland?“, und sind daher frei von einem häufigen Problem, das für die Eurobarometer-Reihe beschrieben worden ist (vgl. z.B. Höpner/Jurczyk 2012).

Bezüglich der statistischen Analyse zur Bestimmung von Korrelationen wurde in dieser Analyse der Spearman’sche Rangkorrelationskoeffizient (rho bzw. rs) verwendet. Er wird statt der Pearson-Korrelation verwendet, da einige Zahlenreihen gemäß eines Shapiro-Wilk-Tests nicht normal verteilt sind. In diesem Verfahren fallen die Ergebnisse mit Werten zwischen -1 und +1 aus. Je näher der Wert an -1 ist, desto größer ist eine negative Korrelation im Sinne von „Je mehr Punkte bei A, desto weniger Punkte bei B“; je näher der Wert an +1 ist, desto größer ist eine positive Korrelation im Sinne von „Je mehr Punkte bei A, desto mehr Punkte bei B“. Werte geringer als ±0,20 sind dabei vernachlässigbar; als signifikant soll, wie üblich, ein dazugehöriger p-Wert von unter 0,05 gelten (vgl. Cohen 1988, Ellis 2010).

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Korrelationen sind in Tabelle 1 dargestellt.

Blicken wir zunächst auf die Antworten aus dem World Values Survey für 2017-2020 (Tabelle 1, Zeilen WVS, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen). Das Ausmaß der Fremdsprachenkenntnisse 2016-2018 hängt offenbar nicht mit der Haltung gegenüber ausländischen Personen als Nachbarn oder mit dem Vertrauen in ausländische Personen zusammen (alle Werte dieser Korrelationen sind nicht signifikant). Erstaunlicherweise zeigt sich jedoch: je größer die Verbreitung von Kenntnissen in zwei oder mehr Fremdsprachen ist, desto weniger verbreitet ist ein starkes Gefühl der Nähe zur Welt. Umgekehrt gilt interessanterweise auch: je weniger Fremdsprachenkenntnisse verbreitet sind, desto mehr gibt es ein Gefühl der Nähe zur Welt (0 Sprachen: rho=+0,47; p=0,0232; 2+ Sprachen: rho=-0,46, p=0,0270; 3+ Sprachen: rho=-0,50, p=0,0147).

Widmen wir uns nun den Werten des Global Peace Index (Tabelle 1, Zeilen GPI2016-2018, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen). Betrachtet man jeweils den Prozentsatz derjenigen in einem Land, die keine, eine oder zwei Fremdsprachen gesprächsfähig beherrschen, so zeigen sich in Verbindung mit den GPI-Werten keine signifikanten Korrelationen. Wohl aber ergeben sich bedeutsame Zusammenhänge beim Prozentsatz von Menschen, die in mindestens drei Fremdsprachen an Gesprächen teilnehmen können. Hier lässt sich als Ergebnis festhalten: Je höher der Anteil von Personen mit mindestens drei Fremdsprachen, desto niedriger/besser der Wert auf dem Global Peace Index (2016: rho=0,44, p=0,0236; 2017: rho=0,38, p=0,0117).

Konzentriert man sich auf die militärischen Ausgaben (gemessen in Prozent am Bruttoinlandsprodukt), wie sie von SIPRI festgehalten werden, bestätigt sich dieses Bild (Tabelle 1, Zeilen SIPRI2016-2018, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen): Je mehr Menschen in einem Land mindestens drei Fremdsprachen sprechen, desto geringere staatliche Militärausgaben gibt es (2016: rho=0,43, p=0,0232; 2017: rho=0,36, p=0,0134; 2018: rho0,45, p=0,0176).

Betrachtet man speziell den Anteil der Personen in einem Staat, die 2012 einem Gespräch in russischer Sprache folgen konnten, und setzt dies in Relation zum Anteil der Personen in einem Staat, die 2016 und 2017 ein positives Russland-Bild hatten (Tabelle 1, Zeilen pos. Russlandbild 2016-2017, signifikante Zeilen sind unterstrichen), so ergibt sich ebenfalls ein statistisch bedeutsamer Zusammenhang (2016: rho=+0,42, p=0,0091; 2017: rho=+0,61, p=0,0069). Wohlgemerkt handelt es sich wiederum um aggregierte Ausprägungen auf der gesamtstaatlichen Ebene; die zur Sprachkompetenz befragten Individuen sind nicht dieselben wie die zum Russland-Bild befragten.

rho

p (2-seitig)

N

WVS: Ausländer ungern als Nachbar!

0 Frspr.

+0,18

0,4098

23

1 Frspr.

-0,02

0,9442

23

2 Frspr.

-0,17

0,4394

23

3 oder mehr Frspr.

-0,21

0,3246

23

2 oder mehr Frspr.

-0,22

0,3086

23

WVS: Vertrauen in Ausländer!

0 Frspr.

-0,17

0,4283

23

1 Frspr.

-0,21

0,3289

23

2 Frspr.

-0,25

0,2596

23

3 oder mehr Frspr.

+0,34

0,1175

23

2 oder mehr Frspr.

+0,30

0,1692

23

WVS: Gefühl der Nähe zur Welt!

0 Frspr.

+0,47

0,0232

23

1 Frspr.

-0,18

0,4220

23

2 Frspr.

+0,44

0,0321

23

3 oder mehr Frspr.

-0,50

0,0147

23

2 oder mehr Frspr.

-0,46

0,0270

23

GPI 2016

0 Frspr.

+0,19

0,3496

26

1 Frspr.

+0,15

0,4704

26

2 Frspr.

-0,24

0,2334

26

3 oder mehr Frspr.

-0,44

0,0236

26

2 oder mehr Frspr.

-0,34

0,0916

26

GPI 2017

0 Frspr.

+0,11

0,6039

26

1 Frspr.

+0,19

0,3399

26

2 Frspr.

-0,18

0,3857

26

3 oder mehr Frspr.

-0,38

0,0555

26

2 oder mehr Frspr.

-0,26

0,2076

26

GPI 2018

0 Frspr.

+0,23

0,2410

26

1 Frspr.

+0,22

0,2774

26

2 Frspr.

-0,28

0,1611

26

3 oder mehr Frspr.

-0,49

0,0117

26

2 oder mehr Frspr.

-0,37

0,0609

26

SIPRI 2016

0 Frspr.

+0,25

0,1971

28

1 Frspr.

+0,17

0,3771

28

2 Frspr.

-0,24

0,2237

28

3 oder mehr Frspr.

-0,43

0,0232

28

2 oder mehr Frspr.

-0,33

0,0879

28

SIPRI 2017

0 Frspr.

-0,24

0,2240

28

1 Frspr.

-0,20

0,3182

28

2 Frspr.

-0,25

0,1988

28

3 oder mehr Frspr.

-0,36

0,0134

28

2 oder mehr Frspr.

-0,36

0,0627

28

SIPRI 2018

0 Frspr.

+0,20

0,3080

28

1 Frspr.

+0,20

0,3094

28

2 Frspr.

-0,21

0,2920

28

3 oder mehr Frspr.

-0,45

0,0176

28

2 oder mehr Frspr.

-0,33

0,0846

28

pos. Russland-Bild 2016

Russisch-Kompetenz

+0,42

0,0091

27

pos. Russland-Bild 2017

Russisch-Kompetenz

+0,61

0,0069

27

Tabelle 1

Zusammenfassung und Ausblick

Es kann festgehalten werden, dass gilt: je höher der Anteil der Bevölkerung, der über Gesprächskompetenzen in mindestens drei Fremdsprachen verfügt, desto eher zeigt ein Land geringere Militärausgaben und – allgemeiner – bessere Werte auf dem Global Peace Index bei gleichzeitig schwächerem Verbundenheitsgefühl der Bevölkerung mit der Welt. Speziell mit Bezug auf Russland ist in einem Land ein positives Russland-Bild umso verbreiteter, je mehr Menschen auf Russisch an einem Gespräch teilnehmen können.

Freilich lässt eine Korrelation noch nicht auf eine Kausalität schließen. Beispielsweise könnte eine weitere Komponente der Auslöser für die Korrelation sein. Dennoch liefert dieses Resultat Hinweise darauf, dass es wert ist, mindestens drei Fremdsprachen auf einem Niveau zu erlernen, das eine Gesprächsteilnahme erlaubt – es könnte der Friedfertigkeit der Welt zuträglich sein.2

Anmerkungen

1) Der Aufsatz wurde ursprünglich im August 2021 erstellt. Er wurde verfasst in der Hoffnung, dass er einen Beitrag dazu leisten kann, dass es nicht zu einer Situation kommt, wie sie sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine nun ergeben hat. Für eine zukünftige Entwicklung Richtung Frieden sollte man aufgrund der hier vorgetragenen Beobachtungen dennoch die mögliche Kraft von Sprachkompetenzen als einen Faktor bedenken. Dabei sollte auch die Kraft von Schlüsselbegriffen verstanden, wie sie etwa Bundeskanzler Willy Brandt für die Beziehung zu Russland (und zu anderen Ländern) erkannt hatte (vgl. etwa Grzega 2021).

2) Hierzu braucht nicht auf eine langwierige politische Entscheidungsfindung für das Schulwesen gewartet zu werden. Es bieten sich verschiedene Möglichkeiten zu individuellem Sprachenlernen. In Deutschland etwa bieten die Volkshochschulen umfangreiche Sprachangebote. An der VHS Donauwörth gibt es im Rahmen des Projektbereichs »Innovative Europäische Sprachlehre« (InES) einen eintägigen Sieben-Sprachen-Schnupperkurs. Als Türöffner zu weiteren Sprachen werden Ideen für friedensfördernde Gesprächsstrategien eingebaut, die sich dann auch im Unterricht weiterer Sprachen widerspiegeln sollen. Alle genannten Konzepte richten sich auch an Personen ohne besonderes Sprachtalent.

Literatur

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Eurobarometer (2012): EBS386. Die europäischen Bürger und ihre Sprachen. Bericht, Juni 2012.

Eurobarometer (2016): EBS451. Die Zukunft Europas. Bericht, Dezember 2016.

Eurobarometer (2017): EBS467. Die Zukunft Europas. Bericht, November 2017.

Ellis, P. (2010): The essential guide to effect sizes: Statistical power, meta-analysis, and the interpretation of research results. Cambridge: Cambridge University Press.

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Institute for Economics and Peace (o.J.): Global ­Peace Index (GPI) Websit. URL: visionofhumanity.org.

Grzega, J. (2012): Europas Sprachen und Kulturen im Wandel der Zeit: Eine Entdeckungsreise. Tübingen: Stauffenburg.

Grzega, J. (2013): Studies in Europragmatics: Some theoretical foundations and practical implications. Wiesbaden: Harrassowitz.

Grzega, J. (2019): Wort-Waffen abschaffen! Beobachtungen zu Europas gewaltvoller Wortwahl und Ideen für eine friedensstiftende Sprache. Berlin: epubli.

Grzega, J. (2021): Eurolinguistischer Blick auf Willy Brandt – Frieden fördern durch Überwindung rhetorischer Grenzen. In: Roczniki Humanistyczne 69 (5), S. 167-180.

Höpner, M.; Jurczyk, B. (2012): Kritik des Eurobarometers: Über die Verwischung der Grenze zwischen seriöser Demoskopie und interessengeleiteter Propaganda. In: Leviathan 40 (3), S. 326-349.

Keysar, B.; Hayakawa, S.; An, S. G. (2012): The ­foreign-language effect: Thinking in a foreign tongue reduces decision biases. In: Psychological Sciences 23, S. 661-668.

Kroff, A. Y. (1943): Education for the peace through the foreign languages. In: The Modern Language Journal 27(4), S. 236-239.

Marti, F. (1996): Language education for world ­peace. In: Global Issues in Language Education 25, S. 16-17.

Oxford, R. L.; Olivero, M. M; Harrison, M.; Gregersen, T. (Hg.) (2020): Peacebuuilding in language education: Innovations in theory and practice. Bristol: Multilingual Matters.

Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) (o.J.): Military Expenditure Database. sipri.org/databases/milex.

World Values Survey (WVS) (o.J.): Online Data Analysis. Wave 2017-2020. worldvaluessurvey.org/WVSOnline.jsp

Dr. Joachim Grzega ist Leiter des Bereichs »Innovative Europäische Sprachlehre (InES)« an der Volkshochschule Donauwörth und außerplanmäßiger Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Legitimierung des Illegitimen

Legitimierung des Illegitimen

Ideologische Sprache und der Genozid an den Rohingya

von Maximilian Wegener

Dass ideologisch geprägte Sprache im Kontext systematischer Massengewalt eine wichtige Rolle spielt, erscheint wenig überraschend. Doch wie genau wird die Anwendung genozidaler Gewalt gegen bestimmte Gruppen diskursiv gerechtfertigt? Durch welche Strategien werden Gräueltaten bis hin zum Völkermord als notwendig, vertretbar und gar wünschenswert dargestellt? Ein Blick auf den Genozid an der Minderheit der Rohingya in Myanmar zeigt, dass politische und symbolische Eliten ideologische Sprache bemühen, um kollektive Gewalt zu rechtfertigen. Welche diskursiven Strategien der Gewaltlegitimierung sie dabei nutzen, soll im Fokus dieses Beitrages stehen.

Ideologien, also übergeordnete, gruppenspezifische und potenziell handlungsleitende Ideen und Weltbilder, können sowohl strukturell als auch instrumentell zur Verübung kollektiver Gewaltverbrechen beitragen. Ob Nationalsozialismus, Stalinismus, Maoismus, Khmer-Nationalismus in Kambodscha oder ethnonationalistische Konstrukte wie »Hutu Power« in Ruanda – eine theoretisch fundierte und analytisch weitsichtige Untersuchung der schlimmsten Menschheitsverbrechen darf ideologische Parameter nicht außer Acht lassen. Längst ist klar, dass Gräueltaten nicht nur auf ideologisch besessene Fanatiker*innen zurückgeführt werden können und Täter*innen keine homogene ideologische Masse bilden (Leader Maynard 2014). Ideologie ist vielmehr ein alltägliches und sozial omnipräsentes Ideensystem, das auf recht subtile Art und Weise beeinflusst, wie Menschen die Welt um sie herum betrachten, interpretieren und bewerten. Ideologische Dispositive prägen nicht nur Wertesysteme, politische Einstellungen und soziale Verhaltensmuster von Einzelpersonen; auf kollektiver Ebene strukturieren sie darüber hinaus maßgeblich die Beziehungen zwischen sozio-politischen Gruppen.

Ideologie lässt sich nur dann adäquat untersuchen, wenn ihre diskursiven Erscheinungs-, Verbreitungs- und Wirkformen berücksichtigt werden. Sprache kreiert, prägt, transportiert und verbreitet Ideologie ebenso wie sich Ideensysteme in Diskursen, Symbolen und Bildern manifestieren, sie beeinflussen und teilweise neu erfinden. In Kontexten kollektiver Gewaltanwendung verleiht ideologische Sprache den Gräueltaten einen ideellen Überbau in Form eines größeren Sinnzusammenhangs. Dabei geht es nicht zuletzt um die ideologisch hergeleitete und diskursiv gerahmte Legitimierung genozidaler Gewalt (aber auch anderer Formen kollektiver Gewalt, diese Feststellung ist nicht auf Genozide beschränkt). Ideologische Sprache porträtiert systematische Massengewalt in den Augen von Täter*innen und Unterstützer*innen oft nicht nur als notwendig und vertretbar, sondern kann sie gar als erstrebenswert und unausweichlich erscheinen lassen. Vereinfachende Narrative entlang der Gegenüberstellung »Wir gegen Die« erzeugen eine gruppenspezifische Abwertung der Anderen bei gleichzeitiger Aufwertung des Eigenen. Diese Gegenüberstellung von Ingroup und Outgroup bildet letztlich den Nährboden für hegemoniale Diskursfiguren, die strategisch darauf ausgerichtet sind, kollektive Gewaltverbrechen bis hin zum Völkermord zu rechtfertigen. Teilweise aufbauend auf einem von Jonathan Leader Maynard und Susan Benesch geprägten Modell zu »gefährlicher Sprache und gefährlicher Ideologie« (2016) lassen sich mehrere diskursiv-ideologische Mechanismen identifizieren, die die Anwendung von Massengewalt als legitim darzustellen helfen. Im Folgenden skizziere ich eine Auswahl dieser Legitimierungsstrategien am Beispiel des Völkermords an den Rohingya in Myanmar.

Genozid an den Rohingya

Der Vielvölkerstaat Myanmar wird politisch dominiert durch die Bamar als zahlenmäßig größte ethnische Gruppe sowie den Theravada-Buddhismus, der als offizielle Staatsreligion gilt. Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Instabilität, Repression, Polarisierung und bewaffneter Konflikte ist auf Basis dieser beiden Identitätsmarker ein ideologisches Umfeld entstanden, in dem Staatsangehörigkeit und nationale Zugehörigkeit keine formal-juristischen Kategorien mehr sind, sondern fast ausschließlich über ethno-religiöse Zuschreibungen definiert werden. Angetrieben durch das Militär, politische Parteien, radikale Prediger sowie andere Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und den Medien sind birmanischer Ethnonationalismus und buddhistischer Fundamentalismus längst zu einem brandgefährlichen ideologischen Gemisch geworden, das den öffentlichen Diskurs maßgeblich prägt und daher im Folgenden untersucht wird.

Dies hat insbesondere für die mehrheitlich muslimische Minderheit der Rohingya existenzielle Konsequenzen. Historische, religiöse, ethnische und linguistische Besonderheiten der rund 1,4 Mio. Rohingya werden bereits seit den 1960er Jahren instrumentalisiert, um die Gruppe als fremde und andersartige Eindringlinge aus Bangladesch (»Bengalis«) zu porträtieren. Die diskursive Festschreibung dichotomer und exkludierender Kategorien (»einheimisch« vs. »zugewandert«; »legal« vs. »illegal«) schuf die Voraussetzung für die systematische Diskriminierung, Verfolgung, Vertreibung und Gewalt gegen die Rohingya. Im August 2017 kulminierte diese Gewaltkampagne in einer groß angelegten Militäraktion im Norden des Bundesstaates Rakhine. Binnen weniger Wochen töteten nationale Streitkräfte, regionale Milizen sowie Teile der lokalen Bevölkerung mehr als 10.000 Rohingya, Tausende wurden vergewaltigt und gefoltert sowie hunderte Dörfer niedergebrannt und geplündert; bis zum März des darauffolgenden Jahres flohen fast 700.000 Rohingya über die Grenze ins benachbarte Bangladesch (Ware und Laoutides 2019, S. 60f.).

Legitimierungsstrategien

Wie wurden diese kollektiven Gewaltverbrechen möglich (gemacht)? Ein ausführlicher Blick auf den öffentlichen Diskurs der Jahre 2012-2019 zeigt, dass ideologische Sprache den zentralen Rechtfertigungsrahmen für die Verübung von gegen die Rohingya gerichteter Massengewalt bereitstellt. Die Primäranalyse von 150 eigens zusammengetragenen Diskursfragmenten (politische Reden, Parlamentsdebatten, Pressemitteilungen, Propagandamagazine, Medieninhalte, etc.) fördert neun Legitimierungsstrategien zu Tage, die den Diskurs dominieren und Gewalt gegen die Rohingya aus Sicht der birmanisch-buddhistischen Bevölkerungsmehrheit als notwendig und erstrebenswert darstellen. Während sechs dieser Mechanismen Gräueltaten sprachlich explizit fordern oder nahelegen (aktive Legitimierung), rechtfertigen die anderen drei Strategien die Gewaltverbrechen gerade durch das, was bewusst nicht zur Sprache kommt, einseitig dargestellt oder beschönigt wird (passive Legitimierung).

Aktive Legitimierung

Wie in den meisten Kontexten genozidaler Gewalt wird die strategische Gefahrenkonstruktion auch im Völkermord an den Rohingya genutzt, um Gräueltaten eine zwingende Notwendigkeit zuzuschreiben. Politisches Spitzenpersonal wie Aung San Suu Kyi oder Vorgängerpräsident Thein Sein konstruieren die Rohingya als existenzielle Bedrohung für nationale Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. Basierend auf historisch tief verwurzelten Narrativen werden die Rohingya nicht nur als gefährliche »Flutwelle« illegaler Eindringlinge aus Bangladesch und Indien stigmatisiert, sondern darüber hinaus als gewaltbereite jihadistische Terrorgruppe, die die Islamisierung Myanmars anstrebt. Falschmeldungen, Gerüchte und gezielte Desinformation über mutmaßliche Waffendepots, Terror-Camps oder auch Zwangskonvertierungen laufen in einer strategischen Umkehrung der Täter-Opfer-Konstellation zusammen: um von der eigenen Gewaltkampagne abzulenken, werfen staatliche Medien und Propagandamagazine der Opfergruppe vor, die birmanisch-buddhistische Bevölkerung unterjochen und ausmerzen zu wollen. Massengewalt gegen die Rohingya gilt damit als notwendiges Übel, Selbstverteidigung und gar Überlebenskampf in den Augen der Ingroup. Vereinzelte Angriffe bewaffneter Rohingya-Milizen greifen Eliten wie Militärführer Min Aung Hlaing dankbar auf, um die Rohingya insgesamt als extremistische Terrorgruppe zu verteufeln, die nur durch staatlich organisierte »Gegenmaßnahmen« aufgehalten werden könne.

Flankiert wird das Narrativ der »gefährlichen Rohingya« durch die Strategie der Entmenschlichung. Basierend auf der ideologischen Dichotomie zwischen buddhistischer Ingroup und muslimischer Outgroup porträtiert dehumanisierende Sprache die Rohingya als nichtmenschlich, untermenschlich und biologisch unterlegen gegenüber der birmanisch-buddhistischen Mehrheitsbevölkerung. Dominante Narrative wie »Blutsauger« und »verachtenswerte Flöhe«, »giftige Pflanzen«, »verrückt gewordene Hunde«, »bedrohliche Wölfe«, »blutrünstige Tiger« und »sich schnell vermehrende Karpfen« skizzieren die Rohingya als abscheuliche Parasiten, lästige Plagen, potenziell gefährliche Krankheitserreger und wilde, unzivilisierte Tiere. Prominente Sprecher*innen im Diskurs (sogenannte »epistemische Autoritäten«) wie der radikale buddhistische Prediger Ashin U Wirathu nutzen derartige Diskursfiguren, um exzessive Gewalt gegen die Rohingya als »Pestprävention«, »Reinigung« und »Parasitenbekämpfung« zu beschönigen. Durch diese Form der moralischen Distanz zwischen Täter*innen und Opfergruppe rechtfertigt dehumanisierende Sprache Massengewalt als angemessen und vertretbar.

Zur ideologisch-diskursiven Legitimierung kollektiver Gewalt gehört neben der Konstruktion zukünftiger Gefahren auch die strategische Schuldzuweisung für vermeintliche Delikte, Konflikte und Gewalt­episoden der Vergangenheit. In Myanmar findet sich diese Strategie insbesondere mit Blick auf zwei Zeitabschnitte wieder. Erstens existieren historisch gewachsene Vorwürfe, wonach muslimische Brüdervölker der Rohingya über die vergangenen vier Jahrhunderte weite, vormals buddhistische Teile Süd- und Südostasiens angegriffen und in muslimische Gesellschaften konvertiert hätten. Insbesondere epistemische Autoritäten wie der radikale Mönch Ashin Sada Ma oder Ashin Tawpaka, Sprecher der fundamentalbuddhistischen Organisation MaBaTha, werfen den Rohingya mithilfe pseudo-historischer Belege und manipulierter Quellen vor, Myanmar wie bereits Indonesien, Bangladesch, Pakistan und Malaysia »schlucken« und islamisieren zu wollen (Foxeus 2019, S. 678). Zweitens nutzen Eliten die jüngere Konfliktgeschichte zwischen den Rohingya und Bamar zur gezielten Aktualisierung kollektiver Traumata. Während die Rohingya im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der britischen Kolonialtruppen kämpften, kooperierten die Rakhine und Bamar mehrheitlich mit der japanischen Armee. Zahlreiche Massaker zwischen den Gruppen verstärkten unter der buddhistisch-birmanischen Mehrheit ein »anti-buddhistisches« und »anti-nationales« Bild von den Rohingya (Wolf 2017, S. 7). Die diskursive Instrumentalisierung psychokulturell aufgeladener Gewaltepisoden schafft letztlich eine Atmosphäre gerechter Bestrafung oder gar legitimer Rache – frei nach dem Motto »sie haben es verdient« (Leader Maynard und Benesch 2016, S. 81).

Aus diesem Vergangenheitsbild leitet sich viertens das Narrativ der Alternativ­losigkeit ab, mit dem die Massengewalt gegen die Rohingya als naturgemäß und unausweichlich dargestellt wird. Spirituelle Eliten wie U Parmoukkha werfen den »von Natur aus brutalen« Rohingya vor, die »Ausrottung« des Buddhismus anzustreben (Wade 2019, S. 256). Gräueltaten werden demnach nicht länger als Taten von Subjekten beschrieben, sondern als Produkt unvermeidlicher Rahmenbedingungen und äußerer Zwänge. Höchste politische Würdenträger*innen wie Aung San Suu Kyi relativieren die »Rohingya-Krise« mit dem Verweis auf das während der Diktatur entstandene Misstrauen und negieren damit die individuelle Verantwortung, Entscheidungs- und Handlungsmacht einzelner Täter*innen. Rhetorisch geht diese Strategie mit der vermehrten Verwendung des Passivs einher. Ob Suu Kyi Gewalt gegen die Rohingya als »durch unser Leiden begründet« rechtfertigt oder aber Militärchef Min Aung Hlaing anmerkt, dass die »Rohingya-Problematik« endlich final »gelöst werden« müsse – individuelle Schuld wird ebenso verschleiert wie die Tatsache, dass Genozid nie alternativlos ist.

Dieser Umgang mit Schuld ermöglicht wiederum das strategisch eingesetzte Narrativ der Tugendhaftigkeit, aus dem eine moralische Überlegenheit der In­group gegenüber der Outgroup abgeleitet wird. Während die Rohingya als »böse«, »moralisch verkommen«, »unzivilisiert«, »verräterisch« und »umstürzlerisch« beschrieben werden, rahmt der öffentliche Diskurs die birmanisch-buddhistische Mehrheit als »prinzipientreu«, »mutig« und »patriotisch«. Gewalt gegen die Rohingya gilt in der Folge als tugendhafter, moralisch richtiger und dementsprechend lobenswerter Akt ziviler Wachsamkeit. Fundamentalistische Prediger wie U Wirathu bekunden öffentlich, stolz darauf zu sein, radikaler Buddhist und Nationalist genannt zu werden. Gräueltaten gegen die Rohingya werden verknüpft mit positiv konnotierten Begriffen wie »Liebe zur Heimat«, »religiöser Stolz« und »nationale Sicherheit«. Während Täter*innen als selbstlose, pflichtbewusste, tapfere und heroische Bürger*innen gelten, werden moderatere Stimmen und Unterstützer*innen der Opfer als moralisch schwach, pervers und verräterisch bezeichnet. Vertreter*innen der politischen Elite konstruieren in diesem Kontext immer wieder das Bild von Buddha als »bekennendem Nationalisten« (Foxeus 2019), um nicht-buddhistische Gruppen wie die Rohingya als Schande für die Nation zu brandmarken.

Die sechste aktive Legitimierungsform impliziert ein ideologisch hergeleitetes Belohnungsversprechen. Politische Hardliner und Militärs bemühen das Kosten-Nutzen-Prinzip, um gegenwärtige Gewalt gegen die Rohingya als sich lohnenden Einsatz für zukünftige Prosperität und ethno-religiöse Homogenität zu porträtieren. So fordert mit Aye Maung einer der einflussreichsten Politiker im Bundesstaat Rakhine, die Rohingya zum Wohlergehen des Landes in Drittstaaten zu vertreiben. Radikale Sprecher*innen wie U Wirathu stilisieren den »Kampf« gegen die Rohingya als Schicksalsaufgabe des birmanischen Volkes, mit der nicht nur die nationale Existenz, sondern auch das konkrete Überleben von Kindern und Kindeskindern verknüpft sei. Dafür wird ethnische Pluralität und religiöse Offenheit als Antithese zur von vermeintlicher Souveränität und Stabilität geprägten birmanisch-buddhistischen Utopie konstruiert (Wade 2019, S. 235). Die Gleichzeitigkeit von existenzieller Bedrohungskulisse und utopischem Zukunftsversprechen verstärkt insbesondere bei der Gruppe der Bamar die Antipathien und Gewaltbereitschaft gegenüber den Rohingya (Lall 2018).

Passive Legitimierung

Im Kontrast zu den sechs aktiven Legitimierungsmechanismen wirkt die diskursiv-ideologische Strategie der Nichtbeachtung deutlich subtiler und stiller. Sprecher*innen mit großer medialer Reichweite und Wirkung auf den politischen Diskurs rufen oftmals nicht explizit zu Gräueltaten auf, sondern streiten gezielt etwaige Vorwürfe ab, antworten ausweichend, vermeiden kritische Nachfragen und blenden das Schicksal von Opfergruppen rhetorisch aus. In Myanmar wählte insbesondere Aung San Suu Kyi diese Strategie, als sie als de facto-Regierungschefin mehrfach die Existenz einer Gruppe namens Rohingya abstritt und stattdessen von »Muslimen«, »Bengalis« und »irregulären Migrant*innen« sprach. Die systematische Leugnung der jahrhundertelangen Geschichte der Rohingya als eigenständigem Volk konstruiert diese einerseits als unehrlich und spricht ihnen andererseits ab, als kohärente Gruppe von Gewaltverbrechen betroffen zu sein. Zudem haben Suu Kyi und andere politische Eliten betont, dass Gewalt »von beiden Seiten« ausgehe und man deshalb nicht klar Partei ergreifen könne. Im Kontext massiver ideologischer Polarisierung kommt diese diskursive Nicht-Intervention einer ohrenbetäubenden Stille gleich, die die Rohingya faktisch unsichtbar werden lässt und ein Klima der Straflosigkeit für radikalere Stimmen erzeugt.

Dieses Klima ist geprägt durch die strategische Delegitimierung von Opferaussagen bei gleichzeitiger Legitimierung des Verhaltens der Ingroup. Im Zuge selektiver Klassifizierung ignorieren, diskreditieren und verhöhnen Sprecher*innen die vielen Berichte und Zeugenaussagen zu Gräueltaten, während Täter*innen in Schutz genommen und gegen Kritik, Anklage und Strafverfolgung verteidigt werden. Auch hier sind es insbesondere politische Eliten wie Suu Kyi, die auf Völkermord-Anschuldigungen mit Spott und lautem Lachen reagieren oder aber die Aussagen mutmaßlich vergewaltigter Rohingya-Frauen als Falschmeldung zurückweisen (Wade 2019, S. 20). Gleichzeitig wird das kryptische Narrativ von »globaler muslimischer Macht« etabliert, um die Rohingya mit Terrorgruppen wie Al-Qaida und dem IS in Verbindung zu bringen. Während staatlich eingesetzte Kommissionen das eigene Militär vom Vorwurf des Völkermords freisprechen, behaupten der Armeechef, radikale Prediger sowie an der Gewalt beteiligte Milizen, die Rohingya hätten ihre eigenen Häuser aus Propagandazwecken in Brand gesteckt.

Sowohl die genannten aktiven als auch passiven Legitimierungsstrategien kulminieren in einer diskursiven Harmonisierung, die den ideologischen Gesamtdis­kurs stringenter und mächtiger werden lässt. Da die einzelnen Narrative der Ge­waltrechtfertigung erst durch ihre enge thematische, rhetorische und personelle Verknüpfung einflussreich werden, bedienen birmanisch-buddhistische Sprecher*innen aus Politik, Militär, Religion und Medien nicht nur wiederkehrende Sprachbilder und Diskursfiguren; sie gehen dabei auch gezielt aufeinander ein. Diese stilistische Synchronisierung verleiht dem Rechtfertigungsdiskurs aus Sicht der Ingroup letztlich mehr Kohärenz, Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Staatlich kontrollierte Zeitungen wie die »Global New Light of Myanmar« fingen beispielsweise kurz vor der Eskalation der Gewalthandlungen im August 2017 an, die offizielle Linie der Staats- und Militärführung zu übernehmen und die Rohingya als lokale Zelle transnational vernetzter Terrorgruppen darzustellen. Diese diskursive Angleichung führte unweigerlich dazu, dass Gewaltaufrufe gegen die Rohingya semantisch in den in Myanmar konsensfähigen »Globalen Kampf gegen den Terror« eingebettet und gesellschaftlich salonfähig wurden.

Fazit und Implikationen

Der Völkermord an den Rohingya lässt sich nicht adäquat untersuchen, ohne die diskursiv-ideologischen Mechanismen der Gewaltlegitimierung in den Blick zu nehmen. Die neun skizzierten Strategien ideologischer Sprache konstruieren die Rohingya als gefährlich, minderwertig, schuldig, kriminell, fremd, unzivilisiert und subversiv – und damit als fundamentalen und unversöhnlichen Antipol zur birmanisch-buddhistischen Mehrheitsbevölkerung Myanmars. Die diskursive Rahmung von Täter*innen- und Opfergruppen entlang ideologischer Bruchlinien spiegelt sich vor allem in der selektiven Anwendung, Reinterpretation und Instrumentalisierung fundamentaler Konzepte wie Inklusivität, Demokratie, Staatsbürgerschaft und Menschenrechte wider. Der radikale Kurs ideologischer Hardliner wird damit nicht nur ungefiltert in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs übernommen, sondern explizit verteidigt, beworben und als legitimer »Kampf« gerechtfertigt. Genozidale Gewalt gegen die Rohingya gilt in der Folge in weiten Teilen der Ingroup als vertretbar, notwendig, wünschenswert und sogar unausweichlich.

Die Analyse impliziert zwei zentrale Folgen für zukünftige Forschung zur Rolle ideologischer Sprache im Kontext von Massengewalt.

Erstens zeigt der Fall Myanmar, dass nicht nur wichtig ist, worüber gesprochen wird, sondern wer spricht. Vor dem Hintergrund des großen Einflusses mächtiger Sprecher*innen auf die Mehrheitsgesellschaft ist die Untersuchung ideologischer Sprache in erster Linie eine Analyse von Elitendiskursen. Dass einflussreiche Eliten aus Politik, Militär und Religion eine gewisse Deutungshoheit in ideologisch polarisierten Gesellschaften innehaben, erscheint wenig überraschend. Dennoch ist ideologische Sprache keineswegs streng von oben nach unten strukturiert. Von epistemischen Autoritäten geprägte Diskursfiguren entfalten nur dann ihre Wirkung, wenn sie bestehende ideologische Strukturen und Präferenzen auf Graswurzelebene aufgreifen und instrumentalisieren. Wie genau sie das tun und ob es gruppenspezifische Unterschiede in der Rezeption ideologischer Sprache gibt, sind wichtige offene Fragen für zukünftige Forschung.

Zweitens muss die Gewalt- und Genozidforschung das Verhältnis zwischen ideologischer Legitimierung auf der Makro- und individueller Mobilisierung auf der Mikroebene stärker beleuchten. Zwar lässt sich durch Diskursanalysen zeigen, wie ideologisch gerahmte Rechtfertigungsnarrative die Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren in Richtung genozidaler Gewalt verschieben. Allerdings klafft nach wie vor eine große Forschungslücke bei der Frage, wie sich diese übergeordneten Diskursfiguren im Detail auf die individuelle Motivation von Täter*innen auswirken (vgl. für einen ersten Ansatz: Williams 2022). Eine Integration von diskursanalytischen und interviewgestützten Ansätzen erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll, um neben der Mobilisierungskraft gewaltlegitimierender Diskursfragmente auch die Struktur und Wirkung gewalthemmender Sprache zu beleuchten.

Literatur

Foxeus, N. (2019): The Buddha was a devoted nationalist: Buddhist nationalism, ressentiment, and defending Buddhism in Myanmar. In: Religion 49(4), S. 661-690.

Lall, M. (2018): Myanmar’s youth and the question of citizenship. In: South, A.; Lall, M. (Hrsg.): Citizenship in Myanmar: ways of being in and from Burma. Singapur: ISEAS, S. 145-160.

Leader Maynard, J. (2014): Rethinking the role of ideology in mass atrocities. In: Terrorism and Political Violence 26(5), S. 821-841.

Leader Maynard, J.; Benesch, S. (2016): Dangerous speech and dangerous ideology: an integrated model for monitoring and prevention. In: Genocide Studies and Prevention: An International Journal 9(3), S. 70-95.

Wade, F. (2019): Myanmar’s enemy within: Buddhist violence and the making of a Muslim ‘Other’. Croydon: ZED Books.

Ware, A.; Laoutides, C. (2019): Myanmar’s ‘Rohingya’ conflict: misconceptions and complexity. In: Asian Affairs 50(1), S. 60-79.

Wolf, S. (2017): Genocide, exodus and exploitation for Jihad. The urgent need to address the Rohingya crisis. Heidelberg: SADF Working Paper (6).

Williams, Th. (2022): Warum töten sie? Motivationen von Täter*innen im Völkermord. W&F 1/2022, S. 11-13.

Maximilian Wegener ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Sicherheitspolitik der Zeppelin Universität Friedrichshafen. In seiner Forschung beschäftigt er sich primär mit der Frage, wie Völkermord möglich (gemacht) wird. Dieser Artikel baut auf seiner Masterarbeit auf, die mit dem Christiane-­Rajewsky-Preis 2022 ausgezeichnet wurde.

Zukunftsorientierte Wissenschaft statt Geopolitik

Zukunftsorientierte Wissenschaft statt Geopolitik

Friedenslogische Perspektiven zum Ukrainekrieg

von Jürgen Scheffran

Dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, ist unbestreitbar. Fraglich ist, wie dem zu begegnen ist. Geopolitik scheint das Mittel der Stunde zu sein, eine friedenslogische Antwort dagegen wird weitgehend ausgeblendet. Doch geopolitische Strategien fördern Rivalitäten und gefährden die Zukunft des Planeten. Es bedarf daher einer zukunftsorientierten Friedenswissenschaft – mehr denn je.

Am 16. Oktober 1914, nach der deutschen Kriegserklärung an Russland und Frankreich, unterstützte fast die gesamte Dozentenschaft deutscher Universitäten und Technischer Hochschulen den Krieg. Sie folgten dem sogenannten Manifest der 93 »An die Kulturwelt!«, das den Verteidigungskampf rechtfertigte: „Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. […] Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden“.

Die damalige Stimmung reichte vom Erschauern gegenüber der übermächtigen Bedrohung bis zur Begeisterung über die endlich erreichte nationale Einheit. Gab es zunächst massive Proteste und Antikriegsdemonstrationen, vollzog die SPD-Führung mit Kriegsbeginn eine Kehrtwende und stimmte in einem »Burgfrieden« mit den Kaisertreuen im Reichstag Kriegskrediten zu.

Einsam gegen den Krieg

Doch nicht alle beugten sich den Kriegsbestrebungen. Albert Einstein war von der patriotischen Stimmung fast aller Wissenschaftlerkollegen erschreckt, fühlte sich als Intellektueller und Pazifist einsam. Zusammen mit zwei weiteren Kollegen unterschrieb er im Sommer 1914 den von Georg Friedrich Nicolai verfassten »Aufruf an die Europäer«, der mangels weiterer Unterstützung nicht veröffentlicht wurde. Weitsichtig heißt es da: „Der Kampf, der heute tobt, wird wahrscheinlich keinen Sieger hervorbringen; es wird wohl nur die Besiegten lassen.“ Sie erwarteten, dass „alle europäischen Beziehungsbedingungen in einen instabilen […] Zustand gerieten“. Dass die Verfasser richtig lagen, zeigte sich bald. Der Kriegsalltag machte vielen zu schaffen, Massenarbeitslosigkeit, Lebensmittelpreise stiegen und Armut nahm zu. Wissenschaftler starben an der Front oder brachten ihr Fachwissen in den Krieg ein.

So wie das katastrophale Ende des Ersten Weltkriegs absehbar war, so war es auch der Weg dahin. Einige Wissenschaftler*innen und Intellektuelle, die die sozio-ökonomischen, industriellen und militärlogischen Zeitläufte beobachteten, ahnten die großen Systemkonfrontationen vorher. So beschrieb beispielsweise der mit Bertha von Suttner befreundete polnisch-russische Industrielle Ivan (Jan) von Bloch in seinem sechsbändigen Werk von 1898 den kommenden großen Krieg (Scheffran 2014). Dafür wurde er für den ersten Friedensnobelpreis 1901 nominiert, kurz bevor er starb. Auch das Beispiel des britischen Meteorologen Lewis Frye Richardson zeigt die Relevanz nüchterner Wissenschaft. Richardson untersuchte nach dem Ersten Weltkrieg mit einem Modell, wie die Rüstungsdynamik sich aufgeschaukelt hatte, was ihn später zu Warnungen vor dem Zweiten Weltkrieg veranlasste (Scheffran 2020).

Die Gegenwart der Vergangenheit

Knapp hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sieht sich eine deutsche Regierung wieder in einen Krieg verwickelt, in dem mit Waffengewalt Grenzen verschoben werden sollen. Ein deutscher Kanzler der SPD fordert eine Zeitenwende und mobilisiert Kriegskredite für Aufrüstung und Waffenlieferungen in einen heißen Krieg, der nicht verloren werden dürfe. Die öffentliche Stimmung schwankt zwischen Erschauern über die Bedrohung und Begeisterung über eine bis dahin nicht erreichte Einheit Europas. Geopolitische Erwägungen beherrschen die öffentliche Debatte, für abweichende Meinungen bleibt wenig Raum. Die Wirtschaft droht in eine tiefe Krise zu kippen, die Bevölkerungen aller Kriegsparteien müssen für den Krieg zahlen, leiden unter Sanktionen und hohen Lebensmittelpreisen. Der Kampf hinterlässt nur Besiegte.

Angesichts solcher Assoziationen lässt sich einwenden, dass die historische Situation heute völlig anders sei als vor hundert Jahren und Ähnlichkeiten durch allgemeine Kriegslogiken erklärbar sind. Deutschland habe aus den verlorenen Weltkriegen und dem gewonnenen Kalten Krieg gelernt, sei ziviler geworden, führe nicht selbst Krieg, sondern stehe der angegriffenen Seite bei, legitimiert durch ein demokratisch gewähltes Parlament. Heute gehe es nicht mehr um »Vaterländer«, sondern um eine feministische Außenpolitik.

Allerdings darf die Frage gestellt werden, ob nicht die Wahl der Mittel all dies aufs Spiel setzt. Indem Russland und die Ukraine militärische Mittel einsetzen, der Westen härteste Sanktionen und schwere Waffen bereitstellt, eskalieren alle Parteien den Konflikt und verlängern ihn mit wachsenden Schäden. Sie untergraben Lehren der Geschichte, beleben geopolitische Machtkämpfe mit kalten und heißen Kriegen, legen den Grundstein für neue Gewaltkonflikte, verbrauchen enorme Ressourcen, verbauen Verhandlungslösungen, marginalisieren Zivilgesellschaft, Friedenskräfte und Andersdenkende. Verdrängt wird die Frage, wie es dazu kam, wie gegenseitige Missachtungen und Bedrohungen dazu beigetragen haben.

Zurück in die Zukunft

Neben der Vergangenheit wird auch die Zukunft ausgeblendet, über die angeblich nichts gesagt werden kann. Wie schon bei den Weltkriegen, wurden die Gefahren der heutigen Weltlage zuvor beschrieben – auch vom Verfasser dieses Beitrags, zusammenfassend in einem Artikel vier Monate vor Kriegsbeginn (Scheffran 2021). Darin wird unter anderem aufgezeigt, dass nach Putins Amtsbeginn vor einem neuen Kalten Krieg gewarnt wurde (2000), der Irakkrieg und andere Kriege des Westens den Weg dafür bereiteten (2003), komplexe Krisen und Konflikte die internationale Sicherheit gefährdeten (2008), eine instabile Weltlage wie beim Ersten Weltkrieg möglich sei (2009), Verbindungen zwischen Klimawandel, Flucht und Konflikten entstehen (2012) oder sich multiple Krisen in der globalisierten Welt entwickelten (2016). Die Schlussfolgerung: „Die Lage erinnert an die Umbrüche vor hundert Jahren, mit Erstem Weltkrieg, Spanischer Grippe, Weltwirtschaftskrise und Faschismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte“ (Scheffran 2021, S. 218).

Aussagen über die Zukunft werden in der Politik oft als Besserwisserei abgetan, gegenüber der »unsicheren« Präventionswissenschaft wird der Vorzug der »sicheren« Katastrophenwissenschaft gegeben, die erst an die Front gerufen wird, wenn es schon brennt. Um auch wissenschaftlich zulässig in die Zukunft zu schauen, braucht es aber keine Weissagungen, es reicht, Entwicklungsrichtungen, Pfadabhängigkeiten oder rote Linien zu erkennen, deren Zusammenwirken kritische Grenzen überschreitet. Diese Betrachtungen sind auch insofern nicht deterministisch, als die betrachteten Systeme von Menschen gemacht und gelenkt werden und mit politischen Entscheidungen verändert werden können. Dies setzt voraus, dass die Wahrheit öffentlich ausgesprochen werden kann. Im »freien Westen« sollte dies selbstverständlich sein, ohne persönlich diskreditiert zu werden, selbst wenn es um Kategorien von »Gut« und »Böse« geht. Mit dem Wiederaufleben von Geopolitik in Politik und Medien allerdings gerät die unabhängige Friedenswissenschaft unter Druck.

Wiederkehr der Geopolitik

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Theorie der »Geopolitik« im Gefolge der von Europa ausgehenden kolonialistischen Tradition der Geographie, die sich für Machtpolitik instrumentalisieren ließ.1 War die Geopolitik in Deutschland durch ihre personelle und ideelle Verflechtung mit dem Nationalsozialismus lange diskreditiert, erlangte sie nach der deutschen Wiedervereinigung wieder an Bedeutung. Mit dem Ukrainekrieg nimmt der Einfluss geopolitischer Think Tanks zu. Erkennbar sind geopolitische Argumentationen aufseiten der neuen alten Systemkonkurrenten. Putins neo-imperiale Bestrebungen knüpfen an die koloniale Expansion Russlands (Beispiel Krimkrieg 1853-1856) und die darauf basierende Gründung der Sowjetunion an. Umgekehrt weckte die eurasische Landmasse Begehrlichkeiten im Westen, von Napoleons Eroberung Moskaus bis zur Geopolitik der USA im Kalten Krieg und danach. Immer noch und wieder wird heute als zentrale Argumentation das Buch des früheren Nationalen Sicherheitsberaters der USA Zbigniew Brzezinski »Grand Chessboard« (1997) herangezogen. Darin formulierte er das Ziel der US-Geostrategie, dass es keinen Herausforderer geben dürfe, der die eurasische Landmasse kontrolliert und die US-Dominanz herausfordert.

Diese Ziele lassen sich wiederum von Putin nutzen, um Bedrohungen russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen anzuprangern. Nachdem er zunächst um Anerkennung Russlands im Westen warb, und sich auf Partnerschaft und Handel einließ, zerstörte die fortwährende Verschlechterung der Beziehungen alle Hoffnungen. Die rund 16fache militärische Überlegenheit der NATO, die NATO- und EU-Osterweiterungen, westliche Militärinterventionen in Kosovo, Irak und Afghanistan, der Aufbau einer europäischen Raketenabwehr und die Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen motivierten russische Droh- und Gewaltaktionen im postsowjetischen Raum.

Dies betrifft auch den Krieg gegen die Ukraine und seine Vorgeschichte. Als Russlands militärische Drohkulisse an der Grenze zur Ukraine Anfang 2022 nicht zu Verhandlungen führte, begann Putin den Angriff auf die Ukraine. Unterstützung für die Separatisten, Territorialgewinne in der Ukraine und »Bestrafung« für ihre Westorientierung sind mögliche Motive für die Invasion, die zugleich als Hebel dient, die westliche Ohnmacht vor der Welt aufzeigen. Dafür ist er bereit, einen hohen Preis zu zahlen, der ihn von seinem waghalsigen Vorhaben ebenso wenig abgehalten hat wie die westliche Übermacht. Mit Kriegsbeginn wurden solch rationalisierende Erklärungen russischen Verhaltens in die Ecke der »Putinversteher« gedrängt, während sich Putinologen übertrumpften mit Spekulationen, wer Putin am besten versteht. Sie schwankten zwischen dem strategischen Genie, dem irrationalen Dämon und dem skrupellosen Diktator – Erklärungen, deren wissenschaftliche Grundlagen fragwürdig sind.

Wenn Europa und Russland sich gegenseitig schwächen und die europäische Friedensordnung darnieder liegt, muss dies nicht den Interessen der USA widersprechen, im Gegenteil. Kurzfristig stärkt es die bedingungslose Einheit des Westens und der NATO unter amerikanischer Führung, zementiert die Trennung Russlands von Deutschland und Europa, erlaubt Gewinne durch Frackinggas, die Mobilisierung der Rüstungsmaschinerie, provoziert den ideologischen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie wie im Kalten Krieg und eröffnet innenpolitische Vorteile bei kommenden Wahlen. Auch wenn manche den Schlüssel zur Bewältigung des Ukrainekriegs in Washington sehen, bleibt unerfindlich, ob und wann dieser Schlüssel genutzt wird.

Schließlich können dieser Krieg und seine Folgen auch als Vorbereitung und Testfall für die Auseinandersetzung mit China gesehen werden, dem derzeit eigentlichen Herausforderer und Gegenpol der US-Hegemonie. So könnte der Konflikt mit Russland die Bedingungen für den kommenden Krieg mit China fördern (Mobilisierungsbereitschaft der NATO-Mitglieder, Führungsanspruch der USA, militarisierte Rhetorik und Antwort auf Entwicklungen in China).

Blockkonfrontation und Globaler Süden

Mit dem Ukrainekrieg spielt der Globale Süden zunehmend eine Rolle als geopolitischer Akteur. Die UNO-Generalversammlung verabschiedete zwar am 2. März 2022 eine Resolution gegen den russischen Angriffskrieg mit einer Mehrheit von 141 Staaten, doch die 35 Enthaltungen (darunter China und Indien) und fünf Gegenstimmen (Russland, Belarus, Nordkorea, Syrien, Eritrea) zeigten signifikante Differenzen. Einige Staaten äußerten Verständnis für die russische Position, unterstützten nicht die westliche Koalition und sind bereit, sich einer Gegenkoalition der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) anzuschließen. Sie sehen Chancen, in einer Blockkonfrontation ihre Interessen einzubringen – wie schon im Kalten Krieg.

Aufgrund kolonialer Erfahrungen wird ein »Globaler Westen« kritisch gesehen, ihm wird Eurozentrismus, Doppelmoral und Ungerechtigkeit bei der Durchsetzung seiner Interessen vorgeworfen, bei Bedarf auch mit Gewalt und gegen die Regeln. So erscheint der Westen als »Bösewicht« (von Weizsäcker 2022), der anderen sein wertebasiertes Modell der liberalen Demokratie aufdrängen will, für das er selbst Jahrhunderte gebraucht hat, teils auf Kosten der Kolonien. Die von Brzezinski (1997) und anderen anvisierten geostrategischen Schachspiele berühren nicht nur die Interessen Russlands und Chinas, sondern auch Zentralasiens, Indiens, Irans, Pakistans und Afghanistans, die sich nicht den westlichen Demokratien zurechnen.

Gelingt Putin eine neue Spaltung der Welt (»The West and the rest«), wäre das für ihn ein Erfolg, der über den Ukrainekrieg und sein Regime hinaus reicht. War der Westen zunächst berauscht von der neuen Einigkeit, scheint die Erkenntnis über die Zerrissenheit der Welt seit dem G7-Gipfel im Juni 2022 auch bei den Führungsnationen einer westlich orientierten Weltordnung angekommen zu sein, zumal der parallel laufende BRICS-Gegengipfel nicht zufällig kam. Nun muss die westliche Weltordnung zeigen, was sie gegenüber Mitkonkurrenten bieten kann. Wenn Waffen und Sanktionen den Westen und die Welt destabilisieren und Gesellschaften polarisieren, können sie kontraproduktiv werden. Die entsprechenden populistischen Bewegungen warten nicht nur in westlichen Demokratien auf ihre Chance, diese Schwäche zu ihren Gunsten zu nutzen.

Aufrüstung ist keine Zeitenwende

Seit Jahren steigen die Rüstungsausgaben weltweit. Die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene »Zeitenwende« forciert diese Aufrüstung, um die bestehende Weltordnung gewaltsam aufrechtzuerhalten. Dies ist jedoch keine Zeitenwende – es ist ein Weg zurück, zumal dieser schon vor 2022 vorbereitet wurde (vgl. etwa Bunde et al. 2020).

Eher zu einer wahren Zeitenwende geeignet sind drei Megatrends: die sozial-ökologische Transformation, der Einfluss des Globalen Südens und die Rolle von sozialen Medien und der Zivilgesellschaft (Scheffran 2021, S. 222): „Die genannten Trends haben das Potential zur Zeitenwende, wie nach der Französischen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder mit dem Ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“

Für eine solche Zeitenwende brauchen wir eine resiliente Energieversorgung und nachhaltigen Klimaschutz innerhalb planetarer Grenzen, die auch der Friedenssicherung dienen und Wege in eine lebensfähige und lebenswerte Welt (»viable world«) im gemeinsamen Haus der Erde aufzeigen. Die Koexistenz und Kohabi­tation verschiedener Weltordnungen zur Bewältigung dieser Probleme ist erfolgversprechender als weitere geopolitische Machtkämpfe, die nicht nur den Westen aufs Spiel setzen, sondern auch den Planeten. Friedenswissenschaft muss sich daher für eine friedenslogische Transformation einsetzen – auch und gerade in Zeiten dominanter Geopolitik.

Anmerkung

1) Zur Historie und Tradition geopolitischer Welt(erklärungs)bilder und Kriegslogiken siehe W&F 1/2013 »Geopolitik«.

Literatur

Brzezinski, Z. (1997): The grand chessboard. American primacy and its geostrategic imperatives. New York: Basic Books.

Bunde, T. et al. (2020): Zeitenwende / Turning Times. Special Report, Munich Security Conference.

Scheffran, J. (2014): Der unmögliche Krieg: Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs. W&F 2/2014, S. 38-42.

Scheffran, J. (2020): Weather, war and chaos. In: Gleditsch, N. P. (Hrsg.): Lewis Fry Richardson: His Intellectual Legacy and Influence in the Social Sciences. Cham: Springer, S. 87-99.

Scheffran, J. (2021): Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“. Die Friedens-Warte 3-4, S. 205-236.

Von Weizsäcker, E. (2022): Der Westen als Bösewicht. Gastbeitrag, Blog der Republik, 14.4.2022.

Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Rückblick als Vorausblick?

Rückblick als Vorausblick?

Eine Eventdatenanalyse des ersten Kriegsjahres in der Ukraine

von Jan Niklas Rolf

Rückblick: Am 17. Juli 2014 wurde ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines mit 298 Insassen über der Ostukraine abgeschossen, was den seit Monaten tobenden Krieg in der Ukraine nochmals auf eine neue Eskalationsstufe hob. Doch wer war für den Abschuss verantwortlich und war eine solche Eskalation vorhersehbar? Anhand einer quantitativen Analyse der Ereignisse des Jahres 2014 versucht dieser Beitrag Antworten auf diese Fragen zu liefern. Der Aufforderung von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran (2022) im vorherigen Heft folgend, „Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen“, soll untersucht werden, ob die Ereignisse Rückschlüsse über die mögliche Wahl von unkonventionellen Mitteln durch Russland in der Ukraine zulassen.

Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine mahnte Wladimir Putin in seiner Fernsehansprache: „Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen haben, wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben“ (zit. in Gillmann 2022). Auf diese Drohung folgte wenige Tage später die Versetzung der russischen Abschreckungswaffen – darunter der strategischen Atomwaffen – in besondere Alarmbereitschaft. Diese doppelte Drohgebärde schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen, argumentierten führende Politiker*innen im Westen doch fortan, dass eine aktive Unterstützung der Ukraine – etwa in Form der Entsendung von Soldat*innen oder der Errichtung einer Flugverbotszone – unmöglich sei, da sie nahezu unweigerlich in einem Atomkrieg münde.1

In Anbetracht der territorialen (aber auch personellen und materiellen) Verluste Russlands im Verlauf der ersten Kriegsmonate im Jahr 2022 warnten Expert*innen zudem vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen, mit denen Russland einen Sieg doch noch erzwingen könne. „Angesichts der Rückschläge, die sie [Präsident Putin und die russische Führung] bisher militärisch hinnehmen mussten,“ so CIA-Direktor William Burns am 14. April 2022, „kann niemand von uns die Bedrohung durch einen möglichen Rückgriff auf taktische Nuklearwaffen oder Nuklearwaffen mit geringer Reichweite auf die leichte Schulter nehmen“ (zit. nach Strobel 2022).

Tatsächlich geht die von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky (1979) entwickelte Erwartungstheorie (englisch: »Prospect Theory«) davon aus, dass Individuen im Angesicht von Verlusten größere Risiken einzugehen bereit sind als im Angesicht von Gewinnen: Befinden wir uns in einer vorteilhaften Position, agieren wir eher vorsichtig, um unsere Gewinne zu sichern. Befinden wir uns dagegen in einer nachteiligen Position, neigen wir zu riskantem Verhalten, um unsere Verluste umzukehren. Lässt sich mit dieser auf Laborexperimenten beruhenden Theorie auch das Verhalten Russlands im aktuellen Ukraine-Krieg vorhersagen?2 Wie so oft kann auch diesmal ein Blick in die Vergangenheit helfen, erwartbare Ereignisse einzuordnen.

Der Krieg in der Ukraine begann nicht etwa mit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022, sondern bereits im Frühjahr 2014, als auf der Krim und insbesondere im Osten der Ukraine heftige Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und von Moskau unterstützten pro-russischen Separatisten ausbrachen. Im Gegensatz zu Russland verfügen die pro-russischen Separatisten zwar über keine atomar bestückten Raketen, wohl aber über von Russland zur Verfügung gestellte mobile Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen. Wie die nachfolgende Eventdatenanalyse offenbart, kamen diese Raketen just in dem Moment zum Einsatz, in dem die Separatisten massiv zurückgedrängt wurden. Zwar ist der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 im Sommer 2014 – bei aller Tragik – nicht mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen zu vergleichen, er zeigt jedoch, dass Akteure, die sich in der Defensive befinden, bereit sind, zu – für ihre Verhältnisse – unkonventionellen Mitteln zu greifen.

Unkonventionelle Mittel

Die hier angestellte Eventdatenanalyse stützt sich auf die mehr als 2.000 Ereignisse, die die täglich aktualisierte, aber inzwischen eingestellte »Ukraine Crisis Timeline« der unabhängigen US-amerikanischen Denkfabrik »Center for Strategic and International Studies« für den Zeitraum von November 2013 bis Februar 2017 ausweist. Ereignisse sind verbale oder physische Signale, denen ein Sender und Empfänger zugeordnet werden kann. Die insgesamt 357 von Januar bis Dezember 2014 zwischen der ukrainischen Regierung und den pro-russischen Separatisten ausgetauschten feindlichen Signale wurden für die hier angestellte Analyse herausgefiltert, gemäß Edward Azar und Thomas Sloan (1975) einer von sieben Ereigniskategorien zugeordnet und – da es sich bei einer »Kriegshandlung« um ein weitaus feindlicheres Signal als beispielsweise einer »Unmutsbekundung« handelt – mit den entsprechenden, von einem Expert*innenpanel vorgeschlagenen Faktoren multipliziert (siehe Tabelle 1).

Ereigniskategorie

Faktor

Umfangreiche Kriegshandlung

102

Begrenzte Kriegshandlung

65

Militärische Aktion geringen Ausmaßes

50

Politisch-militärische feindliche Handlung

44

Diplomatisch-wirtschaftliche feindliche Handlung

29

Starke verbale Unmutsbekundung

16

Leichte verbale Unmutsbekundung

6

Tabelle 1: Kodierungsschema nach Azar und Sloan (1975)

Grafik Abbildung 1

Abbildung 1: Intensität der 2014 von ukrainischer Regierung und pro-russischen Separatisten ausgesandten feindlichen Signale

Aggregiert in monatliche Einheiten, ergibt sich das Kurvendiagramm in Abbildung 1. In den ersten sechs Monaten sind die beiden Kurven nahezu deckungsgleich, was davon zeugt, dass die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten ihre feindlichen Signale symmetrisch (de-)eskalierten. Dieses »tit-for-tat«-Muster ist typisch für Gewaltkonflikte, in denen auf eine feindliche Aktion stets eine gleichwertige Reaktion erfolgt (siehe beispielsweise Azar 1972; Fielding und Shortland 2010; Linke, Witmer und O’Loughlin 2012).

Nach einer ersten Deeskalationsphase im sechsten Monat steigen die beiden Kurven im siebten Monat wieder an. Doch während die Kurve der ukrainischen Regierung auf einen Wert von 1249 steigt, nimmt die Kurve der pro-russischen Separatisten nur einen Wert von 918 an, das heißt, auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen nur noch 0,73 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.3 Die entstehende Lücke ist ein Indikator dafür, dass die pro-russischen Separatisten der ukrainischen Regierung merklich weniger entgegenzusetzen hatten. Tatsächlich begann die ukrainische Armee in diesem Monat ihre Juli-Offensive, in deren Verlauf sie zahlreiche Städte im Donbass zurückerobern konnte. Um die eintreffenden feindlichen Signale zu erwidern, blieb den Separatisten scheinbar nichts anderes übrig, als zu unkonventionellen Mitteln zu greifen. Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen ist ein solch – für eine Volksmiliz – unkonventionelles Mittel. Nachdem am 14. Juli 2014 bereits eine ukrainische Militärmaschine in über 6.500 Metern Höhe abgeschossen wurde, folgte am 17. Juli 2014 der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17.

Umstrittene Ereignisse

Der Abschuss von MH17 – ob beabsichtigt oder nicht – ist nicht nur ein besonders fatales, sondern auch ein besonders umstrittenes Ereignis. So beschuldigen sich die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten bis zum heutige Tage, das vollbesetzte Passagierflugzeug zum Absturz gebracht zu haben. Der Umstand, dass die Frage nach der Täterschaft zunächst offen blieb, mag neben der Tatsache, dass bei dem Absturz keine ukrainischen Staatsbürger*innen ums Leben kamen, erklären, warum die Ukraine in den Folgemonaten nicht mehr, sondern weniger feindliche Signale sendete und es zu einer vorübergehenden »Resymmetrierung« der feindlichen Signale auf niedrigerem Niveau kam. Erst im Jahr 2016 gelangte eine Ermittlungsgruppe unter niederländischer Führung zu dem Ergebnis, dass das Flugzeug mit einer russischen Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk-M1 abgeschossen wurde, die von einem von pro-russischen Separatisten kontrollierten Feld aus abgefeuert wurde. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, wovon bei aller gebotenen Vorsicht auszugehen ist, bestätigt dies, was sich bereits aus den obigen Daten ablesen lässt: Dass der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen für die pro-russischen Separatisten eine Möglichkeit – vielleicht die einzige Möglichkeit – war, die Symmetrie der ersten sechs Monate wiederherzustellen.

Dabei ist der Abschuss von MH17 bei weitem nicht das einzige umstrittene Kriegsereignis der letzten Jahre.4 Im Syrien-Krieg gab es beispielsweise eine Reihe von Giftgasangriffen, die keiner Kriegspartei eindeutig zugeordnet werden konnten. Zwar richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen gemeinsamen Untersuchungsmechanismus ein, doch wurde die Erneuerung seines Mandats wiederholt von Russland blockiert. Auch hier könnte ein enges Monitoring der Geschehnisse dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von unkonventionellen Mitteln zu bestimmen und die Täter*innen eines nicht zuzuordnenden Angriffs zu identifizieren: Weist die Interaktion der Kriegsparteien wie im obigen Fall ein starkes Muster der Reziprozität auf, und weicht eine Partei für einige Zeit von diesem Muster ab, indem sie deutlich weniger feindliche Signale sendet als sie empfängt, könnte dies darauf hindeuten, dass die Partei nicht mehr in der Lage ist, mit konventionellen Mitteln mitzuhalten. Im Gegensatz dazu ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Partei, die in der Lage ist, die eingehenden feindlichen Signale zu erwidern (oder die bereits mehr feindliche Signale sendet als sie empfängt), zu unkonventionellen Mitteln greift.

Ein gesichtswahrender Ausweg: Losung und Lösung?

Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen durch eine in die Defensive gedrängte Volksmiliz zeugt davon, dass Kriegsakteure im Angesicht von Verlusten dazu bereit sind, unkonventionelle Mittel zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass Russland, wenn militärisch in die Enge getrieben, einen Ausweg im Einsatz taktischer Atomwaffen sucht. Das Massaker von Butscha – ein weiteres umstrittenes (oder besser: von Russland bestrittenes) Ereignis – mag hier nur ein trauriger Vorbote gewesen sein. Was bedeutet das für die Ukraine? Aus moralischer wie taktischer Sicht kann man ihr kaum dazu raten, den russischen Angriff weniger resolut zurückzuschlagen. Deshalb kann die Losung nur lauten, Putin nicht komplett in die Ecke zu drängen, sondern ihm einen gesichtswahrenden Ausweg zu lassen, so schwer es angesichts des von ihm begonnenen Angriffskriegs und der von ihm befehligten Gräueltaten auch fallen mag.

Dies wird noch dadurch erschwert, dass der russische Präsident nicht nur etwaige Rückschläge auf dem Schlachtfeld, sondern die Unabhängigkeit der Ukraine als solche als Verlust betrachtet. So hat er der Ukraine, die er als historisch russisches Land ansieht, mehrfach ihr Existenzrecht abgesprochen. Dies mag eine Erklärung (aber keinesfalls eine Rechtfertigung) dafür liefern, weshalb Putin einen höchst risikobehafteten Angriffskrieg in der Ukraine führt. Für Jeffrey Taliaferro (2004) sind risikoreiche Interventionen (und sicherlich auch Invasionen) dagegen eher eine Folge von relativen Macht- und Ansehensverlusten. Der Zerfall der Sowjetunion, von Putin als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, sowie Barack Obamas Verunglimpfung Russlands als Regionalmacht mögen schlussendlich also auch einen Teil zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine und der Schwierigkeit seiner Befriedung beigetragen haben.

Anmerkungen

1) Siehe etwa Olaf Scholz, zitiert in Der Spiegel (2022).

2) Für einen ersten, im Lichte des russischen Angriffskriegs allerdings unbefriedigenden Versuch, siehe Aleprete (2017). Siehe auch He und Feng (2013), die die Erwartungstheorie auf mehrere außenpolitische Entscheidungen im asiatisch-pazifischen Raum angewandt haben.

3) Der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 wurde zum Zwecke der besseren graphischen Darstellung nicht kodiert. Bis zum Abschuss des Flugzeuges am 17. Juli weisen die von der ukrainischen Regierung gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 794 und die von den pro-russischen Separatisten gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 554 auf, das heißt auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen 0,69 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.

4) Siehe etwa Bauer, Ruby und Pape (2017).

Literatur

Aleprete, M. (2017): Minimizing loss: explaining Russian policy choices during the Ukrainian crisis. The Soviet and Post Soviet Review 44(1), S. 53-75.

Azar, E. E. (1972): Conflict escalation and conflict reduction in an international crisis: Suez, 1956. Journal of Conflict Resolution 16(2), S. 183-201.

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Der Spiegel (2022): »Es darf keinen Atomkrieg geben«. Bundeskanzler Scholz im Interview mit dem SPIEGEL. 22.04.2022

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Dr. Jan Niklas Rolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Friedenslogik statt Kriegslogik

Friedenslogik statt Kriegslogik

Zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg

von Mitgliedern der AG Friedenslogik der PZKB

Am 24. Februar 2022 hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Es ist zwar nicht der erste Krieg nach Ende des Ost-West-Konflikts. Auch ist der Krieg in der Ukraine nicht der einzige, der derzeit geführt wird. Er ist aber der gefährlichste, drohen hier doch mit den NATO-Staaten und Russland die größten Atommächte aufeinanderzuprallen. Sein Eskalationsrisiko bis hin zu einem dritten Weltkrieg ist enorm. Wie konnte es so weit kommen? Schließlich weckte das Ende der Systemkonfrontation 1989/90 doch Hoffnungen auf eine Ära des Friedens und der Kooperation in Europa. W&F dokumentiert an dieser Stelle in gekürzter Form die zweite Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) zum Krieg gegen die Ukraine.

Nach dem Ende des Systemkonflikts ist in Europa letztlich keine Friedensordnung entstanden, in der sich alle Beteiligten auch sicherheitspolitisch gut aufgehoben gefühlt hätten. Vielmehr handelte es sich um eine asymmetrische Machtordnung zu Lasten Moskaus. Mithin fehlte es auch an einer inklusiven Einrichtung, die zur konstruktiven Transformation auftauchender Konflikte in der Lage gewesen wäre: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde schon früh politisch marginalisiert; der NATO-Russland-Rat konnte als Institution einer machtpolitisch asymmetrischen Kooperation diese Lücke nicht füllen. Schon lange vor dem Krieg dominierten bei sämtlichen Konfliktbeteiligten sicherheitslogische Denkweisen: Dementsprechend betonten die Akteure (1.) nicht nur die Bedrohungen für das Eigene, sondern sie sahen (2.) Probleme ausschließlich oder zumindest maßgeblich durch andere Akteure verursacht, sie griffen (3.) zu Maßnahmen der Gefahrenabwehr und gegebenenfalls der Verteidigung, sie betonten (4.) den Vorrang eigener Interessen und deuteten den rechtlichen wie politischen Normbestand entsprechend um, und sie neigten (5.) unter Verzicht auf Selbstkritik zur Bestätigung des eigenen Handelns.1

Aufgrund dieser Sichtweise waren alle Parteien schon seit Längerem eher zur Konfrontation als zum Ausgleich disponiert: Die NATO wollte ihre Rolle als Hegemonialakteur behaupten und verweigerte in Sachen Osterweiterung sub­stantielle Zugeständnisse an Russland. Die Ukraine setzte ihren – im eigenen Land je nach Region unterschiedlich stark umstrittenen – Kurs zur NATO-Integration ohne Rücksicht auf russische Bedrohungsperzeptionen konsequent um. Und ein zusehends autoritär und national-chauvinistisch ausgerichtetes Russland pochte sowohl auf seine geostrategischen Sicherheitsanliegen als auch auf seine imperialen Ansprüchen nicht zuletzt gegenüber der Ukraine.

Friedenslogische Positio­nierungen im Ukrainekrieg

Wie lassen sich angesichts der Kriegsbilder aus der Ukraine und des hiesigen Kriegsdiskurses überhaupt noch friedenslogische Positionen vertreten? Zunächst müssen wir einräumen, dass auch wir Ungewissheiten und Dilemmata aushalten müssen: Wir wissen nicht, wie weit die russische Regierung in der Ukraine (und eventuell auch darüber hinaus) bereit ist zu gehen. Wir wissen angesichts der Kriegsentschlossenheit der Parteien und der Rücksichtslosigkeit des russischen Aggressors nicht, ob das friedenslogische Handlungsspektrum jetzt oder zumindest in absehbarer Zukunft eine wirkliche Chance erhalten wird, den Krieg und das Leid der Menschen nachhaltig zu beenden. Einige von uns stellen sich daher die Frage, ob nicht auch einzelne Maßnahmen jenseits der Friedenslogik ergriffen werden müssten. Allerdings haftet auch dem Handlungskatalog der Sicherheits- oder gar der Kriegslogik die gleiche Ungewissheit an. Daher gilt es dringend, vor einem bellizistischen Fehlschluss zu warnen: Nur weil Friedenslogik nicht zum gewünschten Ergebnis führen könnte, bedeutet das lange noch nicht, dass Sicherheitslogik und Kriegslogik hier verlässlicher wären. Eher dürfte sogar das Gegenteil der Fall sein, nämlich dass sicherheits- oder gar kriegslogisches Handeln die Gewalt immer weiter verschlimmert.

Friedenslogische Imperative gegen den Ukrainekrieg

Die friedenslogische Heuristik lässt sich im Kriegskontext in handlungsorientierten Imperativen zuspitzen. Sie lauten:

Alles dafür zu tun, um (1.) die Gewalt zu beenden, (2.) den Konflikt zu deeskalieren und konstruktiv zu transformieren, (3.) Opfer zu schützen und Leid zu mildern, (4.) Völkerrecht und Menschenrechte zu stärken und (5.) Selbstreflexion und Empathie zu fördern.

Das bedeutet auch, alles zu unterlassen, was der Realisierung dieser Ziele entgegenliefe. Die Imperative adressieren prinzipiell alle staatlichen Akteure von der Weltstaatengemeinschaft und ihren Organisationen über regionale Arrangements bis hin zu einzelnen Staaten einschließlich der Kriegsparteien. Sie richten sich aber auch an die Akteure der gesamten Zivilgesellschaft von internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen bis hin zu den einzelnen Bürger*innen und deren Initiativen. Sie alle sind gefordert, an ihrem Ort im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten im Sinne des Friedens zu handeln.

(1.) Gewaltbeendigung

Der Imperativ der Gewaltbeendigung verlangt zunächst danach, die Gewalt nicht weiter zu befeuern. Die bisherigen Waffenlieferungen haben den Krieg nicht gestoppt, sondern immer weiter in ihn hineingeführt. Sie tragen zu seiner Verlängerung und weiteren Brutalisierung bei. Aber auch die massiven ökonomischen und finanziellen Sanktionen könnten nicht nur den erhofften Effekt zeitigen und die russische Kriegsmaschinerie zum Stillstand bringen, sondern sie sogar weiter anheizen, indem sie dazu animieren, mit immer massiveren Angriffen schneller ans Ziel zu kommen. Nötig wäre stattdessen aber der Fokus auf eine kluge, alle Ebenen und Kanäle einbeziehende Krisendiplomatie, die den Parteien einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg ermöglicht. Hier bedarf es eines weitaus stärkeren Engagements, um die Verhandlungen wieder voranzubringen.

Wenngleich der Ukraine das Recht auf (auch militärische) Selbstverteidigung zusteht, wäre es dringend geboten, vermehrt auf friedenslogische Alternativen zu einem sich immer weiter entgrenzenden Verteidigungskrieg zu setzen, die sich am Ziel des Gewaltabbaus und der Gewaltbeendigung orientieren. Dazu zählen ergänzend zur unverzichtbaren Krisendiplomatie beispielsweise gewaltfreie Proteste gegen die Invasoren ebenso wie Maßnahmen sozialer Verteidigung, die durch Kooperationsverweigerung den Aufenthalt für die Besatzer erschweren. Gleiches gilt für Kriegsdienstverweigerung und Desertion, die Signale der Tat gegen den Krieg senden.

(2.) Konfliktdeeskalation und Konflikttransformation

Der Imperativ der Konfliktdeeskalation impliziert vor allem, zu verhindern, dass die NATO aktive Kriegspartei wird. Das Bündnis und einzelne Mitgliedstaaten balancieren schon auf ganz schmalem Grat: Dafür stehen beispielsweise die permanente massive Aufrüstung der Ukraine mit immer leistungsfähigerem und zusehends offensivtauglichem Kriegsgerät, die immense finanzielle Militärhilfe sowie Diskussionen über die Einrichtung einer von der Allianz durchzusetzenden Flugverbotszone. Angehörige ukrainischer Streitkräfte werden mittlerweile auch in Deutschland auf US-Stützpunkten und in der Artillerieschule Idar-Oberstein ausgebildet, was gemäß eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags „den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“2 würde. Insofern sollte die NATO den Ritt auf der sprichwörtlichen Rasierklinge einstellen.

Stattdessen müsste es ergänzend zur gewaltbeendenden Krisendiplomatie um eine konstruktive Transformation dieses vielschichtigen Konflikts gehen, in dem sich Auseinandersetzungen innerhalb der Ukraine zwischen Kiew und den Separatistengebieten im Osten des Landes, zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen Russland und dem Westen überlagern. Dazu hätten alle Beteiligten sich nicht nur von einseitigen, gewalt­orientierten Durchsetzungsstrategien zu verabschieden, sondern auch an ihren Dominanzansprüchen bzw. Maximalforderungen Abstriche zu machen. Dass Kiew im Kontext der Istanbuler Verhandlungen Ende März einen Neutralitätsstatus, wenn auch mit Sicherheitsgarantien versehen, ins Spiel gebracht hat, weist in die richtige Richtung.

(3.) Opferschutz und Leidmilderung

Der beste Weg, den Imperativ des Opferschutzes und der Leidmilderung zu verwirklichen, wäre die sofortige Beendigung der Kampfhandlungen. Solange der Krieg jedoch andauert, sollte der Fokus nicht länger auf der Kampfkraftsteigerung der ukrainischen Streitkräfte als den mutmaßlichen Beschützern, sondern auf den Menschen selbst liegen, die Opfer von Gewalt geworden sind oder zu werden drohen. Alle, die die Kampfregionen bzw. das Land verlassen wollen, sollen dies tun können. Es heißt also vornehmlich, sichere Fluchtwege zu vereinbaren und zu organisieren, Geflüchtete in der Erstankunft professionell zu betreuen und ihnen einen sowohl sicheren als auch würdigen Aufenthalt im Zufluchtsland zu garantieren. Menschen, die das Land nicht verlassen können oder wollen, ist freier Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten. Dafür müssten von allen Kriegsparteien akzeptierte humanitäre Korridore eingerichtet werden, damit Hilfsgüter sicher an Ort und Stelle gelangen. Ein zumindest zeitweiliger Waffenstillstand würde die Bewältigung dieser Aufgabe erleichtern, da sich aufgrund der Kriegsdauer die Versorgungs- und Gesundheitslage der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten dramatisch zuspitzt.

(4.) Stärkung von Völkerrecht und Menschenrechten

Dieser Imperativ zielt auf die Verteidigung bzw. die Stärkung des Völkerrechts sowie der Menschenrechte, auf die sich auch die Friedenslogik bezieht. Diese sind mit dem Angriffskrieg und den bislang dokumentierten Kriegsverbrechen massiv verletzt worden. Wenngleich sowohl die UNO-Generalversammlung als auch der Internationale Gerichtshof das Vorgehen Russlands verurteilt und somit die Gültigkeit des bestehenden Normsystems bekräftigt haben, geschieht doch die Befolgung völkerrechtlicher Standards durch Staaten auf freiwilliger Basis. Weitere Kriegsverbrechen in der Ukraine können daher zwar nicht effektiv unterbunden werden, möglich bleiben jedoch symbolische Gesten und Appelle an die Kriegsparteien, die Zivilbevölkerung zu verschonen. An – auch zukünftiger – Bedeutung nicht zu unterschätzen sind zudem die Bemühungen nichtstaatlicher Akteure, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Insbesondere nach den Gräueltaten in Butscha ist dies von großer Dringlichkeit und sollte unbedingt unterstützt werden. Zu werben wäre für eine unabhängige und angemessen ausgestattete – etwa von der OSZE mandatierte – Beobachtermission, die zur Verifizierung der Geschehnisse einen wertvollen Beitrag leisten und bestenfalls sogar gewaltmindernde Wirkung erzeugen könnte. Dagegen stehen Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Putin und seine Führungsmannschaft in einem Spannungsverhältnis zu anderen Imperativen der Friedenslogik, da ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen die Verantwortlichen kaum ihre Verhandlungsbereitschaft in Bezug auf überlebensnotwendige humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung und eine möglichst rasche Beendigung der Kriegshandlungen fördern dürfte. Nichtsdestoweniger sollte die Dokumentation von Kriegsverbrechen auch auf dieser Ebene fortgeführt werden, stehen sie doch auch für den Befolgungsanspruch eines Völkerrechts, das auf Friedensförderung und Gewaltächtung ausgelegt ist.

(5.) Selbstreflexion und Empathie

Dieser letzte Imperativ verlangt nach kritischer Selbstreflexion im friedenslogischen Modus, der die eigenen Anteile sowohl am langen Weg in die Konfrontation seit Ende des Systemkonflikts als auch an der Zuspitzung der letzten Jahre gerade nicht tabuisiert, sondern bewusst thematisiert. Die Kehrseite heißt Empathie. Diese bezeichnet das Bestreben, die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien einzunehmen, um sie besser verstehen zu können, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. Der Imperativ adressiert die Kriegsparteien selbst, aber auch alle anderen am Konflikt Beteiligten. Zwar hat im Westen bereits eine öffentliche Selbstvergewisserungsdebatte eingesetzt. Allerdings läuft sie bislang im Wesentlichen darauf hinaus, jegliche (vergangene, aktuelle und zukünftige) Friedenspolitik als naiv zu disqualifizieren und reflexartig für mehr Aufrüstung zu plädieren. Die friedenslogische Antwort auf die Frage, ob die Politik des Westens an zu wenig oder zu viel Friedenspolitik gescheitert sei, lautet aber: an zu wenig. Was nach dem Ende des Systemkonflikts in Gesamteuropa entstanden ist, war eben keine zur konstruktiven Konflikttransformation fähige Friedensordnung, in der alle Beteiligten gleichberechtigt mitwirken konnten, sondern eine vom Westen dominierte asymmetrische Machtordnung, in der Moskaus schon früh geäußerten Einwände ignoriert und seine Initiativen nicht aufgegriffen wurden.

Selbstreflexion bedeutet auch, aus den eigenen Fehlern zu lernen, um sie bei der Neugestaltung der europäischen Ordnung nachdem Ende des Ukrainekriegs zu vermeiden. Zu diesen Korrekturverpflichtungen gehört auf westlicher Seite nicht nur das geostrategische Handlungsprogramm, sondern auch die innere Haltung, auf der es beruht: Demut eingedenk eigener Verfehlungen und eigener limitierter Gestaltungsfähigkeiten, Besinnung auf die Begrenztheit eigener Ansprüche auf die jeweils legitimen Anliegen, Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des politischen Gegenübers, Anerkenntnis der Ungeeignetheit militärischer Mittel für eine gezielte Gestaltung friedensverträglicher inner- wie zwischenstaatlicher Verhältnisse sowie Akzeptanz der Untauglichkeit konfrontativer Strategien für die Gewährleistung eines dauerhaft stabilen negativen Friedens.

Plädoyer für ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen«

Auch wenn es derzeit nur schwer vorstellbar sein mag: Bereits jetzt muss über eine mögliche Ordnung nach dem Ende des Ukrainekriegs nachgedacht werden. Sogar ein Frieden, der sich auf das Ziel einer Vermeidung neuer Kriege beschränken würde, ist nur mit und nicht gegen Russland zu haben. Dabei gilt es, die gegenwärtige Begrenzung des Denkraums auf einen »Kalten Krieg 2.0« zugunsten einer Ordnung zu erweitern, die möglichst viele friedenslogische Elemente adaptiert und damit die Chance zur weiteren Friedensentfaltung impliziert. Diese Nahzielperspektive ließe sich, angesichts der gegenwärtig feindschaftlichen Beziehungsmuster, in der Formel einer »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« verdichten. Sie wird wohl die Identifizierung von Dissensen einschließen und Möglichkeiten ihrer weiteren Bearbeitung aufzeigen müssen.

Für ein solches Projekt wäre die OSZE der am besten geeignete Ort, handelt es sich doch um eine inklusive Einrichtung der Staatenwelt mit Scharnieren in die Gesellschaftswelt: Sie stellt schon jetzt den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung, in dem alle direkt wie indirekt am Ukrainekonflikt Beteiligten formal gleichberechtigt eingebunden sind. Und die neutralen und nicht-paktgebundenen Teilnehmerstaaten können hier strukturell abgesichert ihre wertvollen Erfahrungen bei der Auflösung festgefahrener Konstellationen mobilisieren.

Ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« dürfte aber nicht allein an die Staatenwelt delegiert werden. Vielmehr bedarf es der Vorbereitung und Unterstützung durch solche zivilgesellschaftlichen Akteure samt ihrer Netzwerke, die über einschlägige Erfahrungen im Bereich der Mediation und anderer Verfahren konstruktiver Konflikttransformation verfügen.

Der Text wurde am 11. Mai 2022 auf der Homepage der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung veröffentlicht (pzkb.de/friedenslogik-statt-kriegslogik/).

Anmerkungen

1) Siehe hierzu auch: »Für konsequent friedenslogisches Handeln im Ukraine-Konflikt.« Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (17. Februar 2022).

2) Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2022): Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme (WD 2-3000-019/22), S. 6.

Verfasser*innen und Unterzeichner*innen aus der AG-Friedenslogik: Annette Fingscheidt, Wilfried Graf, Sabine Jaberg (Federführung), Christiane Lammers, Jochen Mangold, Angela Mickley, Beate Roggenbuck.

Neokolonialer Frieden?!

Neokolonialer Frieden?!

Die koloniale Unterseite modern-liberaler Friedensvorstellungen

von Christina Pauls

»Frieden« ist kein neutraler Begriff. Der universalisierte Begriff des in Theorie und Praxis dominanten modern-liberalen Friedens1 sowie seine Fortführung in Form des neoliberalen Friedens sind eng mit kolonialen Praktiken verbunden. Die hier angebotene kritische Reflexion möchte dazu ermutigen, die eigene normative Ausrichtung gründlich zu hinterfragen. Dazu wird der modern-liberale Frieden mit post- und dekolonialen Theorien »gegen den Strich« gelesen, die historische Verwobenheit von (Neo-)Liberalismus mit (Neo-)Kolonialismus nachgezeichnet, und einige der neueren Ausprägungen des modern-liberalen Friedens einer kritischen Prüfung unterzogen.

Frieden steht in einem Spannungsverhältnis zwischen normativen Ansprüchen über Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Zusammenleben. Die angelegte Gewaltdefinition bestimmt maßgeblich Umfang und Grenzen möglicher normativer Ausrichtungen. Ein enger Gewaltbegriff wie auch Verständnisse von struktureller Gewalt sind meist eingebettet in die dominierende modern-liberale Werteordnung. Sie sind daher nicht in der Lage, die Gewaltförmigkeit dieser Werteordnung selbst zu identifizieren, oder gar anzugehen.

Modern-liberale Friedensverständnisse blenden die eigene Verstrickung in den Kolonialismus aus. Sie zeichnen ein vermeintlich universelles Bild, dessen historische Gewordenheit nicht thematisiert wird. Insbesondere der Beitrag der Kolonisierung zur Existenz gewaltvoller Strukturen in der Gegenwart, die bewaffneten Konflikten zugrunde liegen, wird in der Friedensforschung wenig beachtet. Das ist nicht nur friedenstheoretisch problematisch, sondern stabilisiert gewaltvolle und koloniale Verhältnisse, die der Frieden doch zu überwinden sucht. Neoliberale Varianten dieser Friedensverständnisse radikalisieren diese Verhältnisse in Form eines neokolonialen Friedens, wie im Folgenden ausgeführt wird. Dieser ist für Friedensforscher*innen und -Praktiker*innen umso gefährlicher, weil er schwerer zu identifizieren ist und aufgrund seiner Beschaffenheit Rechenschaftspflicht und transformative Gerechtigkeit auszuhöhlen droht. Um auf den kolonialen Schatten dieses Verständnisses aufmerksam zu machen, sollte Friedensforschung und -praxis in ihrer Selbstreflexion expliziter epistemische Gewalt in den Blick nehmen, also auch die in der Wissenspolitik und Genealogie des Friedens angelegten Formen von Gewalt aufdecken und problematisieren (vgl. Brunner 2018). Dieser Beitrag versucht, einige Anregungen zur Sichtbarmachung der kolonialen Unterseite neo-/liberaler Friedensverständnisse bereitzustellen.

Liberaler und neoliberaler Frieden

Modern-liberale Friedensvorstellungen2 gründen auf der Annahme, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen Nationalstaaten, internationaler Handel sowie die Einbindung in die Weltwirtschaft alle Gewaltpotentiale einhegt.3 In Verschränkung mit diesen ökonomischen Bedingungen beziehen sich politisch liberale Werte auf den Schutz von Privateigentum und auf individuelle (Freiheits-)Rechte. Politische und ökonomische Aspekte des liberalen Friedens sind als komplementär zu verstehen, da sie von einer Korrelation zwischen Demokratisierung und wirtschaftlichem Wohlstand ausgehen.

Unter »Neoliberalismus« verstehe ich die Ablehnung aller regulierenden, sozialstaatlichen und überstaatlichen Eingriffe in die »Kräfte des Marktes«. In der Literatur zu »liberal peacebuilding« hat auch die Kritik am »neoliberalen Frieden« Einzug genommen – eine Variante des liberalen Friedens, die vor allem den Markt und das Wirtschaftswachstum als ausschlaggebend für die Konstitution von Frieden versteht. Der neoliberale Frieden radikalisiert und höhlt den liberalen Frieden insofern aus, als die Marktlogik und Wachstumsorientierung (ökonomische Liberalisierung) gegenüber dem Aufbau demokratischer Institutionen, der Stärkung individueller Rechte, Sicherheit und Stabilität (politische Liberalisierung) Priorität einnimmt. Dafür wird auf Privatisierung, Monetarisierung und Deregulierung sowie auf die Öffnung von Grenzen für ausländische Investitionen gesetzt, wie sich beispielhaft in Politiken der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zeigt.

Historische Gewordenheit neo-/liberaler Friedensvorstellungen

Um auf die kolonialen Schattenseiten des liberalen wie neoliberalen Friedens hinzuweisen, ist es nötig, ihre historischen Bedingungen nachzuzeichnen, durch die sie sich mit kolonialer Gewalt verstrickt haben. Oft wird die formale Geburtsstunde liberaler Friedensverständnisse, wie auch der proto-institutionalisierten Friedens- und Konfliktforschung, in den politischen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts lokalisiert. Primär vom Globalen Norden4 ausgehend wird seither systematisches Wissen über »Frieden«, seine philosophischen und theoretischen Grundlagen sowie politische und ökonomische Strategien zu seiner Umsetzung generiert. Die Gültigkeit dieser universalisierten Theorie des Friedens wird kontinuierlich am Globalen Süden in der Friedensarbeit im In- und Ausland, insbesondere durch »peacebuilding«, dargelegt und erprobt.

Allerdings identifizieren Theoretiker*innen aus dem Globalen Süden die Entstehungsbedingungen liberaler Friedensvorstellungen viel früher: in der Philosophie der Aufklärung und gar in der kolonialen Expansion selbst, die beide als miteinander verstrickt verstanden werden. So beschreibt Juan Daniel Cruz (2021, S. 2), wie die Idee der »Pazifizierung« (Befriedung), die in kaiserlichen Erlassen festgeschrieben wurde5, die territoriale, politische und ökonomische Kontrolle über Länder des Globalen Südens als fundamentalen Bestandteil kolonialer Expansion und Praxis legitimierte. Hier setzen auch dekoloniale Theorieansätze an, die mit dem Begriffspaar Modernität/Kolonialität auf die Untrennbarkeit der Moderne von kolonialen Zusammenhängen hingewiesen haben. Sie verstehen Kolonialität, die langanhaltenden Muster und Strukturen kolonialer Verhältnisse, als konstitutive Entstehungsbedingung von Moderne, wie wir sie heute kennen. Dies umfasst auch die (materielle) Grundlage des liberalen Werteverständnisses. Liberalismus, Kolonialismus und Moderne werden als verflochten betrachtet.

So liegt den Wurzeln europäischer und liberaler Friedensvorstellungen also der Glaube an eine weiße Überlegenheit zugrunde, der sich bis heute in der technokratischen Auffassung widerspiegelt, dass eine kleine Expert*innengruppe von Menschen »Frieden« entwerfen und implementieren könne – ein Frieden, der in Europa, insbesondere in kolonialer Begegnung mit den nicht-europäischen »Ver-Anderten«, konzipiert wurde. Der weiße, europäische, christliche, heteronormative, körperlich fähige, unverwundete Mann konstruiert sich selbst als ausgewählter Bringer des Friedens, indem er »die Anderen« zu anderen macht und in ihrem Wert herabsetzt.

Dieses Dominanzverhältnis der Über- und Unterordnung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte kontinentale Geistesgeschichte, mal mehr, mal weniger sichtbar.6 Auch die Friedensforschung und -arbeit spiegelt sich darin wider, so einerseits durch ihren interventionistischen Charakter, der sich in der Bereitstellung externer Expert*innen zeigt, und andererseits durch ihre normative (Teil-)Ausrichtung an ökonomischer Entwicklung, die neue Abhängigkeitsverhältnisse schafft und alte zementiert.

Neo-/kolonialismus und neo-/liberaler Frieden

Der Begriff des Neokolonialismus wurde maßgeblich vom ghanaischen Präsidenten und antikolonialen Denker Kwame Nkrumah geprägt (Nkrumah 1965). Er wird seither vor allem zur polit-ökonomischen Kritik an Süd-Nord-Verhältnissen herangezogen. Im Zentrum steht die Einsicht, dass trotz formal-politischer Unabhängigkeit ehemalig kolonisierter Länder koloniale Zusammenhänge im Rahmen ökonomischer und monetärer Abhängigkeitsverhältnisse weiter bestehen. Diese werden mit dem Anspruch begründet, zur Überwindung von Dualismen wie entwickelt/unterentwickelt, arm/reich u.Ä. beizutragen. Sie verkennen jedoch, dass diese erst durch den Kolonialismus konstituiert wurden und tief in die Moderne eingeschrieben sind. Der peruanische Soziologe Anibal Quijano (2000) identifiziert beispielsweise, wie Rassismus und globale Arbeits»teilung« seit der Eroberung der Amerikas als fundamentale Achsen kolonialer Macht fungieren und so in ihrer Kombination als Entstehungsbedingung des heute globalisierten Kapitalismus dienten. Koloniale Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse nehmen also mit der anhaltenden Neoliberalisierung der Weltwirtschaft auch neue Formen (»neo«) auf, wenngleich sie auf denselben Logiken beruhen, durch die sie sich konstituiert haben.

Charakteristisch für die Neoliberalisierung von Frieden ist eine zunehmende Komplexität von Aktivitäten und Akteur*innen sowie die Externalisierung von Verantwortlichkeiten. Mit der Ero­sion von klar identifizierbaren Akteur*innen verschwimmen – um erneut Kwame Nkrumahs Beitrag zur Debatte aufzugreifen – auch im Neokolonialismus die Grenzen der Verantwortung in Kontrast zu der formalen Phase des Kolonialismus, wo Herrschaft und Verantwortung eindeutiger zuzuordnen waren. Damit verlieren auch Ansprüche auf Wiedergutmachung und Reparationen ihre potenziellen Adressat*innen. So radikalisiert der Neokolonialismus die Mechanismen der epistemischen Gewalt, die sich in der Unsichtbarmachung der eigenen Beiträge zu kolonialen Strukturen manifestieren, beispielsweise durch Verleugnungs- und Verdrängungsmechanismen.

Liberalismus und ihre neoliberalen Varianten stehen als politökonomische Ideologien also weiterhin im Dienst von Modernität/Kolonialität, denn sie dienen der „Akzelerierung der Moderne […], ohne aber wahrzunehmen, dass dies zugleich mit dem Fortbestehen und der Verstärkung von Kolonialität einher geht“ (Maldonado-Torres 2016, S. 5). Unter dem Deckmantel des Friedens werden koloniale Herrschaftsverhältnisse als nicht-intendierte Folgen eines am Frieden ausgerichteten Handelns stabilisiert. So sind der liberale wie auch der neoliberale Frieden untrennbar mit ihrer kolonialen Unter- oder Schattenseite, dem neo-/kolonialen Frieden, verbunden.

Neo-/koloniale Schattenseiten

Alle Friedensbemühungen stehen zunächst vor der Herausforderung eines fait accompli globaler Ordnung – eine kapitalistische, neoliberale Ordnung, die über Jahrhunderte gewachsen ist und in ihrer Genese wie anhaltender Beschaffenheit mit kolonialen Gewaltverhältnissen verwoben ist. Diese Ordnung erfordert von allen Subjekten eine Unterordnung in ihre Logik, um zu funktionieren. Friedensbemühungen aller Art sehen sich so teilweise dazu genötigt, sich an der globalisierten Marktlogik auszurichten und die (Post-)Konfliktgesellschaften durch entsprechende politische, pädagogische und ökonomische Maßnahmen auf eine Reintegration in den neoliberalen Weltmarkt vorzubereiten. Damit laufen sie Gefahr, zu einer Fortführung neokolonialer Ausbeutung durch Niedriglohnarbeit, moderne Sklaverei7 sowie der Vergrößerung von Ungleichheiten, beispielsweise durch illegale Finanzabflüsse vom Globalen Süden in den Globalen Norden, beizutragen und so neokolonialen Frieden zu perpetuieren.

Während sich der modern-liberale Frieden zunächst primär an den Entwicklungsdiskurs angeschlossen hat, setzt er sich in der gegenwärtigen Ausrichtung an psychologischen und psychosozialen Aspekten der Konflikttransformation fort und führt so zu einer Pathologisierung von Postkonflikt-Gesellschaften“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Denn die eurozentrische Psychologie tendiert dazu, Trauma zu individualisieren (beispielsweise mit der Diagnose Posttraumatischer Belastungsstörung), wodurch strukturelle und relationale Faktoren aus dem Blick geraten. Es schwingt die Konnotation mit, dass Menschen »gebrochen« und unvollständig sind, von einem als ideal konstru­ierten »gesunden« Menschen abweichen und durch bestimmte Praktiken wieder hergestellt werden können. Diese Menschen erfahren laut Tuck und Yang Anerkennung, die primär auf schmerzbasierter Forschung beruht, also der Sammlung und Nacherzählung ihrer Leidensgeschichten. Nicht nur Forschung, sondern auch Praxis läuft so Gefahr, rassistische Hierarchien in Form von politisch vertretbareren Entwicklungshierarchien fortzuführen (Tuck und Yang 2014, S. 231).

In der Ausgestaltung, Legitimation und Umsetzung von neo-/liberaler Friedens»schaffung« nimmt »eurozentrisches Wissen« auch auf die Vorstellungen von »Frieden« Einfluss und lässt keinen oder nur wenig Raum für alternative Deutungen von Frieden. Diese Universalisierung von Frieden geht einher mit der Unsichtbarmachung entsprechender alternativer Verständnisse solcher Weltbilder, die meist als »unterentwickelt« und »unmodern« abgetan werden. Denn viele solcher Weltbilder beruhen – im Gegensatz zum liberalen Verständnis – auf ausgedehnten Zeitvorstellungen, in denen nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit vor uns liegt und eine aktive Beziehung zu den Vorfahren gepflegt wird. Etymologische Explorationen von alternativen Friedensbegriffen, oder dem Frieden ähnlichen Begriffen in anderen Weltbildern, ermöglichen Zugang zur realen Vielfalt von Friedensverständnissen. Solche Einsichten sollten aber nicht davon ablenken, dass der konkrete politische Friedensdiskurs im Kontext globaler Machtasymmetrien entstanden ist und sich verstetigt hat. Daher ist es nicht ausreichend, auf die epistemische Vielfalt von Friedensvorstellungen hinzuweisen, sondern auch ihre Dominanzverhältnisse anzuerkennen und dort anzusetzen, wo diese unterbrochen oder sogar transformiert werden können.

Gibt es Handlungsoptionen?

Was hieße es dann konkret, sich dem neo-/liberalen Frieden in Bezug auf die hier aufgeführten kolonialen Schattenseiten zu widersetzen?

In Anbetracht der epistemischen Dominanz weißer (europäischer) Wissenschaftler*innen im Feld der Friedensforschung müssen andere Zugänge und Perspektiven auf Frieden gefunden werden. Dafür lohnt es sich, sich den lebendigen Wissenssystemen jener zuzuwenden, die von kolonialer Gewalt betroffen sind und aufgrund ihrer Position mehr »sehen« können als wir, die wir uns im kolonialen Zentrum dieser Wissensproduktion bewegen. Von Friedensforscher*innen und -praktiker*innen erfordert dies, sich den komplexen Verstrickungen zuzuwenden, in die der Friedensbegriff aber auch sie selbst als Menschen eingebettet sind. Es gibt keine einfachen und schnellen Lösungen für den Umgang mit kolonialen Schattenseiten modern/liberaler Frieden.

Ein Ansatz könnte darin liegen, an einigen der Grundannahmen neo-/liberaler Friedensverständnisse zu rütteln. Der radikale Individualismus, der sowohl wirtschaftliche als auch politische Grundvoraussetzung für Liberalismus ist, sollte entthront und in Balance mit kollektiven Rechten und kollektivem Wohlstand, auch in Beziehung zur Natur, gebracht werden. Dies kann jedoch kein Unterfangen sein, das selbstbezogen und selbstreflexiv im eigenen Kopf stattfindet. Im Gegenteil sind es zutiefst relationale, gemeinschaftliche Prozesse, die das Potential bergen, sich selbst als verbunden und als Teil größerer Zusammenhänge zu verstehen. Anstatt ausschließlich zukunftsgeleitetes Handeln zu propagieren, sollte auch der Bezug zur Vergangenheit (wieder-)belebt werden, ohne sie zu romantisieren oder verändern zu wollen, sondern in reale Beziehung mit ihr und ihren Beiträgen zur Schaffung der Gegenwart zu treten.

Der dominante Friedensbegriff bedarf also insofern einer »Entnaturalisierung«, aber auch einer Kontextualisierung in koloniale Verhältnisse, und sollte so auch selbst zum Objekt politischer Aushandlung avancieren, damit eine selbstbestimmte und emanzipatorische Ausrichtung der Arbeit am Konflikt sowie am Umgang mit Gewaltverhältnissen eine reale Möglichkeit wird. Die hier angebotene Kritik am universalen Friedensbegriff birgt durchaus „die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Unrechtssystemen“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Auf der anderen Seite könnte sie eine Befreiungsbewegung von einem kolonial aufgeladenen und ausgenutzten Konzept darstellen, das ansonsten stillschweigend und unsichtbar geworden zur Aufrechterhaltung und Verstärkung von Kolonialität beiträgt.

Es geht also darum, die Schatten kennen und verstehen zu lernen, den Blick zu schärfen für neue, nicht direkt sichtbare Formen der Verstetigung kolonialer Beziehungen – und darum, gemeinsam nach Wegen zu suchen, diese zu überwinden.

Anmerkungen

1) Dieser modern-liberale Friedensbegriff basiert auf sog. »modernen« Prinzipien wie Rationalität, Aufklärung und »Zivilisierung« und ist zudem eng mit liberalen Grundwerten verwoben, wie unter anderem individuellen Rechten, einem spezifischen Demokratieverständnis sowie dem Vertrauen in Handelsbeziehungen und unregulierte Märkte.

2) Ich spreche hier von Friedensvorstellungen im Plural, weil selbst der modern-liberale Überbegriff von Frieden zahlreiche Spielarten ermöglicht und die hier angebotene Kritik nicht alle dieser Spielarten abdecken kann.

3) Ein prominentes Beispiel, das sich in den Internationalen Beziehungen großer Anerkennung erfreut, ist der sog. (Doppel-)Befund des demokratischen Friedens.

4) »Globaler Süden« und »Globaler Norden« bezeichnen nicht nur geographische Kategorien, sondern primär unterschiedlich privilegierte und deprivilegierte Positionen im globalen System, die durch Kolonialismus konstituiert wurden. So lässt sich auch ein »Norden im Süden« und ein »Süden im Norden« identifizieren, also Menschen(-gruppen), die kontextual über- oder unterprivilegiert sind.

5) Zum Beispiel im Asiento – dem Generalvertrag vom 27. März 1528, in dem Kaiser Karl V. der Augsburger Handelsfamilie der Welser Gebiete im heutigen Venezuela und Kolumbien zur kolonialen »Befriedung« zur Verfügung stellte.

6) Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann zeichnet in »Undienlichkeit« (2020) nach, wie das Wirken und Handeln politischer Philosophen mit der Versklavung und Kolonisierung verwoben ist.

7) Laut Global Slavery Index leben 40 Mio. Menschen in »moderner Slaverei«, die sich beispielsweise in Menschenhandel und Zwangsarbeit manifestiert (globalslaveryindex.org).

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Christina Pauls, M.A. Peace Studies, promoviert zur Kolonialität des Friedens. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt »Bayerisches Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung: Deutungskämpfe im Übergang« am Standort Augsburg und außerdem in der politischen Bildung aktiv.

Neokolonialismus genau betrachtet

Neokolonialismus genau betrachtet

Versuch einer umfassenderen Begriffsbestimmung

von Nicki K. Weber

Von Kwame Nkrumahs berühmter Analyse als letzter Stufe des Imperialismus über den Begriff des Eurozentrismus bis hin zu postkolonialer Kritik und den dekolonialen Theorien von »Kolonialität/Modernität« haben Begrifflichkeiten und »Theorien« des Neokolonialismus einige Wandlungen durchlebt. Dieser Beitrag versucht sich an einer genaueren Begriffsbestimmung und bietet Möglichkeiten des Anschlusses an heutige Gewalt- und Herrschaftskritik an, um das Feld konkurrierender Begrifflichkeiten zu sortieren.

Der Begriff des Neokolonialismus im Sinne von »neuem Kolonialismus« ist ein politischer Begriff, der sich (unter anderem) als beschreibend, wertend und konfliktiv begreifen lässt. Er beschreibt politische Praktiken (Diallo 2017, S. 194), die auf den in der Kolonialzeit gewachsenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen basieren und diese auf der ökonomischen, soziokulturellen, militärischen und technologischen Ebene (vgl. All-African Peoples‘ Conference 2005) reproduzieren.

Als wertend kann der Begriff des Neokolonialismus aufgefasst werden, weil er als Zustandsbeschreibung auf die aus kolonialen Beziehungen gewachsene strukturelle Gewalt hinweist, der Individuen oder Gruppen (un-)mittelbar durch Fremdbestimmung ausgesetzt sind (Diallo 2017, S. 195f.). Konfliktiv hingegen ist der Begriff, weil er es ermöglicht, neokoloniale Praktiken auch im Alltag zu kritisieren, und versucht, Verantwortlichkeiten zu benennen.

Zwischen Fronten

Erste Beschreibungen neokolonialer Praktiken finden sich in der Abhandlung »Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism« (vgl. Nkrumah 1966) des antikolonialen Widerstandskämpfers und späteren Präsidenten der Republik Ghana Kwame Nkrumah (1909-1972). Er stellte fest, dass die »neuen« afrikanische Staaten trotz der formalen Unabhängigkeit weiterhin in Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt sind, die sich maßgeblich im Weltsystem widerspiegeln, das von neuen Hegemonialmächten wie den USA geprägt sei (Ashcroft, Griffiths und Tiffin, S. 178).

Mit dem Ende formaler Kolonialherrschaft Mitte des 20. Jahrhunderts stellte sich zunächst die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren nach der Unabhängigkeit gestalten lassen. Angehende Super- und ehemalige Kolonialmächte bemühten sich um globalen Einfluss.

Die Härte des westlichen Kampfs um seinen Gestaltungsanspruch in den neuen Staaten Afrikas wird besonders an der Ermordung des damaligen Premierministers der Demokratischen Republik Kongo Patrice Lumumba deutlich, die der Stabilisierung belgisch-kongolesischer Beziehungen dienen sollte, um eine Orientierung an sozialistischen politischen Systemen zu verhindern (Van Reybrouck 2013, S. 364).

Verantwortungsdiffusion

Nkrumah argumentierte in seiner Abhandlung, dass die Akteure in den neokolonialen Beziehungen diffuser geworden seien. Neokoloniale Beziehungen können demnach zwischen ehemaligen Kolonien und Kolonialmächten bestehen. Diese Verhältnisse können sich aber auch verändern: So war nach der Unabhängigkeit Vietnams vor allem die Beziehung zu den USA prägend für das Land und weniger die Beziehung zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Machtverhältnisse in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank tragen zur diffusen Verantwortungssituation bei. Anders als im Kolonialismus können Kolonialisierte in neokolonialen Verhältnissen oft nicht »ihren« Kolonialisten direkt verantwortlich machen. Das mache den Neokolonialismus gefährlicher als den traditionellen Kolonialismus (Nkrumah 1966, S. x-xi). Diese unklare Herrschafts- und Gewaltausübung, der sich die afrikanischen unabhängigen Staaten ausgesetzt sahen, wurde durch die Fronten des globalen Systemkonflikts zwischen dem sogenannten »Ostblock« und dem »Westen« noch verkompliziert.

Die zentrale Frage, die sich den jetzt unabhängigen Staaten Afrikas stellte, war, wie man sich im Nebel der Verantwortung gegenüber den Ansprüchen angehender Supermächte und ehemaliger Kolonialmächte behaupten könnte. Die Frage der Verantwortung war nicht zuletzt auch deshalb schwierig zu klären, weil nicht nur exterritoriale Kräfte die informelle Herrschaft des Neokolonialismus ermöglichten, sondern auch die Eliten in den afrikanischen Ländern eine entscheidende Rolle spielten (vgl. Afoumba in dieser Ausgabe, S. 38).

Obgleich Nkrumah in seinem Definitionsversuch Neokolonialismus in erster Linie in eine kapitalismuskritische Tradition stellte, behandelt seine Analyse die neokolonialen Konflikte vor allem zwischen Staaten, weniger klassentheoretisch. Dabei verkennt er die Rolle innerstaatlicher Eliten (Ziai 2020, S. 129). Afrikanische Feminist*innen machten wiederholt darauf aufmerksam, dass der Einfluss multilateraler Organisationen auch aufgrund patriarchaler Verbindungen zwischen den (alten und neuen) Eliten ehemaliger Kolonialstaaten und -mächten ermöglicht wurde – zumeist zu Lasten von politischen, sozialen und demokratischen Rechten für Frauen (McFadden 2007, S. 42).

Optimist*innen und Pessimist*innen

Innerhalb dieser Eliten wurde (und wird bis heute) der Vorwurf des Neokolonialismus unterschiedlich bewertet. Die Positionen lassen sich in Optimist*innen, Pessimist*innen und ein Kontinuum, die Neutralist*innen, unterteilen (vgl. Mabe 2005).

Während die einen nach der formalen Unabhängigkeit dem Westen optimistisch gegenüberstanden und eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz als Notwendigkeit für die »Entwicklung« auf dem afrikanischen Kontinent anerkannten, waren andere nicht bereit, »afrikanische Werte« und wiedergewonnene Unabhängigkeiten angesichts der vor allem wirtschaftlichen Übermacht aufzugeben. Sie standen dem westlichen Einfluss pessimistisch gegenüber und sahen keine Möglichkeit, der Zäsur von Kolonialismus und transatlantischem Sklavenhandel allzu Zukunftsträchtiges abzugewinnen. Die Behauptung, (neo-)koloniale Einflüsse hätten insbesondere auf den Gebieten der Bildung und Wissenschaft »positive Modernisierungseffekte«, lehnten sie als »neokolonialistische Mystifikationen«1 ab und strebten nach Reparationen und der Anerkennung des Kolonialismus als System der Ausbeutung. Aus diesen Bestrebungen gingen die Bewegungen des Panafrikanismus und der Négritude hervor. Stand die frankophone Bewegung der Négritude (Senghor 1967) dafür ein, dass es trotz Kolonialisierung ein explizit afrikanisches Kulturschaffen gebe, das in Differenz zu Europa bewertet werden will, so versuchte der Panafrikanismus, maßgeblich angetrieben vom US-Bürgerrechtler und Soziologen W. E. B. Du Bois, die Überwindung des Rassismus als globale Herausforderung des 20. Jahrhunderts zu benennen. Rassismus und die damit verwobene koloniale Kontinuität wurden in ihren jeweiligen Ausdrucksformen einer neokolonialen Dominanzkultur unter anderem in den soziokulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen kritisiert (McEachraen 2020, S. 233f.). So wurde deutlich, dass Rassismus nicht nur den Kolonialismus ideologisch legitimierte, sondern in unterschiedlichen Formen – als Abgrenzung zu »fremden Kulturen«, Nationen oder Religionen – fortwirkt. Der Begriff des Neokolonialismus diente diesen Bewegungen dazu, diese auch soziokulturell fortwirkende Dimension des Kolonialismus zu adressieren.

Neokolonialismus, Neoimperialismus, Neoliberalismus

Drei Begrifflichkeiten werden immer wieder miteinander in Verbindung gebracht: Neokolonialismus, Neoimperialismus und Neoliberalismus. In der Fachliteratur fallen die Begriffe des Neokolonialismus und Neoimperialismus des Öfteren zusammen (Ashcroft, Griffiths und Tiffin 2013, S. 179). Nicht zuletzt die Definition des neuen Kolonialismus als letzte Stufe des Imperialismus formulierte Nkrumah in Rekurs auf Lenins marxistische Interpretation des Imperialismus als kapitalistischem Phänomen (Ziai 2020, S. 129) mit dem Ziel der Etablierung einer globalen hierarchischen Wirtschaftsstruktur. Im Allgemeinen lässt sich eine vorsichtige Differenz herausarbeiten: Kolonialismus definiert sich unter anderem über die territoriale Fremdherrschaft, während Imperialismus einen Herrschaftsanspruch ohne direkte Kontrolle über ein Staatsgebiet meint (Conrad 2012, S. 3). Wie der Neokolonialismus funktioniert der Neoimperialismus über die diffuse Ausbreitung staatlichen Einflusses mittels der internationalen Währungsordnung mit der Etablierung der Bretton-Woods-Institutionen nach dem zweiten Weltkrieg. Beide Begriffe beziehen sich auf die Bedingungen einer Weltordnung, die in großen Teilen die informelle Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Kauf nimmt.

In diesem Zusammenhang steht nun der Neoliberalismus für deregulierte, globale Marktkonkurrenz, in der allen Dingen und Lebewesen nur über ihren Marktpreis ein Wert zugemessen wird. Imperialistische und koloniale Praktiken prägen so die Konkurrenz am Weltmarkt, der wiederum zum Nachtteil der »Entwicklungsländer« eingerichtet ist. Auch nicht-staatliche Akteure entziehen sich diesem Vorwurf nicht, da sie zumindest als der neoliberalen Ordnung kompatibel angesehen werden und den Interessen der Großmächte (wenn auch unbeabsichtigt) dienen (Hardt und Negri 2002, S. 324). Wie oben schon erwähnt wurde, sind daher für die Analyse neokolonialer Beziehungen direkte koloniale Vorbedingungen nicht notwendig bzw. erschöpft sich eine Kritik des Neokolonialismus nicht in diesen Beziehungen. Die Einbeziehung des Begriffs des Eurozentrismus als weiterer analytischer Schritt kann helfen, die diffuse Verantwortungslage besser zu beschreiben. Kolonialismus und Imperialismus sind ideologisch miteinander verbunden, weil beide davon ausgehen, dass für bestimmte Bevölkerungs- oder Kulturgruppen – wohlgemerkt zu ihrem eigenen Vorteil – Herrschaft erforderlich ist (Said 1994, S. 44).

Unter dem Einfluss des gegenwärtigen Eurozentrismus

Eurozentrismus, die (un-)bewusste Bewertung alles »Fremden« ausgehend von der eigenen, vorrangig westeuropäischen Positionierung, und Neokolonialismus gemeinsam zu betrachten ist deshalb hilfreich, weil so das der wirtschaftlichen und institutionellen Dominanz zugrunde liegende Verständnis eines überlegenen Westens und dem daraus abgeleiteten Führungsanspruch unterstrichen wird. Diese Phänomene lassen sich mit Achille Mbembe (vgl. Mbembe 2021) als »gegenwärtiger Eurozentrismus« auf den Begriff bringen. Dieser entsteht zum einen aus den kolonialen und imperialen Projekten und ihrer ideologischen Fundierung ab dem 19. Jahrhundert, sowie auf der dargestellten neokolonialen Fortführung nach dem zweiten Weltkrieg durch kapitalistische Ausbeutung und die Landnahme in »Entwicklungsländern« mit der Hilfe von ausländischen, privaten und staatlichen Investoren. Ein Beispiel ist das Interesse Frankreichs an den Uranvorkommen im Niger und die damit verbundene Ausbeutung lokaler Arbeitskräfte oder die US-amerikanischen Sicherheits- und Rohstoffinteressen im Sahel (vgl. Afoumba 2021). Neokoloniale Praktiken wie die Landnahme beschränken sich nicht nur auf Afrika, sondern werden auch aus den Reihen der Europäischen Union im asiatischen und lateinamerikanischen Ausland unterstützt (Borras et al. 2016).

Die Kritik an der Verknüpfung von Neokolonialismus und Eurozentrismus entfaltet sich entlang der Frage, ob auch ehemals vom europäischen Kolonialismus betroffene Weltregionen neokoloniale Praktiken entwickeln können. Hier wird beispielweise die Ressourcensicherung und »Entwicklungsarbeit« der Volksrepublik China in afrikanischen Staaten diskutiert. Eine solche »Übersetzung« des Prinzips neokolonialen Handelns ist aber zumindest umstritten (vgl. Schüller und Asche 2007), nicht zuletzt weil die VR China zwar nicht in eurozentristische Ordnungsvorstellungen eingebunden ist, jedoch von einem globalen Kapitalismus profitiert.

Ein »enger« und ein »weiter« Begriff

Jean-Paul Sartre teilte seine Analyse des neokolonialen Systems in Algerien in drei Bereiche auf, die die politischen Erfolge der Unabhängigkeit gefährdeten und auf denen sich neokolonialer Verhältnisse offenbaren: Ökonomie und Soziales sowie (Sozial-)Psychologisches (vgl. Sartre 1988, S. 15). Im Anschluss daran lässt sich der Neokolonialismus zusammenfassend auf einen »engen« und einen »weiten« Begriff bringen. Im engeren Sinne verweist Neokolonialismus auf Konflikte um wirtschaftliche Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt, die die staatliche Souveränität beeinträchtigen und soziale Probleme befeuern. Im weiteren Sinne verweist Neokolonialismus auf (sozial-)psychologische Herausforderungen, die mit dem Zeitalter der Dekolonisation auftreten. Rassistische Diskriminierung, Deprivation und Exklusion von Personengruppen mit begrenzten politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zugängen (hierfür wurde der Begriff der Subalternen geprägt), sind die Ergebnisse von Konstruktionen eines »Anderen« in neokolonialen Verhältnissen (vgl. Spivak 1985). Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist demnach nur eine Seite des Neokolonialismus. Die andere, schwerer nachweisbare Seite stellt die kulturelle und epistemische Gewalt von Wissensverhältnissen dar, die unter anderem durch Sprache, Literatur, Wissenschaft und Medien wirkt und neokolonialen Praktiken Vorschub leistet (Ngũgĩ wa Thiong’o 1995, S. 70).

Theoretische Anschlussfähigkeit?!

Auch wenn dem Begriff des Neokolonialismus attestiert wird, ihm fehle eine kohärente Theorie (Ziai 2020, S. 129), ist er durchaus anschlussfähig, nicht zuletzt an post- und dekoloniale Theorien und Kritiken.

Das im antikolonialen Widerstand verwurzelte und maßgeblich von akademischen Migrant*innen in den USA und in Indien interdisziplinär entwickelte Feld der Postkolonialen Theorien zielt auf die Analyse und Dekonstruktion der im weiten Begriff des Neokolonialismus formulierten Phänomene ab: die kolonialen Kontinuitäten, deren asymmetrische Macht- und Wissensverhältnisse in sozialen und politischen Verhältnissen reproduziert und so stabilisiert werden. Zwar gebe es, so eine häufige Kritik, in postkolonialen Theorien ein Interesse an den Verflechtungen von Kolonialismus und Kapitalismus, doch werde die Bedeutung des Kapitalismus für den Kolonialismus in postkolonialer Theorie zu Gunsten eines kulturellen Fokus vernachlässigt (Hall 2013, S. 198f.). Der Begriff des Neokolonialismus hat das Potenzial diese Lücke zu schließen (Diallo 2017, S. 196) und materielle, geistig-kulturelle wie sprachliche Abhängigkeiten gemeinsam zu betrachten.

Ein breiteres Verständnis von Kolonialismus versuchen Texte rund um das Projekt »Modernidad/Colonialidad« zu gewinnen, das vor allem stark von Forscher*innen aus Lateinamerika vorangetrieben wurde. Dieser dekoloniale Theorieansatz versucht, die koloniale Situation asymmetrischer Machtverhältnisse als ein Grundmoment der Epoche der eurozentrische Moderne zu begreifen, die es letztlich mit nicht-europäischen, lokalen Erkenntnismethoden zu dekolonialisieren gilt. Die Kritik an der Moderne innerhalb dekolonialer Theorien wurde Ende der 1960er Jahren innerhalb der lateinamerikanischen Dependenztheorie aufgegriffen (Castro Varela do Mar/Dhawan 2020, S. 336). Deren im Vergleich zur postkolonialen Theorie allgemein als breiter verstandener Gegenstand umfasst die informelle und ökonomische Abhängigkeit der Peripheriestaaten von den »entwickelten« Industriestaaten und reflektiert stark die unter dem Begriff des Neokolonialismus formulierten Vorwürfe. Der dekoloniale Theorieansatz kann als theoretisch fundierter Nachfolger der Debatte um Neokolonialismus verstanden werden (Ziai 2020, S. 129), weil er den engen und weiten Begriff des Neokolonialismus gebündelt behandelt, ohne einen Begriff gegen den anderen zu sehr auszuspielen (vgl. am Beispiel des Friedensbegriffs den Beitrag von Pauls in dieser Ausgabe, S. 42).

Beispiele neokolonialer Strukturen und Verhaltensweisen

Unter dem Begriff des Neokolonialismus bekommen also aktuelle Strukturen und Verhalten asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse einen Namen, die als Langzeitfolgen von Kolonialismus und Imperialismus weiter präsent sind und mittels radikaler Deregulierung der Weltmärkte im Zeitalter der Globalisierung fortgesetzt werden. Die Verwendung und Verwendbarkeit dieser Begriffsbildung kann an zwei Beispielen kurz illustriert werden. Während der globalen Covid-19-Pandemie der letzten beiden Jahre und bei der Verteilung der im Westen entwickelten Impfstoffe wurde immer wieder auf neokoloniale Strukturen aufmerksam gemacht. Im Konflikt zwischen der Konzeption geistigen Eigentums, besonders hinsichtlich der Bedeutung von Eigentum als Grundprinzip liberaler Marktwirtschaft, und dem Menschenrecht auf Gesundheit offenbart sich der Neokolonialismus in seiner ganzen Breite. Die Behauptungen, das Wissen über Impfstoffe könne aufgrund von Eigentumsrechten und der innovativen »Kraft« liberalisierter Märkte nicht global geteilt werden und Länder ohne einen gewissen Industriestandard wären nicht in der Lage, Impfstoffe eigenständig zu produzieren und zu verteilen, sprechen hier eine deutliche Sprache (vgl. ECCHR 2020). Gerade im Kontext der Medizin ist ein kritisches Verständnis für die Rolle traditionellen Wissens und dessen Weiterentwicklung in den kolonialen »Laboren der Moderne« (Stoler und Cooper 1997) hoch aktuell. Es ist schwer, dieses hybride Wissen, das Ergebnis der gewaltvollen Verflechtung von Nord und Süd, als »westliches Eigentum« zu begreifen, welches nur in einem Akt der Güte geteilt werden »darf«.

Auch die Institution des Museums wird seit längerem stärker kolonialismuskritisch beleuchtet. Die Entscheidung, die Rückgabe kolonialer Raubkunst zu verzögern, gleicht einer Verweigerung, die ein neokoloniales Verhalten offenbart, das Bénédicte Savoy als »institutionelle Abwehr« bezeichnet (Savoy 2021, S. 195-199). Nicht zuletzt hinsichtlich der postkolonialen Herausforderung der Selbstbestimmung afrikanischer Kulturen und der Bedeutung von Kunstobjekten für Selbstbestimmung, offenbaren die Rechtfertigungen einer Verweigerung der Rückgabe ein neokoloniales Verhalten. Aus kriegerischen und kolonialen Kontexten geraubte Exponate sollten in den ethnologischen Museen Europas zu Forschungszwecken einerseits und andererseits zum Erhalt für zukünftige Generation verwahrt werden, so ein bekanntes Argument. Die Debatte über Restitution ist längst auch eine Kritik an neokoloniale Beziehungen, in deren Zentrum auch Frage nach einer neuen Ethik des globalen Austauschs steht. Diese zielt auch drauf ab, neokoloniale Fremdbestimmung zu vermeiden (vgl. zu dieser Frage auch Lwanzo in dieser Ausgabe, S. 46).

Zusammenfassung

Neokoloniale Konflikte können heute nicht mehr ausschließlich auf der Ebene demokratischer Wirtschaftsreformen zu Gunsten der Peripheriestaaten bearbeitet werden. Unter dem Begriff des Neokolonialismus werden Effekte und Phänomene adressiert, die in unterschiedlicher Ausprägung von post- sowie dekolonialen Theorieschulen seit geraumer Zeit behandelt werden. Diese Erkenntnisse machen es erforderlich, das Analysefeld asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse breiter zu interpretieren, um die gegenwärtigen Gewaltformen und ihre vielseitigen kolonialen und imperialistischen Ursprünge zu begreifen. Sie bilden die »andere Seite« einer von ökonomischen und ethischen Handlungsempfehlungen unserer von »Good Governance« geprägten, globalisierten Weltordnung. Die Gestaltung von Beziehung zwischen Gleichberechtigten steht vor immensen Herausforderungen, denen es in ihrer Komplexität zu begegnen gilt. Der Begriff des Neokolonialismus hat nicht nur das Potenzial, Schieflagen für die Bearbeitung offenzulegen, sondern kann auch die notwendige Irritation aufbringen, die zur Reflexion über herrschende Verhältnisse einlädt.

Anmerkung

1) Der Begriff der »neokolonialistischen Mystifikation« stammt von Jean-Paul Sartre, der 1956 davor warnte, sich auf den Trugschluss einzulassen, es gäbe innerhalb des kolonialen Systems Beziehungen, die nicht von Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnissen geprägt seien (Sartre 1988, S. 29). Der Modus kolonialer Unterdrückung bleibe erhalten, solange das koloniale System fortbesteht. Auch eine Verbesserung der politischen und sozialen Umstände kann für Sartre die Beziehungsgrundlage nicht maßgeblich verändern. Dieser Blick auf die Struktur des Kolonialismus macht eine Unterteilung in »gute« und »schlechte« Kolonisatoren unmöglich (Sartre 1988, S. 16).

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Nicki K. Weber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Er forscht zu Postkolonialer Theorie und Schwarzer Kritik. Sein Dissertationsprojekt behandelt politisch-philosophische Konzeptionen zwischen europäischem Existenzialismus und »Black existentialism«.