Legitimierung des Illegitimen

Legitimierung des Illegitimen

Ideologische Sprache und der Genozid an den Rohingya

von Maximilian Wegener

Dass ideologisch geprägte Sprache im Kontext systematischer Massengewalt eine wichtige Rolle spielt, erscheint wenig überraschend. Doch wie genau wird die Anwendung genozidaler Gewalt gegen bestimmte Gruppen diskursiv gerechtfertigt? Durch welche Strategien werden Gräueltaten bis hin zum Völkermord als notwendig, vertretbar und gar wünschenswert dargestellt? Ein Blick auf den Genozid an der Minderheit der Rohingya in Myanmar zeigt, dass politische und symbolische Eliten ideologische Sprache bemühen, um kollektive Gewalt zu rechtfertigen. Welche diskursiven Strategien der Gewaltlegitimierung sie dabei nutzen, soll im Fokus dieses Beitrages stehen.

Ideologien, also übergeordnete, gruppenspezifische und potenziell handlungsleitende Ideen und Weltbilder, können sowohl strukturell als auch instrumentell zur Verübung kollektiver Gewaltverbrechen beitragen. Ob Nationalsozialismus, Stalinismus, Maoismus, Khmer-Nationalismus in Kambodscha oder ethnonationalistische Konstrukte wie »Hutu Power« in Ruanda – eine theoretisch fundierte und analytisch weitsichtige Untersuchung der schlimmsten Menschheitsverbrechen darf ideologische Parameter nicht außer Acht lassen. Längst ist klar, dass Gräueltaten nicht nur auf ideologisch besessene Fanatiker*innen zurückgeführt werden können und Täter*innen keine homogene ideologische Masse bilden (Leader Maynard 2014). Ideologie ist vielmehr ein alltägliches und sozial omnipräsentes Ideensystem, das auf recht subtile Art und Weise beeinflusst, wie Menschen die Welt um sie herum betrachten, interpretieren und bewerten. Ideologische Dispositive prägen nicht nur Wertesysteme, politische Einstellungen und soziale Verhaltensmuster von Einzelpersonen; auf kollektiver Ebene strukturieren sie darüber hinaus maßgeblich die Beziehungen zwischen sozio-politischen Gruppen.

Ideologie lässt sich nur dann adäquat untersuchen, wenn ihre diskursiven Erscheinungs-, Verbreitungs- und Wirkformen berücksichtigt werden. Sprache kreiert, prägt, transportiert und verbreitet Ideologie ebenso wie sich Ideensysteme in Diskursen, Symbolen und Bildern manifestieren, sie beeinflussen und teilweise neu erfinden. In Kontexten kollektiver Gewaltanwendung verleiht ideologische Sprache den Gräueltaten einen ideellen Überbau in Form eines größeren Sinnzusammenhangs. Dabei geht es nicht zuletzt um die ideologisch hergeleitete und diskursiv gerahmte Legitimierung genozidaler Gewalt (aber auch anderer Formen kollektiver Gewalt, diese Feststellung ist nicht auf Genozide beschränkt). Ideologische Sprache porträtiert systematische Massengewalt in den Augen von Täter*innen und Unterstützer*innen oft nicht nur als notwendig und vertretbar, sondern kann sie gar als erstrebenswert und unausweichlich erscheinen lassen. Vereinfachende Narrative entlang der Gegenüberstellung »Wir gegen Die« erzeugen eine gruppenspezifische Abwertung der Anderen bei gleichzeitiger Aufwertung des Eigenen. Diese Gegenüberstellung von Ingroup und Outgroup bildet letztlich den Nährboden für hegemoniale Diskursfiguren, die strategisch darauf ausgerichtet sind, kollektive Gewaltverbrechen bis hin zum Völkermord zu rechtfertigen. Teilweise aufbauend auf einem von Jonathan Leader Maynard und Susan Benesch geprägten Modell zu »gefährlicher Sprache und gefährlicher Ideologie« (2016) lassen sich mehrere diskursiv-ideologische Mechanismen identifizieren, die die Anwendung von Massengewalt als legitim darzustellen helfen. Im Folgenden skizziere ich eine Auswahl dieser Legitimierungsstrategien am Beispiel des Völkermords an den Rohingya in Myanmar.

Genozid an den Rohingya

Der Vielvölkerstaat Myanmar wird politisch dominiert durch die Bamar als zahlenmäßig größte ethnische Gruppe sowie den Theravada-Buddhismus, der als offizielle Staatsreligion gilt. Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Instabilität, Repression, Polarisierung und bewaffneter Konflikte ist auf Basis dieser beiden Identitätsmarker ein ideologisches Umfeld entstanden, in dem Staatsangehörigkeit und nationale Zugehörigkeit keine formal-juristischen Kategorien mehr sind, sondern fast ausschließlich über ethno-religiöse Zuschreibungen definiert werden. Angetrieben durch das Militär, politische Parteien, radikale Prediger sowie andere Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und den Medien sind birmanischer Ethnonationalismus und buddhistischer Fundamentalismus längst zu einem brandgefährlichen ideologischen Gemisch geworden, das den öffentlichen Diskurs maßgeblich prägt und daher im Folgenden untersucht wird.

Dies hat insbesondere für die mehrheitlich muslimische Minderheit der Rohingya existenzielle Konsequenzen. Historische, religiöse, ethnische und linguistische Besonderheiten der rund 1,4 Mio. Rohingya werden bereits seit den 1960er Jahren instrumentalisiert, um die Gruppe als fremde und andersartige Eindringlinge aus Bangladesch (»Bengalis«) zu porträtieren. Die diskursive Festschreibung dichotomer und exkludierender Kategorien (»einheimisch« vs. »zugewandert«; »legal« vs. »illegal«) schuf die Voraussetzung für die systematische Diskriminierung, Verfolgung, Vertreibung und Gewalt gegen die Rohingya. Im August 2017 kulminierte diese Gewaltkampagne in einer groß angelegten Militäraktion im Norden des Bundesstaates Rakhine. Binnen weniger Wochen töteten nationale Streitkräfte, regionale Milizen sowie Teile der lokalen Bevölkerung mehr als 10.000 Rohingya, Tausende wurden vergewaltigt und gefoltert sowie hunderte Dörfer niedergebrannt und geplündert; bis zum März des darauffolgenden Jahres flohen fast 700.000 Rohingya über die Grenze ins benachbarte Bangladesch (Ware und Laoutides 2019, S. 60f.).

Legitimierungsstrategien

Wie wurden diese kollektiven Gewaltverbrechen möglich (gemacht)? Ein ausführlicher Blick auf den öffentlichen Diskurs der Jahre 2012-2019 zeigt, dass ideologische Sprache den zentralen Rechtfertigungsrahmen für die Verübung von gegen die Rohingya gerichteter Massengewalt bereitstellt. Die Primäranalyse von 150 eigens zusammengetragenen Diskursfragmenten (politische Reden, Parlamentsdebatten, Pressemitteilungen, Propagandamagazine, Medieninhalte, etc.) fördert neun Legitimierungsstrategien zu Tage, die den Diskurs dominieren und Gewalt gegen die Rohingya aus Sicht der birmanisch-buddhistischen Bevölkerungsmehrheit als notwendig und erstrebenswert darstellen. Während sechs dieser Mechanismen Gräueltaten sprachlich explizit fordern oder nahelegen (aktive Legitimierung), rechtfertigen die anderen drei Strategien die Gewaltverbrechen gerade durch das, was bewusst nicht zur Sprache kommt, einseitig dargestellt oder beschönigt wird (passive Legitimierung).

Aktive Legitimierung

Wie in den meisten Kontexten genozidaler Gewalt wird die strategische Gefahrenkonstruktion auch im Völkermord an den Rohingya genutzt, um Gräueltaten eine zwingende Notwendigkeit zuzuschreiben. Politisches Spitzenpersonal wie Aung San Suu Kyi oder Vorgängerpräsident Thein Sein konstruieren die Rohingya als existenzielle Bedrohung für nationale Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. Basierend auf historisch tief verwurzelten Narrativen werden die Rohingya nicht nur als gefährliche »Flutwelle« illegaler Eindringlinge aus Bangladesch und Indien stigmatisiert, sondern darüber hinaus als gewaltbereite jihadistische Terrorgruppe, die die Islamisierung Myanmars anstrebt. Falschmeldungen, Gerüchte und gezielte Desinformation über mutmaßliche Waffendepots, Terror-Camps oder auch Zwangskonvertierungen laufen in einer strategischen Umkehrung der Täter-Opfer-Konstellation zusammen: um von der eigenen Gewaltkampagne abzulenken, werfen staatliche Medien und Propagandamagazine der Opfergruppe vor, die birmanisch-buddhistische Bevölkerung unterjochen und ausmerzen zu wollen. Massengewalt gegen die Rohingya gilt damit als notwendiges Übel, Selbstverteidigung und gar Überlebenskampf in den Augen der Ingroup. Vereinzelte Angriffe bewaffneter Rohingya-Milizen greifen Eliten wie Militärführer Min Aung Hlaing dankbar auf, um die Rohingya insgesamt als extremistische Terrorgruppe zu verteufeln, die nur durch staatlich organisierte »Gegenmaßnahmen« aufgehalten werden könne.

Flankiert wird das Narrativ der »gefährlichen Rohingya« durch die Strategie der Entmenschlichung. Basierend auf der ideologischen Dichotomie zwischen buddhistischer Ingroup und muslimischer Outgroup porträtiert dehumanisierende Sprache die Rohingya als nichtmenschlich, untermenschlich und biologisch unterlegen gegenüber der birmanisch-buddhistischen Mehrheitsbevölkerung. Dominante Narrative wie »Blutsauger« und »verachtenswerte Flöhe«, »giftige Pflanzen«, »verrückt gewordene Hunde«, »bedrohliche Wölfe«, »blutrünstige Tiger« und »sich schnell vermehrende Karpfen« skizzieren die Rohingya als abscheuliche Parasiten, lästige Plagen, potenziell gefährliche Krankheitserreger und wilde, unzivilisierte Tiere. Prominente Sprecher*innen im Diskurs (sogenannte »epistemische Autoritäten«) wie der radikale buddhistische Prediger Ashin U Wirathu nutzen derartige Diskursfiguren, um exzessive Gewalt gegen die Rohingya als »Pestprävention«, »Reinigung« und »Parasitenbekämpfung« zu beschönigen. Durch diese Form der moralischen Distanz zwischen Täter*innen und Opfergruppe rechtfertigt dehumanisierende Sprache Massengewalt als angemessen und vertretbar.

Zur ideologisch-diskursiven Legitimierung kollektiver Gewalt gehört neben der Konstruktion zukünftiger Gefahren auch die strategische Schuldzuweisung für vermeintliche Delikte, Konflikte und Gewalt­episoden der Vergangenheit. In Myanmar findet sich diese Strategie insbesondere mit Blick auf zwei Zeitabschnitte wieder. Erstens existieren historisch gewachsene Vorwürfe, wonach muslimische Brüdervölker der Rohingya über die vergangenen vier Jahrhunderte weite, vormals buddhistische Teile Süd- und Südostasiens angegriffen und in muslimische Gesellschaften konvertiert hätten. Insbesondere epistemische Autoritäten wie der radikale Mönch Ashin Sada Ma oder Ashin Tawpaka, Sprecher der fundamentalbuddhistischen Organisation MaBaTha, werfen den Rohingya mithilfe pseudo-historischer Belege und manipulierter Quellen vor, Myanmar wie bereits Indonesien, Bangladesch, Pakistan und Malaysia »schlucken« und islamisieren zu wollen (Foxeus 2019, S. 678). Zweitens nutzen Eliten die jüngere Konfliktgeschichte zwischen den Rohingya und Bamar zur gezielten Aktualisierung kollektiver Traumata. Während die Rohingya im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der britischen Kolonialtruppen kämpften, kooperierten die Rakhine und Bamar mehrheitlich mit der japanischen Armee. Zahlreiche Massaker zwischen den Gruppen verstärkten unter der buddhistisch-birmanischen Mehrheit ein »anti-buddhistisches« und »anti-nationales« Bild von den Rohingya (Wolf 2017, S. 7). Die diskursive Instrumentalisierung psychokulturell aufgeladener Gewaltepisoden schafft letztlich eine Atmosphäre gerechter Bestrafung oder gar legitimer Rache – frei nach dem Motto »sie haben es verdient« (Leader Maynard und Benesch 2016, S. 81).

Aus diesem Vergangenheitsbild leitet sich viertens das Narrativ der Alternativ­losigkeit ab, mit dem die Massengewalt gegen die Rohingya als naturgemäß und unausweichlich dargestellt wird. Spirituelle Eliten wie U Parmoukkha werfen den »von Natur aus brutalen« Rohingya vor, die »Ausrottung« des Buddhismus anzustreben (Wade 2019, S. 256). Gräueltaten werden demnach nicht länger als Taten von Subjekten beschrieben, sondern als Produkt unvermeidlicher Rahmenbedingungen und äußerer Zwänge. Höchste politische Würdenträger*innen wie Aung San Suu Kyi relativieren die »Rohingya-Krise« mit dem Verweis auf das während der Diktatur entstandene Misstrauen und negieren damit die individuelle Verantwortung, Entscheidungs- und Handlungsmacht einzelner Täter*innen. Rhetorisch geht diese Strategie mit der vermehrten Verwendung des Passivs einher. Ob Suu Kyi Gewalt gegen die Rohingya als »durch unser Leiden begründet« rechtfertigt oder aber Militärchef Min Aung Hlaing anmerkt, dass die »Rohingya-Problematik« endlich final »gelöst werden« müsse – individuelle Schuld wird ebenso verschleiert wie die Tatsache, dass Genozid nie alternativlos ist.

Dieser Umgang mit Schuld ermöglicht wiederum das strategisch eingesetzte Narrativ der Tugendhaftigkeit, aus dem eine moralische Überlegenheit der In­group gegenüber der Outgroup abgeleitet wird. Während die Rohingya als »böse«, »moralisch verkommen«, »unzivilisiert«, »verräterisch« und »umstürzlerisch« beschrieben werden, rahmt der öffentliche Diskurs die birmanisch-buddhistische Mehrheit als »prinzipientreu«, »mutig« und »patriotisch«. Gewalt gegen die Rohingya gilt in der Folge als tugendhafter, moralisch richtiger und dementsprechend lobenswerter Akt ziviler Wachsamkeit. Fundamentalistische Prediger wie U Wirathu bekunden öffentlich, stolz darauf zu sein, radikaler Buddhist und Nationalist genannt zu werden. Gräueltaten gegen die Rohingya werden verknüpft mit positiv konnotierten Begriffen wie »Liebe zur Heimat«, »religiöser Stolz« und »nationale Sicherheit«. Während Täter*innen als selbstlose, pflichtbewusste, tapfere und heroische Bürger*innen gelten, werden moderatere Stimmen und Unterstützer*innen der Opfer als moralisch schwach, pervers und verräterisch bezeichnet. Vertreter*innen der politischen Elite konstruieren in diesem Kontext immer wieder das Bild von Buddha als »bekennendem Nationalisten« (Foxeus 2019), um nicht-buddhistische Gruppen wie die Rohingya als Schande für die Nation zu brandmarken.

Die sechste aktive Legitimierungsform impliziert ein ideologisch hergeleitetes Belohnungsversprechen. Politische Hardliner und Militärs bemühen das Kosten-Nutzen-Prinzip, um gegenwärtige Gewalt gegen die Rohingya als sich lohnenden Einsatz für zukünftige Prosperität und ethno-religiöse Homogenität zu porträtieren. So fordert mit Aye Maung einer der einflussreichsten Politiker im Bundesstaat Rakhine, die Rohingya zum Wohlergehen des Landes in Drittstaaten zu vertreiben. Radikale Sprecher*innen wie U Wirathu stilisieren den »Kampf« gegen die Rohingya als Schicksalsaufgabe des birmanischen Volkes, mit der nicht nur die nationale Existenz, sondern auch das konkrete Überleben von Kindern und Kindeskindern verknüpft sei. Dafür wird ethnische Pluralität und religiöse Offenheit als Antithese zur von vermeintlicher Souveränität und Stabilität geprägten birmanisch-buddhistischen Utopie konstruiert (Wade 2019, S. 235). Die Gleichzeitigkeit von existenzieller Bedrohungskulisse und utopischem Zukunftsversprechen verstärkt insbesondere bei der Gruppe der Bamar die Antipathien und Gewaltbereitschaft gegenüber den Rohingya (Lall 2018).

Passive Legitimierung

Im Kontrast zu den sechs aktiven Legitimierungsmechanismen wirkt die diskursiv-ideologische Strategie der Nichtbeachtung deutlich subtiler und stiller. Sprecher*innen mit großer medialer Reichweite und Wirkung auf den politischen Diskurs rufen oftmals nicht explizit zu Gräueltaten auf, sondern streiten gezielt etwaige Vorwürfe ab, antworten ausweichend, vermeiden kritische Nachfragen und blenden das Schicksal von Opfergruppen rhetorisch aus. In Myanmar wählte insbesondere Aung San Suu Kyi diese Strategie, als sie als de facto-Regierungschefin mehrfach die Existenz einer Gruppe namens Rohingya abstritt und stattdessen von »Muslimen«, »Bengalis« und »irregulären Migrant*innen« sprach. Die systematische Leugnung der jahrhundertelangen Geschichte der Rohingya als eigenständigem Volk konstruiert diese einerseits als unehrlich und spricht ihnen andererseits ab, als kohärente Gruppe von Gewaltverbrechen betroffen zu sein. Zudem haben Suu Kyi und andere politische Eliten betont, dass Gewalt »von beiden Seiten« ausgehe und man deshalb nicht klar Partei ergreifen könne. Im Kontext massiver ideologischer Polarisierung kommt diese diskursive Nicht-Intervention einer ohrenbetäubenden Stille gleich, die die Rohingya faktisch unsichtbar werden lässt und ein Klima der Straflosigkeit für radikalere Stimmen erzeugt.

Dieses Klima ist geprägt durch die strategische Delegitimierung von Opferaussagen bei gleichzeitiger Legitimierung des Verhaltens der Ingroup. Im Zuge selektiver Klassifizierung ignorieren, diskreditieren und verhöhnen Sprecher*innen die vielen Berichte und Zeugenaussagen zu Gräueltaten, während Täter*innen in Schutz genommen und gegen Kritik, Anklage und Strafverfolgung verteidigt werden. Auch hier sind es insbesondere politische Eliten wie Suu Kyi, die auf Völkermord-Anschuldigungen mit Spott und lautem Lachen reagieren oder aber die Aussagen mutmaßlich vergewaltigter Rohingya-Frauen als Falschmeldung zurückweisen (Wade 2019, S. 20). Gleichzeitig wird das kryptische Narrativ von »globaler muslimischer Macht« etabliert, um die Rohingya mit Terrorgruppen wie Al-Qaida und dem IS in Verbindung zu bringen. Während staatlich eingesetzte Kommissionen das eigene Militär vom Vorwurf des Völkermords freisprechen, behaupten der Armeechef, radikale Prediger sowie an der Gewalt beteiligte Milizen, die Rohingya hätten ihre eigenen Häuser aus Propagandazwecken in Brand gesteckt.

Sowohl die genannten aktiven als auch passiven Legitimierungsstrategien kulminieren in einer diskursiven Harmonisierung, die den ideologischen Gesamtdis­kurs stringenter und mächtiger werden lässt. Da die einzelnen Narrative der Ge­waltrechtfertigung erst durch ihre enge thematische, rhetorische und personelle Verknüpfung einflussreich werden, bedienen birmanisch-buddhistische Sprecher*innen aus Politik, Militär, Religion und Medien nicht nur wiederkehrende Sprachbilder und Diskursfiguren; sie gehen dabei auch gezielt aufeinander ein. Diese stilistische Synchronisierung verleiht dem Rechtfertigungsdiskurs aus Sicht der Ingroup letztlich mehr Kohärenz, Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Staatlich kontrollierte Zeitungen wie die »Global New Light of Myanmar« fingen beispielsweise kurz vor der Eskalation der Gewalthandlungen im August 2017 an, die offizielle Linie der Staats- und Militärführung zu übernehmen und die Rohingya als lokale Zelle transnational vernetzter Terrorgruppen darzustellen. Diese diskursive Angleichung führte unweigerlich dazu, dass Gewaltaufrufe gegen die Rohingya semantisch in den in Myanmar konsensfähigen »Globalen Kampf gegen den Terror« eingebettet und gesellschaftlich salonfähig wurden.

Fazit und Implikationen

Der Völkermord an den Rohingya lässt sich nicht adäquat untersuchen, ohne die diskursiv-ideologischen Mechanismen der Gewaltlegitimierung in den Blick zu nehmen. Die neun skizzierten Strategien ideologischer Sprache konstruieren die Rohingya als gefährlich, minderwertig, schuldig, kriminell, fremd, unzivilisiert und subversiv – und damit als fundamentalen und unversöhnlichen Antipol zur birmanisch-buddhistischen Mehrheitsbevölkerung Myanmars. Die diskursive Rahmung von Täter*innen- und Opfergruppen entlang ideologischer Bruchlinien spiegelt sich vor allem in der selektiven Anwendung, Reinterpretation und Instrumentalisierung fundamentaler Konzepte wie Inklusivität, Demokratie, Staatsbürgerschaft und Menschenrechte wider. Der radikale Kurs ideologischer Hardliner wird damit nicht nur ungefiltert in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs übernommen, sondern explizit verteidigt, beworben und als legitimer »Kampf« gerechtfertigt. Genozidale Gewalt gegen die Rohingya gilt in der Folge in weiten Teilen der Ingroup als vertretbar, notwendig, wünschenswert und sogar unausweichlich.

Die Analyse impliziert zwei zentrale Folgen für zukünftige Forschung zur Rolle ideologischer Sprache im Kontext von Massengewalt.

Erstens zeigt der Fall Myanmar, dass nicht nur wichtig ist, worüber gesprochen wird, sondern wer spricht. Vor dem Hintergrund des großen Einflusses mächtiger Sprecher*innen auf die Mehrheitsgesellschaft ist die Untersuchung ideologischer Sprache in erster Linie eine Analyse von Elitendiskursen. Dass einflussreiche Eliten aus Politik, Militär und Religion eine gewisse Deutungshoheit in ideologisch polarisierten Gesellschaften innehaben, erscheint wenig überraschend. Dennoch ist ideologische Sprache keineswegs streng von oben nach unten strukturiert. Von epistemischen Autoritäten geprägte Diskursfiguren entfalten nur dann ihre Wirkung, wenn sie bestehende ideologische Strukturen und Präferenzen auf Graswurzelebene aufgreifen und instrumentalisieren. Wie genau sie das tun und ob es gruppenspezifische Unterschiede in der Rezeption ideologischer Sprache gibt, sind wichtige offene Fragen für zukünftige Forschung.

Zweitens muss die Gewalt- und Genozidforschung das Verhältnis zwischen ideologischer Legitimierung auf der Makro- und individueller Mobilisierung auf der Mikroebene stärker beleuchten. Zwar lässt sich durch Diskursanalysen zeigen, wie ideologisch gerahmte Rechtfertigungsnarrative die Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren in Richtung genozidaler Gewalt verschieben. Allerdings klafft nach wie vor eine große Forschungslücke bei der Frage, wie sich diese übergeordneten Diskursfiguren im Detail auf die individuelle Motivation von Täter*innen auswirken (vgl. für einen ersten Ansatz: Williams 2022). Eine Integration von diskursanalytischen und interviewgestützten Ansätzen erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll, um neben der Mobilisierungskraft gewaltlegitimierender Diskursfragmente auch die Struktur und Wirkung gewalthemmender Sprache zu beleuchten.

Literatur

Foxeus, N. (2019): The Buddha was a devoted nationalist: Buddhist nationalism, ressentiment, and defending Buddhism in Myanmar. In: Religion 49(4), S. 661-690.

Lall, M. (2018): Myanmar’s youth and the question of citizenship. In: South, A.; Lall, M. (Hrsg.): Citizenship in Myanmar: ways of being in and from Burma. Singapur: ISEAS, S. 145-160.

Leader Maynard, J. (2014): Rethinking the role of ideology in mass atrocities. In: Terrorism and Political Violence 26(5), S. 821-841.

Leader Maynard, J.; Benesch, S. (2016): Dangerous speech and dangerous ideology: an integrated model for monitoring and prevention. In: Genocide Studies and Prevention: An International Journal 9(3), S. 70-95.

Wade, F. (2019): Myanmar’s enemy within: Buddhist violence and the making of a Muslim ‘Other’. Croydon: ZED Books.

Ware, A.; Laoutides, C. (2019): Myanmar’s ‘Rohingya’ conflict: misconceptions and complexity. In: Asian Affairs 50(1), S. 60-79.

Wolf, S. (2017): Genocide, exodus and exploitation for Jihad. The urgent need to address the Rohingya crisis. Heidelberg: SADF Working Paper (6).

Williams, Th. (2022): Warum töten sie? Motivationen von Täter*innen im Völkermord. W&F 1/2022, S. 11-13.

Maximilian Wegener ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Sicherheitspolitik der Zeppelin Universität Friedrichshafen. In seiner Forschung beschäftigt er sich primär mit der Frage, wie Völkermord möglich (gemacht) wird. Dieser Artikel baut auf seiner Masterarbeit auf, die mit dem Christiane-­Rajewsky-Preis 2022 ausgezeichnet wurde.

Zukunftsorientierte Wissenschaft statt Geopolitik

Zukunftsorientierte Wissenschaft statt Geopolitik

Friedenslogische Perspektiven zum Ukrainekrieg

von Jürgen Scheffran

Dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, ist unbestreitbar. Fraglich ist, wie dem zu begegnen ist. Geopolitik scheint das Mittel der Stunde zu sein, eine friedenslogische Antwort dagegen wird weitgehend ausgeblendet. Doch geopolitische Strategien fördern Rivalitäten und gefährden die Zukunft des Planeten. Es bedarf daher einer zukunftsorientierten Friedenswissenschaft – mehr denn je.

Am 16. Oktober 1914, nach der deutschen Kriegserklärung an Russland und Frankreich, unterstützte fast die gesamte Dozentenschaft deutscher Universitäten und Technischer Hochschulen den Krieg. Sie folgten dem sogenannten Manifest der 93 »An die Kulturwelt!«, das den Verteidigungskampf rechtfertigte: „Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. […] Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden“.

Die damalige Stimmung reichte vom Erschauern gegenüber der übermächtigen Bedrohung bis zur Begeisterung über die endlich erreichte nationale Einheit. Gab es zunächst massive Proteste und Antikriegsdemonstrationen, vollzog die SPD-Führung mit Kriegsbeginn eine Kehrtwende und stimmte in einem »Burgfrieden« mit den Kaisertreuen im Reichstag Kriegskrediten zu.

Einsam gegen den Krieg

Doch nicht alle beugten sich den Kriegsbestrebungen. Albert Einstein war von der patriotischen Stimmung fast aller Wissenschaftlerkollegen erschreckt, fühlte sich als Intellektueller und Pazifist einsam. Zusammen mit zwei weiteren Kollegen unterschrieb er im Sommer 1914 den von Georg Friedrich Nicolai verfassten »Aufruf an die Europäer«, der mangels weiterer Unterstützung nicht veröffentlicht wurde. Weitsichtig heißt es da: „Der Kampf, der heute tobt, wird wahrscheinlich keinen Sieger hervorbringen; es wird wohl nur die Besiegten lassen.“ Sie erwarteten, dass „alle europäischen Beziehungsbedingungen in einen instabilen […] Zustand gerieten“. Dass die Verfasser richtig lagen, zeigte sich bald. Der Kriegsalltag machte vielen zu schaffen, Massenarbeitslosigkeit, Lebensmittelpreise stiegen und Armut nahm zu. Wissenschaftler starben an der Front oder brachten ihr Fachwissen in den Krieg ein.

So wie das katastrophale Ende des Ersten Weltkriegs absehbar war, so war es auch der Weg dahin. Einige Wissenschaftler*innen und Intellektuelle, die die sozio-ökonomischen, industriellen und militärlogischen Zeitläufte beobachteten, ahnten die großen Systemkonfrontationen vorher. So beschrieb beispielsweise der mit Bertha von Suttner befreundete polnisch-russische Industrielle Ivan (Jan) von Bloch in seinem sechsbändigen Werk von 1898 den kommenden großen Krieg (Scheffran 2014). Dafür wurde er für den ersten Friedensnobelpreis 1901 nominiert, kurz bevor er starb. Auch das Beispiel des britischen Meteorologen Lewis Frye Richardson zeigt die Relevanz nüchterner Wissenschaft. Richardson untersuchte nach dem Ersten Weltkrieg mit einem Modell, wie die Rüstungsdynamik sich aufgeschaukelt hatte, was ihn später zu Warnungen vor dem Zweiten Weltkrieg veranlasste (Scheffran 2020).

Die Gegenwart der Vergangenheit

Knapp hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sieht sich eine deutsche Regierung wieder in einen Krieg verwickelt, in dem mit Waffengewalt Grenzen verschoben werden sollen. Ein deutscher Kanzler der SPD fordert eine Zeitenwende und mobilisiert Kriegskredite für Aufrüstung und Waffenlieferungen in einen heißen Krieg, der nicht verloren werden dürfe. Die öffentliche Stimmung schwankt zwischen Erschauern über die Bedrohung und Begeisterung über eine bis dahin nicht erreichte Einheit Europas. Geopolitische Erwägungen beherrschen die öffentliche Debatte, für abweichende Meinungen bleibt wenig Raum. Die Wirtschaft droht in eine tiefe Krise zu kippen, die Bevölkerungen aller Kriegsparteien müssen für den Krieg zahlen, leiden unter Sanktionen und hohen Lebensmittelpreisen. Der Kampf hinterlässt nur Besiegte.

Angesichts solcher Assoziationen lässt sich einwenden, dass die historische Situation heute völlig anders sei als vor hundert Jahren und Ähnlichkeiten durch allgemeine Kriegslogiken erklärbar sind. Deutschland habe aus den verlorenen Weltkriegen und dem gewonnenen Kalten Krieg gelernt, sei ziviler geworden, führe nicht selbst Krieg, sondern stehe der angegriffenen Seite bei, legitimiert durch ein demokratisch gewähltes Parlament. Heute gehe es nicht mehr um »Vaterländer«, sondern um eine feministische Außenpolitik.

Allerdings darf die Frage gestellt werden, ob nicht die Wahl der Mittel all dies aufs Spiel setzt. Indem Russland und die Ukraine militärische Mittel einsetzen, der Westen härteste Sanktionen und schwere Waffen bereitstellt, eskalieren alle Parteien den Konflikt und verlängern ihn mit wachsenden Schäden. Sie untergraben Lehren der Geschichte, beleben geopolitische Machtkämpfe mit kalten und heißen Kriegen, legen den Grundstein für neue Gewaltkonflikte, verbrauchen enorme Ressourcen, verbauen Verhandlungslösungen, marginalisieren Zivilgesellschaft, Friedenskräfte und Andersdenkende. Verdrängt wird die Frage, wie es dazu kam, wie gegenseitige Missachtungen und Bedrohungen dazu beigetragen haben.

Zurück in die Zukunft

Neben der Vergangenheit wird auch die Zukunft ausgeblendet, über die angeblich nichts gesagt werden kann. Wie schon bei den Weltkriegen, wurden die Gefahren der heutigen Weltlage zuvor beschrieben – auch vom Verfasser dieses Beitrags, zusammenfassend in einem Artikel vier Monate vor Kriegsbeginn (Scheffran 2021). Darin wird unter anderem aufgezeigt, dass nach Putins Amtsbeginn vor einem neuen Kalten Krieg gewarnt wurde (2000), der Irakkrieg und andere Kriege des Westens den Weg dafür bereiteten (2003), komplexe Krisen und Konflikte die internationale Sicherheit gefährdeten (2008), eine instabile Weltlage wie beim Ersten Weltkrieg möglich sei (2009), Verbindungen zwischen Klimawandel, Flucht und Konflikten entstehen (2012) oder sich multiple Krisen in der globalisierten Welt entwickelten (2016). Die Schlussfolgerung: „Die Lage erinnert an die Umbrüche vor hundert Jahren, mit Erstem Weltkrieg, Spanischer Grippe, Weltwirtschaftskrise und Faschismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte“ (Scheffran 2021, S. 218).

Aussagen über die Zukunft werden in der Politik oft als Besserwisserei abgetan, gegenüber der »unsicheren« Präventionswissenschaft wird der Vorzug der »sicheren« Katastrophenwissenschaft gegeben, die erst an die Front gerufen wird, wenn es schon brennt. Um auch wissenschaftlich zulässig in die Zukunft zu schauen, braucht es aber keine Weissagungen, es reicht, Entwicklungsrichtungen, Pfadabhängigkeiten oder rote Linien zu erkennen, deren Zusammenwirken kritische Grenzen überschreitet. Diese Betrachtungen sind auch insofern nicht deterministisch, als die betrachteten Systeme von Menschen gemacht und gelenkt werden und mit politischen Entscheidungen verändert werden können. Dies setzt voraus, dass die Wahrheit öffentlich ausgesprochen werden kann. Im »freien Westen« sollte dies selbstverständlich sein, ohne persönlich diskreditiert zu werden, selbst wenn es um Kategorien von »Gut« und »Böse« geht. Mit dem Wiederaufleben von Geopolitik in Politik und Medien allerdings gerät die unabhängige Friedenswissenschaft unter Druck.

Wiederkehr der Geopolitik

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Theorie der »Geopolitik« im Gefolge der von Europa ausgehenden kolonialistischen Tradition der Geographie, die sich für Machtpolitik instrumentalisieren ließ.1 War die Geopolitik in Deutschland durch ihre personelle und ideelle Verflechtung mit dem Nationalsozialismus lange diskreditiert, erlangte sie nach der deutschen Wiedervereinigung wieder an Bedeutung. Mit dem Ukrainekrieg nimmt der Einfluss geopolitischer Think Tanks zu. Erkennbar sind geopolitische Argumentationen aufseiten der neuen alten Systemkonkurrenten. Putins neo-imperiale Bestrebungen knüpfen an die koloniale Expansion Russlands (Beispiel Krimkrieg 1853-1856) und die darauf basierende Gründung der Sowjetunion an. Umgekehrt weckte die eurasische Landmasse Begehrlichkeiten im Westen, von Napoleons Eroberung Moskaus bis zur Geopolitik der USA im Kalten Krieg und danach. Immer noch und wieder wird heute als zentrale Argumentation das Buch des früheren Nationalen Sicherheitsberaters der USA Zbigniew Brzezinski »Grand Chessboard« (1997) herangezogen. Darin formulierte er das Ziel der US-Geostrategie, dass es keinen Herausforderer geben dürfe, der die eurasische Landmasse kontrolliert und die US-Dominanz herausfordert.

Diese Ziele lassen sich wiederum von Putin nutzen, um Bedrohungen russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen anzuprangern. Nachdem er zunächst um Anerkennung Russlands im Westen warb, und sich auf Partnerschaft und Handel einließ, zerstörte die fortwährende Verschlechterung der Beziehungen alle Hoffnungen. Die rund 16fache militärische Überlegenheit der NATO, die NATO- und EU-Osterweiterungen, westliche Militärinterventionen in Kosovo, Irak und Afghanistan, der Aufbau einer europäischen Raketenabwehr und die Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen motivierten russische Droh- und Gewaltaktionen im postsowjetischen Raum.

Dies betrifft auch den Krieg gegen die Ukraine und seine Vorgeschichte. Als Russlands militärische Drohkulisse an der Grenze zur Ukraine Anfang 2022 nicht zu Verhandlungen führte, begann Putin den Angriff auf die Ukraine. Unterstützung für die Separatisten, Territorialgewinne in der Ukraine und »Bestrafung« für ihre Westorientierung sind mögliche Motive für die Invasion, die zugleich als Hebel dient, die westliche Ohnmacht vor der Welt aufzeigen. Dafür ist er bereit, einen hohen Preis zu zahlen, der ihn von seinem waghalsigen Vorhaben ebenso wenig abgehalten hat wie die westliche Übermacht. Mit Kriegsbeginn wurden solch rationalisierende Erklärungen russischen Verhaltens in die Ecke der »Putinversteher« gedrängt, während sich Putinologen übertrumpften mit Spekulationen, wer Putin am besten versteht. Sie schwankten zwischen dem strategischen Genie, dem irrationalen Dämon und dem skrupellosen Diktator – Erklärungen, deren wissenschaftliche Grundlagen fragwürdig sind.

Wenn Europa und Russland sich gegenseitig schwächen und die europäische Friedensordnung darnieder liegt, muss dies nicht den Interessen der USA widersprechen, im Gegenteil. Kurzfristig stärkt es die bedingungslose Einheit des Westens und der NATO unter amerikanischer Führung, zementiert die Trennung Russlands von Deutschland und Europa, erlaubt Gewinne durch Frackinggas, die Mobilisierung der Rüstungsmaschinerie, provoziert den ideologischen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie wie im Kalten Krieg und eröffnet innenpolitische Vorteile bei kommenden Wahlen. Auch wenn manche den Schlüssel zur Bewältigung des Ukrainekriegs in Washington sehen, bleibt unerfindlich, ob und wann dieser Schlüssel genutzt wird.

Schließlich können dieser Krieg und seine Folgen auch als Vorbereitung und Testfall für die Auseinandersetzung mit China gesehen werden, dem derzeit eigentlichen Herausforderer und Gegenpol der US-Hegemonie. So könnte der Konflikt mit Russland die Bedingungen für den kommenden Krieg mit China fördern (Mobilisierungsbereitschaft der NATO-Mitglieder, Führungsanspruch der USA, militarisierte Rhetorik und Antwort auf Entwicklungen in China).

Blockkonfrontation und Globaler Süden

Mit dem Ukrainekrieg spielt der Globale Süden zunehmend eine Rolle als geopolitischer Akteur. Die UNO-Generalversammlung verabschiedete zwar am 2. März 2022 eine Resolution gegen den russischen Angriffskrieg mit einer Mehrheit von 141 Staaten, doch die 35 Enthaltungen (darunter China und Indien) und fünf Gegenstimmen (Russland, Belarus, Nordkorea, Syrien, Eritrea) zeigten signifikante Differenzen. Einige Staaten äußerten Verständnis für die russische Position, unterstützten nicht die westliche Koalition und sind bereit, sich einer Gegenkoalition der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) anzuschließen. Sie sehen Chancen, in einer Blockkonfrontation ihre Interessen einzubringen – wie schon im Kalten Krieg.

Aufgrund kolonialer Erfahrungen wird ein »Globaler Westen« kritisch gesehen, ihm wird Eurozentrismus, Doppelmoral und Ungerechtigkeit bei der Durchsetzung seiner Interessen vorgeworfen, bei Bedarf auch mit Gewalt und gegen die Regeln. So erscheint der Westen als »Bösewicht« (von Weizsäcker 2022), der anderen sein wertebasiertes Modell der liberalen Demokratie aufdrängen will, für das er selbst Jahrhunderte gebraucht hat, teils auf Kosten der Kolonien. Die von Brzezinski (1997) und anderen anvisierten geostrategischen Schachspiele berühren nicht nur die Interessen Russlands und Chinas, sondern auch Zentralasiens, Indiens, Irans, Pakistans und Afghanistans, die sich nicht den westlichen Demokratien zurechnen.

Gelingt Putin eine neue Spaltung der Welt (»The West and the rest«), wäre das für ihn ein Erfolg, der über den Ukrainekrieg und sein Regime hinaus reicht. War der Westen zunächst berauscht von der neuen Einigkeit, scheint die Erkenntnis über die Zerrissenheit der Welt seit dem G7-Gipfel im Juni 2022 auch bei den Führungsnationen einer westlich orientierten Weltordnung angekommen zu sein, zumal der parallel laufende BRICS-Gegengipfel nicht zufällig kam. Nun muss die westliche Weltordnung zeigen, was sie gegenüber Mitkonkurrenten bieten kann. Wenn Waffen und Sanktionen den Westen und die Welt destabilisieren und Gesellschaften polarisieren, können sie kontraproduktiv werden. Die entsprechenden populistischen Bewegungen warten nicht nur in westlichen Demokratien auf ihre Chance, diese Schwäche zu ihren Gunsten zu nutzen.

Aufrüstung ist keine Zeitenwende

Seit Jahren steigen die Rüstungsausgaben weltweit. Die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene »Zeitenwende« forciert diese Aufrüstung, um die bestehende Weltordnung gewaltsam aufrechtzuerhalten. Dies ist jedoch keine Zeitenwende – es ist ein Weg zurück, zumal dieser schon vor 2022 vorbereitet wurde (vgl. etwa Bunde et al. 2020).

Eher zu einer wahren Zeitenwende geeignet sind drei Megatrends: die sozial-ökologische Transformation, der Einfluss des Globalen Südens und die Rolle von sozialen Medien und der Zivilgesellschaft (Scheffran 2021, S. 222): „Die genannten Trends haben das Potential zur Zeitenwende, wie nach der Französischen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder mit dem Ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“

Für eine solche Zeitenwende brauchen wir eine resiliente Energieversorgung und nachhaltigen Klimaschutz innerhalb planetarer Grenzen, die auch der Friedenssicherung dienen und Wege in eine lebensfähige und lebenswerte Welt (»viable world«) im gemeinsamen Haus der Erde aufzeigen. Die Koexistenz und Kohabi­tation verschiedener Weltordnungen zur Bewältigung dieser Probleme ist erfolgversprechender als weitere geopolitische Machtkämpfe, die nicht nur den Westen aufs Spiel setzen, sondern auch den Planeten. Friedenswissenschaft muss sich daher für eine friedenslogische Transformation einsetzen – auch und gerade in Zeiten dominanter Geopolitik.

Anmerkung

1) Zur Historie und Tradition geopolitischer Welt(erklärungs)bilder und Kriegslogiken siehe W&F 1/2013 »Geopolitik«.

Literatur

Brzezinski, Z. (1997): The grand chessboard. American primacy and its geostrategic imperatives. New York: Basic Books.

Bunde, T. et al. (2020): Zeitenwende / Turning Times. Special Report, Munich Security Conference.

Scheffran, J. (2014): Der unmögliche Krieg: Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs. W&F 2/2014, S. 38-42.

Scheffran, J. (2020): Weather, war and chaos. In: Gleditsch, N. P. (Hrsg.): Lewis Fry Richardson: His Intellectual Legacy and Influence in the Social Sciences. Cham: Springer, S. 87-99.

Scheffran, J. (2021): Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“. Die Friedens-Warte 3-4, S. 205-236.

Von Weizsäcker, E. (2022): Der Westen als Bösewicht. Gastbeitrag, Blog der Republik, 14.4.2022.

Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Rückblick als Vorausblick?

Rückblick als Vorausblick?

Eine Eventdatenanalyse des ersten Kriegsjahres in der Ukraine

von Jan Niklas Rolf

Rückblick: Am 17. Juli 2014 wurde ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines mit 298 Insassen über der Ostukraine abgeschossen, was den seit Monaten tobenden Krieg in der Ukraine nochmals auf eine neue Eskalationsstufe hob. Doch wer war für den Abschuss verantwortlich und war eine solche Eskalation vorhersehbar? Anhand einer quantitativen Analyse der Ereignisse des Jahres 2014 versucht dieser Beitrag Antworten auf diese Fragen zu liefern. Der Aufforderung von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran (2022) im vorherigen Heft folgend, „Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen“, soll untersucht werden, ob die Ereignisse Rückschlüsse über die mögliche Wahl von unkonventionellen Mitteln durch Russland in der Ukraine zulassen.

Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine mahnte Wladimir Putin in seiner Fernsehansprache: „Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen haben, wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben“ (zit. in Gillmann 2022). Auf diese Drohung folgte wenige Tage später die Versetzung der russischen Abschreckungswaffen – darunter der strategischen Atomwaffen – in besondere Alarmbereitschaft. Diese doppelte Drohgebärde schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen, argumentierten führende Politiker*innen im Westen doch fortan, dass eine aktive Unterstützung der Ukraine – etwa in Form der Entsendung von Soldat*innen oder der Errichtung einer Flugverbotszone – unmöglich sei, da sie nahezu unweigerlich in einem Atomkrieg münde.1

In Anbetracht der territorialen (aber auch personellen und materiellen) Verluste Russlands im Verlauf der ersten Kriegsmonate im Jahr 2022 warnten Expert*innen zudem vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen, mit denen Russland einen Sieg doch noch erzwingen könne. „Angesichts der Rückschläge, die sie [Präsident Putin und die russische Führung] bisher militärisch hinnehmen mussten,“ so CIA-Direktor William Burns am 14. April 2022, „kann niemand von uns die Bedrohung durch einen möglichen Rückgriff auf taktische Nuklearwaffen oder Nuklearwaffen mit geringer Reichweite auf die leichte Schulter nehmen“ (zit. nach Strobel 2022).

Tatsächlich geht die von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky (1979) entwickelte Erwartungstheorie (englisch: »Prospect Theory«) davon aus, dass Individuen im Angesicht von Verlusten größere Risiken einzugehen bereit sind als im Angesicht von Gewinnen: Befinden wir uns in einer vorteilhaften Position, agieren wir eher vorsichtig, um unsere Gewinne zu sichern. Befinden wir uns dagegen in einer nachteiligen Position, neigen wir zu riskantem Verhalten, um unsere Verluste umzukehren. Lässt sich mit dieser auf Laborexperimenten beruhenden Theorie auch das Verhalten Russlands im aktuellen Ukraine-Krieg vorhersagen?2 Wie so oft kann auch diesmal ein Blick in die Vergangenheit helfen, erwartbare Ereignisse einzuordnen.

Der Krieg in der Ukraine begann nicht etwa mit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022, sondern bereits im Frühjahr 2014, als auf der Krim und insbesondere im Osten der Ukraine heftige Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und von Moskau unterstützten pro-russischen Separatisten ausbrachen. Im Gegensatz zu Russland verfügen die pro-russischen Separatisten zwar über keine atomar bestückten Raketen, wohl aber über von Russland zur Verfügung gestellte mobile Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen. Wie die nachfolgende Eventdatenanalyse offenbart, kamen diese Raketen just in dem Moment zum Einsatz, in dem die Separatisten massiv zurückgedrängt wurden. Zwar ist der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 im Sommer 2014 – bei aller Tragik – nicht mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen zu vergleichen, er zeigt jedoch, dass Akteure, die sich in der Defensive befinden, bereit sind, zu – für ihre Verhältnisse – unkonventionellen Mitteln zu greifen.

Unkonventionelle Mittel

Die hier angestellte Eventdatenanalyse stützt sich auf die mehr als 2.000 Ereignisse, die die täglich aktualisierte, aber inzwischen eingestellte »Ukraine Crisis Timeline« der unabhängigen US-amerikanischen Denkfabrik »Center for Strategic and International Studies« für den Zeitraum von November 2013 bis Februar 2017 ausweist. Ereignisse sind verbale oder physische Signale, denen ein Sender und Empfänger zugeordnet werden kann. Die insgesamt 357 von Januar bis Dezember 2014 zwischen der ukrainischen Regierung und den pro-russischen Separatisten ausgetauschten feindlichen Signale wurden für die hier angestellte Analyse herausgefiltert, gemäß Edward Azar und Thomas Sloan (1975) einer von sieben Ereigniskategorien zugeordnet und – da es sich bei einer »Kriegshandlung« um ein weitaus feindlicheres Signal als beispielsweise einer »Unmutsbekundung« handelt – mit den entsprechenden, von einem Expert*innenpanel vorgeschlagenen Faktoren multipliziert (siehe Tabelle 1).

Ereigniskategorie

Faktor

Umfangreiche Kriegshandlung

102

Begrenzte Kriegshandlung

65

Militärische Aktion geringen Ausmaßes

50

Politisch-militärische feindliche Handlung

44

Diplomatisch-wirtschaftliche feindliche Handlung

29

Starke verbale Unmutsbekundung

16

Leichte verbale Unmutsbekundung

6

Tabelle 1: Kodierungsschema nach Azar und Sloan (1975)

Grafik Abbildung 1

Abbildung 1: Intensität der 2014 von ukrainischer Regierung und pro-russischen Separatisten ausgesandten feindlichen Signale

Aggregiert in monatliche Einheiten, ergibt sich das Kurvendiagramm in Abbildung 1. In den ersten sechs Monaten sind die beiden Kurven nahezu deckungsgleich, was davon zeugt, dass die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten ihre feindlichen Signale symmetrisch (de-)eskalierten. Dieses »tit-for-tat«-Muster ist typisch für Gewaltkonflikte, in denen auf eine feindliche Aktion stets eine gleichwertige Reaktion erfolgt (siehe beispielsweise Azar 1972; Fielding und Shortland 2010; Linke, Witmer und O’Loughlin 2012).

Nach einer ersten Deeskalationsphase im sechsten Monat steigen die beiden Kurven im siebten Monat wieder an. Doch während die Kurve der ukrainischen Regierung auf einen Wert von 1249 steigt, nimmt die Kurve der pro-russischen Separatisten nur einen Wert von 918 an, das heißt, auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen nur noch 0,73 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.3 Die entstehende Lücke ist ein Indikator dafür, dass die pro-russischen Separatisten der ukrainischen Regierung merklich weniger entgegenzusetzen hatten. Tatsächlich begann die ukrainische Armee in diesem Monat ihre Juli-Offensive, in deren Verlauf sie zahlreiche Städte im Donbass zurückerobern konnte. Um die eintreffenden feindlichen Signale zu erwidern, blieb den Separatisten scheinbar nichts anderes übrig, als zu unkonventionellen Mitteln zu greifen. Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen ist ein solch – für eine Volksmiliz – unkonventionelles Mittel. Nachdem am 14. Juli 2014 bereits eine ukrainische Militärmaschine in über 6.500 Metern Höhe abgeschossen wurde, folgte am 17. Juli 2014 der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17.

Umstrittene Ereignisse

Der Abschuss von MH17 – ob beabsichtigt oder nicht – ist nicht nur ein besonders fatales, sondern auch ein besonders umstrittenes Ereignis. So beschuldigen sich die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten bis zum heutige Tage, das vollbesetzte Passagierflugzeug zum Absturz gebracht zu haben. Der Umstand, dass die Frage nach der Täterschaft zunächst offen blieb, mag neben der Tatsache, dass bei dem Absturz keine ukrainischen Staatsbürger*innen ums Leben kamen, erklären, warum die Ukraine in den Folgemonaten nicht mehr, sondern weniger feindliche Signale sendete und es zu einer vorübergehenden »Resymmetrierung« der feindlichen Signale auf niedrigerem Niveau kam. Erst im Jahr 2016 gelangte eine Ermittlungsgruppe unter niederländischer Führung zu dem Ergebnis, dass das Flugzeug mit einer russischen Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk-M1 abgeschossen wurde, die von einem von pro-russischen Separatisten kontrollierten Feld aus abgefeuert wurde. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, wovon bei aller gebotenen Vorsicht auszugehen ist, bestätigt dies, was sich bereits aus den obigen Daten ablesen lässt: Dass der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen für die pro-russischen Separatisten eine Möglichkeit – vielleicht die einzige Möglichkeit – war, die Symmetrie der ersten sechs Monate wiederherzustellen.

Dabei ist der Abschuss von MH17 bei weitem nicht das einzige umstrittene Kriegsereignis der letzten Jahre.4 Im Syrien-Krieg gab es beispielsweise eine Reihe von Giftgasangriffen, die keiner Kriegspartei eindeutig zugeordnet werden konnten. Zwar richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen gemeinsamen Untersuchungsmechanismus ein, doch wurde die Erneuerung seines Mandats wiederholt von Russland blockiert. Auch hier könnte ein enges Monitoring der Geschehnisse dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von unkonventionellen Mitteln zu bestimmen und die Täter*innen eines nicht zuzuordnenden Angriffs zu identifizieren: Weist die Interaktion der Kriegsparteien wie im obigen Fall ein starkes Muster der Reziprozität auf, und weicht eine Partei für einige Zeit von diesem Muster ab, indem sie deutlich weniger feindliche Signale sendet als sie empfängt, könnte dies darauf hindeuten, dass die Partei nicht mehr in der Lage ist, mit konventionellen Mitteln mitzuhalten. Im Gegensatz dazu ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Partei, die in der Lage ist, die eingehenden feindlichen Signale zu erwidern (oder die bereits mehr feindliche Signale sendet als sie empfängt), zu unkonventionellen Mitteln greift.

Ein gesichtswahrender Ausweg: Losung und Lösung?

Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen durch eine in die Defensive gedrängte Volksmiliz zeugt davon, dass Kriegsakteure im Angesicht von Verlusten dazu bereit sind, unkonventionelle Mittel zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass Russland, wenn militärisch in die Enge getrieben, einen Ausweg im Einsatz taktischer Atomwaffen sucht. Das Massaker von Butscha – ein weiteres umstrittenes (oder besser: von Russland bestrittenes) Ereignis – mag hier nur ein trauriger Vorbote gewesen sein. Was bedeutet das für die Ukraine? Aus moralischer wie taktischer Sicht kann man ihr kaum dazu raten, den russischen Angriff weniger resolut zurückzuschlagen. Deshalb kann die Losung nur lauten, Putin nicht komplett in die Ecke zu drängen, sondern ihm einen gesichtswahrenden Ausweg zu lassen, so schwer es angesichts des von ihm begonnenen Angriffskriegs und der von ihm befehligten Gräueltaten auch fallen mag.

Dies wird noch dadurch erschwert, dass der russische Präsident nicht nur etwaige Rückschläge auf dem Schlachtfeld, sondern die Unabhängigkeit der Ukraine als solche als Verlust betrachtet. So hat er der Ukraine, die er als historisch russisches Land ansieht, mehrfach ihr Existenzrecht abgesprochen. Dies mag eine Erklärung (aber keinesfalls eine Rechtfertigung) dafür liefern, weshalb Putin einen höchst risikobehafteten Angriffskrieg in der Ukraine führt. Für Jeffrey Taliaferro (2004) sind risikoreiche Interventionen (und sicherlich auch Invasionen) dagegen eher eine Folge von relativen Macht- und Ansehensverlusten. Der Zerfall der Sowjetunion, von Putin als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, sowie Barack Obamas Verunglimpfung Russlands als Regionalmacht mögen schlussendlich also auch einen Teil zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine und der Schwierigkeit seiner Befriedung beigetragen haben.

Anmerkungen

1) Siehe etwa Olaf Scholz, zitiert in Der Spiegel (2022).

2) Für einen ersten, im Lichte des russischen Angriffskriegs allerdings unbefriedigenden Versuch, siehe Aleprete (2017). Siehe auch He und Feng (2013), die die Erwartungstheorie auf mehrere außenpolitische Entscheidungen im asiatisch-pazifischen Raum angewandt haben.

3) Der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 wurde zum Zwecke der besseren graphischen Darstellung nicht kodiert. Bis zum Abschuss des Flugzeuges am 17. Juli weisen die von der ukrainischen Regierung gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 794 und die von den pro-russischen Separatisten gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 554 auf, das heißt auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen 0,69 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.

4) Siehe etwa Bauer, Ruby und Pape (2017).

Literatur

Aleprete, M. (2017): Minimizing loss: explaining Russian policy choices during the Ukrainian crisis. The Soviet and Post Soviet Review 44(1), S. 53-75.

Azar, E. E. (1972): Conflict escalation and conflict reduction in an international crisis: Suez, 1956. Journal of Conflict Resolution 16(2), S. 183-201.

Azar, E. E.; Sloan, T. J. (1975): Dimensions of interaction: a source book for the study of 31 nations from 1948 through 1973. Studies of Conflict and Peace, Department of Political Science, University of North Carolina at Chapel Hill.

Bauer, V.; Ruby, K.; Pape, R. (2017): Solving the problem of unattributed political violence. Journal of Conflict Resolution 61(7), S. 1537-1564.

Der Spiegel (2022): »Es darf keinen Atomkrieg geben«. Bundeskanzler Scholz im Interview mit dem SPIEGEL. 22.04.2022

Fielding, D.; Shortland, A. (2010): ‘An eye for an eye, a tooth for a tooth’: political violence and counter-insurgency in Egypt. Journal of Peace Research 47(4), S. 433-447.

Gillmann, B. (2022): Atomwaffen: Wie ernst ist die nukleare Bedrohung durch Russland? Handelsblatt, 20.05.2022.

He, K.; Feng, H. (2013): Prospect theory and foreign policy analysis in the Asia Pacific: rational leaders and risky behavior. New York: Taylor and Francis.

Hussak, M.; Scheffran, J. (2022): Alles über Bord werfen? Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges. W&F 2/2022, S. 6-8.

Kahneman, D.; Tversky, A. (1979): Prospect theory: an analysis of decision under risk. Econometrica 47(2), S. 263-291.

Linke, A. M.; Witmer F. D. W.; O’Loughlin, J. (2012): Space-time granger analysis of the war in Iraq: a study of coalition and insurgent action-reaction. International Interactions 38(4), S. 402-425.

Taliaferro, J. W. (2004): Power politics and the balance of risk: hypotheses on great power intervention in the periphery. Political Psychology 25(2), S. 177-210.

Strobel, W. P. (2022): CIA chief: Don’t ‘take lightly’ threat Putin could use limited nuclear strike. The Wall Street Journal, 15.04.2022.

Dr. Jan Niklas Rolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Friedenslogik statt Kriegslogik

Friedenslogik statt Kriegslogik

Zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg

von Mitgliedern der AG Friedenslogik der PZKB

Am 24. Februar 2022 hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Es ist zwar nicht der erste Krieg nach Ende des Ost-West-Konflikts. Auch ist der Krieg in der Ukraine nicht der einzige, der derzeit geführt wird. Er ist aber der gefährlichste, drohen hier doch mit den NATO-Staaten und Russland die größten Atommächte aufeinanderzuprallen. Sein Eskalationsrisiko bis hin zu einem dritten Weltkrieg ist enorm. Wie konnte es so weit kommen? Schließlich weckte das Ende der Systemkonfrontation 1989/90 doch Hoffnungen auf eine Ära des Friedens und der Kooperation in Europa. W&F dokumentiert an dieser Stelle in gekürzter Form die zweite Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) zum Krieg gegen die Ukraine.

Nach dem Ende des Systemkonflikts ist in Europa letztlich keine Friedensordnung entstanden, in der sich alle Beteiligten auch sicherheitspolitisch gut aufgehoben gefühlt hätten. Vielmehr handelte es sich um eine asymmetrische Machtordnung zu Lasten Moskaus. Mithin fehlte es auch an einer inklusiven Einrichtung, die zur konstruktiven Transformation auftauchender Konflikte in der Lage gewesen wäre: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde schon früh politisch marginalisiert; der NATO-Russland-Rat konnte als Institution einer machtpolitisch asymmetrischen Kooperation diese Lücke nicht füllen. Schon lange vor dem Krieg dominierten bei sämtlichen Konfliktbeteiligten sicherheitslogische Denkweisen: Dementsprechend betonten die Akteure (1.) nicht nur die Bedrohungen für das Eigene, sondern sie sahen (2.) Probleme ausschließlich oder zumindest maßgeblich durch andere Akteure verursacht, sie griffen (3.) zu Maßnahmen der Gefahrenabwehr und gegebenenfalls der Verteidigung, sie betonten (4.) den Vorrang eigener Interessen und deuteten den rechtlichen wie politischen Normbestand entsprechend um, und sie neigten (5.) unter Verzicht auf Selbstkritik zur Bestätigung des eigenen Handelns.1

Aufgrund dieser Sichtweise waren alle Parteien schon seit Längerem eher zur Konfrontation als zum Ausgleich disponiert: Die NATO wollte ihre Rolle als Hegemonialakteur behaupten und verweigerte in Sachen Osterweiterung sub­stantielle Zugeständnisse an Russland. Die Ukraine setzte ihren – im eigenen Land je nach Region unterschiedlich stark umstrittenen – Kurs zur NATO-Integration ohne Rücksicht auf russische Bedrohungsperzeptionen konsequent um. Und ein zusehends autoritär und national-chauvinistisch ausgerichtetes Russland pochte sowohl auf seine geostrategischen Sicherheitsanliegen als auch auf seine imperialen Ansprüchen nicht zuletzt gegenüber der Ukraine.

Friedenslogische Positio­nierungen im Ukrainekrieg

Wie lassen sich angesichts der Kriegsbilder aus der Ukraine und des hiesigen Kriegsdiskurses überhaupt noch friedenslogische Positionen vertreten? Zunächst müssen wir einräumen, dass auch wir Ungewissheiten und Dilemmata aushalten müssen: Wir wissen nicht, wie weit die russische Regierung in der Ukraine (und eventuell auch darüber hinaus) bereit ist zu gehen. Wir wissen angesichts der Kriegsentschlossenheit der Parteien und der Rücksichtslosigkeit des russischen Aggressors nicht, ob das friedenslogische Handlungsspektrum jetzt oder zumindest in absehbarer Zukunft eine wirkliche Chance erhalten wird, den Krieg und das Leid der Menschen nachhaltig zu beenden. Einige von uns stellen sich daher die Frage, ob nicht auch einzelne Maßnahmen jenseits der Friedenslogik ergriffen werden müssten. Allerdings haftet auch dem Handlungskatalog der Sicherheits- oder gar der Kriegslogik die gleiche Ungewissheit an. Daher gilt es dringend, vor einem bellizistischen Fehlschluss zu warnen: Nur weil Friedenslogik nicht zum gewünschten Ergebnis führen könnte, bedeutet das lange noch nicht, dass Sicherheitslogik und Kriegslogik hier verlässlicher wären. Eher dürfte sogar das Gegenteil der Fall sein, nämlich dass sicherheits- oder gar kriegslogisches Handeln die Gewalt immer weiter verschlimmert.

Friedenslogische Imperative gegen den Ukrainekrieg

Die friedenslogische Heuristik lässt sich im Kriegskontext in handlungsorientierten Imperativen zuspitzen. Sie lauten:

Alles dafür zu tun, um (1.) die Gewalt zu beenden, (2.) den Konflikt zu deeskalieren und konstruktiv zu transformieren, (3.) Opfer zu schützen und Leid zu mildern, (4.) Völkerrecht und Menschenrechte zu stärken und (5.) Selbstreflexion und Empathie zu fördern.

Das bedeutet auch, alles zu unterlassen, was der Realisierung dieser Ziele entgegenliefe. Die Imperative adressieren prinzipiell alle staatlichen Akteure von der Weltstaatengemeinschaft und ihren Organisationen über regionale Arrangements bis hin zu einzelnen Staaten einschließlich der Kriegsparteien. Sie richten sich aber auch an die Akteure der gesamten Zivilgesellschaft von internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen bis hin zu den einzelnen Bürger*innen und deren Initiativen. Sie alle sind gefordert, an ihrem Ort im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten im Sinne des Friedens zu handeln.

(1.) Gewaltbeendigung

Der Imperativ der Gewaltbeendigung verlangt zunächst danach, die Gewalt nicht weiter zu befeuern. Die bisherigen Waffenlieferungen haben den Krieg nicht gestoppt, sondern immer weiter in ihn hineingeführt. Sie tragen zu seiner Verlängerung und weiteren Brutalisierung bei. Aber auch die massiven ökonomischen und finanziellen Sanktionen könnten nicht nur den erhofften Effekt zeitigen und die russische Kriegsmaschinerie zum Stillstand bringen, sondern sie sogar weiter anheizen, indem sie dazu animieren, mit immer massiveren Angriffen schneller ans Ziel zu kommen. Nötig wäre stattdessen aber der Fokus auf eine kluge, alle Ebenen und Kanäle einbeziehende Krisendiplomatie, die den Parteien einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg ermöglicht. Hier bedarf es eines weitaus stärkeren Engagements, um die Verhandlungen wieder voranzubringen.

Wenngleich der Ukraine das Recht auf (auch militärische) Selbstverteidigung zusteht, wäre es dringend geboten, vermehrt auf friedenslogische Alternativen zu einem sich immer weiter entgrenzenden Verteidigungskrieg zu setzen, die sich am Ziel des Gewaltabbaus und der Gewaltbeendigung orientieren. Dazu zählen ergänzend zur unverzichtbaren Krisendiplomatie beispielsweise gewaltfreie Proteste gegen die Invasoren ebenso wie Maßnahmen sozialer Verteidigung, die durch Kooperationsverweigerung den Aufenthalt für die Besatzer erschweren. Gleiches gilt für Kriegsdienstverweigerung und Desertion, die Signale der Tat gegen den Krieg senden.

(2.) Konfliktdeeskalation und Konflikttransformation

Der Imperativ der Konfliktdeeskalation impliziert vor allem, zu verhindern, dass die NATO aktive Kriegspartei wird. Das Bündnis und einzelne Mitgliedstaaten balancieren schon auf ganz schmalem Grat: Dafür stehen beispielsweise die permanente massive Aufrüstung der Ukraine mit immer leistungsfähigerem und zusehends offensivtauglichem Kriegsgerät, die immense finanzielle Militärhilfe sowie Diskussionen über die Einrichtung einer von der Allianz durchzusetzenden Flugverbotszone. Angehörige ukrainischer Streitkräfte werden mittlerweile auch in Deutschland auf US-Stützpunkten und in der Artillerieschule Idar-Oberstein ausgebildet, was gemäß eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags „den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“2 würde. Insofern sollte die NATO den Ritt auf der sprichwörtlichen Rasierklinge einstellen.

Stattdessen müsste es ergänzend zur gewaltbeendenden Krisendiplomatie um eine konstruktive Transformation dieses vielschichtigen Konflikts gehen, in dem sich Auseinandersetzungen innerhalb der Ukraine zwischen Kiew und den Separatistengebieten im Osten des Landes, zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen Russland und dem Westen überlagern. Dazu hätten alle Beteiligten sich nicht nur von einseitigen, gewalt­orientierten Durchsetzungsstrategien zu verabschieden, sondern auch an ihren Dominanzansprüchen bzw. Maximalforderungen Abstriche zu machen. Dass Kiew im Kontext der Istanbuler Verhandlungen Ende März einen Neutralitätsstatus, wenn auch mit Sicherheitsgarantien versehen, ins Spiel gebracht hat, weist in die richtige Richtung.

(3.) Opferschutz und Leidmilderung

Der beste Weg, den Imperativ des Opferschutzes und der Leidmilderung zu verwirklichen, wäre die sofortige Beendigung der Kampfhandlungen. Solange der Krieg jedoch andauert, sollte der Fokus nicht länger auf der Kampfkraftsteigerung der ukrainischen Streitkräfte als den mutmaßlichen Beschützern, sondern auf den Menschen selbst liegen, die Opfer von Gewalt geworden sind oder zu werden drohen. Alle, die die Kampfregionen bzw. das Land verlassen wollen, sollen dies tun können. Es heißt also vornehmlich, sichere Fluchtwege zu vereinbaren und zu organisieren, Geflüchtete in der Erstankunft professionell zu betreuen und ihnen einen sowohl sicheren als auch würdigen Aufenthalt im Zufluchtsland zu garantieren. Menschen, die das Land nicht verlassen können oder wollen, ist freier Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten. Dafür müssten von allen Kriegsparteien akzeptierte humanitäre Korridore eingerichtet werden, damit Hilfsgüter sicher an Ort und Stelle gelangen. Ein zumindest zeitweiliger Waffenstillstand würde die Bewältigung dieser Aufgabe erleichtern, da sich aufgrund der Kriegsdauer die Versorgungs- und Gesundheitslage der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten dramatisch zuspitzt.

(4.) Stärkung von Völkerrecht und Menschenrechten

Dieser Imperativ zielt auf die Verteidigung bzw. die Stärkung des Völkerrechts sowie der Menschenrechte, auf die sich auch die Friedenslogik bezieht. Diese sind mit dem Angriffskrieg und den bislang dokumentierten Kriegsverbrechen massiv verletzt worden. Wenngleich sowohl die UNO-Generalversammlung als auch der Internationale Gerichtshof das Vorgehen Russlands verurteilt und somit die Gültigkeit des bestehenden Normsystems bekräftigt haben, geschieht doch die Befolgung völkerrechtlicher Standards durch Staaten auf freiwilliger Basis. Weitere Kriegsverbrechen in der Ukraine können daher zwar nicht effektiv unterbunden werden, möglich bleiben jedoch symbolische Gesten und Appelle an die Kriegsparteien, die Zivilbevölkerung zu verschonen. An – auch zukünftiger – Bedeutung nicht zu unterschätzen sind zudem die Bemühungen nichtstaatlicher Akteure, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Insbesondere nach den Gräueltaten in Butscha ist dies von großer Dringlichkeit und sollte unbedingt unterstützt werden. Zu werben wäre für eine unabhängige und angemessen ausgestattete – etwa von der OSZE mandatierte – Beobachtermission, die zur Verifizierung der Geschehnisse einen wertvollen Beitrag leisten und bestenfalls sogar gewaltmindernde Wirkung erzeugen könnte. Dagegen stehen Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Putin und seine Führungsmannschaft in einem Spannungsverhältnis zu anderen Imperativen der Friedenslogik, da ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen die Verantwortlichen kaum ihre Verhandlungsbereitschaft in Bezug auf überlebensnotwendige humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung und eine möglichst rasche Beendigung der Kriegshandlungen fördern dürfte. Nichtsdestoweniger sollte die Dokumentation von Kriegsverbrechen auch auf dieser Ebene fortgeführt werden, stehen sie doch auch für den Befolgungsanspruch eines Völkerrechts, das auf Friedensförderung und Gewaltächtung ausgelegt ist.

(5.) Selbstreflexion und Empathie

Dieser letzte Imperativ verlangt nach kritischer Selbstreflexion im friedenslogischen Modus, der die eigenen Anteile sowohl am langen Weg in die Konfrontation seit Ende des Systemkonflikts als auch an der Zuspitzung der letzten Jahre gerade nicht tabuisiert, sondern bewusst thematisiert. Die Kehrseite heißt Empathie. Diese bezeichnet das Bestreben, die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien einzunehmen, um sie besser verstehen zu können, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. Der Imperativ adressiert die Kriegsparteien selbst, aber auch alle anderen am Konflikt Beteiligten. Zwar hat im Westen bereits eine öffentliche Selbstvergewisserungsdebatte eingesetzt. Allerdings läuft sie bislang im Wesentlichen darauf hinaus, jegliche (vergangene, aktuelle und zukünftige) Friedenspolitik als naiv zu disqualifizieren und reflexartig für mehr Aufrüstung zu plädieren. Die friedenslogische Antwort auf die Frage, ob die Politik des Westens an zu wenig oder zu viel Friedenspolitik gescheitert sei, lautet aber: an zu wenig. Was nach dem Ende des Systemkonflikts in Gesamteuropa entstanden ist, war eben keine zur konstruktiven Konflikttransformation fähige Friedensordnung, in der alle Beteiligten gleichberechtigt mitwirken konnten, sondern eine vom Westen dominierte asymmetrische Machtordnung, in der Moskaus schon früh geäußerten Einwände ignoriert und seine Initiativen nicht aufgegriffen wurden.

Selbstreflexion bedeutet auch, aus den eigenen Fehlern zu lernen, um sie bei der Neugestaltung der europäischen Ordnung nachdem Ende des Ukrainekriegs zu vermeiden. Zu diesen Korrekturverpflichtungen gehört auf westlicher Seite nicht nur das geostrategische Handlungsprogramm, sondern auch die innere Haltung, auf der es beruht: Demut eingedenk eigener Verfehlungen und eigener limitierter Gestaltungsfähigkeiten, Besinnung auf die Begrenztheit eigener Ansprüche auf die jeweils legitimen Anliegen, Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des politischen Gegenübers, Anerkenntnis der Ungeeignetheit militärischer Mittel für eine gezielte Gestaltung friedensverträglicher inner- wie zwischenstaatlicher Verhältnisse sowie Akzeptanz der Untauglichkeit konfrontativer Strategien für die Gewährleistung eines dauerhaft stabilen negativen Friedens.

Plädoyer für ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen«

Auch wenn es derzeit nur schwer vorstellbar sein mag: Bereits jetzt muss über eine mögliche Ordnung nach dem Ende des Ukrainekriegs nachgedacht werden. Sogar ein Frieden, der sich auf das Ziel einer Vermeidung neuer Kriege beschränken würde, ist nur mit und nicht gegen Russland zu haben. Dabei gilt es, die gegenwärtige Begrenzung des Denkraums auf einen »Kalten Krieg 2.0« zugunsten einer Ordnung zu erweitern, die möglichst viele friedenslogische Elemente adaptiert und damit die Chance zur weiteren Friedensentfaltung impliziert. Diese Nahzielperspektive ließe sich, angesichts der gegenwärtig feindschaftlichen Beziehungsmuster, in der Formel einer »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« verdichten. Sie wird wohl die Identifizierung von Dissensen einschließen und Möglichkeiten ihrer weiteren Bearbeitung aufzeigen müssen.

Für ein solches Projekt wäre die OSZE der am besten geeignete Ort, handelt es sich doch um eine inklusive Einrichtung der Staatenwelt mit Scharnieren in die Gesellschaftswelt: Sie stellt schon jetzt den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung, in dem alle direkt wie indirekt am Ukrainekonflikt Beteiligten formal gleichberechtigt eingebunden sind. Und die neutralen und nicht-paktgebundenen Teilnehmerstaaten können hier strukturell abgesichert ihre wertvollen Erfahrungen bei der Auflösung festgefahrener Konstellationen mobilisieren.

Ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« dürfte aber nicht allein an die Staatenwelt delegiert werden. Vielmehr bedarf es der Vorbereitung und Unterstützung durch solche zivilgesellschaftlichen Akteure samt ihrer Netzwerke, die über einschlägige Erfahrungen im Bereich der Mediation und anderer Verfahren konstruktiver Konflikttransformation verfügen.

Der Text wurde am 11. Mai 2022 auf der Homepage der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung veröffentlicht (pzkb.de/friedenslogik-statt-kriegslogik/).

Anmerkungen

1) Siehe hierzu auch: »Für konsequent friedenslogisches Handeln im Ukraine-Konflikt.« Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (17. Februar 2022).

2) Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2022): Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme (WD 2-3000-019/22), S. 6.

Verfasser*innen und Unterzeichner*innen aus der AG-Friedenslogik: Annette Fingscheidt, Wilfried Graf, Sabine Jaberg (Federführung), Christiane Lammers, Jochen Mangold, Angela Mickley, Beate Roggenbuck.

Neokolonialer Frieden?!

Neokolonialer Frieden?!

Die koloniale Unterseite modern-liberaler Friedensvorstellungen

von Christina Pauls

»Frieden« ist kein neutraler Begriff. Der universalisierte Begriff des in Theorie und Praxis dominanten modern-liberalen Friedens1 sowie seine Fortführung in Form des neoliberalen Friedens sind eng mit kolonialen Praktiken verbunden. Die hier angebotene kritische Reflexion möchte dazu ermutigen, die eigene normative Ausrichtung gründlich zu hinterfragen. Dazu wird der modern-liberale Frieden mit post- und dekolonialen Theorien »gegen den Strich« gelesen, die historische Verwobenheit von (Neo-)Liberalismus mit (Neo-)Kolonialismus nachgezeichnet, und einige der neueren Ausprägungen des modern-liberalen Friedens einer kritischen Prüfung unterzogen.

Frieden steht in einem Spannungsverhältnis zwischen normativen Ansprüchen über Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Zusammenleben. Die angelegte Gewaltdefinition bestimmt maßgeblich Umfang und Grenzen möglicher normativer Ausrichtungen. Ein enger Gewaltbegriff wie auch Verständnisse von struktureller Gewalt sind meist eingebettet in die dominierende modern-liberale Werteordnung. Sie sind daher nicht in der Lage, die Gewaltförmigkeit dieser Werteordnung selbst zu identifizieren, oder gar anzugehen.

Modern-liberale Friedensverständnisse blenden die eigene Verstrickung in den Kolonialismus aus. Sie zeichnen ein vermeintlich universelles Bild, dessen historische Gewordenheit nicht thematisiert wird. Insbesondere der Beitrag der Kolonisierung zur Existenz gewaltvoller Strukturen in der Gegenwart, die bewaffneten Konflikten zugrunde liegen, wird in der Friedensforschung wenig beachtet. Das ist nicht nur friedenstheoretisch problematisch, sondern stabilisiert gewaltvolle und koloniale Verhältnisse, die der Frieden doch zu überwinden sucht. Neoliberale Varianten dieser Friedensverständnisse radikalisieren diese Verhältnisse in Form eines neokolonialen Friedens, wie im Folgenden ausgeführt wird. Dieser ist für Friedensforscher*innen und -Praktiker*innen umso gefährlicher, weil er schwerer zu identifizieren ist und aufgrund seiner Beschaffenheit Rechenschaftspflicht und transformative Gerechtigkeit auszuhöhlen droht. Um auf den kolonialen Schatten dieses Verständnisses aufmerksam zu machen, sollte Friedensforschung und -praxis in ihrer Selbstreflexion expliziter epistemische Gewalt in den Blick nehmen, also auch die in der Wissenspolitik und Genealogie des Friedens angelegten Formen von Gewalt aufdecken und problematisieren (vgl. Brunner 2018). Dieser Beitrag versucht, einige Anregungen zur Sichtbarmachung der kolonialen Unterseite neo-/liberaler Friedensverständnisse bereitzustellen.

Liberaler und neoliberaler Frieden

Modern-liberale Friedensvorstellungen2 gründen auf der Annahme, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen Nationalstaaten, internationaler Handel sowie die Einbindung in die Weltwirtschaft alle Gewaltpotentiale einhegt.3 In Verschränkung mit diesen ökonomischen Bedingungen beziehen sich politisch liberale Werte auf den Schutz von Privateigentum und auf individuelle (Freiheits-)Rechte. Politische und ökonomische Aspekte des liberalen Friedens sind als komplementär zu verstehen, da sie von einer Korrelation zwischen Demokratisierung und wirtschaftlichem Wohlstand ausgehen.

Unter »Neoliberalismus« verstehe ich die Ablehnung aller regulierenden, sozialstaatlichen und überstaatlichen Eingriffe in die »Kräfte des Marktes«. In der Literatur zu »liberal peacebuilding« hat auch die Kritik am »neoliberalen Frieden« Einzug genommen – eine Variante des liberalen Friedens, die vor allem den Markt und das Wirtschaftswachstum als ausschlaggebend für die Konstitution von Frieden versteht. Der neoliberale Frieden radikalisiert und höhlt den liberalen Frieden insofern aus, als die Marktlogik und Wachstumsorientierung (ökonomische Liberalisierung) gegenüber dem Aufbau demokratischer Institutionen, der Stärkung individueller Rechte, Sicherheit und Stabilität (politische Liberalisierung) Priorität einnimmt. Dafür wird auf Privatisierung, Monetarisierung und Deregulierung sowie auf die Öffnung von Grenzen für ausländische Investitionen gesetzt, wie sich beispielhaft in Politiken der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zeigt.

Historische Gewordenheit neo-/liberaler Friedensvorstellungen

Um auf die kolonialen Schattenseiten des liberalen wie neoliberalen Friedens hinzuweisen, ist es nötig, ihre historischen Bedingungen nachzuzeichnen, durch die sie sich mit kolonialer Gewalt verstrickt haben. Oft wird die formale Geburtsstunde liberaler Friedensverständnisse, wie auch der proto-institutionalisierten Friedens- und Konfliktforschung, in den politischen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts lokalisiert. Primär vom Globalen Norden4 ausgehend wird seither systematisches Wissen über »Frieden«, seine philosophischen und theoretischen Grundlagen sowie politische und ökonomische Strategien zu seiner Umsetzung generiert. Die Gültigkeit dieser universalisierten Theorie des Friedens wird kontinuierlich am Globalen Süden in der Friedensarbeit im In- und Ausland, insbesondere durch »peacebuilding«, dargelegt und erprobt.

Allerdings identifizieren Theoretiker*innen aus dem Globalen Süden die Entstehungsbedingungen liberaler Friedensvorstellungen viel früher: in der Philosophie der Aufklärung und gar in der kolonialen Expansion selbst, die beide als miteinander verstrickt verstanden werden. So beschreibt Juan Daniel Cruz (2021, S. 2), wie die Idee der »Pazifizierung« (Befriedung), die in kaiserlichen Erlassen festgeschrieben wurde5, die territoriale, politische und ökonomische Kontrolle über Länder des Globalen Südens als fundamentalen Bestandteil kolonialer Expansion und Praxis legitimierte. Hier setzen auch dekoloniale Theorieansätze an, die mit dem Begriffspaar Modernität/Kolonialität auf die Untrennbarkeit der Moderne von kolonialen Zusammenhängen hingewiesen haben. Sie verstehen Kolonialität, die langanhaltenden Muster und Strukturen kolonialer Verhältnisse, als konstitutive Entstehungsbedingung von Moderne, wie wir sie heute kennen. Dies umfasst auch die (materielle) Grundlage des liberalen Werteverständnisses. Liberalismus, Kolonialismus und Moderne werden als verflochten betrachtet.

So liegt den Wurzeln europäischer und liberaler Friedensvorstellungen also der Glaube an eine weiße Überlegenheit zugrunde, der sich bis heute in der technokratischen Auffassung widerspiegelt, dass eine kleine Expert*innengruppe von Menschen »Frieden« entwerfen und implementieren könne – ein Frieden, der in Europa, insbesondere in kolonialer Begegnung mit den nicht-europäischen »Ver-Anderten«, konzipiert wurde. Der weiße, europäische, christliche, heteronormative, körperlich fähige, unverwundete Mann konstruiert sich selbst als ausgewählter Bringer des Friedens, indem er »die Anderen« zu anderen macht und in ihrem Wert herabsetzt.

Dieses Dominanzverhältnis der Über- und Unterordnung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte kontinentale Geistesgeschichte, mal mehr, mal weniger sichtbar.6 Auch die Friedensforschung und -arbeit spiegelt sich darin wider, so einerseits durch ihren interventionistischen Charakter, der sich in der Bereitstellung externer Expert*innen zeigt, und andererseits durch ihre normative (Teil-)Ausrichtung an ökonomischer Entwicklung, die neue Abhängigkeitsverhältnisse schafft und alte zementiert.

Neo-/kolonialismus und neo-/liberaler Frieden

Der Begriff des Neokolonialismus wurde maßgeblich vom ghanaischen Präsidenten und antikolonialen Denker Kwame Nkrumah geprägt (Nkrumah 1965). Er wird seither vor allem zur polit-ökonomischen Kritik an Süd-Nord-Verhältnissen herangezogen. Im Zentrum steht die Einsicht, dass trotz formal-politischer Unabhängigkeit ehemalig kolonisierter Länder koloniale Zusammenhänge im Rahmen ökonomischer und monetärer Abhängigkeitsverhältnisse weiter bestehen. Diese werden mit dem Anspruch begründet, zur Überwindung von Dualismen wie entwickelt/unterentwickelt, arm/reich u.Ä. beizutragen. Sie verkennen jedoch, dass diese erst durch den Kolonialismus konstituiert wurden und tief in die Moderne eingeschrieben sind. Der peruanische Soziologe Anibal Quijano (2000) identifiziert beispielsweise, wie Rassismus und globale Arbeits»teilung« seit der Eroberung der Amerikas als fundamentale Achsen kolonialer Macht fungieren und so in ihrer Kombination als Entstehungsbedingung des heute globalisierten Kapitalismus dienten. Koloniale Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse nehmen also mit der anhaltenden Neoliberalisierung der Weltwirtschaft auch neue Formen (»neo«) auf, wenngleich sie auf denselben Logiken beruhen, durch die sie sich konstituiert haben.

Charakteristisch für die Neoliberalisierung von Frieden ist eine zunehmende Komplexität von Aktivitäten und Akteur*innen sowie die Externalisierung von Verantwortlichkeiten. Mit der Ero­sion von klar identifizierbaren Akteur*innen verschwimmen – um erneut Kwame Nkrumahs Beitrag zur Debatte aufzugreifen – auch im Neokolonialismus die Grenzen der Verantwortung in Kontrast zu der formalen Phase des Kolonialismus, wo Herrschaft und Verantwortung eindeutiger zuzuordnen waren. Damit verlieren auch Ansprüche auf Wiedergutmachung und Reparationen ihre potenziellen Adressat*innen. So radikalisiert der Neokolonialismus die Mechanismen der epistemischen Gewalt, die sich in der Unsichtbarmachung der eigenen Beiträge zu kolonialen Strukturen manifestieren, beispielsweise durch Verleugnungs- und Verdrängungsmechanismen.

Liberalismus und ihre neoliberalen Varianten stehen als politökonomische Ideologien also weiterhin im Dienst von Modernität/Kolonialität, denn sie dienen der „Akzelerierung der Moderne […], ohne aber wahrzunehmen, dass dies zugleich mit dem Fortbestehen und der Verstärkung von Kolonialität einher geht“ (Maldonado-Torres 2016, S. 5). Unter dem Deckmantel des Friedens werden koloniale Herrschaftsverhältnisse als nicht-intendierte Folgen eines am Frieden ausgerichteten Handelns stabilisiert. So sind der liberale wie auch der neoliberale Frieden untrennbar mit ihrer kolonialen Unter- oder Schattenseite, dem neo-/kolonialen Frieden, verbunden.

Neo-/koloniale Schattenseiten

Alle Friedensbemühungen stehen zunächst vor der Herausforderung eines fait accompli globaler Ordnung – eine kapitalistische, neoliberale Ordnung, die über Jahrhunderte gewachsen ist und in ihrer Genese wie anhaltender Beschaffenheit mit kolonialen Gewaltverhältnissen verwoben ist. Diese Ordnung erfordert von allen Subjekten eine Unterordnung in ihre Logik, um zu funktionieren. Friedensbemühungen aller Art sehen sich so teilweise dazu genötigt, sich an der globalisierten Marktlogik auszurichten und die (Post-)Konfliktgesellschaften durch entsprechende politische, pädagogische und ökonomische Maßnahmen auf eine Reintegration in den neoliberalen Weltmarkt vorzubereiten. Damit laufen sie Gefahr, zu einer Fortführung neokolonialer Ausbeutung durch Niedriglohnarbeit, moderne Sklaverei7 sowie der Vergrößerung von Ungleichheiten, beispielsweise durch illegale Finanzabflüsse vom Globalen Süden in den Globalen Norden, beizutragen und so neokolonialen Frieden zu perpetuieren.

Während sich der modern-liberale Frieden zunächst primär an den Entwicklungsdiskurs angeschlossen hat, setzt er sich in der gegenwärtigen Ausrichtung an psychologischen und psychosozialen Aspekten der Konflikttransformation fort und führt so zu einer Pathologisierung von Postkonflikt-Gesellschaften“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Denn die eurozentrische Psychologie tendiert dazu, Trauma zu individualisieren (beispielsweise mit der Diagnose Posttraumatischer Belastungsstörung), wodurch strukturelle und relationale Faktoren aus dem Blick geraten. Es schwingt die Konnotation mit, dass Menschen »gebrochen« und unvollständig sind, von einem als ideal konstru­ierten »gesunden« Menschen abweichen und durch bestimmte Praktiken wieder hergestellt werden können. Diese Menschen erfahren laut Tuck und Yang Anerkennung, die primär auf schmerzbasierter Forschung beruht, also der Sammlung und Nacherzählung ihrer Leidensgeschichten. Nicht nur Forschung, sondern auch Praxis läuft so Gefahr, rassistische Hierarchien in Form von politisch vertretbareren Entwicklungshierarchien fortzuführen (Tuck und Yang 2014, S. 231).

In der Ausgestaltung, Legitimation und Umsetzung von neo-/liberaler Friedens»schaffung« nimmt »eurozentrisches Wissen« auch auf die Vorstellungen von »Frieden« Einfluss und lässt keinen oder nur wenig Raum für alternative Deutungen von Frieden. Diese Universalisierung von Frieden geht einher mit der Unsichtbarmachung entsprechender alternativer Verständnisse solcher Weltbilder, die meist als »unterentwickelt« und »unmodern« abgetan werden. Denn viele solcher Weltbilder beruhen – im Gegensatz zum liberalen Verständnis – auf ausgedehnten Zeitvorstellungen, in denen nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit vor uns liegt und eine aktive Beziehung zu den Vorfahren gepflegt wird. Etymologische Explorationen von alternativen Friedensbegriffen, oder dem Frieden ähnlichen Begriffen in anderen Weltbildern, ermöglichen Zugang zur realen Vielfalt von Friedensverständnissen. Solche Einsichten sollten aber nicht davon ablenken, dass der konkrete politische Friedensdiskurs im Kontext globaler Machtasymmetrien entstanden ist und sich verstetigt hat. Daher ist es nicht ausreichend, auf die epistemische Vielfalt von Friedensvorstellungen hinzuweisen, sondern auch ihre Dominanzverhältnisse anzuerkennen und dort anzusetzen, wo diese unterbrochen oder sogar transformiert werden können.

Gibt es Handlungsoptionen?

Was hieße es dann konkret, sich dem neo-/liberalen Frieden in Bezug auf die hier aufgeführten kolonialen Schattenseiten zu widersetzen?

In Anbetracht der epistemischen Dominanz weißer (europäischer) Wissenschaftler*innen im Feld der Friedensforschung müssen andere Zugänge und Perspektiven auf Frieden gefunden werden. Dafür lohnt es sich, sich den lebendigen Wissenssystemen jener zuzuwenden, die von kolonialer Gewalt betroffen sind und aufgrund ihrer Position mehr »sehen« können als wir, die wir uns im kolonialen Zentrum dieser Wissensproduktion bewegen. Von Friedensforscher*innen und -praktiker*innen erfordert dies, sich den komplexen Verstrickungen zuzuwenden, in die der Friedensbegriff aber auch sie selbst als Menschen eingebettet sind. Es gibt keine einfachen und schnellen Lösungen für den Umgang mit kolonialen Schattenseiten modern/liberaler Frieden.

Ein Ansatz könnte darin liegen, an einigen der Grundannahmen neo-/liberaler Friedensverständnisse zu rütteln. Der radikale Individualismus, der sowohl wirtschaftliche als auch politische Grundvoraussetzung für Liberalismus ist, sollte entthront und in Balance mit kollektiven Rechten und kollektivem Wohlstand, auch in Beziehung zur Natur, gebracht werden. Dies kann jedoch kein Unterfangen sein, das selbstbezogen und selbstreflexiv im eigenen Kopf stattfindet. Im Gegenteil sind es zutiefst relationale, gemeinschaftliche Prozesse, die das Potential bergen, sich selbst als verbunden und als Teil größerer Zusammenhänge zu verstehen. Anstatt ausschließlich zukunftsgeleitetes Handeln zu propagieren, sollte auch der Bezug zur Vergangenheit (wieder-)belebt werden, ohne sie zu romantisieren oder verändern zu wollen, sondern in reale Beziehung mit ihr und ihren Beiträgen zur Schaffung der Gegenwart zu treten.

Der dominante Friedensbegriff bedarf also insofern einer »Entnaturalisierung«, aber auch einer Kontextualisierung in koloniale Verhältnisse, und sollte so auch selbst zum Objekt politischer Aushandlung avancieren, damit eine selbstbestimmte und emanzipatorische Ausrichtung der Arbeit am Konflikt sowie am Umgang mit Gewaltverhältnissen eine reale Möglichkeit wird. Die hier angebotene Kritik am universalen Friedensbegriff birgt durchaus „die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Unrechtssystemen“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Auf der anderen Seite könnte sie eine Befreiungsbewegung von einem kolonial aufgeladenen und ausgenutzten Konzept darstellen, das ansonsten stillschweigend und unsichtbar geworden zur Aufrechterhaltung und Verstärkung von Kolonialität beiträgt.

Es geht also darum, die Schatten kennen und verstehen zu lernen, den Blick zu schärfen für neue, nicht direkt sichtbare Formen der Verstetigung kolonialer Beziehungen – und darum, gemeinsam nach Wegen zu suchen, diese zu überwinden.

Anmerkungen

1) Dieser modern-liberale Friedensbegriff basiert auf sog. »modernen« Prinzipien wie Rationalität, Aufklärung und »Zivilisierung« und ist zudem eng mit liberalen Grundwerten verwoben, wie unter anderem individuellen Rechten, einem spezifischen Demokratieverständnis sowie dem Vertrauen in Handelsbeziehungen und unregulierte Märkte.

2) Ich spreche hier von Friedensvorstellungen im Plural, weil selbst der modern-liberale Überbegriff von Frieden zahlreiche Spielarten ermöglicht und die hier angebotene Kritik nicht alle dieser Spielarten abdecken kann.

3) Ein prominentes Beispiel, das sich in den Internationalen Beziehungen großer Anerkennung erfreut, ist der sog. (Doppel-)Befund des demokratischen Friedens.

4) »Globaler Süden« und »Globaler Norden« bezeichnen nicht nur geographische Kategorien, sondern primär unterschiedlich privilegierte und deprivilegierte Positionen im globalen System, die durch Kolonialismus konstituiert wurden. So lässt sich auch ein »Norden im Süden« und ein »Süden im Norden« identifizieren, also Menschen(-gruppen), die kontextual über- oder unterprivilegiert sind.

5) Zum Beispiel im Asiento – dem Generalvertrag vom 27. März 1528, in dem Kaiser Karl V. der Augsburger Handelsfamilie der Welser Gebiete im heutigen Venezuela und Kolumbien zur kolonialen »Befriedung« zur Verfügung stellte.

6) Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann zeichnet in »Undienlichkeit« (2020) nach, wie das Wirken und Handeln politischer Philosophen mit der Versklavung und Kolonisierung verwoben ist.

7) Laut Global Slavery Index leben 40 Mio. Menschen in »moderner Slaverei«, die sich beispielsweise in Menschenhandel und Zwangsarbeit manifestiert (globalslaveryindex.org).

Literatur

Brunner, C. (2018): Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt? Ein Interview. W&F 2/2018, S. 42-43.

Castro Varela, M. do Mar; Dhawan, N. (2017): Postkoloniale Studien in den Internationalen Beziehungen. Die IB dekolonisieren. In: Sauer, F.; Masala, C. (Hrsg.): Handbuch Internationale Beziehungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 233-256.

Cruz, J. D. (2021): Colonial Power and decolonial peace. Peacebuilding 9(3), S. 274-288.

Därmann, I. (2020): Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Phoilosophie. Berlin: Matthes & Seitz.

Maldonado-Torres, N. (2016): Outline of ten theses on coloniality and decoloniality. Online bei Fondation Frantz Fanon, 23.10.2016.

Nkrumah, K. (1965): Neo-colonialism, the last stage of imperialism. London: Thomas Nelson & Sons.

Quijano, A. (2000): Coloniality of power, eurocentrism, and Latin America. Nepantla. Views from South 1(3), S. 533-580.

Tuck, E.; Yang, K.W. (2014): R-Words. Refusing research. In: Paris, D.; Will, M.T. (Hrsg): Humanizing research: decolonizing qualitative inquiry with youth and communities. Thousand Oaks: Sage, S. 223-248

Christina Pauls, M.A. Peace Studies, promoviert zur Kolonialität des Friedens. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt »Bayerisches Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung: Deutungskämpfe im Übergang« am Standort Augsburg und außerdem in der politischen Bildung aktiv.

Neokolonialismus genau betrachtet

Neokolonialismus genau betrachtet

Versuch einer umfassenderen Begriffsbestimmung

von Nicki K. Weber

Von Kwame Nkrumahs berühmter Analyse als letzter Stufe des Imperialismus über den Begriff des Eurozentrismus bis hin zu postkolonialer Kritik und den dekolonialen Theorien von »Kolonialität/Modernität« haben Begrifflichkeiten und »Theorien« des Neokolonialismus einige Wandlungen durchlebt. Dieser Beitrag versucht sich an einer genaueren Begriffsbestimmung und bietet Möglichkeiten des Anschlusses an heutige Gewalt- und Herrschaftskritik an, um das Feld konkurrierender Begrifflichkeiten zu sortieren.

Der Begriff des Neokolonialismus im Sinne von »neuem Kolonialismus« ist ein politischer Begriff, der sich (unter anderem) als beschreibend, wertend und konfliktiv begreifen lässt. Er beschreibt politische Praktiken (Diallo 2017, S. 194), die auf den in der Kolonialzeit gewachsenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen basieren und diese auf der ökonomischen, soziokulturellen, militärischen und technologischen Ebene (vgl. All-African Peoples‘ Conference 2005) reproduzieren.

Als wertend kann der Begriff des Neokolonialismus aufgefasst werden, weil er als Zustandsbeschreibung auf die aus kolonialen Beziehungen gewachsene strukturelle Gewalt hinweist, der Individuen oder Gruppen (un-)mittelbar durch Fremdbestimmung ausgesetzt sind (Diallo 2017, S. 195f.). Konfliktiv hingegen ist der Begriff, weil er es ermöglicht, neokoloniale Praktiken auch im Alltag zu kritisieren, und versucht, Verantwortlichkeiten zu benennen.

Zwischen Fronten

Erste Beschreibungen neokolonialer Praktiken finden sich in der Abhandlung »Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism« (vgl. Nkrumah 1966) des antikolonialen Widerstandskämpfers und späteren Präsidenten der Republik Ghana Kwame Nkrumah (1909-1972). Er stellte fest, dass die »neuen« afrikanische Staaten trotz der formalen Unabhängigkeit weiterhin in Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt sind, die sich maßgeblich im Weltsystem widerspiegeln, das von neuen Hegemonialmächten wie den USA geprägt sei (Ashcroft, Griffiths und Tiffin, S. 178).

Mit dem Ende formaler Kolonialherrschaft Mitte des 20. Jahrhunderts stellte sich zunächst die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren nach der Unabhängigkeit gestalten lassen. Angehende Super- und ehemalige Kolonialmächte bemühten sich um globalen Einfluss.

Die Härte des westlichen Kampfs um seinen Gestaltungsanspruch in den neuen Staaten Afrikas wird besonders an der Ermordung des damaligen Premierministers der Demokratischen Republik Kongo Patrice Lumumba deutlich, die der Stabilisierung belgisch-kongolesischer Beziehungen dienen sollte, um eine Orientierung an sozialistischen politischen Systemen zu verhindern (Van Reybrouck 2013, S. 364).

Verantwortungsdiffusion

Nkrumah argumentierte in seiner Abhandlung, dass die Akteure in den neokolonialen Beziehungen diffuser geworden seien. Neokoloniale Beziehungen können demnach zwischen ehemaligen Kolonien und Kolonialmächten bestehen. Diese Verhältnisse können sich aber auch verändern: So war nach der Unabhängigkeit Vietnams vor allem die Beziehung zu den USA prägend für das Land und weniger die Beziehung zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Machtverhältnisse in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank tragen zur diffusen Verantwortungssituation bei. Anders als im Kolonialismus können Kolonialisierte in neokolonialen Verhältnissen oft nicht »ihren« Kolonialisten direkt verantwortlich machen. Das mache den Neokolonialismus gefährlicher als den traditionellen Kolonialismus (Nkrumah 1966, S. x-xi). Diese unklare Herrschafts- und Gewaltausübung, der sich die afrikanischen unabhängigen Staaten ausgesetzt sahen, wurde durch die Fronten des globalen Systemkonflikts zwischen dem sogenannten »Ostblock« und dem »Westen« noch verkompliziert.

Die zentrale Frage, die sich den jetzt unabhängigen Staaten Afrikas stellte, war, wie man sich im Nebel der Verantwortung gegenüber den Ansprüchen angehender Supermächte und ehemaliger Kolonialmächte behaupten könnte. Die Frage der Verantwortung war nicht zuletzt auch deshalb schwierig zu klären, weil nicht nur exterritoriale Kräfte die informelle Herrschaft des Neokolonialismus ermöglichten, sondern auch die Eliten in den afrikanischen Ländern eine entscheidende Rolle spielten (vgl. Afoumba in dieser Ausgabe, S. 38).

Obgleich Nkrumah in seinem Definitionsversuch Neokolonialismus in erster Linie in eine kapitalismuskritische Tradition stellte, behandelt seine Analyse die neokolonialen Konflikte vor allem zwischen Staaten, weniger klassentheoretisch. Dabei verkennt er die Rolle innerstaatlicher Eliten (Ziai 2020, S. 129). Afrikanische Feminist*innen machten wiederholt darauf aufmerksam, dass der Einfluss multilateraler Organisationen auch aufgrund patriarchaler Verbindungen zwischen den (alten und neuen) Eliten ehemaliger Kolonialstaaten und -mächten ermöglicht wurde – zumeist zu Lasten von politischen, sozialen und demokratischen Rechten für Frauen (McFadden 2007, S. 42).

Optimist*innen und Pessimist*innen

Innerhalb dieser Eliten wurde (und wird bis heute) der Vorwurf des Neokolonialismus unterschiedlich bewertet. Die Positionen lassen sich in Optimist*innen, Pessimist*innen und ein Kontinuum, die Neutralist*innen, unterteilen (vgl. Mabe 2005).

Während die einen nach der formalen Unabhängigkeit dem Westen optimistisch gegenüberstanden und eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz als Notwendigkeit für die »Entwicklung« auf dem afrikanischen Kontinent anerkannten, waren andere nicht bereit, »afrikanische Werte« und wiedergewonnene Unabhängigkeiten angesichts der vor allem wirtschaftlichen Übermacht aufzugeben. Sie standen dem westlichen Einfluss pessimistisch gegenüber und sahen keine Möglichkeit, der Zäsur von Kolonialismus und transatlantischem Sklavenhandel allzu Zukunftsträchtiges abzugewinnen. Die Behauptung, (neo-)koloniale Einflüsse hätten insbesondere auf den Gebieten der Bildung und Wissenschaft »positive Modernisierungseffekte«, lehnten sie als »neokolonialistische Mystifikationen«1 ab und strebten nach Reparationen und der Anerkennung des Kolonialismus als System der Ausbeutung. Aus diesen Bestrebungen gingen die Bewegungen des Panafrikanismus und der Négritude hervor. Stand die frankophone Bewegung der Négritude (Senghor 1967) dafür ein, dass es trotz Kolonialisierung ein explizit afrikanisches Kulturschaffen gebe, das in Differenz zu Europa bewertet werden will, so versuchte der Panafrikanismus, maßgeblich angetrieben vom US-Bürgerrechtler und Soziologen W. E. B. Du Bois, die Überwindung des Rassismus als globale Herausforderung des 20. Jahrhunderts zu benennen. Rassismus und die damit verwobene koloniale Kontinuität wurden in ihren jeweiligen Ausdrucksformen einer neokolonialen Dominanzkultur unter anderem in den soziokulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen kritisiert (McEachraen 2020, S. 233f.). So wurde deutlich, dass Rassismus nicht nur den Kolonialismus ideologisch legitimierte, sondern in unterschiedlichen Formen – als Abgrenzung zu »fremden Kulturen«, Nationen oder Religionen – fortwirkt. Der Begriff des Neokolonialismus diente diesen Bewegungen dazu, diese auch soziokulturell fortwirkende Dimension des Kolonialismus zu adressieren.

Neokolonialismus, Neoimperialismus, Neoliberalismus

Drei Begrifflichkeiten werden immer wieder miteinander in Verbindung gebracht: Neokolonialismus, Neoimperialismus und Neoliberalismus. In der Fachliteratur fallen die Begriffe des Neokolonialismus und Neoimperialismus des Öfteren zusammen (Ashcroft, Griffiths und Tiffin 2013, S. 179). Nicht zuletzt die Definition des neuen Kolonialismus als letzte Stufe des Imperialismus formulierte Nkrumah in Rekurs auf Lenins marxistische Interpretation des Imperialismus als kapitalistischem Phänomen (Ziai 2020, S. 129) mit dem Ziel der Etablierung einer globalen hierarchischen Wirtschaftsstruktur. Im Allgemeinen lässt sich eine vorsichtige Differenz herausarbeiten: Kolonialismus definiert sich unter anderem über die territoriale Fremdherrschaft, während Imperialismus einen Herrschaftsanspruch ohne direkte Kontrolle über ein Staatsgebiet meint (Conrad 2012, S. 3). Wie der Neokolonialismus funktioniert der Neoimperialismus über die diffuse Ausbreitung staatlichen Einflusses mittels der internationalen Währungsordnung mit der Etablierung der Bretton-Woods-Institutionen nach dem zweiten Weltkrieg. Beide Begriffe beziehen sich auf die Bedingungen einer Weltordnung, die in großen Teilen die informelle Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Kauf nimmt.

In diesem Zusammenhang steht nun der Neoliberalismus für deregulierte, globale Marktkonkurrenz, in der allen Dingen und Lebewesen nur über ihren Marktpreis ein Wert zugemessen wird. Imperialistische und koloniale Praktiken prägen so die Konkurrenz am Weltmarkt, der wiederum zum Nachtteil der »Entwicklungsländer« eingerichtet ist. Auch nicht-staatliche Akteure entziehen sich diesem Vorwurf nicht, da sie zumindest als der neoliberalen Ordnung kompatibel angesehen werden und den Interessen der Großmächte (wenn auch unbeabsichtigt) dienen (Hardt und Negri 2002, S. 324). Wie oben schon erwähnt wurde, sind daher für die Analyse neokolonialer Beziehungen direkte koloniale Vorbedingungen nicht notwendig bzw. erschöpft sich eine Kritik des Neokolonialismus nicht in diesen Beziehungen. Die Einbeziehung des Begriffs des Eurozentrismus als weiterer analytischer Schritt kann helfen, die diffuse Verantwortungslage besser zu beschreiben. Kolonialismus und Imperialismus sind ideologisch miteinander verbunden, weil beide davon ausgehen, dass für bestimmte Bevölkerungs- oder Kulturgruppen – wohlgemerkt zu ihrem eigenen Vorteil – Herrschaft erforderlich ist (Said 1994, S. 44).

Unter dem Einfluss des gegenwärtigen Eurozentrismus

Eurozentrismus, die (un-)bewusste Bewertung alles »Fremden« ausgehend von der eigenen, vorrangig westeuropäischen Positionierung, und Neokolonialismus gemeinsam zu betrachten ist deshalb hilfreich, weil so das der wirtschaftlichen und institutionellen Dominanz zugrunde liegende Verständnis eines überlegenen Westens und dem daraus abgeleiteten Führungsanspruch unterstrichen wird. Diese Phänomene lassen sich mit Achille Mbembe (vgl. Mbembe 2021) als »gegenwärtiger Eurozentrismus« auf den Begriff bringen. Dieser entsteht zum einen aus den kolonialen und imperialen Projekten und ihrer ideologischen Fundierung ab dem 19. Jahrhundert, sowie auf der dargestellten neokolonialen Fortführung nach dem zweiten Weltkrieg durch kapitalistische Ausbeutung und die Landnahme in »Entwicklungsländern« mit der Hilfe von ausländischen, privaten und staatlichen Investoren. Ein Beispiel ist das Interesse Frankreichs an den Uranvorkommen im Niger und die damit verbundene Ausbeutung lokaler Arbeitskräfte oder die US-amerikanischen Sicherheits- und Rohstoffinteressen im Sahel (vgl. Afoumba 2021). Neokoloniale Praktiken wie die Landnahme beschränken sich nicht nur auf Afrika, sondern werden auch aus den Reihen der Europäischen Union im asiatischen und lateinamerikanischen Ausland unterstützt (Borras et al. 2016).

Die Kritik an der Verknüpfung von Neokolonialismus und Eurozentrismus entfaltet sich entlang der Frage, ob auch ehemals vom europäischen Kolonialismus betroffene Weltregionen neokoloniale Praktiken entwickeln können. Hier wird beispielweise die Ressourcensicherung und »Entwicklungsarbeit« der Volksrepublik China in afrikanischen Staaten diskutiert. Eine solche »Übersetzung« des Prinzips neokolonialen Handelns ist aber zumindest umstritten (vgl. Schüller und Asche 2007), nicht zuletzt weil die VR China zwar nicht in eurozentristische Ordnungsvorstellungen eingebunden ist, jedoch von einem globalen Kapitalismus profitiert.

Ein »enger« und ein »weiter« Begriff

Jean-Paul Sartre teilte seine Analyse des neokolonialen Systems in Algerien in drei Bereiche auf, die die politischen Erfolge der Unabhängigkeit gefährdeten und auf denen sich neokolonialer Verhältnisse offenbaren: Ökonomie und Soziales sowie (Sozial-)Psychologisches (vgl. Sartre 1988, S. 15). Im Anschluss daran lässt sich der Neokolonialismus zusammenfassend auf einen »engen« und einen »weiten« Begriff bringen. Im engeren Sinne verweist Neokolonialismus auf Konflikte um wirtschaftliche Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt, die die staatliche Souveränität beeinträchtigen und soziale Probleme befeuern. Im weiteren Sinne verweist Neokolonialismus auf (sozial-)psychologische Herausforderungen, die mit dem Zeitalter der Dekolonisation auftreten. Rassistische Diskriminierung, Deprivation und Exklusion von Personengruppen mit begrenzten politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zugängen (hierfür wurde der Begriff der Subalternen geprägt), sind die Ergebnisse von Konstruktionen eines »Anderen« in neokolonialen Verhältnissen (vgl. Spivak 1985). Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist demnach nur eine Seite des Neokolonialismus. Die andere, schwerer nachweisbare Seite stellt die kulturelle und epistemische Gewalt von Wissensverhältnissen dar, die unter anderem durch Sprache, Literatur, Wissenschaft und Medien wirkt und neokolonialen Praktiken Vorschub leistet (Ngũgĩ wa Thiong’o 1995, S. 70).

Theoretische Anschlussfähigkeit?!

Auch wenn dem Begriff des Neokolonialismus attestiert wird, ihm fehle eine kohärente Theorie (Ziai 2020, S. 129), ist er durchaus anschlussfähig, nicht zuletzt an post- und dekoloniale Theorien und Kritiken.

Das im antikolonialen Widerstand verwurzelte und maßgeblich von akademischen Migrant*innen in den USA und in Indien interdisziplinär entwickelte Feld der Postkolonialen Theorien zielt auf die Analyse und Dekonstruktion der im weiten Begriff des Neokolonialismus formulierten Phänomene ab: die kolonialen Kontinuitäten, deren asymmetrische Macht- und Wissensverhältnisse in sozialen und politischen Verhältnissen reproduziert und so stabilisiert werden. Zwar gebe es, so eine häufige Kritik, in postkolonialen Theorien ein Interesse an den Verflechtungen von Kolonialismus und Kapitalismus, doch werde die Bedeutung des Kapitalismus für den Kolonialismus in postkolonialer Theorie zu Gunsten eines kulturellen Fokus vernachlässigt (Hall 2013, S. 198f.). Der Begriff des Neokolonialismus hat das Potenzial diese Lücke zu schließen (Diallo 2017, S. 196) und materielle, geistig-kulturelle wie sprachliche Abhängigkeiten gemeinsam zu betrachten.

Ein breiteres Verständnis von Kolonialismus versuchen Texte rund um das Projekt »Modernidad/Colonialidad« zu gewinnen, das vor allem stark von Forscher*innen aus Lateinamerika vorangetrieben wurde. Dieser dekoloniale Theorieansatz versucht, die koloniale Situation asymmetrischer Machtverhältnisse als ein Grundmoment der Epoche der eurozentrische Moderne zu begreifen, die es letztlich mit nicht-europäischen, lokalen Erkenntnismethoden zu dekolonialisieren gilt. Die Kritik an der Moderne innerhalb dekolonialer Theorien wurde Ende der 1960er Jahren innerhalb der lateinamerikanischen Dependenztheorie aufgegriffen (Castro Varela do Mar/Dhawan 2020, S. 336). Deren im Vergleich zur postkolonialen Theorie allgemein als breiter verstandener Gegenstand umfasst die informelle und ökonomische Abhängigkeit der Peripheriestaaten von den »entwickelten« Industriestaaten und reflektiert stark die unter dem Begriff des Neokolonialismus formulierten Vorwürfe. Der dekoloniale Theorieansatz kann als theoretisch fundierter Nachfolger der Debatte um Neokolonialismus verstanden werden (Ziai 2020, S. 129), weil er den engen und weiten Begriff des Neokolonialismus gebündelt behandelt, ohne einen Begriff gegen den anderen zu sehr auszuspielen (vgl. am Beispiel des Friedensbegriffs den Beitrag von Pauls in dieser Ausgabe, S. 42).

Beispiele neokolonialer Strukturen und Verhaltensweisen

Unter dem Begriff des Neokolonialismus bekommen also aktuelle Strukturen und Verhalten asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse einen Namen, die als Langzeitfolgen von Kolonialismus und Imperialismus weiter präsent sind und mittels radikaler Deregulierung der Weltmärkte im Zeitalter der Globalisierung fortgesetzt werden. Die Verwendung und Verwendbarkeit dieser Begriffsbildung kann an zwei Beispielen kurz illustriert werden. Während der globalen Covid-19-Pandemie der letzten beiden Jahre und bei der Verteilung der im Westen entwickelten Impfstoffe wurde immer wieder auf neokoloniale Strukturen aufmerksam gemacht. Im Konflikt zwischen der Konzeption geistigen Eigentums, besonders hinsichtlich der Bedeutung von Eigentum als Grundprinzip liberaler Marktwirtschaft, und dem Menschenrecht auf Gesundheit offenbart sich der Neokolonialismus in seiner ganzen Breite. Die Behauptungen, das Wissen über Impfstoffe könne aufgrund von Eigentumsrechten und der innovativen »Kraft« liberalisierter Märkte nicht global geteilt werden und Länder ohne einen gewissen Industriestandard wären nicht in der Lage, Impfstoffe eigenständig zu produzieren und zu verteilen, sprechen hier eine deutliche Sprache (vgl. ECCHR 2020). Gerade im Kontext der Medizin ist ein kritisches Verständnis für die Rolle traditionellen Wissens und dessen Weiterentwicklung in den kolonialen »Laboren der Moderne« (Stoler und Cooper 1997) hoch aktuell. Es ist schwer, dieses hybride Wissen, das Ergebnis der gewaltvollen Verflechtung von Nord und Süd, als »westliches Eigentum« zu begreifen, welches nur in einem Akt der Güte geteilt werden »darf«.

Auch die Institution des Museums wird seit längerem stärker kolonialismuskritisch beleuchtet. Die Entscheidung, die Rückgabe kolonialer Raubkunst zu verzögern, gleicht einer Verweigerung, die ein neokoloniales Verhalten offenbart, das Bénédicte Savoy als »institutionelle Abwehr« bezeichnet (Savoy 2021, S. 195-199). Nicht zuletzt hinsichtlich der postkolonialen Herausforderung der Selbstbestimmung afrikanischer Kulturen und der Bedeutung von Kunstobjekten für Selbstbestimmung, offenbaren die Rechtfertigungen einer Verweigerung der Rückgabe ein neokoloniales Verhalten. Aus kriegerischen und kolonialen Kontexten geraubte Exponate sollten in den ethnologischen Museen Europas zu Forschungszwecken einerseits und andererseits zum Erhalt für zukünftige Generation verwahrt werden, so ein bekanntes Argument. Die Debatte über Restitution ist längst auch eine Kritik an neokoloniale Beziehungen, in deren Zentrum auch Frage nach einer neuen Ethik des globalen Austauschs steht. Diese zielt auch drauf ab, neokoloniale Fremdbestimmung zu vermeiden (vgl. zu dieser Frage auch Lwanzo in dieser Ausgabe, S. 46).

Zusammenfassung

Neokoloniale Konflikte können heute nicht mehr ausschließlich auf der Ebene demokratischer Wirtschaftsreformen zu Gunsten der Peripheriestaaten bearbeitet werden. Unter dem Begriff des Neokolonialismus werden Effekte und Phänomene adressiert, die in unterschiedlicher Ausprägung von post- sowie dekolonialen Theorieschulen seit geraumer Zeit behandelt werden. Diese Erkenntnisse machen es erforderlich, das Analysefeld asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse breiter zu interpretieren, um die gegenwärtigen Gewaltformen und ihre vielseitigen kolonialen und imperialistischen Ursprünge zu begreifen. Sie bilden die »andere Seite« einer von ökonomischen und ethischen Handlungsempfehlungen unserer von »Good Governance« geprägten, globalisierten Weltordnung. Die Gestaltung von Beziehung zwischen Gleichberechtigten steht vor immensen Herausforderungen, denen es in ihrer Komplexität zu begegnen gilt. Der Begriff des Neokolonialismus hat nicht nur das Potenzial, Schieflagen für die Bearbeitung offenzulegen, sondern kann auch die notwendige Irritation aufbringen, die zur Reflexion über herrschende Verhältnisse einlädt.

Anmerkung

1) Der Begriff der »neokolonialistischen Mystifikation« stammt von Jean-Paul Sartre, der 1956 davor warnte, sich auf den Trugschluss einzulassen, es gäbe innerhalb des kolonialen Systems Beziehungen, die nicht von Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnissen geprägt seien (Sartre 1988, S. 29). Der Modus kolonialer Unterdrückung bleibe erhalten, solange das koloniale System fortbesteht. Auch eine Verbesserung der politischen und sozialen Umstände kann für Sartre die Beziehungsgrundlage nicht maßgeblich verändern. Dieser Blick auf die Struktur des Kolonialismus macht eine Unterteilung in »gute« und »schlechte« Kolonisatoren unmöglich (Sartre 1988, S. 16).

Literatur

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Nicki K. Weber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Er forscht zu Postkolonialer Theorie und Schwarzer Kritik. Sein Dissertationsprojekt behandelt politisch-philosophische Konzeptionen zwischen europäischem Existenzialismus und »Black existentialism«.

Krieg gegen die Ukraine

Krieg gegen die Ukraine

Einschätzungen zur Situation

Gewaltsam eskalierte Konflikte und Kriege stellen Wissenschaft, Soziale Bewegungen und Publizistik international immer vor mehrere Herausforderungen: wie adäquat auf die Krise reagieren? Wie Solidarität zeigen und leben, die nicht nur wohlfeil, anmaßend oder paternalistisch ist? Wie Einfluss auf das Konfliktgeschehen nehmen und dabei friedenspolitisch sinnvoll handeln? So stellt natürlich auch der Krieg gegen die Ukraine dieselben Fragen an uns. In den folgenden Beiträgen versuchen die Mitglieder der Redaktion eine erste vorsichtige Sortierung dessen, was Friedenswissenschaften zur Lösung und Transformation des Konfliktes beitragen könnten, welche Dynamiken es kritisch zu hinterfragen gilt und welche Fragen noch offen sind.
Manche Überlegungen in diesem Schwerpunkt sind noch roh, manche könnten zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Heftes schon wieder hinfällig sein, dennoch wollen wir uns an einer – wie immer temporären – Einordnung versuchen.

Alles über Bord werfen?

Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges

von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg von Russland in der Ukraine hat die Koordinaten der internationalen Ordnung durcheinandergewirbelt. Glaubt man der Darstellung in Massenmedien und Regierungspolitik, herrscht zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Krieg in Europa, ungeachtet der Kriege in Jugoslawien und der ehemaligen Sowjetunion nach 1990. Es wird der Eindruck erweckt, die liberale Weltordnung habe über drei Jahrzehnte den Frieden in der Welt gesichert und wurde nun plötzlich durch einen skrupellosen Diktator aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Unter dem Diktat der ausgerufenen »Zeitenwende«, in der alles von der Kriegslogik beherrscht wird, seien frühere Gewissheiten über Krieg und Frieden obsolet oder naiv geworden. Gehört die Friedenspolitik insgesamt auf den Prüfstand?

Wir sehen das nicht so, denn gerade dieser Krieg bestätigt einmal mehr viele frühere Erkenntnisse. Es kann nicht alles über Bord geworfen werden, was zuvor richtig war und auf die Gefahren dieser vertrackten Situation hingewiesen hatte. Im Vorfeld des Krieges gab es genügend Warnungen, die zum Krieg führenden Triebkräfte zu vermeiden und die Eskalationsspirale einzudämmen. Um den Nebel des Krieges zu durchdringen, braucht es dieses Wissen.

Gibt es eine Mitverantwortung?

Die im Westen vorherrschende Meinung ist, dass Wladimir Putin, getrieben von imperialen russischen Großmachtambitionen, allein für diesen Krieg verantwortlich sei. Während dies mit Blick auf den Befehl zum Angriffskrieg korrekt ist, wird die Reduzierung auf einen einzelnen Kriegsaggressor den Dynamiken innerhalb der russischen Führung und Bevölkerung nicht gerecht. Schon vor dem Krieg gab es das geopolitische Ringen zwischen der Durchsetzung der liberalen Weltordnung auf der einen und gezielten Regelverstößen dagegen auf der anderen Seite.

Dieser Konflikt ist nicht zu verstehen ohne die Mitverantwortung des Westens für die vorangegangene Konflikteskalation (vgl. u.a. Zumach 2022). Westliche Staaten (allen voran die USA) haben selbst nicht immer Rücksicht auf ihre eigenen Prinzipien genommen, auch nicht auf das Völkerrecht und seinen Beitrag zum Weltfrieden (vgl. Zumach in dieser Ausgabe, S. 21). So wurden die Chancen für nukleare Abrüstung und die atomwaffenfreie Welt nicht genutzt, bestehende Verträge beiderseits in Frage gestellt bzw. aufgekündigt, neue Abkommen wie der Atomwaffenverbotsvertrag oder die Kontrolle der Weltraumrüstung blockiert. Mit verschiedenen Militärinterventionen haben sich die Hardliner gegenseitig in die Hände gespielt. Die am Krieg verdienende Rüstungsindustrie und Militärstrategen drängen schon länger auf eine »Zeitenwende« geopolitischer Machtkämpfe und eine forcierte Aufrüstung. Die westliche Drohkulisse hat Russland jedoch nicht vom Angriff auf die Ukraine abgehalten. Wurden vor zwei Jahrzehnten Warnungen vor einem kommenden Kalten Krieg noch ignoriert (Scheffran 2000), reden heute fast alle von einem neuen Kalten Krieg oder gar Weltkrieg.

Lehren aus Konfliktanalysen ziehen

Was bleibt in dieser Situation? Lehren aus Konfliktgeschichte und -analyse wurden in diesem Krieg bislang vielfach ignoriert. (Selbst-)Kritische Ansichten werden diskreditiert durch den politisch-medialen Komplex, in dem der Westen Opfer, aber nicht Täter ist. Jede eigene Verantwortung für die Vermeidung der Ursachen wird zurückgewiesen. Der Ukrainekrieg bestätigt jedoch in vielfacher Weise frühere Erkenntnisse der Friedenswissenschaft und -bewegung, darunter:

  • Statt Sicherheit zu schaffen, erhöhen Militär und Rüstung die gegenseitige Bedrohung, die Gegenmaßnahmen und ein Wettrüsten fördert. Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete gießen Öl ins Feuer, verstärken Sicherheitsdilemmata und Gewaltspiralen und verlängern den Krieg.
  • Rüstung und Krieg verbrauchen Finanzmittel und Ressourcen, die für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme nicht zur Verfügung stehen, Umwelt und Klima belasten. Wie andere Krisen und Konflikte der letzten Jahre hat auch dieser Krieg viel mit der expansiven Geschichte kapitalistischer Systeme zu tun, die an verschiedene Grenzen stößt, Umbrüche und Krisen verursacht (Scheffran 2021).
  • Die Systemgrenzen bedingen auch die Renaissance von nationalistischen, autoritären und identitären Verhaltensmustern, die verbunden sind mit gewaltbereitem Großmachtstreben. Dies gilt nicht nur für Russland oder China, sondern gerade auch für die liberalen Demokratien, die im Kampf um ihre Hegemonie Prinzipien über Bord werfen. So wird dem Vorrang für das Zivile und das Gewaltverbot in den internationalen Normen schrittweise die schon dünne Luft entzogen, wodurch die Möglichkeiten gewaltfreier Konflikttransformationen immer kleiner werden.
  • Die Eigendynamik militärischer Gewalt und Eskalation destabilisiert die internationalen Beziehungen, fördert Bedrohungsängste, lässt sich schwer stoppen, erschwert die Suche nach Auswegen und Lösungen (vgl. W&F Ausgabe 3/2015 zu Friedensverhandlungen).
  • Mediale Berichterstattung verstärkt oft Empörungsreflexe wie in einer Echokammer, schafft Feindbilder und Blockkonfrontation (siehe W&F Dossier 80).
  • Militärische Mittel sind für die Bewältigung (sicherheits-)politischer Herausforderungen unserer Zeit (Klimawandel, Pandemien, Ressourcen, Terrorismus, Cyberkonflikte, vernetzte Sicherheit) schlecht geeignet und behindern ihre kooperative Lösung. Sicherheitspolitik sollte vielmehr einer Friedenslogik folgen, die Kriege vermeidet, statt sie zu führen. Das Wissen über Friedenslösungen muss genutzt werden (vgl. W&F Dossier 75)

Alternativen denkbar machen

Dieser Krieg hat globale und systemische Auswirkungen, wie lange kein anderer vor ihm. Die unmittelbaren Folgen treffen hauptsächlich die Menschen in der Ukraine, aber auch die Bevölkerung Russlands und Menschen in der ganzen Welt. Die Schäden und Kosten zerstören allerdings auch die Bedingungen für eine nachhaltige Friedensordnung und ein wieder denkbarer Atomkrieg riskiert das Ende der Menschheit. Problematisch sind auch Wirtschaftskriege, Waffenlieferungen oder Militäraktionen, die die Eskalationsspirale vor und in diesem Krieg angeheizt haben, ebenso Sanktionen, die die Bevölkerung weltweit treffen (vgl. Werthes und Hussak in dieser Ausgabe, S. 18).

Es bedarf also der Alternativen. Zu unterstützen ist humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt, ebenso der Ausbau der Verbindungen zur Zivilgesellschaft und Friedensbewegung in Russland und der Ukraine, um Bewegungen zur Beendigung des Kriegs zu mobilisieren. Die Zivilgesellschaft muss mit ihren zivilen Prinzipien für menschliches Zusammenleben und Konfliktlösung überall gefördert werden, ebenso Deeskalation und Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen und Rückzug der Waffen. Weiterhin braucht es Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas. Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit setzt auf Diplomatie und »Win-Win«-Lösungen und berücksichtigt nicht nur die eigenen Sicherheitsinteressen, sondern auch die anderer Akteure.

Statt einer »Zeitenwende« für Konfrontation, Aufrüstung und Krieg, brauchen wir eine Zeitenwende für Kooperation, Abrüstung und Frieden, für gemeinsame Sicherheit, Nachhaltigkeit und die Lösung der globalen Probleme durch tragfähige Konzepte für eine »lebenswerte Welt« im gemeinsamen Haus der Erde (Scheffran 2022). Doch dafür müssen diese Konzepte auch gehört und angewendet werden.

Notwendige Verschiebungen in der Friedensforschung?

Die Ereignisse der vergangenen Wochen führen zu alten wie neuen Debatten in Friedensforschung und -bewegung. Sie betreffen Themen wie die europäische Sicherheitsordnung, Aufrüstungsprogramme und Möglichkeiten einer raschen Energiewende. Sie zeigen aber auch die Notwendigkeit neuer thematischer Schwerpunktsetzungen, die zwar vielfach benannt wurden, aber dennoch zu wenig innerhalb der Friedens-Community Raum gefunden haben. So könnte dieser Krieg für die Friedensforschung bedeuten, Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen, auch wenn deren Konfliktbearbeitungsmethoden strikt abgelehnt werden. Zudem bedarf es einer stärkeren Beschäftigung mit politischen Desinformations- und Destabilisierungsbestrebungen Russlands im Ausland sowie deren Unterstützung durch europäische rechte Parteien.

Blickt man auf die zahlreichen Stellungnahmen zum Kriegsausbruch aus Wissenschaft und Bewegung, so wird ein breiter Konsens über eine verpasste Chance der Prävention deutlich (siehe Dokumentation, S. 27). Der größte Handlungsspielraum wird der präventiven Friedensarbeit zugeschrieben, die Instrumentarien wie Dialog und Verhandlung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Ebenen entfaltet (Fischer 2022). Zudem herrscht breite Einigkeit darüber, dass eine nachhaltige Friedensordnung nicht ohne Russland zu erreichen ist.

Uns scheint ein stärkeres Zusammenwirkens von Friedensforschung, Friedensbewegung und Friedenspädagogik unumgänglich. Jede*r dieser Akteur*innen der Friedens-Community kann für je andere Handlungsebenen und Phasen von Konflikten wichtige Beiträge leisten. Der Krieg in der Ukraine kann ein – wenn auch trauriger – Anlass sein, durch die Verständigung über gemeinsame Zielsetzungen das Verhältnis mit- und zueinander neu zu überdenken und den Austausch untereinander zu stärken. Dies ist auch ein Bestreben dieser Zeitschrift.

Jede dieser drei Gruppen hat die Möglichkeit, andere Kommunikationskanäle zu adressieren, Dialogprozesse einzuleiten sowie Spielräume und Gelegenheitsfenster zu nutzen. Als ein Beispiel für ein gelungenes Zusammenwirken können die Dialogprozesse genannt werden, wie sie nach den Kriegshandlungen in den westlichen Bal­kanstaaten ab den 1990er Jahren unter anderem vom »Nansen Dialogue Network« (nansen-dialogue.net) durchgeführt wurden. Eine weitere Methode ist die Theaterarbeit, die vom Hamburger Regisseur Georg Genoux in Russland und der Ukraine durchgeführt wurde (Genoux 2021). Er beschreibt eindrucksvoll die individuellen wie gesellschaftlichen Transformationspotentiale von Konflikten, die in künstlerischen Prozessen entstehen können.

All dies verdeutlicht: Keinesfalls sollten friedenswissenschaftliche Erkenntnisse in Zeiten eskalierten Krieges über Bord geworfen werden; vielmehr ist es an uns, die Verstärkung von Friedensforschung zu fordern, das Verhältnis zur Friedensbewegung neu auszuhandeln und uns resolut für zivile und gewaltfreie Wege zur Konflikttransformation einzusetzen.

Literatur

Fischer, M. (2022): Krieg in der Ukraine. Blog Brot für die Welt, 27.02.2022.

Genoux, G. (2021): Die Seele heilen. Die Kraft des Theaters. Wissenschaft & Frieden 3/2021, S. 42-44.

Scheffran, J (2000): Zurück zum Kalten Krieg? Russland und der US-Hegemonieanspruch. Wissenschaft & Frieden, 2/2000.

Scheffran, J. (2021): Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“. Die Friedenswarte 3-4/2021, S. 205-227.

Scheffran, J. (2022): Klimaschutz für den Frieden: Der Ukraine-Krieg und die planetaren Grenzen. Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2022, S. 113-120.

Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le monde diplomatique, 10.03.2022.

Ein psychologischer Blick auf die Situation

von Klaus Harnack

Ein guter Indikator, wie groß unser Unvermögen ist, diesen Krieg zu verstehen und einordnen zu können, zeigt uns die in den Medien immer wieder aufgeworfene Frage „Wie erkläre ich den Kindern diesen Krieg?“ Ist diese, für sich genommen, legitime Frage, nicht in Wirklichkeit eine Stellvertreterfrage, die zeigt, dass wir bei der Einordnung dieses Krieges selbst noch im völligen Dunkeln stehen? Wir finden uns im ersten Augenblick der Schockstarre mit leeren Händen bezüglich unsere Handlungsoptionen wieder, denn die meisten friedensorientierten Naturwissenschaften basieren auf einem Präventions- anstatt auf einem Interventionsverständnis. Im Angesicht des eskalierten Konfliktes in der Ukraine ist es deswegen jetzt umso wichtiger, weniger auf die eigene mahnende Tätigkeit in der Vergangenheit zu referieren, als vielmehr friedenspsychologische Methoden und Erkenntnisse ausfindig zu machen, die der gegenwärtigen Kriegslogik eine fundierte Logik des Friedens entgegenstellen.

Gruppendenken und Gesichtswahrung

Mit Blick auf den Aggressor könnte die Theorie des »Groupthink« (Janis 1972) zu einer Erklärung des Entstehungsprozesses beitragen, wie es zu dem Angriff kommen konnte. Groupthink oder das Gruppendenken beschreibt einen Prozess innerhalb einer geschlossenen und isolierten Gruppe, bei der die Gruppe für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbare und objektiv schlechte Entscheidungen trifft. Dabei wird der Zusammenhalt der eigenen Gruppe für viel wichtiger gehalten als die getroffenen Entscheidungen selbst. Getrieben wird dieser Mechanismus durch die Bedrohung und Isolation der Gruppe. Die Meinungen passen sich immer mehr aneinander an und eigentlich hilfreiche divergierende Standpunkte werden zunehmend aktiv bekämpft und unterdrückt, um die selbstgeformte artifizielle Gruppendynamik zu stabilisieren. Die Abwehr von Bedrohungen der Gruppenüberzeugungen wird so zum primären Ziel. Beispiele dafür lassen sich in den absurd anmutenden, öffentlich abgehaltenen Sitzungen des russischen nationalen Sicherheitsrats in den Tagen vor Kriegsbeginn im Februar 2022 oder auch in den Entscheidungen der ukrainischen Führung, bestimmten Parteien die Ausübung ihres politischen Mandats zu verbieten, sehen.

Während die Theorie des »Groupthink« für die Entstehung der Angriffsentscheidung herangezogen werden kann, kann die Thematisierung der Notwendigkeit für einen gesichtswahrenden Ausstieg einen möglichen Ausweg aus der gegenwärtigen Situation weisen. So schwer es emotional fällt, so notwendig ergibt es sich aus psychologischer Sicht, dass dem Aggressor immer auch eine Hintertür auf diplomatischem Parkett eröffnet wird. Schon Clausewitz betonte, dass nichts schwerer ist, „als der Rückzug aus einer unhaltbaren Position“, denn je mächtiger ein*e Aggressor*in seinem*ihrem Selbstverständnis nach ist, desto enger wird das eigene psychologische Korsett und umso kleiner der eigene Aktionsradius, Handlungen aus der Vergangenheit zu revidieren. Eine Chance liegt hier in der sehr diffusen Kriegsbegründung Russlands, die eine Beilegung des Krieges ohne internen Gesichtsverlust ermöglichen und eine weitere Eskalation verhindern könnte. Hier könnte sich der Kriegsapparat sowohl auf die »geglückte« Unterstützung der Separatistengebiete Luhansk und Donezk, eine Schwächung des westlichen Einflusses innerhalb der Ukraine oder um die »erfolgreiche« Abwehr russischer Nationalinteressen berufen.

Kognitive Dissonanz

Ein psychologischer Klassiker, der das Erleben mittelbar Beteiligter beschreibt, ist das durch den US-Sozialpsychologen Leon Festiger (1957) bekannt gewordene Konstrukt der »kognitiven Dissonanz«. Wie andere Konsistenztheorien beschreibt es die interne Harmonisierung von Kognitionen, Motivation und tatsächlicher Handlung, die nach Widerspruchsfreiheit im eigenen Denken strebt.

Als kognitive Dissonanzreduktion wird die Triebfeder beschrieben, die die Lücke (Inkongruenz) zwischen den eigenen Vorstellungen, Überzeugungen und Wünschen und der Realität zu schließen versucht, indem das Denken die Realitätswahrnehmung den eigenen Vorstellungen und Wünschen systematisch angleicht. Dies kann auf staatlicher Ebene durch Propaganda, aber eben auch als interner Mechanismus individuell geschehen. Die im Vorfeld des Konfliktes aufgezogenen Narrative Russlands und die von westlicher Seite getroffenen Entscheidungen, wie beispielsweise der Umgang mit der NATO-Osterweiterung, Nord Stream 2 oder die vorherige Situation auf der Krim dokumentieren diesen Prozess. Aufbauend auf dieser Erkenntnis könnten zukünftige Entscheidungen besser reflektiert und die Aussagen der beteiligten Parteien auf mögliche Interessen und Ressourcen überprüft werden, um so zukünftige Maßnahmen der Annäherung auf Basis einer breiteren Akzeptanz im politischen Diskurs besser vertreten zu können.

Grundbedürfnisse befriedigen

Für die Zeit nach einer hoffentlich baldigen Beendigung der kriegerischen Gewalt verweist das „bedürfnisbasierte Modell der Versöhnung“ (Shnabel und Nadler, 2008) auf einige grundlegende Aspekte, um den Bedürfnissen aller Konfliktparteien nachzukommen. In aller Kürze besagt das Modell, dass Opfer eine Einschränkung ihres Status und ihrer Macht erfahren haben, während Täterschaft mit einer Einschränkung der moralisch-sozialen Dimension einhergeht. Für eine Versöhnung müssen diese Verluste im Zuge einer Annäherung wieder hergestellt werden, d.h., dass das Opfer für die Bereitschaft zur Versöhnung eine Kompensation des erlittenen Kon­trollverlustes benötigt, während der*die Täter*in wieder Anerkennung vom Opfer und Drittbeteiligten erfahren möchte. Dies sollte besonders in vermittelten Drittparteiengesprächen berücksichtigt werden, um den diplomatischen Prozess zu unterstützen.1

Natürlich stellt diese, wie auch die vorhergenannten Theorien immer nur Teilaspekte dar und werden in ihrer Begrenztheit der Realität nicht umfänglich gerecht; aber alle Theorien zeigen Handlungsoptionen auf, die uns aus dem Unvermögen des Verstehens und der Optionslosigkeit herausführen können. Für die Anwendung bedürfen sie der Erweiterung und Schärfung durch weitere Disziplinen, um das Ziel einer friedensorientierten Doktrin erreichen zu können. Einer Doktrin, die sowohl die gegenwärtige Situation, als auch die Situation nach Beendigung des Konfliktes im Auge hat und mit Hilfe der Werkzeuge der friedensorientierten Wissenschaften die Logik des Friedens auch in Zeiten des Krieges anwendet.

Anmerkung

1) Für weitere mögliche Lektionen aus der psychologischen Verhandlungsforschung siehe auch Frech (2021).

Literatur

Festinger, L. (1957): A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford: Stanford University Press.

Frech, A. (2021): Frieden lernen. Eine Einführung in die Psychologie des Verhandelns. W&F 3/2021, S. 39-41.

Janis, I. L. (1972): Victims of Groupthink: A Psychological Study of Foreign-policy Decisions and Fiascoes. Boston: Houghton, Mifflin.

Shnabel, N.; Nadler, A. (2008): A needs-based model of reconciliation: Satisfying the differential emotional needs of victim and perpetrator as a key to promoting reconciliation. Journal of Personality and Social Psychology 94(1), S. 116-132.

Die Rückkehr des Militärischen

von Marius Pletsch, Paul Schäfer und Marek Voigt

Weltweit ist bei den Rüstungs- und Militärausgaben seit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und dem bewaffneten Konflikt um die seit 2014 von Russland militärisch unterstützten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk ein deutlicher Trend nach oben zu beobachten. Neben der Rüstung gegen Russland nach 2014 waren weitere Faktoren der amerikanische Politikwechsel des »pivot to Asia« – also der Fokus auf die Einhegung der aufstrebenden Großmacht China – unter Präsident Obama und später die Wahl Trumps, welche die europäischen Staaten veranlassten, mehr für Rüstung auszugeben. Zu der internationalen Aufrüstungsdynamik tragen auch die sich intensivierenden Konflikte über die regionale Vormachtstellung in Südostasien, im Nahen und Mittleren Osten oder westliche »Stabilisierungs- und Ausbildungseinsätze« auf dem afrikanischen Kontinent – insbesondere im Sahel – bei.

Mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar rückte in der Außenpolitik der Fokus wieder abrupt auf »staatliche Sicherheit«. Das ging einher mit der Wiederkehr der Abschreckungslogik(en) des Kalten Krieges und einem neuen, als »systemisch« apostrophierten Konflikt zwischen West und Ost. Beides wird diese Aufrüstungsdynamik über Jahre an Fahrt gewinnen lassen, Mittel und Aufmerksamkeit binden und Kooperation bei globalen Herausforderungen hemmen oder komplett zum Erliegen bringen. Das ist besonders tragisch, da globale Krisen wie die Klimakatastrophe nicht abwarten werden, bis die Blöcke meinen, den Systemkonflikt militärisch entschieden zu haben. Die Aktienkurse der Rüstungsschmieden nach dem Beginn des Krieges waren hier Vorboten. Es wird der „Zwang zur Abschreckung“ (Zellner 2022) ausgerufen, und Friedens- und Konfliktforscher Niklas Schörnig sagte dem evangelischen Pressedienst, „[w]ir müssen gezwungenermaßen wieder wie im Kalten Krieg denken“ (Bayer-Gimm 2022).

Deutsche Aufrüstung in einer »neuen Zeit«?

Die Ukraine wird von der Bundesrepublik mit modernen und weniger modernen Rüstungsgütern direkt unterstützt. Geliefert wurde zunächst aus dem Bestand der Bundeswehr. Da hier die Möglichkeiten erschöpft sind, werden seit Ende März auch Waffen direkt von Rüstungsunternehmen in die Ukraine verschickt.

Für die von diesen unmittelbaren Waffenlieferungen an die Ukraine gänzlich unabhängige Aufrüstung der Bundeswehr soll ein Sondervermögen in der Höhe von 100 Mrd. € geschaffen werden, abgesichert durch das Grundgesetz, zweckgebunden und ausgenommen von der Schuldenbremse. Das Geld wird noch in diesem Haushaltsjahr eingestellt. Nach dem Haushaltsentwurf von Bundesfinanzminister Lindner sieht der jährliche Haushalt 2022 50,334 Mrd. € und 2023 bis 2026 pro Jahr 50,1 Mrd. € für das Bundesverteidigungsministerium vor. Das 2 %-Ziel der NATO soll die nächsten fünf Jahre mithilfe des Sondervermögens erreicht, wahrscheinlich sogar übererfüllt werden.

Folgt man dem öffentlich vermittelten Eindruck, so handelt es sich um eine dramatische Veränderung der deutschen Politik. Der Blick auf den Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2021 zeigt jedoch: An den dort erkennbaren Linien und den generellen Absichten und Plänen für die deutsche Verteidigungspolitik hat sich nicht viel geändert. Stichworte sind hier: rasche Klärung der Tornado-Nachfolge für die nukleare Teilhabe, Drohnenbewaffnung, Zusage und Unterstützung an multinationale Großprojekte wie dem »Next Generation Weapon System« im »Future Combat Air System« (FCAS) und dem »Main Ground Combat System« (MGCS). Damit ist offensichtlich: Die Richtung war vorgezeichnet. Allerdings sind Skrupel, Bedenken und Einwände auch aus dem Lager der jetzigen Regierungsparteien gegen diesen Kurs auf einen Streich mit der Rede von Kanzler Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag vom Tisch gewischt worden. Jetzt kann das Angedachte immens beschleunigt, finanziell abgesichert und, ohne Widerstände befürchten zu müssen, durchgezogen werden. Der Ausdruck »Zeitenwende« ist daher mit größter Vorsicht zu betrachten. Genau genommen zielt er eher auf eine Öffentlichkeit ab, die alles Weltgeschehen unter dem Primat militärischer Abschreckung einer »Politik der Stärke« betrachten soll. Die Scholz’sche Überrumpelung des Parlaments und der Öffentlichkeit passte haargenau zu dieser Art »Wende«: Über Sinn und Unsinn einer fixen Aufrüstung (2 %-Ziel), über die Beschaffung spektakulärer Waffen-Großprojekte und über die Einsatzdoktrin der Streitkräfte soll nicht weiter nachgedacht und diskutiert werden. Dabei ist die strategische Debatte, wozu die Bundeswehr von der Politik überhaupt gebraucht und eingesetzt werden soll, bitter notwendig. Herbert Wulf schreibt dazu treffend: „Zuerst Finanzen bereit zu stellen und dann zu fragen, was damit geschehen soll, ist die falsche Reihenfolge“ (Wulf 2022). Was jetzt zu sehen sei, sei „Panikpolitik, die der Bundeswehr kaum nützt“ (ebd.). Unter dem Dach des Auswärtigen Amts soll über die kommenden Monate eine »Nationale Sicherheitsstrategie« erarbeitet werden. Bis die Strategie fertig ist, werden zahlreiche wegweisende Beschlüsse schon den parlamentarischen Prozess passiert haben.

Neue Blöcke?

Die sich über die Jahre langsam, aber stetig zuspitzende neue Blockkonfrontation mit Russland und China auf der einen und »dem Westen« auf der anderen Seite wird sich durch den Krieg gegen die Ukraine beschleunigen. Präsident Biden hat bei seinem Besuch in Polen Ende März 2022 den neuen Systemkonflikt wie folgt beschrieben: Er sehe ihn als eine „große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird. Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen“ (The White House 2022).

Was an Bidens emphatischer Rede richtig ist: Es gibt in der Tat einen weltweiten Konflikt zwischen autoritären und freiheitlichen Ordnungsvorstellungen, zwischen der konsequenten Umsetzung von Menschenrechten und ihrer Nichtachtung. Nur kann dieser Wertekonflikt nicht bestimmten Staatengruppen oder Allianzen (der »gute« Westen gegen den »bösen« Osten) zugeordnet werden. Der Blick auf die verschiedenen Partner auf der westlichen Hälfte des neuen Großkonflikts zeugt davon, dass die alte Politik der doppelten Standards fortgesetzt werden soll. Wer auf der richtigen Seite steht, darf auf milde Beurteilung hoffen, wenn es um Demokratie und Menschenrechte geht.

Auch die Europäische Union sieht sich dazu aufgerufen, in diesem Wettstreit zwischen Demokratie und Diktatur Farbe zu bekennen. Sie möchte endlich zu einem wirkmächtigen globalen Akteur werden. Offen bleibt, was der strategische Kern dieser Bemühungen sein soll: Eigenständigkeit auch von den USA oder weiter an der Seite der USA gegen Russland/China? Neokoloniale Missachtung der Belange des Globalen Südens oder strikte Ausrichtung auf die globale, gleichberechtigte Kooperation zur Verwirklichung der »Sustainable Development Goals«? Was wir stattdessen wahrnehmen, ist eine Fokussierung auf die militärische Stärkung der EU (siehe z.B. W&F 1/2021). Die durch den Krieg begünstigte relative Einigkeit zwischen den Staaten der EU soll nun genutzt werden, um diesen Prozess voranzutreiben. Der Instrumentenkoffer dafür wurde über die vergangenen Jahre prall gefüllt: die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), der Europäische Verteidigungsfonds (EDF), die Europäische Friedensfazilität oder auch die seit Jahren zunehmende Dual-Use Forschung in den Forschungsprogrammen der EU (bspw. Horizon 2020). Im Rahmen des »Strategischen Kompasses« soll nun zusätzlich eine neue 5.000-köpfige Eingreiftruppe geschaffen werden, die ab 2025 einsatzfähig sein soll (Demirel und Wagner 2022). Was davon tatsächlich umgesetzt werden wird, ist nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nicht abschließend zu beantworten. Tatsache bleibt, dass die EU ihre hegemonialen Machtambitionen auf den oben geschilderten systemischen Konflikt ausrichten und militärisch untersetzen will. Damit bleibt auf der Strecke, dass sich die EU in den globalen Auseinandersetzungen der Zukunft als Macht des Interessenausgleichs, der globalen Zusammenarbeit, einer Politik der Deeskalation und der Abrüstung profilieren könnte.

Die NATO scheint immerhin – Stand Anfang April 2022 – nicht gewillt zu sein, sich direkt(er) am Krieg in der Ukraine zu beteiligen – die Risiken einer Eskalation und eines noch größeren Krieges mit aktiver NATO-Beteiligung erscheinen zu hoch. Dennoch werden Truppen und Material in die osteuropäischen Mitgliedsländer in Bewegung gesetzt.

Gleichzeitig ist der nukleare Schrecken zurück in den Köpfen und präsent wie seit über 30 Jahren nicht mehr, unverhohlene Drohungen eines Einsatzes dieser verheerenden Waffen inklusive. Dies ist umso bedrohlicher, da fast alle bi- und multilateralen Sicherungsinstrumente der zwischenstaatlichen Kooperation nicht mehr existieren. Im Bereich der nuklearen Waffen ist nur noch der »New Start«-Vertrag für die Begrenzung der Strategischen Nuklearwaffen verblieben, andere Instrumente der nuklearen und auch konventionellen Rüstungskontrolle wurden mal von den USA, mal von Russland aufgekündigt. Einem absichtlichen, aber auch versehentlichen Einsatz durch Fehleinschätzung und unbeabsichtigte Zwischenfälle muss vorgebeugt werden. Nukleare Abrüstung wird durch die aktuelle Eskalation nicht etwa weniger wichtig, wie die Regierungen auf beiden Seiten zu glauben scheinen, sondern umso dringender. Ein halbherziges Herangehen, wie das Deutschlands, ist nur wenig überzeugend. Dabei könnte Deutschland hier, wie Wolfgang Richter schreibt, einen wichtigen Beitrag leisten. Auch wenn das Signal für die Atomwaffen besitzenden Staaten nicht überschätzt werden solle, „die Glaubwürdigkeit seiner Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik […] würde gestärkt werden, sollte sich Berlin aus der nuklearen Teilhabe lösen und dies als Beitrag zur globalen Abrüstung kommunizieren. Als politisches Signal würde ein solcher Schritt dem NVV-Prozess einen positiven Impuls geben“ (Richter 2021, S. 99).

Auch wenn sie im Kontext von verstärkter Aufrüstung, Militarisierung und Blockbildung derzeit wenig opportun erscheinen, so müssen Optionen der Deeskalation, diplomatischen Konfliktlösung und Abrüstung jetzt erst recht auf den Tisch.

Literatur

Bayer-Gimm, J. (2022): Friedensforscher: Westen muss für Verständigung aufrüsten. evangelisch.de, 3.3.2022.

Da Silva, D.; Tian, N.; Marksteiner, A. (2021): Trends in World Military Expenditure, 2020. SIPRI Fact Sheet.

Demirel, Ö.; Wagner, J. (2022): Strategischer Kompass weist den Weg zur Militärmacht EU. telepolis, 26.3.2022.

Richter, Wolfgang (2021): Abrüstung, Nichtverbreitung und nukleare Teilhabe. Deutschlands europäische und globale Verantwortung. In: Maihold, G. et al. (Hrsg.): Deutsche Außenpolitik im Wandel. Unstete Bedingungen, neue Impulse. SWP Studie 15, S. 97-100.

The White House (2022): The Royal Castle in Warsaw. Warsaw, Poland. 26.3.2022.

Wulf, H. (2022): Panikpolitik. ipg-journal.de, 15.3.2022.

Zellner, W. (2022): Der Zwang zur Abschreckung: Das Dilemma des Westens. Blätter, 04/2022.

Reflexionen über pazifistisches Handeln und Solidarität

von Christiane Lammers und David Scheuing

Mit Kriegsausbruch in der Ukraine sind pazifistisch begründete Forderungen und Hinterfragungen der Kriegslogik noch weiter in Bedrängnis geraten. Pazifismus und ein Eintreten für Gewaltfreiheit wird als moralisch nicht begründbare Haltung verstanden. Das Einlassen auf die Gewaltspirale sei die einzige Möglichkeit, um die Ukraine, Moldawien und Andere – womöglich auch uns – vor dem Zugriff Putins zu retten. Bleiben noch Möglichkeiten einer gewaltfreien, solidarischen Reaktion, fragen wir uns angesichts der gewaltsamen Eskalation.

In einem Interview zur Dringlichkeit pazifistischen Handelns setzt sich der Wissenschaftsphilosoph Olaf Müller (2022) mit dem Rettungsgedanken in dieser Kriegssituation auseinander, im Sinne des Schutzes von Menschenleben: Es sei kein Verteidigungskrieg denkbar, in dessen Verlauf keine Stadt in Schutt und Asche gelegt wird. An dem Schicksal von Mariupol sehen wir, wie unbarmherzig ein entschlossener Angreifer reagiert – gerade wenn er bzw. die Soldaten sich durch militärische Gegengewalt legitimiert sehen, durch Tötung und Zerstörung die eigene Haut zu retten. Olaf Müller liegt es fern, der Ukraine die Legitimität der (auch gewaltsamen) Verteidigung abzusprechen, aber er macht auf einen schwierigen Punkt aufmerksam: Entspricht es unserem Wertesystem, tausendfache Opfer in der Ukraine in Kauf zu nehmen und, das sei von uns hinzugefügt, hunderttausendfache Hungertote, die vermutlich als »Kollateralschaden« im Globalen Süden in diesem und in den nächsten Jahren sterben werden?

Auch mit dem berechtigten Verweis auf die diesbezügliche Schuld des russischen Aggressors kann man sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Ebenso wie es uns fernliegt, der Ukraine Vorschriften zu ihrem eigenen Handeln zu machen, ist es auch unabdingbar, dass wir eigene Entscheidungen bezüglich unseres Handelns treffen und unsere deutsche und europäische Politik selbstkritisch in Zweifel ziehen. Die Hoffnung des Westens ist bislang darauf gerichtet, dass die Wehrkraft der Ukraine, unterstützt durch westliche Militärhilfe und begleitet von massiven Sanktionen gegen Russland, den Krieg beendet. NATO-Diplomat*innen und Militärexpert*innen warnen allerdings schon heute vor einem langanhaltenden Zermürbungskrieg, in dem beide Seiten nur verlieren können und die Wahrscheinlichkeiten für Kriegsverbrechen und hohe zivile Opferzahlen rasant steigen.1

Wenn der Rettungsgedanke von Müller hält, so ergibt sich also schon aus humanitären Gründen die Notwendigkeit, an der Abschaffung aller Gewaltmittel zu arbeiten. Dies allein ist jedoch unzureichend, um der Situation des Überfalls durch einen Aggressor zu begegnen. Außerdem dürfte eine solche Forderung, heute erhoben, in den Ohren der Ukrainer*innen wie Spott klingen. Zu Recht fordern sie unsere Solidarität.

Solidarität als gewaltfördernde oder -mindernde Vokabel

Doch was heißt nun »Solidarität«? Von staatlicher ukrainischer Seite wird unter Solidarität vor allem das Zurverfügungstellen von Waffenhilfe bis hin zum direkten Kriegseintritt verstanden. Wenn allseits in Europa argumentiert wird, dass letztlich vor allem Waffengewalt zählt – so z.B. bei den Begründungen für die massive Steigerung des Rüstungshaushalts in Deutschland – dann ist dies ein konsequentes Verständnis. Diese Gleichsetzung war auch in anderen gewaltförmigen Konflikten zu beobachten – z.B. in der inzwischen schon sprichwörtlichen Formel der »uneingeschränkten Solidarität«, die westliche Staaten nach dem 11. September 2001 gegenüber den USA erklärten.2

Solidarität könnte jedoch auch anders verstanden und umgesetzt werden: als gewaltminderndes Konzept, dessen Ziel es ist, vor allem Menschenleben konkret zu schützen. Hierzu zählt nicht nur die Flüchtlingshilfe, humanitäre Hilfe und alle erdenkliche Diplomatie. Es gilt auch zu prüfen, ob kurzfristig geplant Mittel des Sozialen Widerstands in dieser hoch eskalierten Situation Sinn machen.

  • Zum Stichwort Flüchtlingshilfe: Es muss alles getan werden, damit Fluchtkorridore offen bleiben bzw. neu geöffnet werden. Auch Männern sowie Personen, die den Kriegsdienst verweigern wollen, muss die Flucht ermöglicht werden.
  • Humanitäre Hilfe wird in großem Ausmaß und lange erforderlich sein. Es wird erheblichen Finanzierungsschwierigkeiten zu begegnen sein, da die internationale humanitäre Hilfe weltweit massiv beansprucht wird.
  • Bezüglich bisher öffentlich gewordener diplomatischer Initiativen ist es etwas irritierend, dass, zumindest medial vermittelt, vor allem auf westliche Regierungsvertreter*innen gesetzt wird. Schröders Treffen mit Putin wurden mit Hohn quittiert, von China verlangte man vielseits eine eindeutige Positionierung gegen die russische Regierung, die UN wurde vor allem als Struktur für Deklarationen gegen Russland genutzt (siehe dazu auch Zumach in dieser Ausgabe, S. 21). Das mag alles politisch gut begründbar sein, aber wird dabei nicht verkannt, dass es dringend eines »neutralen Dritten« bedarf, um die Aushandlung eines Waffenstillstands voranzutreiben?

Hoffnungen auf Soziale Verteidigung? Naiv gedacht?

Nun zum Letztgenannten: der solidarischen Unterstützung des Sozialen Widerstands. Die Berichterstattung über das Kriegsgeschehen lässt kein klares Bild entstehen über Art, Ausmaß und Relevanz des Widerstands der ukrainischen Zivilbevölkerung. Die hohen Flüchtlingszahlen innerhalb der Ukraine und in die Nachbarstaaten lassen vermuten, dass der zivile Widerstandswille nicht so groß ist, wie seitens der ukrainischen Regierung vermittelt. Wie dem auch sei: Ziviler Widerstand ist analytisch zu trennen von »Sozialer Verteidigung«.

Ersterer kann auch gewaltförmige Mittel einschließen, also auch Methoden des bewaffneten Partisanenkampfs. Die heroisch anmutenden Bilder von Molotow-Cocktails und Bomben bauenden Ukrainer*innen haben wir vor Augen.3 Gewaltförmiger, zivilgesellschaftlicher Widerstand bedeutet jedoch, dass involvierte Zivilpersonen zu Kombattant*innen im Krieg werden, d.h. nicht mehr völkerrechtlich bzw. durch das Kriegsrecht geschützt sind. Im urbanen Kampfgeschehen werden unbewaffnete Zivilist*innen zu »menschlichen Schutzschilden«. Es wird am Ende kaum mehr zu unterscheiden sein, ob Zivilist*innen im Kampf getötet oder widerrechtlich umgebracht wurden. Die vielen Toten, die nach dem Rückzug der russischen Truppen aus den Kiewer Vorstädten gefunden wurden, geben schon einen bitteren Vorgeschmack darauf, wie die Kriegslogik greift.

Bleibt die Frage, ob solidarisches Handeln auch im Kontext der sogenannten »Sozialen Verteidigung« in dem jetzt hoch eskalierten Konflikt realisierbar wäre. Im Fokus der Sozialen Verteidigung steht nicht die Verteidigung des Territoriums, sondern die aktive Verteidigung der eigenen Lebensweise und Werte. Die dahinterstehende Annahme ist, dass letztlich die Kooperations»bereitschaft« der Bevölkerung darüber entscheidet, ob der Aggressor, hier die russische Regierung, etwas von der Kriegssituation und der Besetzung der ukrainischen Landesteile und Städte hat. Methoden der Sozialen Verteidigung sind etwa: Verlangsamung der Arbeit, Boykott u.a. von Institutionen der Gewaltprofiteure (oft bspw. Banken), Generalstreik oder Demonstrationen. Dabei ist natürlich nicht zu verkennen, dass Gewaltfreiheit unter kriegerischen Zuständen auch gefährlich ist und Menschenleben fordern kann. In Deutschland arbeitet vor allem der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) an und mit dem Konzept. Die Frage, ob die Bedingungen für gewaltfreie Soziale Verteidigung in der Ukraine gegeben waren und sind, wird dort bejaht (BSV 2022). Dass es derzeit einen praktizierten gewaltfreien Widerstand sowohl in der Ukraine als auch in Russland gibt, wird vom Metta Center for Nonviolence (2022) eindrucksvoll dokumentiert (siehe auch Wintersteiner in dieser Ausgabe, S. 24).

Unser solidarisches Handeln ist hierbei gefordert: Neben der Notwendigkeit, diesen Ansätzen in den politischen Debatten Gewicht zu geben, heißt es, diese konkret und praktisch zu unterstützen. Solidarität könnte sich ausdrücken in »Zivilem Peacekeeping«, auch wenn dies primär präventiv gedacht ist (vgl. Nonviolent Peaceforce 2021).4 Anwendung könnten Erfahrungen des »Balkan Peace Team« aus den 1990er Jahren finden, die im Rahmen einer internationalen Kooperation mehrerer Friedensorganisationen lokale Friedensfachkräfte, die Schutzbegleitung von Menschenrechtsaktivist*innen, Besuche der Flüchtlingslager, Versöhnungsarbeit, Jugendarbeit und Lobbyarbeit (Regierungen, diplomatische Vertreter*innen und NGOs) beinhaltete (Müller und Foster 2012). Aber auch für solches Vorgehen gilt, dass es seine Wirksamkeit erst dann entfalten kann, wenn es geplant Teil eines Gesamtkonzeptes ist – einer transnationalen Notfallvorbereitung, die Friedensorganisationen in den letzten Jahren haben vermissen lassen.

Pazifismus und Soziale Verteidigung als Grundräson?

Ein Gedankengang zum Schluss: Viele, die in der Friedensarbeit aktiv sind, lehnen das von der Bundesregierung beschlossene Sondervermögen in Höhe von 100 Mrd. € für die Bundeswehr ab. Angesichts der Verunsicherung durch die Unwirksamkeit bisheriger, als konflikteinhegend eingeschätzter Instrumente – von der UN-Charta, internationalen Institutionen bis hin zu ökonomischen Projekten wie Nordstream 2 –, werden wir nicht darum herumkommen zu antworten auf die Fragen: „Was soll geschehen, wenn die Krisenprävention versagt? Wollen wir, dass unser Land sich verteidigen kann?“ Aus den anfangs für die Ukraine genannten Gründen folgt die Frage nach der Form der Selbstverteidigung, die wir bereit wären zu tragen. Dieser Frage sollte nicht ausgewichen werden: Auch deshalb, weil Soziale Verteidigung, der Strategie, der Mittel und der Kompetenzen bedarf. 100 Mrd. € wären hierfür nicht notwendig, aber Planung und Vorbereitung, womöglich auch eine entsprechende gesellschaftliche Kultur. Es ist höchste Zeit, unsere eigene Politik zu hinterfragen und für Soziale Verteidigung zu streiten – in Solidarität mit den akut vom Krieg betroffenen Menschen, wie für unsere eigene Zukunft.

Anmerkungen

1) Siehe z.B. Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß im Interview mit dem Deutschlandfunk (Küpper 2022).

2) Zur Problematisierung der Solidarität im Kontext des Ukraine-Kriegs, siehe auch Vondermaßen und Bieß (2022).

3) »Stern« und »Focus« verifizierten diverse dieser Videos, die Ende Februar 2022 verbreitet wurden.

4) Das Konzept hat erstaunlicherweise auch Eingang in die Leitlinien der Bundesregierung zur Zivilen Krisenprävention von 2017 gefunden.

Literatur

BSV (2022): Gewaltfreie Alternativen zu Krieg und Rüstung. Thesenpapier von Christine Schweitzer, 15.03.2022.

Küpper, M. (2022): Militärstratege Brauß befürchtet „langen Zermürbungskrieg“. DLF, 21.3.2022.

Metta Center for Nonviolence (2022): Resistance to war in Ukraine: Actions, news, analyses, and resources for nonviolence. mettacenter.org/nonviolencereport/resistance-to-war-in-ukraine-resource-list, kontinuierlich aktualisiert.

Müller, B.; Foster, P. (2012): The Balkan Peace Team 1994-2001 Non-violent intervention in crisis areas with the deployment of volunteer teams. Stuttgart: ibidem Verlag.

Müller, O. (2022): Optionen des Pazifismus in kriegerischen Zeiten. Interview mit dem SRF. Vollständiges Transkript, W&F Blog.

Nonviolent Peaceforce (2021): Unarmed civilian protection. Strenghtening civilian capacities to protect civilians against violence. Zweite Edition. Selbstverlag.

Vondermaßen, M.; Bieß, C. (2022): Solidarität mit der Ukraine. Blogbeitrag, BedenkZeiten (Uni Tübingen), pdf bei Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.

Statthalter in Zeiten von Krieg und Frieden

Statthalter in Zeiten von Krieg und Frieden

Die Rolle der »Comités de Autodefensa Civil« in Peru

von Eva Willems

Die gängige Einteilung in Opfer und Täter*innen, die das Handeln in Kriegszeiten beschreibt, übersieht oft die Ambivalenzen der zivilen Beteiligung an bewaffneten Konflikten. Ein Blick auf die bäuerlichen Gemeinschaften, die während des internen bewaffneten Konflikts in Peru (1980-2000) in zivilen Selbstverteidigungskomitees organisiert waren, gibt Aufschluss über einige dieser Zweideutigkeiten. Die Selbstverteidigungskomitees trugen dazu bei, das tägliche Leben über die rein militärischen Angelegenheiten hinaus zu organisieren, einschließlich Strategien zur Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen des »Leuchtenden Pfads«.

1980 nahm die maoistische Rebellengruppe »Leuchtender Pfad« (Sendero Luminoso) in der Region Ayacucho in Peru ihren bewaffneten Kampf auf, um die Zentralregierung zu stürzen und ein kommunistisches Regime zu errichten. Der Aufstand des Leuchtenden Pfads wurde von den staatlichen Streitkräften mit einer brutalen Kampagne der Aufstandsbekämpfung beantwortet. Nach Angaben der Wahrheits- und Versöhnungskommission (CVR), die nach der politischen Wende im Jahr 2000 eingesetzt wurde, wurden während des Konflikts ca. 69.000 Peruaner*innen getötet oder verschwanden (CVR 2003a). Im Laufe dieses internen bewaffneten Konflikts entstand im Apurímac-Tal, im nördlichen subtropischen Wald der Region Ayacucho, ein weiterer nichtstaatlicher bewaffneter Akteur, der sich den maoistischen Aufständischen entgegenstellte: die zivilen Selbstverteidigungskomitees (»Comités de Autodefensa Civil« oder CADs). Mit dem Gesetzesdekret 741 aus dem Jahr 1991 wurden die CADs als juristische Personen anerkannt und ihre Erlaubnis zum Gebrauch von Schusswaffen formalisiert. Bis 1993 registrierte die Armee 1.564 CADs mit 61.450 Mitgliedern und 5.583 Schusswaffen für das gesamte Departement Ayacucho (Del Pino 1996, S. 181). Die CADs spielten schließlich eine entscheidende Rolle im Kampf an der Seite der staatlichen Streitkräfte, um die militärische Niederlage des Leuchtenden Pfades im Apurímac-Tal zu erreichen. Nach dem Ende des internen bewaffneten Konflikts wurde keine Entwaffnungs- oder Demobilisierungsstrategie eingeführt, und einige CADs fungieren heute noch als lokale Sicherheitskräfte auf der Grundlage des oben genannten Rechtsrahmens.

Auf die peruanischen CADs lässt sich am besten die von Jentzsch, Kalyvas und Schubiger aufgestellte Definition von Milizen anwenden: „bewaffnete Gruppen, die neben regulären Sicherheitskräften operieren oder unabhängig vom Staat arbeiten, um die lokale Bevölkerung vor Aufständischen zu schützen“ (2015, S. 755). Obwohl in der Vergangenheit in Konflikten auf der ganzen Welt Anti-Rebellen-Milizen aufgetaucht sind, werden sie nur selten untersucht, da die Verbreitung nichtstaatlicher bewaffneter Akteure meist aus der Perspektive der Rebellen betrachtet wird. Milizen werden in der Regel entweder als staatsnahe paramilitärische Gruppen oder als staatlich geförderte bewaffnete Beteiligung von Zivilist*innen an Militäroperationen betrachtet. Ein solcher Ansatz birgt jedoch die Gefahr, den autonomen Charakter und die antistaatlichen Eigenschaften einiger Milizen zu verschleiern. Gleichzeitig besteht in der Konflikt- und Postkonfliktforschung die Tendenz, die Handlungsformen während Kriegen in exklusiven Kategorien von Zivilist*innen und Kombattant*innen oder Opfern und Täter*innen zu beschreiben. Die genaue Art und die Beweggründe für die Beteiligung von Zivilist*innen an bewaffneten Konflikten – sei es in Form von Kollaboration, Widerstand oder Selbstverteidigung – sind noch immer mangelhaft konzipiert.

Auch im Postkonflikt-Peru ist die Rolle der CADs sowohl unterbelichtet als auch umstritten. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission kam zu dem Schluss, dass „bei keinem anderen Akteur des Krieges die Grenze zwischen Täter und Opfer, zwischen Held und Schurke, so dünn und durchlässig ist wie bei den Selbstverteidigungskomitees“ (CVR 2003b, S. 74). Dieser Artikel, der auf meiner Doktorarbeit basiert1, beleuchtet die Ambivalenzen der zivilen Beteiligung an bewaffneten Konflikten, indem er ein Gegengewicht zur einseitigen Fokussierung auf den destruktiven Charakter der Milizen schafft (Fumerton 2018, S. 63; Willems 2020). Dies geschieht, indem ich zeige, wie die CADs das tägliche Leben während des Krieges über die rein militärischen Angelegenheiten hinaus regelten, beispielsweise durch die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen, die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts und die Reintegration ehemaliger Kämpfer*innen des Leuchtenden Pfads. Die Ergebnisse sind eingebettet in verschiedene Episoden der Feld- und Archivforschung im Tal des Apurímac-Flusses, die zwischen 2015 und 2021 durchgeführt wurden.

Entstehung bäuerlicher Selbstverteidigung

Während des internen bewaffneten Konflikts änderte sich die Governance-Struktur der bäuerlichen Gesellschaft im Apurímac-Tal drastisch. Während die unterscheidungslose Aufstandsbekämpfung der staatlichen Streitkräfte der unmittelbare Auslöser für die Organisation der bäuerlichen Selbstverteidigung war, hinterließ die Strategie des Leuchtenden Pfads aus Angriffen auf bestehende Regierungs- und Autoritätsstrukturen ein »Governance-Vakuum«, das von den CADs gefüllt wurde (Fumerton 2018, S. 68). Inmitten des Kreuzfeuers begannen die Bäuer*innen, eine alternative und starke lokale Regierungs- und Verwaltungsstruktur aufzubauen. Bis zum Beginn des Krieges hatten viele Bäuer*innen verstreut auf ihrem Land oder in kleinen Weilern gelebt. Wie ein ehemaliger CAD-Kommandant im Bezirk Pichari beschreibt:

„Damals [vor dem Krieg] lebten wir alle getrennt in unserem Haus auf unserem Land. Es gab kein Dorf, das war nicht so wie jetzt. Jeder von uns lebte auf seinem Land.“ (Interview der Autorin 2018)

Um der durch den Konflikt verursachten zunehmenden Unsicherheit zu begegnen, beschlossen die Bäuer*innen an verschiedenen Orten, sich in befestigten Siedlungskernen, den so genannten »zivilen Antisubversionsstützpunkten«, zu sammeln und die Selbstverteidigung in Form von Patrouillen zu organisieren. Ab 1984 entstand im gesamten Apurímac-Tal ein Netz ziviler Selbstverteidigungskomitees mit einem zentralen Hauptquartier in der Stadt Pichiwillca.

Milizverwaltung auch jenseits militärischer Belange

Die Organisation in streng bewachten Stützpunkten oder Selbstverteidigungskomitees ermöglichte es den Bäuer*innen, die Bewegung von Personen auf ihrem Gebiet zu kontrollieren. Pro Familie war mindestens ein Mitglied verpflichtet, sich an den Selbstverteidigungsaufgaben zu beteiligen. Für das Verlassen oder Betreten der Stützpunkte aus anderen Gründen als der Arbeit auf dem Land war eine schriftliche Genehmigung erforderlich.

Auf dem Höhepunkt des Konflikts im Apurímac-Tal in den späten 1980er Jahren beteiligte sich fast jedes aktive Mitglied der Gemeinschaft an Aufgaben im Zusammenhang mit der Selbstverteidigung. Folglich verschmolzen die Gemeinde und die CAD de facto zu einer einzigen Einheit. Die Selbstverteidigungskomitees verteidigten somit die Interessen der Gemeinschaft, was eine ihrer organisatorischen Stärken war, da es ihre Legitimität erhöhte. Die Funktion der zivilen Selbstverteidigungskomitees, die eindeutig in einem Kriegskontext entstanden, ging über die Kriegsangelegenheiten hinaus, da die CADs die wichtigsten Organisatoren des täglichen Lebens im Apurímac-Tal wurden. Sowohl die Archivunterlagen der Selbstverteidigungskomitees als auch die Interviews mit ehemaligen Milizionär*innen und Gemeindemitgliedern deuten darauf hin, dass die CADs während des internen bewaffneten Konflikts weitreichend und systematisch in die Verwaltung der bäuerlichen Gemeinden eingriffen. Dazu gehörten die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung, die Organisation von Freizeitaktivitäten wie Fußballturnieren, sowie die Koordinierung der inner- und zwischengemeindlichen Solidarität, beispielsweise die Hungerhilfe oder die Versorgung von Waisen und Witwen. Dazu kamen der Umgang mit Kleinkriminalität, häuslicher Gewalt oder lokalen Konflikten um Land.

Reintegration durch Reue

So wurden die CADs durch die Regelung sowohl kriegsbezogener als auch anderer alltäglicher Angelegenheiten zu wichtigen Trägern der sozialen Ordnung: Inmitten des Kriegschaos institutionalisierte die Bevölkerung durch die Selbstverteidigungskomitees Strategien für das Überleben und Zusammenleben. Das wichtigste Beispiel dafür ist die Praxis des »arrepentimiento« (»Reue«), das die Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen des Leuchtenden Pfades in die Gemeinschaft und das Selbstverteidigungskomitee umfasste. Das bedeutete, dass Mitglieder des Leuchtenden Pfades, die von den CADs gefangen genommen wurden, nicht an die staatlichen Streitkräfte ausgeliefert wurden, sondern die Möglichkeit erhielten, durch eine schriftliche Erklärung Reue zu zeigen, manchmal gefolgt von einer öffentlichen körperlichen Bestrafung. Indem sie ihre Loyalität gegenüber der Gemeinschaft durch aktive Teilnahme an der Selbstverteidigung unter Beweis stellten, konnten die »arrepentidos« anschließend Vertrauen gewinnen oder wiederherstellen. Um ihren Wiedereingliederungsprozess zu erleichtern, bürgten Landbesitzer*innen für die arrepentidos, indem sie ihnen Zugang zu einem Stück Land gewährten oder ihnen eine Anstellung als Lohnarbeiter*innen auf ihrem eigenen Land anboten. Sobald die Gemeinschaft beschlossen hatte, dass sie bleiben konnten, wurden die arrepentidos (wieder) in das Zivilregister eingetragen. Ein ehemaliges CAD-Mitglied beschreibt diesen Prozess wie folgt:

„Es gab zum Beispiel immer wieder Personen, die auf [arrepentidos] trafen, während sie auf ihrem Land arbeiteten, und sie brachten diese dann zur Selbstverteidigungs-Einheit, und die informierten sie, dass sie einen arrepentido gefunden hätten. Und dann haben sie [die arrepentidos] gestanden […], aber die Selbstverteidigung hat verziehen.“ (Interview der Autorin 2018)

Die arrepentidos hätten auch ehemalige Mitglieder derselben Gemeinde sein können, aber aufgrund des Kriegsverlaufs und der Rekrutierungsstrategie des Leuchtenden Pfads landeten viele von ihnen in Gemeinden, aus denen sie nicht stammten. Ein Forschungsteilnehmer berichtet zum Beispiel, wie die arrepentidos aus dem Hochland kamen, um im subtropischen Apurímac-Tal Zuflucht zu suchen:

„Oft kamen sie aus dem Hochland, viele Leute mit ihrer weißen Fahne, die ein Baby trugen, andere gerade erst erwachsen geworden, oder auch eine hochschwangere Frau. Und das Kommando wartete auf sie und wir riefen: ‚Kommen die terrucos [Terroristen], oder was?‘ – ‚Nein, das sind arrepentidos‘, das sagten sie damals. Sie kamen in Herden, wie Tiere, in jedes Dorf.“ (Interview der Autorin 2018)

Die Praxis des »arrepentimiento« kann sowohl als Kampf- als auch als Überlebensstrategie gesehen werden. Der Drang der Bäuer*innen, sich vor den staatlichen Kräften vom Leuchtenden Pfad zu distanzieren, war einer der Hauptgründe für die Existenz der Selbstverteidigungskomitees. Indem sie auf ihre eigenen Wiedereingliederungsstrategien zurückgriffen, anstatt ihre zu Guerriller@s gewordenen Nachbar*innen an die staatlichen Streitkräfte oder die Justiz auszuliefern, vermieden die bäuerlichen Gemeinschaften, als »rote Zone« abgestempelt zu werden, die mit den maoistischen Aufständischen sympathisiert hätten. Gleichzeitig motivierte die Notwendigkeit, die fragile Koexistenz zwischen den Gemeindemitgliedern aufrechtzuerhalten, und die Möglichkeit, wertvolle Informationen über die Position des Leuchtenden Pfads zu erhalten, die Bauern zur Wiedereingliederung der ehemaligen Gueriller@s.

Das durch die Existenz der Selbstverteidigungskomitees verbesserte Sicherheitsgefühl milderte zudem – bis zu einem gewissen Grad – das Gefühl der gegenseitigen Angst und des Misstrauens zwischen den Dorfbewohner*innen, was wiederum das soziale Kapital der Bevölkerung für die Wiedereingliederung stärkte. Darüber hinaus wurde ein großer Teil der arrepentidos vom Leuchtenden Pfad zwangsrekrutiert. Diesen Rekrut*innen, die unter sehr schlechten Bedingungen in Lagern des Leuchtenden Pfades tief im Wald lebten, wurde bei ihrer Rückkehr in die Gemeinschaft oft mit Mitgefühl begegnet. Ein ehemaliger CAD-Kommandant ist gerührt, wenn er sich an die arrepentidos erinnert:

Dort [beim Leuchtenden Pfad] waren die Beteiligten bescheidene Leute, es waren keine vorbereiteten Leute. Es waren bescheidene Bauern, arme Mocositos [rotznasige Kinder]. Sie wurden rekrutiert. Was hatten sie sich zuschulden kommen lassen? Also konnten wir sie auch nicht töten. Das Einzige, was uns blieb, war zu versuchen, sie zu retten. […] Wenn ich mich daran erinnere, was [geschehen ist], so viel Kummer… [fängt an zu weinen]. Wir brachten sie sehr krank, wie hätten wir sie töten können? Man musste sie retten.“ (Interview der Autorin 2018)

Die Bedeutung von Wiedereingliederungsstrategien als grundlegendem Element der Regierungsführung der CADs zeigt, dass die Bevölkerung in einem Kriegskontext, der Druck auf die bestehenden Strukturen der Sicherheit und des sozialen Zusammenhalts ausübt, ein Bedürfnis nach der Gestaltung von Gemeinschaftsbeziehungen hatte.

Schlussfolgerung

Die Zivilbevölkerung wird meist als Opfer dargestellt, das in bewaffneten Konflikten ins Kreuzfeuer der Kriegsparteien gerät. Damit wird die Komplexität ihrer Beteiligung an oder ihre Reaktionen auf Kriegsgewalt und Unsicherheit übersehen. Die CADs waren zwar in der Tat bewaffnete Akteure, die bis zu einem gewissen Grad zur Spirale der Kriegsgewalt beitrugen, aber ihre Rolle unterschied sich grundlegend von der der staatlichen Streitkräfte oder des Leuchtenden Pfads. Ein besseres Verständnis der Art und Weise, wie Milizen während des Krieges für die Regierungsführung sorgen, kann uns nicht nur helfen, bestimmte Konfliktdynamiken besser zu verstehen, sondern auch Erkenntnisse über den Wiederaufbau nach einem Konflikt liefern. Die Untersuchung der (post-)konfliktiven Rolle von bäuerlichen Selbstverteidigungsmilizen wie den CADs – die kein ausschließlich peruanisches Phänomen sind – kann uns helfen, unser Verständnis darüber zu erweitern, wer als konfliktverändernde Akteure während eines bestimmten Konflikts und seiner Folgen gelten kann. Während sich die traditionellen Ansätze zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (DDR) hauptsächlich darauf konzentriert haben, durch die Arbeit mit den Täter*innen wieder Sicherheit zu erlangen, hat das opferzentrierte Feld der Transitional Justice dabei versagt, die potenzielle Rolle bewaffneter Akteure bei der Erleichterung von Prozessen der Reintegration, des sozialen Wiederaufbaus und der Koexistenz (nach dem Konflikt) anzuerkennen. Die Erforschung der Rolle von Milizen beim Wiederaufbau nach Konflikten muss daher eine Brücke zwischen diesen beiden Bereichen schlagen und die vielfältigen Schattierungen von Opfer- und Täter*innenschaft berücksichtigen, die für bewaffnete Konflikte und deren Folgen charakteristisch sind.

Anmerkung

1) Finanziert von der Forschungsstiftung Flandern und dem Sonderforschungsfonds der Universität Gent.

Literatur

CVR (2003a): Informe Final. Lima.

CVR (2003b): Informe Final, Tomo 4. Lima.

Del Pino, P. (1996): Tiempos de Guerra y de Dioses: Ronderos, Evangélicos y Senderistas en el valle del Río Apurímac. In: Degregori, C. I. (Hrsg.): Las rondas campesinas y la derrota de sendero luminoso. Instituto de Estudios Peruanos, S. 117-88.

Fumerton, M. (2018): Beyond counterinsurgency: Peasant militias and wartime social order in Peru’s civil war. European Review of Latin American and Caribbean Studies 105, S. 61-86.

Jentzsch, C.; Kalyvas, S. N.; Schubiger, L. I. (2015): Militias in civil wars. Journal of Conflict Resolution 59 (5), S. 755-69.

Willems, E. (2020): Open secrets & hidden heroes: Violence, citizenship and transitional justice in (post-)conflict Peru. Ghent: Ghent University.

Dr. Eva Willems ist PostDoc Forscherin am ZfK Marburg. Ihre Dissertation zu »Transitional Justice in (Post-)Conflict Peru« wurde 2020 mit den Christiane-Rajewsky-Preis der AFK und dem Romain-Yakemtchouk-Preis der Königlich Belgischen Akademie für Überseestudien ausgezeichnet.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Täter*innen

Täter*innen

Ein Begriff und seine Komplexität

Wer als Täter*innen zu verstehen ist, was diese ausmacht und weshalb »wir« von Täter­*innen sprechen ist nicht leicht zu beantworten – oder zumindest umstritten. Welche Rolle spielen individuelle Persönlichkeitszüge, Motivationen oder Ideologien, welche Rolle haben gesellschaftlich legitimierte und strukturelle Gewalt als Kontext? W&F hat Autor*innen aus der Forschung zu kollektiver (Massen-)Gewalt gebeten, ihre je eigenen Positionen darzulegen – mit zwei ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Christian Gerlach bezieht als Historiker Position, während sich Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred Louis, Emma Thomas und Catherine Amiot als Psychologinnen zu diesen Fragen äußern.

Gegen den Täterbegriff

von Christian Gerlach

Meine Perspektive ist die eines Historikers, der sich lange mit der Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert beschäftigt hat. Mit deutscher Geschichte, aber auch mit aussereuropäischer.

Was die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus angeht, hat die Forschung zu »Tätern« in den 1990er Jahren Fortschritte gemacht.1 Zwei US-amerikanische Forscher, Christopher Browning und Daniel Goldhagen, untersuchten damals dieselbe Einheit der deutschen Ordnungspolizei, die 1942 viele Massen­erschiessungen an Jüdinnen und Juden in Polen durchführte, das Reserve-Polizeibataillon 101. Beide kamen zu dem Schluss, es habe sich bei den Tätern um gesellschaftlichen Durchschnitt gehandelt: Männer verschiedenen beruflichen Hintergrunds, Alters und Bildungsstands (meist keine Berufspolizisten); in der Regel ohne psychische Krankheit oder entsprechende Neigung; keine ideologische Elite, nicht besonders ausgewählt oder geschult und mehrheitlich keine NSDAP-Mitglieder. Ihre weiteren Folgerungen unterschieden sich freilich sehr: Für Browning waren dies „ganz normale Männer“, die, ohne besonderen Hass gegen Juden, unter bestimmten politischen Umständen aus verschiedenen Gründen – vor allem Gruppendruck – zu effizienten Mördern wurden. Goldhagen dagegen bezeichnete sie als „ganz normale Deutsche“, die sehr wohl einen Konsens zur Eliminierung der Juden teilten, der angeblich seit Jahrhunderten unter Deutschen bestand. Und es gab viele solche Polizeibataillone.2

Auch die heiss diskutierte sogenannte Wehrmachtausstellung Mitte der 1990er Jahre vermittelte einem breiten Publikum, dass sich deutsche Offiziere und Soldaten an Verbrechen in der Sowjetunion und in Südosteuropa massenhaft und mit Nachdruck beteiligt hatten. Die meisten von ihnen waren gleichfalls keine Nazis, und sie bildeten einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft.3 Ein von Gerhard Paul 2002 herausgegebener Sammelband mit Fachaufsätzen brachte es dann auf den Punkt: Die »Täter« liessen sich nach Gesellschaftsschicht, Werdegang, Bildungsstand, Alter, Region, religiöser und politischer Überzeugung nicht eindeutig einem Milieu zuordnen.4 Nichts immunisierte Menschen dagegen, an Massengewalt teilzunehmen, teilweise sogar aus eigener Initiative. Um es kurz zu machen: Das Bild für andere Fälle von Massengewalt ist nicht grundsätzlich anders, von Ruanda bis Argentinien, von der Sowjetunion über Indonesien bis zum Spätosmanischen Reich oder kolonialer Gewalt.

Das mag überzeugend klingen, aber am Beispiel der Forschungen zu NS-Deutschland lassen sich auch Schwächen und innere Widersprüche zeigen. Browning, Goldhagen und die Autorinnen und Autoren des Paul-Sammelbands behandelten vor allem sogenannte tatnahe Täter: Personen in ausführenden Organen, einer mörderischen Exekutive, vor allem Schützen und Lagerpersonal. Deren Handlungsautonomie überbetonend, entpolitisierten die Forschenden das Handeln jener Personen; sie verwiesen zwar auf direkte Befehlsgeber in SS, Polizei und Militär sowie Hitler, sagten aber nichts oder fast nichts über Politiker, Fachleute und Verwaltungsfunktionäre, die die »Taten« vielfach erdacht, gefordert oder darüber entschieden hatten, und lösten die »Taten« damit aus ihren historisch-gesellschaftlichen Kontexten heraus.

Die Funktion des Täterbegriffs

Viele Forschende stützten sich bei ihrem Vorgehen auf Akten von Justizverfahren gegen NS-Täter, von denen die meisten übrigens straffrei ausgingen. Dies ist der Kern des Problems: Der Täterbegriff stammt aus einem juristischen Kontext, und das, obwohl sich die Justiz als völlig ungeeignet erwiesen hat, Massenmord zu ahnden. Die BRD ist hier ein besonders abschreckendes Beispiel, aber in keinem einzigen Land, von dem Massengewalt ausging, ist die juristische Aufarbeitung je erfolgreich gewesen. Massenmord ist das Verbrechen, das ungestraft bleibt, jedenfalls für die meisten Beteiligten. Das ist kein Zufall, denn grosse Teile der Gesellschaft waren ja an der Gewalt beteiligt oder haben sie unterstützt (wie z. B. die meisten westdeutschen Richter, Staatsanwälte und Polizisten der unmittelbaren Nachkriegszeit frühere NS-Mitglieder waren).

So bleiben auch bestimmte Formen von Gewalt und Gewalt gegen bestimmte Opfergruppen juristisch praktisch gänzlich unverfolgt (im westdeutschen Fall die Vernichtung von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten bei der Partisanenbekämpfung, die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen oder die Hungerpolitik), von Wissenschaftler*innen wenig beachtet und in der gesellschaftlichen Diskussion auch. Prozesse gegen Täter von Massengewalt dienen weniger der individuellen Aburteilung als politischen und gesellschaftlichen Zwecken. Sie sollen die Gesellschaft stabilisieren und bieten Deutungen des Geschehenen an, die für die Mehrheit und die führenden Schichten akzeptabel sind, wobei Schuld auf einige Radikalinskis, Exzesstäter und vermeintliche Sadisten ausgelagert wird. So entstehen tröstliche Geschichten von Gut und Böse. Und »wir« sind natürlich »gut«.

Grosse Teile der vergleichenden Genozidforschung erzählen ähnliche Geschichten von Gut und Böse, wobei sie radikale Schurkenregime für Massenmorde verantwortlich machen, die bestimmte Ideen (statt Interessen) verfolgen und von oben nach unten umsetzen, wozu ihnen radikale Organisationen und propagandistische Manipulation dienen. Ihre Gegenrezepte lauten Regimewechsel und etwas Umerziehung.Während Prozesse und Justizakten einiges interessantes biographisches Material zu »Tätern« bieten mögen, geben sie zu einem Punkt ganz besonders wenig her: zur Motivation für die Tat. Aus Schutz vor juristischen Folgen bekennen ganz wenige Beschuldigte Rassenhass, Raubgier, Machtdünkel oder sexuelle Lust, was strafverschärfend wäre. Stattdessen tendieren sie dazu, andere (am besten Tote) zu beschuldigen, sich auf Befehle von höherer Stelle zu berufen und eine räumliche Distanz zur Tat zu behaupten, jedenfalls aber eine innere Distanz. Es gibt keine sinnvollen Methoden zur Benutzung solcher Aussagen. Weder Browning überzeugt, der ihnen meist Glauben schenkte, noch Goldhagen, der sie alle abtat und pauschal Rassenhass als Motiv annahm.

Extrem gewalttätige Gesellschaften

Nach meinen Forschungsergebnissen ist die Entstehung von massenhafter Gewalt aus Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Konflikten zwischen ihnen zu erklären. Gewalt ist also multikausal, die Motive, sich zu beteiligen, sind verschieden, und die Gewalt richtet sich oft gleichzeitig gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen. In Gesellschaften des 20. Jahrhunderts beruht die Gewalt auf Arbeitsteilung, wodurch es Aktivitäten gibt, die vor den Augen der Justiz kaum als kriminell gelten können und doch den Tod von Verfolgten massgeblich mitverursachen (z. B. die Organisation von Eisenbahnverkehr im Fall von Deportationen oder das Verlangen von Wucherpreisen gegenüber hungernden oder durstigen Verfolgten). Die zahlreichen an der Verfolgung Beteiligten sind nicht nur den herrschenden Verhältnissen unterworfen, sondern schaffen sie selbst mit. Dass bestimmte gesellschaftliche Strukturen vorhanden sind, schliesst absichtsvolles, überlegtes und autonomes Handeln nicht aus, auch von »ungebildeten« Personen aus Unterschichten nicht. Massengewalt ist ein interaktiver Prozess, an dem übrigens auch Gruppen aktiv beteiligt sind, die zu Opfern werden.5

Der Begriff »Täter« hemmt aus meiner Sicht ein komplexes Verständnis von Massengewalt. Hinter dem Begriff steht ein Denken, das »Täter« als ausserhalb der Gesellschaft stehend sieht und in unzutreffender Weise individualisiert. Als analytische Kategorie ist der Täterbegriff daher ungeeignet.

Was ist mit Alltagsgewalt?

Aber sind diese Überlegungen auch für den Alltag relevant, für »normale« Zeiten? In der kapitalistischen, bürgerlich geprägten Gesellschaft funktioniert das Rechtswesen ähnlich wie oben beschrieben. Es greift Einzelpersonen heraus und entkleidet ihr Handeln tendenziell seinen Zusammenhängen. Es verfolgt Devianz, also die Abweichung von insgesamt für normal und gut erklärten Zuständen. Angesichts der bürgerlichen Externalisierung von »Tätern« und »Täterinnen« ist es nur konsequent, dass sie weggesperrt werden und dass ihre »Resozialisierung« später oft nicht gelingen mag. Andererseits ist beispielsweise die deutsche Justiz so gut wie unfähig, systemische Gewalt zu ahnden, also zum Beispiel im Autoverkehr oder durch Polizeibrutalität oder durch Verhältnisse, die Unternehmen ihren Beschäftigten auferlegen, oder bei der angeblichen Bekämpfung der extremen politischen Rechten. Für Gewalt zwischen den Geschlechtern oder unter Beteiligung der meisten ethnischen Minderheiten gilt Ähnliches mit Einschränkungen. Darin drücken sich bestimmte Machtverhältnisse aus. Aber auch bestimmte, den herrschenden Verhältnissen angepasste Denkweisen. Wenn also hinter »linker« Gewalt regelmässig sogenannte terroristische Vereinigungen gesehen werden, »rechte« Gewalt dagegen fast immer das Werk sogenannter »Einzeltäter« sein soll, und wenn das Leben von Radfahrerinnen und Radfahrern, Fussgängerinnen und Fussgängern recht billig ist, stehen dahinter nicht nur Probleme des Rechtswesens, sondern in der Gesellschaft vorherrschende Zustände und Anschauungen, auch wenn viele sie nicht billigen.

Damit ist auch gesagt, dass die Zeiten vielleicht nicht so normal und die Verhältnisse nicht so unproblematisch sind. Vieles daran, dass Menschen durch den Täterbegriff als im Grunde ausserhalb der Gesellschaft stehend erklärt werden, mag kein spezifisch deutsches Problem sein. Allerdings hat nicht jedes Land der Welt Truppen in elf fremden Staaten auf drei Kontinenten stehen; nicht in jedem Land der Welt sind Atomwaffen stationiert (mit dem Anspruch auf »nukleare Teilhabe«); nicht jedes Land hat eine ähnlich machtvolle, protektionistisch-aggressive Aussenwirtschaftspolitik in einer Welt des Massenhungers; und kein anderes Land ist ohne Tempolimit. All dies hat mit deutscher Gewalt zu tun, freilich einer ohne »Täter«.

Statt sich zu fragen, wen »wir« als »Täter« oder »Täterinnen« bezeichnen, und damit an jener ausgrenzenden Fiktion mitzuarbeiten, sollten Angehörige der Intelligenzschichten lieber versuchen, die »Tat« als Teil gesamtgesellschaftlicher Prozesse zu begreifen. Die Behauptung, es gebe überhaupt ein umfassendes »Wir«, das man sich als »gut« vorstellt, ist an sich schon ein grosses Problem.

Anmerkungen

1) In diesem Aufsatz wird meist die männliche Sprachform verwendet, nicht als generisches Maskulinum, sondern weil ich meist nur Männer behandele und die komplexe Diskussion um Täterinnen (die zahlenmässig ein Randphänomen waren) aus Platzgründen beiseitelasse.

2) Browning, Ch. (1993): Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Goldhagen, D. (1997): Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler

3) Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1996): Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg: Hamburger Edition

4) Paul, G. (Hrsg.) (2002): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein.

5) Gerlach, Ch. (2011): Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München: DVA.

Christian Gerlach arbeitet an der Universität Bern.

Kontext und Intention

Die Psychologie des »Schädigens«

von Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred R. Louis, Emma F. Thomas und Catherine E. Amiot

Viele Verletzungen und Schädigungen werden kollektiv begangen, wie im Konflikt zwischen Israel und Palästina oder während des Genozids in Kambodscha. Obwohl diese Beispiele für Gewalt und Verletzungen aus feindlichen und/oder ungleichen Beziehungen zwischen Gruppen erwachsen, hat sich ein Großteil der Forschung darauf verlegt, das Handeln der Täter*innen aus individuellen Pathologien oder moralischen Schwächen zu erklären. Der Fokus auf das Individuum ignoriert jedoch die erleichternde Rolle, die Gruppenprozesse in Fällen kollektiver Gewalt spielen (Louis et al. 2015).

Wer ist eine Täter*in und weshalb?

Unter Zuhilfenahme von Erkenntnissen der Sozialpsychologie erkunden wir die Wahrnehmungen von und Motivationen für Praktiken des »kollektiven Schädigens« der Täter*innen. Speziell fokussieren wir darauf, wie Gruppenprozesse: a) beeinflussen, wen wir als Täter*innen wahrnehmen; b) die Motivationen der Täter*innen unterstützen, Schaden zufügen zu wollen; und c) die Intentionalität hinter den Taten der Täter*innen beeinflussen.

Was als »Schädigung« oder »Gewalt« zählt (und, in Erweiterung, wer diese Gewalt verbrochen hat) ist eine subjektive Einschätzung und umkämpft. In manchen Fällen können sich die meisten Menschen einigen, dass eine Verletzung vorliegt (z. B. bei sexuellem Missbrauch von Kindern), aber es gibt auch Fälle die umstritten sind. Praktiken, die in manchen Kontexten zu bestimmten Zeiten in der Geschichte als grausam bewertet werden (z. B. Sklaverei) sind in anderen Kontexten und Zeiten gebilligtes und weiterverbreitetes Verhalten. Diese Definitionen der Gewaltanwendung sind beeinflusst von den historischen und kulturellen Gruppen, zu denen wir gehören.

Der »Social Identity Theory« (SIT, Tajfel und Turner 1986) zufolge ist das Selbstkonzept eines Individuums in Teilen von der/den sozialen Gruppe(n) abgeleitet, zu denen es gehört. Diese Gruppen können auf sozialen Kategorien (z. B. Gender) oder auf geteilten Ansichten und Meinungen darüber, wie die Dinge sein sollten beruhen (beispielsweise die Unterstützer*innen von Frauenrechten). Indem wir uns mit diesen sozialen Gruppen identifizieren, entwickeln wir »soziale Identitäten«: Wir betrachten Gruppenwerte, -normen und -ziele als bedeutsam für unser Selbst und verhalten uns in Übereinstimmung mit diesen Erwartungen. Zudem werden wir motiviert, die Interessen unserer Gruppe zu repräsentieren und ihr Ansehen und ihre Möglichkeite zu schützen oder zu verbessern.

Indem wir dies mit kollektiver Gewalt in Bezug setzen, können wir festhalten, dass uns unsere sozialen Identitäten dazu führen können, das gewalttätige Handeln unserer Gruppe und unsere Rolle als »Täter*innen« umzudefinieren basierend auf den Werten und Normen der Gruppe. So mögen sich Mitglieder von Siedlergesellschaften nicht als Dieb*innen verstehen, obwohl sie auf gestohlenem Land leben. Progressive, die für das weibliche Recht auf körperliche Selbstbestimmung eintreten, verstehen sich nicht als Unterstützer*innen von mörderischer Gewalt und »lebensschützende Konservative« verstehen sich selbst nicht als sexistisch und oppressiv. Zudem kann die Motivation, die eigene Gruppe in einem guten Licht erscheinen zu lassen, dazu führen, die Existenz oder die Auswirkungen von intergruppaler Gewalt herunterzuspielen, um das Ansehen oder Bild der eigenen Gruppe nicht zu beflecken. Daher kann schon der reine Glaube an die Existenz oder die Schwere der Verletzung – ob durch Rassismus oder den Klimawandel – stark variieren, abhängig von den Gruppenzugehörigkeiten.

Was motiviert Täter*innen zu ihren Taten?

Die »Social Identity Theory« kann uns auch bei der Erklärung helfen, wann und warum Menschen diese Verletzungen verüben. Ganz speziell die Motivation, unsere Gruppeninteressen zu schützen und zu bedienen sowie die Werte dieser Gruppe umzusetzen, können die Bereitschaft erhöhen, kollektive Gewalt zu unterstützen und an ihr teilzunehmen. Tatsächlich sind viele Fälle radikaler und gewalttätiger Handlungen durch diese »pro-Ingroup« Motive verstärkt (Thomas et al. 2014), was die Schlussfolgerung nahelegt, dass die Verletzung gegen die relevante Outgroup dem Schutz oder der Verbesserung des Status oder dem Wohlbefinden der Ingroup dient. Dazu kommt, dass Gruppenmitglieder umso mehr bereit sind, Schaden zuzufügen, je stärker sie sich mit ihrer Gruppe identifizieren (d.h. sie fühlen eine stärkere Art der Verbindung und Verpflichtung gegenüber dieser Ingroup, Tajfel und Turner 1986). Das rührt daher, dass diese stark identifikatorisch Gebundenen eher geneigt sind, bedeutsame Normen der Ingroup auszuführen – die verletzenden und schädigenden mit eingeschlossen – und diese auf ihr eigenes Selbstgefühl (»sense of self«) und ihr Verhalten anzuwenden (Amiot et al. 2020).

Allerdings liefert uns die SIT keine Erklärung für die diversen Motivationen hinter den Handlungen von Täter*innen. Das heißt, dass manche Gruppenmitglieder autonom Gewalt verüben, weil diese Handlungen ihre persönlichen Werte und Ziele spiegeln (d.h. diese Handlungen sind »internalisiert«), während andere wiederum Gewalt verüben, da sie eine Form von externem Druck oder Zwang verspüren. Das Modell zur »Internalisierung sozial normierten Verletzens« (MINSOH, Amiot et al 2020) wendet daher ein motivationales Kontinuum auf kollektives Schädigen an (Deci und Ryan 2000), bei dem die Motivation der Menschen für ein bestimmtes Verhalten von »selbstbestimmt« (self-determined; d.h. ausgewählt mit einem höheren Grad an Handlungsmacht und da sie Bestandteil der eigenen Identität sind) bis zu »nicht-selbstbestimmt« reicht (non-self-determined, d.h. gewählt aus einer geringeren Handlungsmacht und nicht aufgrund von Kernwerten des Selbstkonzeptes einer Person). MINSOH schlägt vor, dass die Motivation einer Täter*in sich entlang dieses Spek­trums organisiert und dass Gruppenprozesse es ermöglichen, dass die verletzenden Normen und Handlungen internalisiert werden und frei über Zeit hinweg verübt werden können.

Aus dem Modell folgt, dass Täter*innen sich an Gewalt aus einer Reihe von Gründen beteiligen:

  • Mit Blick auf Motive der Selbstbestimmtheit agieren Täter*innen gewaltvoll, um die Ziele der Gruppe zu erreichen oder um diese vor externen Bedrohungen zu schützen (»identifizierte Regulation«), oder weil Gewalt eine Funktion als Identitätsausdruck hat, bei der die Ingroup glaubt, dass diese normativen Handlungen mit den Kernüberzeugungen der Gruppe übereinstimmen (»integrierte Regulation«).
  • In manchen Fällen wird Gewalt und Verletzung zugefügt, weil es als an sich vergnüglich betrachtet wird, gänzlich getrennt von irgendeinem zweckdienlichen Mehrwert (»intrinsische Motivation«, z. B. Jagd von Tieren).
  • Manchmal jedoch wird Schaden auch aus nicht-selbstbestimmten Gründen verübt, beispielsweise um die Wahrnehmung der Wertigkeit der Gruppe sicherzustellen oder um ein Gefühl von Hochachtung zu erlangen (»introjezierte Regulation«) oder auch, weil es von anderen Gruppenmitgliedern erwartet wird (»externe Regulation«).
  • In manchen Fällen beteiligen sich die Gruppenmitglieder an Gewalt ohne Intention, selbst wenn sie nicht davon überzeugt sind, dass derartige Handlungen das erwünschte Ergebnis zur Folge haben werden; in diesem Fall könnten Gruppenmitglieder direkt ihre Beteiligung an diesem Verhalten infrage stellen (»Amotivation«).

»Opfer der Umstände« oder intentional handelnde Akteure?

Dass wir die Motivationen erhellen, die Gewalttaten stützen, kann auch dabei helfen zu erkunden, inwieweit Täter*innen die Verletzung beabsichtigen oder ob ihre Handlungen von Umständen befeuert werden, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. MINSOH legt nahe, dass Intentionalität und Kontext miteinander verwoben und nicht zwei getrennte Dimensionen sind. Beispielsweise handeln Gruppenmitglieder, die Schaden aus selbstbestimmten Motiven zufügen und dieses Verhalten aus freier Entscheidung unterstützen, beabsichtigt und willentlich. Jedoch können solche Handlungen aus einem intergruppalen Kontext erwachsen in dem verneint wird, dass es sich um Verletzungen handelt, diese herabgespielt oder als notwendig dargestellt werden, um die Interessen der Gruppe zu schützen (z. B. in einem Wettstreit um wertvolle Ressourcen) oder um ihre Werte zu verteidigen. Daher handeln diese Gruppenmitglieder zwar mit voller Absicht, aber fügen nicht unbedingt absichtsvoll Schaden zu, als Antwort auf einen dynamischen intergruppalen Kontext, der ihre Aufmerksamkeit auf die Vorteile für die Ingroup lenkt oder die gewaltvollen Handlungen sogar als positiv für die Betroffenen darstellt (wie z. B. im Kolonialismus).

Im starken Kontrast dazu reagieren Gruppenmitglieder, die aus nicht-selbstbestimmten Gründen Schaden zufügen, auf externen Druck, wie Zwang von anderen Gruppenmitglieder, oder dem Verlangen nach Belohnung. Daher kann argumentiert werden, da sich ihr Verhalten in einer geringeren Autonomie ausdrückt, dass diese Menschen nicht absichtsvoll Verletzungen zufügen, sondern die Absicht haben, diesen externen Druck von sich abzuleiten.

MINSOH legt ebenso nahe, dass man­che Gruppenmitglieder Gewalt ohne Absicht ausüben, gedankenlos. Insofern verhalten sie sich »unabsichtlich«, da ihre Motivation eher »unpersönlich« und uninvolviert als erzwungen ist. Stellen wir uns vor, Mitglieder einer Militäreinheit töten Zivilist*innen aus der verfeindeten Gruppe. Dann handeln einige Soldat*innen auf Basis der angenommenen patriotischen Vorteile, andere weil sie die Angst vor Bestrafung bei Verweigerung befürchten und wiederum andere sind erschöpft und denken überhaupt nicht nach über ihre Handlungen. Die moralische Bewertung, dass dieser Akt böse ist, setzt keineswegs voraus, dass alle Täter*innen einer kollektiven Gewalttat das selbe Motiv dafür haben.

Nicht zuletzt legt das Modell von MINSOH nahe, dass die Mitgliedschaft in unterschiedlichen Gruppen, die voneinander abweichende Positionen dazu vertreten, was es heißt, ein »guter, moralischer Mensch« zu sein, normative Hilfestellung sein kann, um kollektiver Gewalt in jedwedem Kontext vorzubeugen.

Umgekehrt erhöhen Erfahrungen von Vernachlässigung und Marginalisierug die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen dysfunktionale Bezugsgruppen suchen, die eben ein solches kollektives Schädigen propagieren (Amiot et al 2020). Rückkopplungsschlaufen in diesen Gruppen können dann das Durchführen von Gewalttaten bestärken, da jegliche Gewalttat Akteur*innen von pro-sozialen Gruppen entfremdet, nicht-selbstbestimmte Motive bekräftigt und moralische Verletzung und Trauma hervorruft (Louis et al 2015).

Um es erneut deutlich zu machen: Eine solche kontextuelle Analyse entlastet oder entschuldigt die Handlungen der Täter*innen nicht, aber sie hilft uns dabei, diejenigen sozialen und gruppenbezogenenen Faktoren zu identifizieren, die gefährliche Laufbahnen begünstigen und die daher geeignet sind für rechtzeitige Interventionen.

Literatur

Amiot, C. E.; Lizzio‐Wilson, M.; Thomas, E.F.; Louis, W.R. (2020): Bringing together humanistic and intergroup perspectives to build a model of internalisation of normative social harmdoing. European Journal of Social Psychology 50(3), S. 485-504.

Deci, E.L.; Ryan, R.M. (2000): The „what“ and „why“ of goal pursuits. Human needs and the self-determination of behavior. Psychological Inquiry 11(4), S. 227-268.

Louis, W.R.; Amiot, C.E.; Thomas, E.F. (2015): Collective harmdoing. Developing the perspective of the perpetrator. Peace and Conflict: Journal of Peace Psychology 21(3), S. 306-312.

Tajfel, H.; Turner, J. C. (1986): The social identity theory of intergroup behavior. In: Worchel, S.; Austin, W.G. (Hrsg.): Psychology of Intergroup Relations. Chicago: Nelson-Hall, S. 7-24.

Thomas, E.F.; McGarty, C.; Louis, W. (2014): Social interaction and psychological pathways to political engagement and extremism. European Journal of Social Psychology 44(1), S. 15-22.

Morgana Lizzio-Wilson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Flinders University. Sie forscht zur Rolle von Identität, Emotionen und Bedrohungen in kollektiver Handlung von progressiven und regressiven sozialen Bewegungen.
Winnifred R. Louis ist Professorin an der Universität von Queensland. Sie forscht zum Einfluss von Identität und Normen auf soziale Entscheidungsfindungen.
Emma F. Thomas ist Professorin an der Flinders University. Ihre Forschung erkundet, wie Menschen zusammenfinden, um gemeinsam soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.
Catherine E. Amiot ist Professorin an der Université du Québec in Montreal. In ihrer Forschung adressiert sie die Selbstbestimmtheit der Annahme und Internalisierung von Normen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

It’s a man’s world?


It’s a man’s world?

Diplomatengattinnen auf dem Westfälischen Friedenskongress

von Lena Oetzel

Auf den ersten Blick erscheint der Westfälische Friedenskongress (1643–1649) als eine reine Männerveranstaltung. Viele der Gesandten wurden aber von ihren Ehefrauen begleitet. Diese eröffneten informelle Kommunikationswege und trugen so zum Funktionieren des Kongresses bei.

Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster

Abbildung 1: Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster am 15. Mai 1648, Gerard ter Borch, 1648, Rijksmuseum Amsterdam. Quelle: Wikimedia Commons.

Diplomatie und insbesondere Friedensverhandlungen in der Frühen Neuzeit erscheinen zunächst als eine reine Männerwelt; diesen Eindruck vermitteln gerade auch die zeitgenössischen bildlichen Darstellungen zum Westfälischen Friedenskongress. Gerard ter Borchs bekanntes Gemälde vom niederländisch-spanischen Friedensschluss etwa zeigt ausschließlich Männer (siehe Abbildung 1).

Auch unter den Gesandtenportraits, die für die Rathäuser von Münster und Osnabrück zur Erinnerung angefertigt wurden, finden sich nur Männer. Lediglich unter den Portraits der Herrschenden sind zwei Frauen vertreten: Königin Christina von Schweden und Landgräfin Anna Amalia von Hessen-Kassel, die als Regentin für ihren minderjährigen Sohn auftrat. Alle offiziellen Gesandten in Münster und Osnabrück waren jedoch Männer.1

Friedensverhandlungen als Männerveranstaltung?

Sie waren nach Westfalen geschickt worden, um die Konflikte, die als Dreißigjähriger Krieg bekannt sind, beizulegen.2 Fast ganz Europa – Frankreich, Spanien, Schweden, die Niederlande, der Kaiser und die Reichsstände, um nur die Hauptverhandlungsparteien zu nennen – war in diesen ursprünglich reichsinternen Konflikt verwickelt. Alle Versuche, nur zwischen einzelnen Konfliktparteien Frieden zu schließen, waren gescheitert. Der Westfälische Friedenskongress war der erste internationale Gesandtenkongress dieser Größenordnung und damit diplomatisches Neuland.

Aber handelte es sich bei dem Kongress wirklich um eine reine Männerveranstaltung? Die Forschung hat in den letzten Jahren gezeigt, dass frühneuzeitliche Diplomaten nicht nur ausführende Organe ihrer jeweiligen Dienstgeber*innen waren, sondern eigenständige Akteure. Sie hatten eigene Interessen, waren u.a. auch Ehemänner und Väter. Als solche wurden viele Gesandte von ihren Ehefrauen und Kindern nach Westfalen zu den Friedensverhandlungen begleitet.

Diese fehlen jedoch auf den diplomatischen »Familienbildern« des 17. Jahrhunderts. Für das Verständnis der Verhandlungssituation und des Kongresses in seiner Funktionsweise sind sie aber wichtig. Nicht zuletzt, weil die meisten anwesenden Gesandten mehrere Jahre von zu Hause fort waren. Dabei war zu Beginn des Kongresses nicht klar, wie lange es dauern würde und ob er nicht, wie frühere Versuche, scheitern würde. Wenn die Gesandten also nicht von ihren Familien begleitet wurden, waren sie von ihren Ehefrauen und Angehörigen getrennt, was sich durchaus auf ihr Wohlbefinden auswirkte.

Der kurbrandenburgische Gesandte Johann Friedrich von Löben etwa beklagte sich bei seinem Patron am Berliner Hof: „Die andern Abgesandten haben meistlich alle ihre Eheschätze bei sich. […] Ich aber weiß kein Rhatt, bin zwar schoen bei Jharen, empfinde doch gleichwhol zu Zeitten ein Verlangen nach der meinigen. Im Sommer gehet es noch hin, aber im Wintter wirdts zu kalt sein, alleine zu schlaffen.3

Frauen als informelle Akteurinnen

Die Rolle der Diplomatengattinnen beschränkte sich allerdings nicht nur auf die der Begleiterin, die für das Wohlbefinden ihres Ehemannes sorgte und an den gesellschaftlichen Aktivitäten teilnahm. Eine solche Betrachtungsweise greift zu kurz und blendet die Bedeutung informeller Akteur*innen aus.

Die Forschungen der letzten Jahre hat für den Hof gezeigt, dass Fürsten und Fürstinnen sowie Diplomaten und ihre Ehefrauen zumeist als Arbeitspaare agierten.4 Den Frauen standen oft andere (weiblich dominierte) Netzwerke zur Verfügung als ihren Ehemännern, z. B. zu den Fürstinnen. Gerade die informelle Natur ihrer Handlungsmöglichkeiten erlaubte es, etwa Angelegenheiten unverbindlich vorzubringen, bevor offizielle Verhandlungen eingeleitet wurden.5

Der Westfälische Friedens­kongress als besonderer Handlungsraum

Nun funktionierte aber ein Friedenskongress anders als ein Hof: Er war von zeitlich begrenzter Dauer und wurde nicht von einer*m Herrscher*in mit Hofstaat dominiert. Alles gesellschaftliche Leben musste erst organisiert werden, die zeremoniellen Regeln des Miteinanders ausverhandelt werden. Das heißt, auch die informellen Räume und Kommunikationskanäle mussten erst gefunden werden.

Diplomatengattinnen spielten bei der Schaffung und Gestaltung dieser informellen Kommunikationswege eine wichtige Rolle. Der portugiesische Gesandte Sousa Coutinho beispielsweise beklagte die Abwesenheit seiner Ehefrau, weil diese ihm Kontaktmöglichkeiten zu den Ehefrauen der niederländischen Gesandten eröffnet hätte.6

Das Mittagessen als Ort diplomatischer Konflikte

Wie wichtig solche informellen Kontakte waren und wie sie funktionierten, zeigt das Beispiel des kaiserlichen Gesandten Johann Maximilian Graf von Lamberg und des kurbrandenburgischen Gesandten Johann VIII. Graf von Sayn-Wittgenstein. Deren Ehefrauen Judith Rebecca Eleonore Gräfin von Lamberg und Anna Augusta Gräfin zu Waldeck waren eng befreundet. Lamberg notierte regelmäßig, dass sich die Ehepaare gegenseitig zum Essen besuchten.7

Was bei diesen gemeinsamen Mahlzeiten besprochen wurde, ist nicht überliefert. In Einzelfällen lässt sich aber der Kontext rekonstruieren. Im Januar 1646 etwa speisten Lambergs bei Sayn-Wittgensteins, wobei sich die Herren heftig über die schwedischen Gebietsforderungen stritten. Lamberg selbst notierte dieses Treffen in seinem Diarium ohne weitere Anmerkungen. Von dem Streit erfahren wir aus Berichten Dritter.8

Die Anwesenheit der Ehefrauen gab der Situation einen informellen Anstrich, der es ermöglichte, Dinge zu sagen, die in einem anderen Kontext vielleicht einen Affront dargestellt hätten. Gleichzeitig sicherten sie den Kontakt: Die Gräfin Sayn-Wittgenstein speiste nur wenige Tage später bei Lambergs und auch Graf Lamberg selbst war bald wieder beim Ehepaar Sayn-Wittgenstein zu Gast.9 Natürlich gab es auch andere Möglichkeiten, solche Räume der Informalität herzustellen, z.B. bei Gratulations- und Kondolenzbesuchen, bei Kirchgängen oder Ausflügen in die Umgebung.10 Wie diese verschiedenen informellen Settings zusammenspielten, ist noch zu untersuchen.

Diplomatengattinnen als Interessenvermittlerinnen

Wiederholt wurden Diplomatengattinnen als Vermittlerinnen eingeschaltet. Wenn die üblichen Wege, die eigenen Interessen vorzubringen und durchzusetzen, erschöpft schienen, wandten sich die Gesandten mitunter an die Ehefrauen ihrer Verhandlungspartner. Gerade wenn deren Ehemänner sich als unzugänglich erwiesen und etwa einen Gesprächstermin verweigerten, boten die Ehefrauen eine Kontaktmöglichkeit.

Deutlich zeigt sich dies anhand von Anne Geneviève de Bourbon-Condé Duchesse de Longueville, Ehefrau des französischen Gesandten Henri d’Orléans Duc de Longueville11, die zudem als Mitglied des französischen Königshauses die ranghöchste Person überhaupt am Kongress war und entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zog (siehe Abbildung 2). Der Bischof von Osnabrück wandte sich mit der Bitte an sie, sich für den Erhalt dreier Hochstifte und gegen deren Säkularisierung bei ihrem Mann einzusetzen, was diese auch tat.

Inwieweit die Intervention der Ehefrauen sich tatsächlich auf das Verhandlungsgeschehen auswirkte, ist meist den Quellen nicht zu entnehmen. Klar ist aber, dass sie durchaus in das Verhandlungsgeschehen einbezogen waren und an informellen Gesprächen ihrer Ehemänner teilnahmen, wie bei gemeinsamen Mahlzeiten.

Wie verbreitet diese Einflussnahme von Diplomatengattinnen auf Friedenskongressen war, über welche weiteren Handlungsmöglichkeiten sie verfügten und wie sich diese von denen am Hof unterschieden, bedarf weiterer Forschungen. Hierfür müssen auch spätere Friedenskongresse untersucht werden. Während die (diplomatischen) Handlungsspielräume von Frauen am Hof immer mehr Aufmerksamkeit erhalten, fehlen ähnliche Untersuchungen für Friedenskongresse fast vollständig. Bereits jetzt ist aber klar, dass sie wesentlich dazu beitrugen, informelle Räume und Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. Sie wurden als alternative Mittlerinnen angesprochen und waren als solche informeller Teil des Verhandlungsgeschehens.

Der Westfälische Friedenskongress mag zwar zunächst als Männerwelt erscheinen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass es eine Welt war, in die Frauen eingebunden waren und in der sie eine wesentliche Rolle spielten auf dem mühsamen Weg der Friedensfindung.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht auf »fernetzt. Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte«, URL: univie.ac.at/fernetzt/20210515/.

Anmerkungen

1) Vgl. Duchhardt, H;Kaster, K. G. (Hrsg.) (1996):, „… zu einem stets währenden Gedächtnis“. Die Friedenssäle in Münster und Osnabrück und ihre Gesandtenporträts: anlässlich des Jubiläums 350 Jahre Westfälischer Frieden von Münster und Osnabrück im Jahre 1998, Bramsche: Rasch.

2) Einführend jüngst: Burkhardt, J. (2018): Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart: Klett-Cotta; Schmidt, G. (2018): Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München: C.H.Beck.

3) Löben an Konrad von Burgsdorf, Osnabrück, den 18./28. April [1645], in: Meinardus, O. (Hrsg.) (1893): Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rates aus der Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Bd. 3: Vom Januar 1645 bis Ende August 1647, Osnabrück, Nr. 59, S. 102.

4) Vgl. Wunder, H. (1992): Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit, München: C.H.Beck.

5) Bastian, C. u.a. (Hrsg.) (2014): Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Köln Weimar Wien: Böhlau; Sluga, G.; James, C. (Hrsg.) (2015): Women, diplomacy and international politics since 1500, London: Routledge; von Thiessen, H. (2020): Die Gender-Perspektive in der Geschichte der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen: Frauen in einer Männerdomäne? In: Schnelling-Reinicke, I.; Brockfeld, S. (Hrsg.): Karrieren in Preußen – Frauen in Männerdomänen, Berlin: Duncker & Humblot, S. 291–304.

6) Croxton, D. (2013): Westphalia. The last Christian peace, Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 172.

7) Vgl. Brunert, M.-E. (2001): „… ich hatte ja auch luxaugen sowohl als andere“. Der Augenzeugenbericht eines Teilnehmers am Westfälischen Friedenskongress über den Wallfahrtsort Rulle. Osnabrücker Mitteilungen 106, S. 127-143, hier S. 142f.

8) Vgl. 08.01.1646, 02.02.1646, in: Acta Pacis Westphalicae. Serie III Abteilung C: Diarien, Bd. 4: Diarium Lamberg 1645–1649 (APW III C 4), bearb. von Herta Hageneder, Münster 1986, S. 107, 110; Verhandlungen der Pommerschen Gesandten auf dem Westphälischen Friedenscongreß, in: Baltische Studien V.1 (1838), S. 1–130, hier S. 4f; Brunert 2001, S. 142f.

9) Vgl. 10.01.1646, in: Diarium Lamberg, APW III C 4, S. 107.

10) Vgl. z. B. Oetzel, L. (2019): Die Leiden des alten T. Krankheit und Krankheitsdiskurse auf dem Westfälischen Friedenkongress. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster: Aschendorff, S. 323–340, bes. S. 329–331.

11) Maria-Elisabeth Brunert gibt mit ihrer Studie einen ersten wichtigen Einblick in die Bedeutung von Diplomatengattinnen für die Verhandlungen: Brunert, M.-E. (2019): Interzession als Praktik. Zur Rolle von Diplomatengattinnen auf dem Westfälischen Friedenskongress In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster: Aschendorff, S. 209–225.

Lena Oetzel ist Historikerin am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes (ÖAW/Wien) und an der Universität Salzburg. Sie forscht u.a. zu frühneuzeitlichen Friedenskongressen.