Radikalisierung und kollektive Gewalt zusammendenken


Radikalisierung und kollektive Gewalt zusammendenken

Tagung des Arbeitskreises »Junge AFK«, online, 16.-17. März 2021

von Daniel Beck und Julia Renner

Die ins Internet verlagerte Tagung »Radicalization and Collective Violence« wurde durch die Sprecher*innen der Jungen Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) eröffnet, die sich sehr über das große Interesse von Beitragenden und Zuhörenden freuten. Denn die Tagung hatte pandemiebedingt um ein Jahr verschoben werden müssen. Prof. Dr. Alexander Spencer, der die Teilnehmenden im Namen des AFK-Vorstands begrüßte, ermutigte alle Vortragenden, sich die Hürden einer Publikation zuzutrauen und die auf der Konferenz vorgestellten Beiträge auch zu veröffentlichen.

In den vergangenen Jahren erreichte das allgemeine Thema »Radikalisierung« immer mehr Aufmerksamkeit in der Mitte der Gesellschaft durch spektakuläre Fälle radikalisierter Täter*innen. Der spezifische Fokus dieser Tagung lag vor allem auf den Grundlagen und konzeptionellen Überlegungen zu den Grundbegriffen »Radikalisierung« und »Gewalt«, sowie auf »Prävention und Deradikalisierung«, ergänzt und illustriert durch internationale Fallstudien.

Zur Diskussion des Tagungsthemas fanden sich rund 100 junge und junggebliebene Personen aus verschiedenen Wissensdomänen zusammen: universitär verortete Forscher*innen, Personen aus dem Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung, sowie freie Forschende und vereinzelte Aktivist*innen. Gleich vier Workshops reflektierten daher ein grundlegendes Anliegen dieser Tagung: Die Genese und den Austausch von Wissen praktisch und didaktisch wertvoll miteinander und über die Grenzen der jeweiligen Institutionen hinweg zu gestalten.

Gleich der Abendvortrag zu »Dynamics of collective violence. Bridging micro, meso and macro perspectives« von Prof. Dr. Timothy Williams von der Universität der Bundeswehr München zog die Zuhörer*innen in seinen Bann. Williams machte deutlich, dass der methodisch enge Blick jeweils über die Makro- und Mikro-Ebene von Radikalisierung hinaus erweitert werden sollte, da nicht alle Gewaltprozesse dadurch adäquat erklärt werden könnten. Er zeigte, dass sich Modelle zur Beschreibung von Radikalisierungsprozessen und deren Zusammenhang mit kollektiver Gewalt sowie Maßnahmen zu deren Prävention weitestgehend auf die Maßstabsebene des Individuums beziehen. Laut Williams beklagen Kritiker*innen dieser Ansätze – zu denen er selbst gehört – daher ein Empirie- und Handlungsdefizit bei der Aufarbeitung von Ursachen kollektiver Gewaltanwen­dungen. Dieses Defizit bestünde, so ­Williams, sowohl auf der Mikro- (intrapersonalen), Meso- (interpersonalen) als auch der Makro-Ebene (Gesellschaft und Gruppen). Er schlug daher eine Erweiterung und Fokussierung der Betrachtungsweise auf die Meso-Ebene vor. Seine theoretischen Überlegungen veranschaulichte er anhand von Beispielen aus der Forschung zum Genozid in Ruanda und der Massengewalt in Kambodscha.

Radikalisierung: Was ist das?

Radikalisierung wird auch in der Forschung tendenziell als ein negativer Prozess verstanden, was teilweise kritisiert wird. Viele Panelist*innen und Workshopleiter*innen machten es sich dementsprechend zur Aufgabe, nach Lösungen und adäquaten Umgangsformen damit zu suchen.

Ramzi Merhej und Anna Mühlhausen diskutierten beispielsweise in einem Panel zu »Deradikalisierung und Prävention« die Rolle von Ideologien und Normen. Ideologie stellten sie dabei als spezifischen Erklärungsfaktor für Radikalisierung infrage: Da Ideologie bei allen Radikalisierungsprozessen im Spiel sei, sei dies kein signifikanter Erklärungsfaktor bei der Suche nach Gründen für Radikalisierung.

Gleich mehrere Workshops widmeten sich praktischen Herausforderungen im Umgang mit Radikalisierungsprozessen. Im Workshop von Mareike Tichatschke konnten die Teilnehmenden am eigenen Leib die Macht von Narrativen erfahren. Insbesondere im Fall von Terrorismus spielen Deutungen und Zuschreibungen von Zusammenhängen eine zentrale Rolle bei der Reaktion auf das Gewaltereignis und für die Legitimation weiterer Gewalt. Die Teilnehmenden sollten sich in die Rolle von verschiedenen Konfliktparteien wie Regierungen und terroristischen Akteuren versetzen und so die Schwierigkeit erfahren, wie auf reale jihadistische Anschläge in Europa beispielhaft mit verschiedenen Narrativen reagiert werden kann. Dadurch wurden die Dynamiken, die aus Reaktionsnarrativen resultieren können, problematisiert und die üblichen Narrative in Reaktion auf terroristische Anschläge kritisch hinterfragt.

Annalena Groppe untersuchte in ihrem Workshop, wie die Polarisierung von Gesellschaften durch politische Themen Radikalisierungsprozesse verstärkt und inwiefern Friedenspädagogik als Gegenmittel eingesetzt werden kann. Mithilfe von Einzel- und Gruppenübungen wurden Elemente des »Elicitive Conflict Mappings« (hervorkitzelnde Konfliktkartierung) genutzt und so konnten die Teilnehmenden, ausgehend von ihrer subjektiven Perspektive auf polarisierende Konflikten um Demokratie, Orientierung gewinnen und kontextspezifische nächste Schritte ableiten.

Im Workshop »Extremismus und die Wissenschaft im post-digitalen Zeitalter« von Stephen Albrecht wurde deutlich, warum Extremismus und die digitale Welt zusammen erforscht werden müssen. Verschiedene Plattformen, Apps und Kommunikationskanäle dienen als wesentliche Vernetzungs- und Rekrutierungswerkzeuge für Extremist*innen. Zudem gab der Workshop Einblicke in Methoden und Tools zu Umgang, Dokumentation und Sicherung von Daten. Albrecht war es sehr wichtig, auf die unterschätzten Risiken und Gefahren für Forschende hinzuweisen, die zum Thema Radikalisierung in rechten Strömungen forschen und sich öffentlich äußern.

Rechte Radikalisierung und rassistische Gewalt

Im abschließenden Roundtable zum Thema »In Times of Right-wing and Racist Terror« diskutierten Alex Engelsdorfer, Ramzi Merhej, Kristine Andra Avram und Sebastian Salzmann.

Die Diskutant*innen erörterten die Überschnitte von Rassismus und rechter Gewalt und thematisierten deren relative Unsichtbarkeit in der Friedens- und Konfliktforschung. Die Diskutant*innen fragten, weshalb so wenig Forschung zu rassistischer Gewalt existiere, sei doch Gewalt eines der Kernthemen der Friedens- und Konfliktforschung. Nicht zuletzt wurde überlegt, welche Konsequenzen sich daraus für Forschung und Praxis ergeben (müssten).

Das Online-Format: Chancen und Perspektiven

Das Organisationsteam betonte zum Abschluss, welch große Resonanz die Tagung gefunden habe. So sei auch der Zugang zur Tagung – die von der Deutschen Stiftung Friedensforschung unterstützt wurde – diesmal sehr niedrigschwellig gewesen, da keine Teilnahmegebühren erhoben wurden. Durch das Online-Angebot sei auch eine stärkere Internationalisierung der Tagung erreicht worden. Zudem wurde beispielsweise Gather.town, eine Online-Plattform, für persönliche Gespräche und für Ausstellungen genutzt, um auch einen Raum für persönliche Kontakte außerhalb des offiziellen Programms zu bieten. Für die Zukunft sei es nach Ansicht der Organisator*innen sicherlich zu überlegen, ob und wie die Nachwuchstagung nachhaltig als Hybrid-Konferenz sinnvoll umgesetzt werden könne.

Während der Konferenz fand auch die Wahl eines neuen Nachwuchssprecher*innen-Teams statt. Daniel Beck, Julia Renner und Alex Engelsdorfer übergaben ihr Amt an David Haase (Universität Magdeburg), Astrid Juckenack (ZfK Marburg), Lilli Kannegießer (Universität Augsburg) und Stefanie Wesch (Potsdam Institute for Climate Impact Research). Das alte Sprecher*innen Team wünscht dem neuen Team viel Spaß und Erfolg bei dieser Aufgabe.

Daniel Beck und Julia Renner

Wechselnde Herrschaft in Postkonfliktkontexten


Wechselnde Herrschaft in Postkonfliktkontexten

Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, online, 31. März – 1. April 2021

von Regine Schwab und Hanna Pfeifer

Die in den letzten Jahren stark wachsende Literatur zu »rebel governance« (RG) untersucht interne Dynamiken in Bürgerkriegen, in denen Rebell*innen Teile eines Territoriums unter ihre Kontrolle bringen, das zivile Leben regulieren und für soziale, politische sowie wirtschaftliche Güter sorgen. Auf dem Online-Workshop »Fractures and Continuities of Changing Rule in (Post-)Conflict Settings« diskutierten die Teilnehmenden die Brüche und Kontinuitäten von Herrschaftssystemen in solchen Kontexten. Viele setzten dazu bei der RG-Literatur an, gingen aber dann oft über diese hinaus. Auf dem Workshop versammelten sich Expert*innen für mehrere Weltregionen und (Post-)Konfliktzonen. Nahezu alle vorgestellten Arbeiten basieren auf Feldforschung in teils schwer zugänglichen Gebieten.

Wie Paul Staniland in seinem Abendvortrag ausführte, ist RG nur ein Strang eines inzwischen stark ausdifferenzierten, regelrecht fragmentierten Feldes der (Post-)Konfliktstudien. Dennoch sind in diesem Unterfeld längst noch nicht alle Fragen geklärt. Mehrere Beiträge zum Workshop kritisierten das RG-Konzept aufgrund seines funktionalistischen und instrumentalistischen Verständnisses der Beziehung zwischen »Herrschenden« und »Beherrschten«. Diese Beziehungen sind konzeptionell beschränkt auf die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen durch Rebell*innen. Ein solches Verständnis, so der Beitrag von Jude Kagoro und Klaus Schlichte, habe entpolitisierende Effekte. Statt sich auf Governance oder Kosten-Nutzen-Analysen zu beschränken, untersuchte der Beitrag daher am Beispiel der »National Resistance Army/Movement« in Uganda, wie militärische und andere Formen von Macht legitimiert und auf diese Weise in Herrschaft umgewandelt werden und wie dies wiederum mit der Einbindung in regionale Dynamiken zusammenhängt.

Der Beitrag von Tim Glawion, Anne-Clémence Le Noan und Igor Acko argumentierte am Beispiel der von Rebell*innen kontrollierten Stadt Ndélé in der Zentralafrikanischen Republik, dass diese Kontrolle in Wirklichkeit durch Zwang aufrechterhalten wurde und nicht durch die Bereitstellung von Governance. Zwar wurden öffentliche Güter zu Beginn der Rebellion beschworen. Allerdings lagerten die Rebell*innen nach Konsolidierung ihrer Kontrolle deren Bereitstellung an internationale und staatliche Akteure aus, um sich gegen Kritik an ihrer mangelhaften Bereitstellung abzuschirmen und sich stattdessen auf die Generierung von Einkommen und Ressourcenextraktion zu konzentrieren. Nicht »rebel governance«, sondern Zwang erklärt also die lange Dauer der Rebellenherrschaft in Ndélé. Damit stellte der Beitrag einige zentrale Annahmen der RG-Literatur in Frage, die bislang davon ausging, dass die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zentral für die Steigerung von Legitimität und damit Machterhalt ist.

Francesco Buscemi kritisierte die Konzeptualisierung von »Macht« als Eigenschaft von Akteuren oder Institutionen in der RG-Literatur. Dieses statische Verständnis reduziere Erwerb und Kontrolle von Gewaltmitteln auf Handlungsfähigkeit und vermeintlich rationale Aushandlungsprozesse. Stattdessen seien die gesamtgesellschaftliche Zirkulation von Rationalitäten und Techniken zur Kontrolle der Gewaltmittel in den Vordergrund zu stellen. Anhand einer Langzeitstudie zu Myanmar folgte sein Beitrag den Verläufen der Ta‘ang-Rebellenbewegungen in ihren Zyklen von Bewaffnung, Entwaffnung und Wiederbewaffnung sowie deren Zusammenhang mit Rationalitäten der Ethnonationalität einerseits und der Drogenbekämpfung andererseits.

Ein weiterer zentraler Diskussionsstrang der Veranstaltung entwickelte sich aus der Diskussion von Legitimitätskonzepten. Mara Revkins Beitrag zum Islamischen Staat (IS) argumentierte, dass für die Eroberung und Konsolidierung von territorialer Kontrolle durch aufständische Gruppen die Unterstützung und Zusammenarbeit der lokalen Zivilbevölkerung erforderlich sei. Dies konnte der IS bis zu einem gewissen Grad durch das Angebot einer effektiven und als gerecht wahrgenommenen Alternative zur irakischen Regierung erreichen, wenn auch nur anfangs. Es könnte fruchtbar sein, so ein Ergebnis der Diskussion, zwischen der Eroberung und der Konsolidierung von territorialer Kontrolle zu unterscheiden und die Rolle von Legitimität und lokaler Unterstützung über die verschiedenen Phasen von Macht- und Herrschaftserwerb, -konsolidierung und -verlust zu betrachten.

In mehreren Workshop-Beiträgen wurde zudem deutlich, dass Studien oft einen eng umrissenen lokalen Kontext untersuchen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund externer Interventionen in viele Konflikte und der Verbindung von Konfliktparteien zur Diaspora ein gravierendes Defizit. Maria Ketzmericks Beitrag untersuchte etwa die Eskalation und Transnationalisierung des »Anglophonen Konfliktes« in Kamerun unter Berücksichtigung der komplexen Beteiligung von lokalen, nationalen, trans- und internationalen Akteuren. In Andrea Jaramillos Beitrag wurde deutlich, dass in der Post-Konfliktphase ebenfalls Spannungen entstehen können zwischen global existierenden »Skripten der Friedensstiftung« und deren Implementierung in lokalen Alltagskontexten und -praktiken – die durch diese Maßnahmen unterbrochen, manchmal sogar zerstört werden könnten. Dies erkläre die Apathie mancher lokalen Gemeinschaften in Kolumbien gegenüber Reinkorporationsmaßnahmen, wie Programme zur Reintegration ehemaliger Kämpfer*innen in die Gesellschaft in Kolumbien genannt werden.

Siddharth Tripathi und Solveig Richter argumentierten in ihrem Beitrag zum Kosovo, dass Ordnung in einem Post-Konfliktkontext durch einen dynamischen und interaktiven Prozess von informellen Netzwerken etabliert werde, die bereits während des Konflikts entstanden sind. Internationale Akteure, die in einem solchen Kontext aktiv werden, sähen sich mit Zielkonflikten konfrontiert und priorisierten Sicherheit und Stabilität anstelle von echten demokratischen Reformen. Folglich sei die »neue« politische Ordnung mehr durch Kontinuitäten als Veränderungen gekennzeichnet. Auch in Deniz Kocaks Beitrag zu Ost-Timor standen Kontinuitäten zwischen Konflikt- und Post-Konfliktordnung im Vordergrund, konkret die Fortschreibung von Vertrauensverhältnissen zwischen Bevölkerung und Sicherheitsinstitutionen. Die Polizeikräfte würden auch heute noch gefürchtet, da sie, trotz einer Neugründung, größtenteils an repressiven Methoden des Polizierens festhielten und somit die Polizierungspraktiken der ehemaligen indonesischen Besatzung fortführten. Demgegenüber vertraue die Bevölkerung dem Militär, das hauptsächlich aus ehemaligen Rebell*innen besteht und als Widerstandsorganisation großes Ansehen genießt. Solveig Richter und Laura Sabogal argumentierten mit Blick auf die Frage nach der Reinkorporation von ehemaligen Rebell*innen in Kolumbien, dass auch hier die soziale Ordnung, wie sie sich während des Konflikts herausgebildet hat, einen entscheidenden Einfluss habe. Und schließlich betonte Marika Sosnowskis Beitrag zur politischen Ordnung im heutigen Süd-­Syrien ebenfalls, wie zentral die Analyse von (Prä-)Konfliktdynamiken ist, um zu verstehen, welche Formen von Autorität sich herausbilden. Diese seien mit dem formal anmutenden Begriff von Governance nicht zu fassen; vielmehr ergäben sich diese aus überlagernden Zuständigkeiten von staatlichen wie nicht-staatlichen Akteuren.

Mit dieser Hybridität von Ordnungen setzten sich zwei weitere Beiträge auseinander. Lydia Letsch untersuchte, wie die Bevölkerung in der tunesischen Grenzregion zu Algerien, die von der Koexistenz formaler wie informeller Institutionen geprägt ist, ihre eigene (Un-)Sicherheit und – in der Konsequenz – die Legitimität von Ordnungstifter*innen wahrnimmt. Juan Albarraci´n, Juan Corredor, Juan Pablo Milanese, Inge H. Valencia und Jonas Wolff forderten gängige Erklärungen von Gewalt im Post-Konflikt-Kontext Kolumbiens heraus, die von einem Machtvakuum in vormaligen Rebellengebieten und damit verbundener, wachsender Kriminalität ausgehen. Sie argumentierten, dass vielmehr eine subnationale, autoritäre Ordnung gegen wahrgenommene Bedrohungen verteidigt würde, und zwar von den darin involvierten staatlichen und nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren und lokalen Eliten. Schließlich thematisierte der einzige völkerrechtliche Beitrag von Parisa Zangeneh ein aus sozialwissenschaftlicher Sicht spannendes Phänomen: die Auseinandersetzung mit Ansprüchen auf Staatlichkeit im Rahmen von Prozessen vor dem Internationalen Strafgerichtshof und die in Urteilen vorhandene implizite Anerkennung von Quasi-Staaten. Welche Auswirkungen derartige Prozesse auf lokale und regionale Konfliktdynamiken haben, wäre in künftiger Forschung zu ergründen.

Regine Schwab und Hanna Pfeifer

Globale/lokale Krisen im Blick


Globale/lokale Krisen im Blick

52. Kolloquium der AFK, Online-Veranstaltung, 17.-19. März 2021

von Claudia Cruz Almeida, Alexander Kusnezow, Elke Verlinden

Im März 2021 fand das 52. AFK-Kolloquium unter dem Titel »Globale/lokale Krisen als Herausforderung für die Friedens- und Konfliktforschung« in Kooperation mit der Universität Magdeburg statt. In ihrer Einleitung erinnerte die AFK-Vorsitzende Prof. Dr. Bettina Engels an die pandemiebedingte Absage des Kolloquiums 2020, weshalb das Kolloquium 2021 das gleiche Schwerpunktthema behandelte, das aber keineswegs weniger relevant geworden sei. Das letzte Jahr habe vielmehr gezeigt, so Engels, wie eine globale Krise strukturelle Ungleichheiten und Populismus verstärken könne und wie viele Konflikte und strukturelle Konfliktursachen im Kontext einer globalen Krise in Vergessenheit geraten können. Der Leiter des Magdeburger Organisationsteams Prof. Dr. Alexander Spencer hob die große Resonanz auf die Tagung hervor. Mit über 250 internationalen Teilnehmenden erreichte die AFK die größte Teilnehmendenzahl eines Kolloquiums in ihrer Geschichte.

Keynote: Kritische Analyse von Machtverhältnissen

Die Keynote zum Thema »Global/Local Crises as Challenges for Peace and Conflict Studies: A Feminist Perspective from the African Continent« hielt Prof. Dr. Amina Mama (University of Ghana). In ihrem Vortrag zeigte sie auf, wie die Vergangenheit kolonialer Herrschaft in vielen afrikanischen Staaten und Gesellschaften weiterhin vielfach sichtbar sei und ebenso noch stets Konsequenzen trage. So sei ein fortbestehender Militarismus eine dieser Folgen der höchst militarisierten kolonialen Herrschaft und noch heute zentrale Antriebskraft hinter vielen gewaltsamen Konflikten, Armut und genderbezogener Gewalt. Mit Beispielen, unter anderem von den (zwangsweisen) Einsätzen afrikanischer Soldaten in beiden Weltkriegen, den heutigen Konditionen für internationale Unterstützungsprojekte, der geostrategischen Stationierung US-amerikanischer Soldat*innen auf dem afrikanischen Kontinent, des Extraktivismus und der Waffenexporte, legte Prof. Dr. Mama dar, wie Staaten aus dem globalen Norden noch immer zur Militarisierung und Abhängigkeit afrikanischer Staaten beitragen. Sie betonte auch, dass diese Kultur der Gewalt mitunter durch Popkultur weiter verbreitet wird.

Sie rief dazu auf, kritisch zu hinterfragen, wer von Kriegen und militärischen Konflikten profitiere, und den Trend steigender Budgets für Militärausgaben umzukehren. Hierfür seien transdisziplinäre und transnationale Forschungs- und aktivistische Ansätze nötig. Solche müssten gleichermaßen die lokale wie die globale Vernetzung der Akteure betrachten, aber auch den Blick über Gewalt hinaus darauf werfen, welche Machtkonstellationen bestehen und welche Kontextfaktoren Gewalt begünstigen.

Roundtable zur Evaluierung der Friedens- und Konfliktforschung

Zur durch den Wissenschaftsrat erfolgten Evaluierung der Friedens- und Konfliktforschung organisierte der AFK-Vorstand einen Roundtable. Nach einleitenden Beiträgen von Dr. Conrad Schetter (BICC), Prof. Dr. Margit Bussmann (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Malte Göttsche (RWTH Aachen, FONAS) diskutierten die Teilnehmenden intensiv über zentrale Themen der Evaluation, unter anderem über die Stärkung der naturwissenschaftlichen Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, über das Spannungsfeld von politischer Nähe und Relevanz sowie über die BMBF-Förderlinie zur Vernetzung der Friedens- und Konfliktforschung, die im Nachgang der Evaluierung veröffentlicht wurde. Mit dem Roundtable sollte ein Anstoß zur weiteren Diskussion möglicher Entwicklung der Friedens- und Konfliktforschung sowie zu Überlegungen zur (interdisziplinären) Vernetzungsarbeit der AFK, auch zwischen Standorten, gegeben werden.

Panels und Arbeitskreise: Zentrale Themen in der Erforschung »glokaler« Krisen

Inhaltlich deckten die Beiträge zum AFK-Kolloquium ein breites Spektrum an Themen, Ansätzen und Methoden ab. Panelübergreifend können einige zentrale Themen herausgestellt werden: So waren die verschiedenen Machtkonstellationen im Verhältnis des Globalen Norden zum Globalen Süden ein zentrales Element diverser Panel-Diskussionen. Hierbei wurden in den Beiträgen sehr häufig postkoloniale und feministische Perspektiven eingenommen, um ein Thema weitreichend wissenschaftlich beleuchten, diskutieren und analysieren zu können. Die besagten Perspektiven dienten nicht nur als Diskussions- und Analysegrundlagen, sondern eröffneten neue Wege für das Verständnis von Gewalt, Macht und Frieden in den jeweiligen Fallbeispielen. Auch wurden viele Themen als »glokal« eingeordnet und entsprechend in dieser Multidimensionalität besprochen.

Ein besonderes Augenmerk wurde zudem auf grundsätzlichere Fragen und Herausforderungen geworfen. Hier stachen die Relevanz von Vertrauen in der lokalen Bevölkerung für Aktionen und Engagement jeder Art, Diskussionen zum potentiell systemstabilisierenden Charakter von Aktivismus und den allgemeineren Problemen von internationalisiertem Aktivismus (beispielsweise die Frage, ob die Projekte als Ausdrücke eines internationalisierten Arbeitsmarktes gesehen werden können) hervor. Angesichts der unterschiedlichen Machtkonstellationen wurde u.a. dafür plädiert, intersektionale Analysen durchzuführen, die diese berücksichtigen.

Ein weiteres zentrales Thema der Konferenz war die Frage, inwiefern Gender-sensitive und feministische Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung noch weiter vertieft und für die Erlangung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse genutzt werden können. Bei mehreren Gelegenheiten wurde Besorgnis über populistische Bewegungen geäußert, die Gender als »symbolic glue«1 betrachten, und über Länder, in denen ganze Forschungsrichtungen wie »Gender Studies« verboten wurden. Viele Tagungsteilnehmer*innen werteten diese Entwicklungen als eine Gefahr für Freiheiten und individuelle Rechte. Angesichts dieser Herausforderungen schlugen die Sprecher*innen beispielsweise einen starken Zusammenschluss verschiedener Akteur*innen, die Entwicklung eines Netzwerks, um die Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter weiter zu fördern und zu festigen, sowie generationsübergreifende Bündnisse und Allianzen mit allen Arten von Bewegungen, Frauen*, Männern und LGBTQI+ Kollektiven vor.

Zusätzlich zu den klassischen Panelformaten und alternativen Formaten zum Tagungsthema fanden auch darüber hinausgehende Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung ihren Platz. So wurden ein Workshop zur Bearbeitung von Dilemmata in politischen Krisen und Konflikten, eine Fishbowl zur Rolle von Theorie für und in der Friedens- und Konfliktforschung sowie ein Panel zu »Data Constraints and Biases in Peace and Conflict Studies« angeboten. Zudem organisierten die Frauenbeauftragten der AFK einen Workshop zur strategischen Zukunftsgestaltung des »Netzwerks Friedensforscherinnen«.

Trotz der Online-Veranstaltung ist es zudem gelungen, ein breites Angebot an alternativen, interaktiven Formaten anzubieten, in denen das interaktive Element sehr gut funktionierte. Insgesamt umfasste das AFK-Kolloquium nicht weniger als acht Fishbowls, Roundtables, Workshops, Storytellings und andere Formate sowie nicht zuletzt die Treffen der Arbeitskreise.

Die Arbeitskreise innerhalb der AFK sind für die Vernetzung und thematische Zusammenarbeit von Friedens- und Konfliktforschenden auch außerhalb der jährlichen AFK-Kolloquien von großer Bedeutung. Während im vergangenen Jahr viele Workshops und Treffen ausfallen mussten, kamen im Rahmen des 52. Kolloquiums wieder viele Arbeitskreise zusammen.

Christiane-Rajewsky-Preis und Mitgliederversammlung

Jährlich vergibt die AFK einen Nachwuchspreis an junge Wissenschaftler*innen, die mit ihrer Masterarbeit oder Dissertation einen herausragenden Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung geleistet haben. Der Preis ist dem Andenken der Friedensforscherin Prof. Christiane Rajewsky gewidmet. Die Preisjury vergab den diesjährigen Nachwuchspreis unter Vorsitz von PD Dr. Gabi Schlag an drei junge Forscherinnen: Theresa Leimpek (ETH Zürich) erhielt die Auszeichnung für ihre Dissertation »A Theory of Internal Displacement in Civil War: Rebel Control and Civilian Movement in Sri Lanka«; Annalena Pott (University of Oxford) wurde für ihre Masterarbeit »Pride or Prejudice? Exploring the Construction of Homosexuality in post-Euromaidan Ukraine« ausgezeichnet; an Eva Willems (Universiteit Ghent) ging der Preis für ihre Dissertation »Open Secrets & Hidden Heroes. Violence, Citizenship and Transitional Justice in (Post-)Conflict Peru«.

Aufgrund der Absage des AFK-Kolloquiums 2020 wurden in diesem Jahr die Preisverleihungen für die Jahre 2020 und 2021 gemeinsam ausgerichtet. In einer digitalen Abendveranstaltung führten Dr. Werner Distler (Jury-Vorsitzender 2018-2020) und PD Dr. Gabi Schlag mit den drei diesjährigen Preisträgerinnen sowie jenen aus 2020, Anne-Katrin Kreft und Pia Falschebner, ein Podiumsgespräch.

Während der diesjährigen AFK-Mitgliederversammlung, die ebenfalls online stattfand, wurden die Wahlergebnisse der Vorstandswahl bekannt gegeben. Die Wahl hatte im Vorfeld digital stattgefunden. Zur ersten Vorsitzenden und Nachfolgerin von Prof. Dr. Bettina Engels, die nicht mehr kandidierte, wurde Dr. Simone Wisotzki (HSFK) gewählt. Zweite Vorsitzende wurde Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber (Hochschule Rhein-Waal). Als Beisitzer*innen wurden außerdem in den Vorstand gewählt: Prof. Dr. Andrea Schneiker (Zeppelin Universität Friedrichshafen), Prof. Dr. Nils Weidmann (Universität Konstanz) und Prof. Dr. Timothy Williams (Universität der Bundeswehr München). Als Frauenbeauftragte wurden Christine Buchwald (Universität Koblenz-Landau) und Madita Standke-Erdmann (Universität Wien) gewählt. Prof. Dr. Alexander Spencer (Beisitzender 2018-2021) sowie Lena Merkle (Frauenbeauftragte 2018-2021) schieden aus dem Vorstand aus. Nachwuchssprecher*innen sind David Haase (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg), Astrid Juckenack (ZfK Marburg), Lilli Kannegießer (Universität Augsburg) und Stefanie Wesch (Potsdam Institute for Climate Impact Research).

Besonderheiten einer online-Veranstaltung und 30 Jahre Netzwerk Friedensforscherinnen

Um den sozialen Charme eines unter normalen Umständen stattfindenden Kolloquiums zumindest in seinen Grundzügen zu erhalten, wurde das Online-Tool »Gather.town« verwendet. Dies erlaubte es allen Teilnehmenden, sich in einem offenen Raum in der digitalen Sphäre zu treffen, frei zu bewegen und auszutauschen. Das Angebot war während der gesamten Veranstaltung nutzbar und wurde sehr gut angenommen. Neben Unterhaltungsräumen und einer virtuellen Bar konnten interessierte Personen eine digitale Ausstellung zum 30+1-jährigen Bestehen des »Netzwerks Friedensforscherinnen« besuchen. Weiterhin bestand die Möglichkeit, sich an zwei Ständen zur ZeFKo sowie zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden zu informieren und sich mit den jeweiligen Herausgeber*innen und Redakteur*innen auszutauschen.

Auch wenn ein digitales AFK-Kolloquium eine Präsenzveranstaltung in keiner Weise ersetzen kann, ist durch die vielfältigen Austauschmöglichkeiten und Formate dennoch eine lebendige Tagung mit vielen persönlichen Kontaktmomenten gelungen.

Anmerkung

1) Der Begriff soll verdeutlichen, wie sich rechtspopulistische Bewegungen als Antwort auf die neoliberale Krise und mit dem Ziel der Wählermobilisierung um eine »Anti-Gender«-Haltung organisieren und Geschlechtergleichheit als »Ideologie« präsentieren.

Claudia Cruz Almeida, Alexander Kusnezow, Elke Verlinden

Globale Konfliktdynamiken

Globale Konfliktdynamiken

Eine Zusammenfassung des Konfliktbarometers 2020

von Maximilian Brien, Giacomo Köhler und Maximilian Orth

Mit der 29. Ausgabe des Konfliktbarometers setzt das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) seine jährlich erscheinende Studie zum weltweiten Konfliktgeschehen fort.

Im Jahr 2020 dokumentierte das HIIK weltweit 359 politische Konflikte, von denen 220 gewaltsam und 139 gewaltlos ausgetragen wurden. Im Vergleich zum Vorjahr erhöhte sich die Zahl der erfassten Kriege von 15 auf 21 und erreichte damit den bisher als solchen verzeichneten Höchstwert von 2014. Von den im Jahr 2019 verzeichneten Kriegen de-eskalierten drei zu begrenzten Kriegen oder gewaltsamen Krisen, während 13 Kriege auf der gleichen Intensitätsstufe fortgesetzt wurden. Sieben weitere Konflikte eskalierten zu Kriegen und ein neuer Konflikt brach direkt auf Kriegs-Niveau aus.

Die Anzahl der begrenzten Kriege hingegen sank von 23 auf 19. Neun Konflikte setzten sich auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr fort. Zehn begrenzte Kriege de-eskalierten auf das Niveau einer gewaltsamen Krise, während wiederum acht gewaltsame Krisen zu begrenzten Kriegen eskalierten (vgl. Graphik 1).

Die Regionen im Einzelnen

  • Im Unterschied zum vorherigen Jahr war 2020 Sub-Sahara Afrika die Region mit den meisten Kriegen. In der Sahel-Zone, der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien, Mosambik, Somalia, Südsudan sowie Nigeria wurden insgesamt elf Kriege beobachtet. Davon waren fünf neu: Konflikte zwischen islamistischen Gruppierungen und Regierungskräften in der Demokratischen Republik Kongo und Mosambik sowie innerstaatliche Konflikte im Südsudan und Äthiopien eskalierten auf Kriegs-Niveau. Des Weiteren brach in Äthiopien der Konflikt um die Tigray-Region direkt auf dem Niveau eines Krieges aus. Keiner der in 2019 beobachteten Kriege de-eskalierte. Die Zahl der begrenzten Kriege nahm um einen auf neun ab (vgl. im Weiteren Graphik 2).
  • In Westasien, Nordafrika und Afghanistan verringerte sich die Zahl der Kriege von acht auf sieben. Die Konflikte um die Sinai-Halbinsel sowie zwischen der Türkei und von ihr unterstützter syrischer Oppositionsgruppen mit dem Bündnis »Demokratische Kräfte Syriens« de-eskalierten. Gleichzeitig eskalierte der Sezessionskonflikt um die Region Südjemen. Die Zahl der begrenzten Kriege sank von vier auf einen. Insgesamt erlebte die Region also eine begrenzte Entspannung bezüglich der Anzahl an hochintensiven Konflikten.
  • In den Amerikas verblieb der Drogenkonflikt in Brasilien weiter auf der Intensitätsstufe eines Kriegs, während in Mexiko der Konflikt zwischen Drogenkartellen, Milizen und der Regierung zu einem begrenzten Krieg de-eskalierte. Die beiden begrenzten Kriege zwischen unterschiedlichen nichtstaatlichen Gruppen in Mexiko und Kolumbien setzten sich jeweils fort, während die gewaltsame Krise zwischen der Nationalen Befreiungsarmee und der kolumbianischen Regierung zu einem begrenzten Krieg eskalierte. Somit stieg die Zahl der begrenzten Kriege in der Region von drei auf vier.
  • In Asien und Ozeanien verzeichnete das HIIK wie in den vergangenen Jahren keinen Krieg. Die Zahl der begrenzten Kriege sank leicht von fünf auf vier. Während der Konflikt zwischen Indien und Pakistan sowie der Unabhängigkeitskonflikt um Papua in Indonesien de-eskalierten, eskalierten der Autonomiekonflikt in Myanmars Bundesstaaten Kayah und Karen sowie der Konflikt zwischen kommunistischen Rebellengruppen und der philippinischen Regierung.
  • Anders als in den letzten Jahren wurde mit dem Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien erstmals ein Krieg in Europa verzeichnet, während der Donbass-Konflikt in der Ukraine als begrenzter Krieg weitergeführt wurde.

Zwischenstaatliche Konflikte

Der Großteil der vom HIIK dokumentierten zwischenstaatlichen Konflikte wurde auch 2020 nicht gewaltsam ausgetragen. Verglichen mit den vergangenen zehn Jahren, wurde im aktuellen Untersuchungszeitraum jedoch ein markanter Anstieg gewaltsamer Konflikt-Dyaden verzeichnet. Während 2019 elf zwischenstaatliche Konfliktbeziehungen durch Gewalt gekennzeichnet wurden, stieg diese Zahl 2020 auf 19. Auch wenn der begrenzte Krieg zwischen Indien und Pakistan de-eskalierte, wurde mit der Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan der erste zwischenstaatliche Krieg seit 2012 beobachtet.

Das jährliche Heidelberger Konfliktbarometer kann auf der Homepage des HIIK kostenlos heruntergeladen werden. Der Bericht erscheint in englischer Sprache.

Maximilian Brien hat Politische Ökonomik an der Universität Heidelberg studiert und ist Vorstandsmitglied und Co-Chefredaktor des Konflikt Barometers 2020.
Giacomo Köhler studiert im Master Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg und ist Vorstandsmitglied und Co-Chefredaktor des Konflikt Barometers 2020.
Maximilian Orth studiert im Master Security Risk Management an der Universität Kopenhagen und ist Vorstandsmitglied als Leiter des Kommunikations Gremiums.

Definitionen – Der Heidelberger Ansatz

Politischer Konflikt:

Ein politischer Konflikt ist eine Positionsdifferenz hinsichtlich gesamtgesellschaftlich relevanter, immaterieller oder materieller Güter – den Konfliktgegenständen – zwischen mindestens zwei als durchsetzungsfähig wahrgenommenen direkt beteiligten Akteuren, die mittels beobachtbarer und aufeinander bezogener Konfliktmaßnahmen ausgetragen wird.
Diese Maßnahmen gelten als konstitutiv für einen Konflikt, sofern sie außerhalb etablierter Regelungsverfahren liegen und eine staatliche Kernfunktion oder die internationale Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen.

Intensitätsstufen:

Es werden insgesamt fünf Intensitätsstufen unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg.
Die gewaltsame Krise, der begrenzte Krieg und der Krieg bilden zusammen die Kategorie der Gewaltkonflikte, im Unterschied zu den gewaltfreien Konflikten.

Indikatoren:

Zur Ausdifferenzierung des Gewaltkonflikts werden als weitere Kriterien die zur Durchführung der gewaltsamen Konfliktmaßnahmen eingesetzten Mittel und die Folgen des Gewalteinsatzes herangezogen.
Die Dimension der Mittel umfasst die Indikatoren Waffeneinsatz und Personaleinsatz, die Dimension der Folgen ferner die Indikatoren Todesopfer, Zerstörung und Geflüchtete (Flüchtlinge sowie Binnenvertriebene).

Eine ausführliche Darstellung der Methodik findet sich unter hiik.de/hiik/methodik/.

(Re)thinking Time and Temporalities


(Re)thinking Time and Temporalities

Digitale Zentrumstage, Zentrum für Konfliktforschung, Marburg, 29.-31. Oktober 2020

von Alina de Luna Aldape, Alina Giesen, Pia Falschebner, Sara Kolah Ghoutschi und Miriam Tekath

Wie beeinflussen Zeit und Zeitlichkeit Konfliktdynamiken und Friedensprozesse und wie prägen Zeitlichkeitsvorstellungen unser Verständnis eben dieser Dynamiken und Prozesse ? Wie können Zeit und Zeitlichkeit verstanden und analytisch stärker für die Friedens- und Konfliktforschung nutzbar gemacht werden ? Wie können temporale Aspekte kritische Forschungsperspektiven bereichern ?

Mit diesen und anderen spannenden Fragen setzten sich die rund 180 Konferenzteilnehmer*innen der diesjährigen Zentrumstage »(Re)thinking Time and Temporalities in Peace and Conflict« im Rahmen eines umfangreichen und abwechslungsreichen Programms auseinander. Besonders erfreulich an diesen Zentrumstagen war das durchweg große Interesse von Wissenschaftler*innen in unterschiedlichen Stadien ihrer akademischen Laufbahn. Dabei fanden die Zentrumstage auch international großen Zuspruch mit Teilnehmer*innen aus insgesamt 20 Ländern.

Aufgrund der aktuellen Covid-19-Pandemie fanden die diesjährigen Zentrumstage digital statt. Dies ging mit Herausforderungen einher, eröffnete gleichzeitig aber auch neue Chancen : Wie die geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Konfliktforschung, Susanne Buckley-Zistel, in ihren einleitenden Worten feststellte, konnte durch die Verlagerung der Konferenz in den digitalen Raum einer größeren Anzahl an Teilnehmenden aus verschiedenen Kontexten die Konferenzteilnahme ermöglicht werden.

Trotz ihrer Allgegenwärtigkeit in (Post-)Konflikt-Kontexten und ihrer Bedeutung für das Verständnis von Konflikt- und Friedensprozessen, ist die explizite Beschäftigung mit temporalen Dimensionen in der Friedens- und Konfliktforschung meist marginal. Diesem bisher noch nicht ausgeschöpften Potenzial nahm sich die Konferenz an. Dabei wurde deutlich, wie produktiv temporale Perspektiven auch für Forschungsvorhaben sein können, in denen das Thema Zeitlichkeit nicht im Zentrum des Interesses steht.

Herrschaftskritische Konzeptualisierungen

Die Keynote-Vorträge der Konferenz beleuchteten, jeweils auf ihre Weise, das Zusammenspiel von Zeitlichkeit und Macht. In ihrer eröffnenden Keynote »Chronopolitics and temporal resistance in peace and conflict« erörterte Natascha Mueller-Hirth (Aberdeen), wie Zeitlichkeit zu einer Art des Regierens werden kann. Am Beispiel von Reparationen in Kenia zeigte sie auf, wie die Produktion von temporaler Ungewissheit als staatliche Zeitpolitik zum Einsatz kommt, um Opfer zu disziplinieren sowie Reparationen statt als grundlegendes Recht als eine Geste des guten Willens darzustellen. Gleichzeitig erläuterte sie aber auch, dass Widerstand gegen diese dominante Zeitlichkeit möglich ist und welche Widerstandspraktiken sich auf Seite der Betroffenen formieren.

Im zweiten Teil ihres Vortrages appellierte Natascha Mueller-Hirth am Beispiel von Konfliktbearbeitung an der Schnittstelle von Klimawandel und Entwicklung dafür, auch Gewaltphänomenen, die nicht der vorherrschenden Logik von Spektakel und Unmittelbarkeit genügen, mehr Beachtung zu schenken. Hier arbeitete sie ebenfalls heraus, wie Macht in Narrativen über Zeitlichkeit verortet und durch diese ausgeübt wird.

Zeit als solche sei, so Natascha Mueller-Hirth, nie neutral. Vielmehr sei sie immer gleichzeitig von Ungleichheiten geprägt und wirke ihrerseits wiederum auf Ungleichheiten ein.

Annick Wibben (Stockholm) schloss die dreitägige Konferenz mit ihrem Vortrag »Feminist Narratives of Peace & War : Conceptualizing Violence as Continua«. Einprägsam appellierte sie an die Teilnehmenden, Gewalt über Kontinuitäten hinweg zu denken und in Analysen von Gewalt verschiedene, sich überlagernde Dominanzstrukturen zu beachten. Dabei betonte sie insbesondere den Wert von feministischen und intersektionalen Perspektiven für die Analyse von Zeit und Zeitlichkeit und warb für die Betrachtung von Gewalt als etwas Gemachtem, damit aber auch als etwas potenziell Aufhebbarem.

Theoretische und praktische Perspektiven auf Zeit und Zeitlichkeit

Auch in den Panels wurden aus verschiedenen Forschungsfeldern heraus eine große Vielfalt an Themen und Konzepten behandelt und bereichernde Denkanstöße gegeben. Dabei zog sich die Frage, wie Forschende über eine zu vereinfachende, zeitlich lineare Betrachtung von Konflikt- und Friedensprozessen hinausgehen oder deren Komplexität besser (auch konzeptionell) gerecht werden können, wie ein roter Faden durch viele Beiträge.

Ingrid Samset lud beispielsweise dazu ein, sich vom Verständnis von politischen Transitionen und Aufarbeitungsprozessen als von vornherein festgelegten, eindimensional ablaufenden Prozessen mit einem klaren Start- und Zielpunkt zu lösen. Stattdessen bedarf es einer ergebnisoffeneren Konzeption, die sich von Beginn an besser an sich wandelnde Umstände sowie Erwartungen und Prioritäten anpassen kann.

Gleichzeitig schärfte die Konferenz den Blick dafür, dass Transitionen durch die Wechselwirkungen von geplanten und ungeplanten Prozessen beeinflusst werden und simultan ablaufende, gegensätzliche Entwicklungen beinhalten können. Beide Faktoren gilt es, in die Analyse mit einzubeziehen. Dieser Aspekt wurde etwa im Vortrag von Mariam Salehi herausgear­beitet.

Hinsichtlich der Ausgestaltung von »Transitional Justice«-Prozessen wurde darüber hinaus klar, dass nicht selbstverständlicherweise von homogenen Gerechtigkeitsverständnissen und -forderungen innerhalb einer Opfergruppe ausgegangen werden kann. Vielmehr sind diese, wie etwa Julie Bernath in ihrem Beitrag erörterte, in hohem Maße abhängig von Faktoren wie Lebensbedingungen, momentanen Prioritäten und Bedürfnissen, oder generationeller Zugehörigkeit und befinden sich somit in einem steten Prozess des Wandels und der Anpassung – abhängig von Zeit und Ort. Diese Komplexität von Gerechtigkeitsverständnissen gilt es beim Sequenzieren von »Transitional Justice«-Mechanismen zu beachten.

Die Bedeutung zeitlicher Aspekte wurde auch bezüglich der besonderen Rolle von Erinnerung und intergenerationellen Dynamiken in Konflikten und Aufarbeitungsprozessen offensichtlich : Wie etwa Bertie Kangoya’s Vortrag zeigte, überlagern sich insbesondere in langanhaltenden Konflikten Erinnerungen an Gewalterlebnisse der Vergangenheit mit Gewaltkontinuitäten in der Gegenwart. Somit wird die Gewalt­erfahrung ständig neu aktualisiert. Dabei kommt Trauma eine besondere Bedeutung zu : Trauma kann in seiner Gewalthaftigkeit gleichzeitig sowohl als zeitlich disruptive Erfahrung, als auch zeitlich ungebrochenes Element, welches bis in die Gegenwart hineinragt und über Generationen hinweg weitergegeben wird, verstanden werden.

Schließlich müssen auch Vorstellungen von der linearen Entwicklung kollektiver politischer Mobilisierung, etwa im Rahmen von Protesten, und rein rational-strategische Erklärungen dieses Phänomens hinterfragt werden. So zeigte etwa der Beitrag von Felix Schulte auf, wie unerwartete Trigger­events kollektive Emotionen bündeln sowie politische Mobilisierungsprozesse und Gewalteskalationen beeinflussen.

Fazit

Mit solchen und weiteren Diskussionspunkten trugen die Zentrumstage dazu bei, das Verständnis von Zeit und Zeitlichkeit zu vertiefen und schufen einen wertvollen Raum für Gespräche darüber, wie dieser elementare Fokus in der Friedens- und Konfliktforschung in Zukunft weiter verstärkt werden kann.

Insgesamt wurde deutlich, dass die verschiedenen Arten, wie Konflikt und Frieden zeitlich geordnet werden, Auswirkungen auf die Auffassungen des Gegenstandsbereiches haben. Zeitliche Dynamiken innerhalb von Konflikten wie Beschleunigung oder Verlangsamung, oder das Aufeinandertreffen unterschied­licher, potenziell konfligierender Zeitlinien in einer Konfliktarena, stellen wertvolle Bezugspunkte für die Analyse von Konfliktsituationen dar.

Darüber hinaus können »Zeitlichkeitskonstrukte« wesentlichen Einfluss auf die Fortsetzung, Transformation oder das Wiederaufleben von Konflikten haben. Dies ist beispielsweise dann wichtig, wenn Ideen von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem selbst strittig sind, oder wenn unterschiedliche Auffassungen darüber vorliegen, ob ein gewaltsamer Konflikt als (erfolgreich) beendet oder als fortlaufend zu verstehen ist. Nicht zuletzt ist dieser Einfluss sichtbar, wenn Uneinigkeit besteht hinsichtlich der zeitlichen Begrenzung beziehungsweise Offenheit eines Aufarbeitungsprozesses.

Alina de Luna Aldape, Alina Giesen, Pia Falschebner, Sara Kolah Ghoutschi und Miriam Tekath

Vage und tendenziös


Vage und tendenziös

Die IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus

von Peter Ullrich

Die »Arbeitsdefinition Antisemitismus« der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ist eine institutionelle Erfolgsgeschichte. Seit 2016 wurde sie von vielen Staaten, internationalen Organisationen und hierzulande auch vom Bundestag, mehreren Bundesländern und großen Kommunen angenommen. Auch verschiedene Institutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen haben die Definition übernommen. Doch bleibt die Definition weiter umstritten, zum Teil wegen massiver inhaltlicher und logischer Schwächen, besonders jedoch aufgrund ihrer politischen Implikationen. Insbesondere Kritiker*innen der israelischen Besatzung und Unterstützer*innen der Palästinenser*innen nehmen sie als einseitige Parteinahme im Nahostkonflikt wahr.

Mit der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« sollte ein Instrument für die notwendige Erfassung und Bekämpfung von Antisemitismus vorgelegt werden (vgl. Kasten S. 42). In einem Handlungsfeld, das durch hochgradige begriffliche Verunsicherung gekennzeichnet ist (vgl. Kohlstruck und Ullrich 2015; Kohlstruck 2020), verspricht die Definition als praktische Arbeitsgrundlage Orientierung. Tatsächlich stellt die »Arbeitsdefinition« mit ihrer konkreten, ohne Fachterminologie auskommenden Sprache sowie mit überwiegend anschaulichen Beispielen für typische antisemitische Sprache und Handlungen inzwischen eine Grundlage für die Arbeit verschiedener Nutzergruppen dar. Mit der Aufnahme bis dato nur wenig beleuchteter (israelbezogener) Aspekte von Antisemitismus erfolgte eine zum Zeitpunkt der ursprünglichen Formulierung der Definition notwendige Aktualisierung der Diskussion (Anfang der 2000er Jahre im Rahmen der EU und der OSZE). Die Definition und der Prozess ihrer Etablierung waren auch eine Reaktion auf die Welle antijüdischer Gewalt in verschiedenen Ländern Westeuropas, die sich nahostpolitisch zu legitimieren versuchte.

Eine vage Definition…

Eine nähere Untersuchung des Textes fördert gravierende Mängel zutage. Er erfüllt die basalen Anforderungen guten Definierens – eine klare und logische Bestimmung und Abgrenzung des zu Definierenden – nicht. Insbesondere durch »kann«-Formulierungen, Worthülsen („bestimmte Wahrnehmung“, die allerdings unbestimmt bleibt) und die Substitution von Bestimmungen durch Beispiele, deren Funktion aber kaum geklärt wird, ist sie äußerst vage. Die Kerndefinition ist zudem reduktionistisch. Sie hebt einige antisemitische Phänomene und Analyseebenen hervor (besonders negative Emotionen und Gewalt), spart aber andere wesentliche weitgehend aus. Dies gilt insbesondere für ideologische und diskursive Aspekte, beispielsweise den Antisemitismus als verschwörungstheoretisches Weltbild. In der Konsequenz ihrer Konzeptualisierung von Antisemitismus als emotionales und kognitives Phänomen („Wahrnehmung“) finden auch organisations­soziologische Aspekte wie die Mobilisierung in Be­wegungen und Parteien sowie deren Niederschlag in diskriminierenden institutionellen Regelungen und Praktiken nur knappe bis keine Erwähnung, ebensowenig die religiösen Dimensionen des Antisemitismus.

In der Gesamtschau verbleiben drei zentrale Aspekte äußerst vage: Als was Antisemitismus im Kern verstanden wird, welche Phänomene als antisemitisch zu betrachten sind und gegen wen genau diese sich richten. Diese Unschärfe resultiert u.a. aus missverständlichen bzw. widersprüchlichen Objektbestimmungen. Zum Beispiel wird nicht erläutert, inwiefern sich Antisemitismus gegen „jüdische und nicht-jüdische Personen“ richtet (üblich und in der Forschung verbreiteter wäre hier die Formulierung »gegen Personen als Juden«, z.B. bei falschen Zuschreibungen der Zugehörigkeit zum Judentum). Vor allem irritiert ein widersprüchliches sprachliches Alternieren des Definitionstextes zwischen zwingenden und nicht zwingenden Bestimmungen sowie zwischen Aussagen über Wesen und Erscheinungsformen des zu definierenden Begriffs. Diese Unschärfe alleine sollte reichen, den im Namen der »Arbeitsdefinition« anklingenden Auftrag der Weiterentwicklung und Schärfung ernst und von ihrer Verwendung im jetzigen Zustand Abstand zu nehmen. Befürworter*innen wie Kritiker*innen der Definition nehmen diese Probleme zur Kenntnis, doch die Intensität der Debatte um den Gegenstand1 resultiert weniger aus einem breiten gesellschaftlichen Interesse an wissenschaftlichen Gütekriterien und einem darin wurzelnden Ringen um begriffliche Klarheit, sondern aus den Implikationen der Definition und ihrer zunehmenden Verbreitung in der Debatte um den israelisch-palästinensischen Konflikt.

… im Streit um den Nahostkonflikt

Nachvollziehbar aus ihrem Entstehungskontext und zugleich angetrieben von konservativeren nahostpolitischen Interessengruppen legt die Definition großes Augenmerk auf israelbezogenen Antisemitismus. Kenneth Stern, der wichtigste Autor der Definition und aktuell einer der größten Kritiker ihrer missbräuchlichen Verwendung als politisches Zensurinstrument, verweist jedoch noch auf einen anderen wichtigen Hintergrund: Es ging zumindest ihm darum, die falsche Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus, die 1975 bis 1991 Beschlusslage der Vereinten Nationen war und mit der UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban 2001 neuen Aufwind bekommen hatte, offensiv anzugehen (Stern 2020, S. 153ff.).

Doch was immer damals die entscheidenden Beweggründe waren oder bei der heutigen Propagierung der Definition sein mögen – klar ist, dass die Fokussierung auf nahostkonflikt- oder israelbezogenen Antisemitismus in den Erläuterungen und in sieben der elf Beispiele einen Grundtenor vorgeben. Sie suggerieren, vor allem hier würde Antisemitismus auftreten (während bspw. Antisemitismus von evangelikalen Christ*innen oder der extremen Rechten kaum oder nur sehr knapp vertieft wird). Dabei werden Beispiele, die als solche klare Instanzen von Antisemitismus sind (bspw. Jüdinnen und Juden kollektiv für die israelische Politik in Haftung zu nehmen), mit solchen vermengt, die nicht zwingend antisemitisch sind und angesichts der Mehrdeutigkeiten des Beschriebenen nicht ohne weitere Kontextinformationen als antisemitisch klassifiziert werden können. Antisemitismus tritt nämlich häufig in komplexen, sich überlagernden Konfliktkonstellationen auf, bei denen eine Zuordnung zu einem spezifischen Problemkreis, wie Antisemitismus, oft nicht einfach möglich ist. Ein Beispiel ist das Kriterium der Anwendung »doppelter Standards« bei der Kritik an Israel. Sie sind als solche keinesfalls hinreichendes Kriterium, um eine antisemitische Fokussierung auf Israel von einer solchen zu unterscheiden, die mit den Spezifika israelischer Politik, ihrer weltpolitischen Bedeutung oder persönlicher Betroffenheit zusammenhängen. Doppelte Standards sind quasi universales Kennzeichen von stark involvierten Akteur*innen in antagonistischen Konflikten. Ähnliches gilt für das Beispiel der Aberkennung des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung und „die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“. Diese Positionierung würden womöglich auch rechte israelfeindliche Antisemit*innen einnehmen können, aber auch ganz andere Motivationen können für solche Positionen maßgeblich sein. Das Beispiel, als bloßes Kriterium missverstanden und (anders als es der Text des Dokuments fordert) ohne weiteren Kontext interpretiert, würde radikale postzionistische, bi- und antinationale oder anarchistische Kritiken an Israel per se unter Antisemitismusverdacht stellen.

Was das bedeutet, erfahren nicht nur vermeintlich feindliche Kritiker*innen Israels von »außen«, sondern immer ­wieder auch progressive Jüd*innen innerhalb und außerhalb des Landes, die als Verräter*innen, selbsthassende Jüd*innen, oder gar als „Kapos“ beschimpft werden (vgl. bspw. Stern 2020, S. 168ff.). Ein aktuelles Beispiel aus dem deutschen Kontext ist die Diffamierung der »School for Unlearning Zionism«. Dieses künstlerische Projekt jüdischer Israelis an der Weißensee Kunsthochschule Berlin diente der kritischen Auseinandersetzung mit dem dominanten zionistischen Geschichtsnarrativ. Massive Angriffe in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit mit dem Vorwurf der Nähe zur BDS-Bewegung (»Boykott, Divestment, Sanctions«) und damit des Antisemitismus führten zur zeitweiligen Schließung der Webseite und der öffentlichen Distanzierung der Hochschule.2 Man muss die radikal-kritische Sicht dieses Projektes auf den Staat Israel nicht teilen, um anzuerkennen, dass eine solche Dekonstruktion erstens als Teil eines kritischen demokratischen Diskurses diskutierbar sein muss und zweitens nicht ein Phänomen von »Feindschaft gegen Juden als Juden« ist – denn das wäre Antisemitismus.

Fazit

Diese Darstellungen verdeutlichen, dass die in den Erläuterungen der Definition selbst aufgestellte Maßgabe, immer den übergeordneten Kontext einer Aussage oder Handlung zu beachten, in ihrer Anwendungspraxis allzu oft ignoriert wird. Die »Arbeitsdefinition« begünstigt eine unangemessene und fehleranfällige Anwendungspraxis. In ihrer Unschärfe führt sie zu Einschätzungen von Sachverhalten, die gerade nicht auf klaren Kriterien basieren (die eine Definition eigentlich bereitstellen sollte), sondern eher auf Vorverständnissen derer, die sie anwenden, oder auf unreflektiert übernommenen Deutungsschablonen aus der öffentlichen Debatte. Die Anwendung der »Arbeitsdefinition« simuliert nur kriteriengeleitetes, objektives Beurteilen. Die Definition stellt prozedurale (Schein-)Legitimität für Entscheidungen zur Verfügung, die faktisch auf der Grundlage anderer, implizit bleibender Kriterien getroffen werden, welche weder in der Definition noch in den Beispielen festgelegt sind.

Die Schwächen der »Arbeitsdefinition« sind das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren. Die zunehmende Implementierung der »Arbeitsdefinition« mit quasi-rechtlicher Geltung (vgl. Gould 2018), beispielsweise als Grundlage von Verwaltungshandeln, hat relevante grundrechtliche Implikationen. Sie schafft für Politik und Verwaltung die Fiktion von Orientierung (und bietet zugleich die Gelegenheit, Aktivität im Kampf gegen Antisemitismus symbolisch zur Schau zu stellen). Stattdessen lädt sie als Instrument faktisch geradezu zu Willkür ein. Ein solches Instrument kann im extremen Fall genutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden. Wie weit diese Einschnitte gehen können, verdeutlichen auch internationale Entwicklungen, wie ein aktueller Vorstoß des britischen Bildungsministers, der Universitäten Budgetkürzungen androhte, sollten diese die »Arbeitsdefinition Antisemitismus« nicht implementieren (vgl. Adams 2020).

Der Versuch, mittels der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« eine allgemeingültige begriffliche Klärung herbeizuführen und die universelle Einsetzbarkeit einer solchen Definition zu garantieren, muss insgesamt als gescheitert angesehen werden. Vor allem aufgrund ihrer handwerklichen Schwächen, ihrer defizitären Anwendungspraxis, ihres trotz gegenteiliger Behauptung („nicht rechtsverbindlich“) zudem in verschiedenen Bereichen doch verbindlichen rechtlichen Status und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit mit problematischen Implikationen für die Meinungsfreiheit, kann die Verwendung der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« nicht empfohlen werden.

Wie die Entstehungsgeschichte der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« und ihre weite Verbreitung deutlich machen, gibt es – auch angesichts einer weiter bestehenden realen Bedrohung durch gegenwärtigen Antisemitismus, nicht zuletzt antisemitische Gewalt, Enthemmung in den sozialen Medien und, ganz aktuell sichtbar, in der Selbsstilisierung der Coronaleugner*innen mit Judensternen – einen großen Bedarf nach in der Praxis anwendbaren Kriterien zur Identifikation antisemitischer Phänomene. Folglich ist die Entwicklung von klaren und kontextspezifischen Instrumenten für die Praxis dringend zu empfehlen. Dazu laufen derzeit verschiedene Initiativen auf nationaler und internationaler Ebene. Hoffentlich werden diese mehr zur Öffnung der sich aktuell eher schließenden Debattenräume um das vertrackte Spannungsfeld »Nahostkonflikt und Antisemitismus« beitragen.

Dieser Artikel fußt auf einem Gutachten des Autors für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und medico international (Ullrich 2019) und stellt dessen wichtigste Ergebnisse komprimiert vor.

»Arbeitsdefinition Antisemitismus« der IHRA (2016)

Am 26. Mai 2016, entschied das Plenum in Bukarest die folgende nicht rechtsverbindlichte Arbeitsdefinition von Antisemitismus anzunehmen:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen:

Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.

Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein:

  • Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
  • Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden oder die Macht der Jüdinnen und Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Jüdinnen und Juden.
  • Das Verantwortlichmachen der Jüdinnen und Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jüdinnen und Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nichtjüdinnen und Nichtjuden.
  • Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
  • Der Vorwurf gegenüber den Jüdinnen und Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
  • Der Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
  • Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
  • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
  • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
  • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.

Das kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden für Handlungen des Staates Israel.

Antisemitische Taten sind Straftaten, wenn sie als solche vom Gesetz bestimmt sind (z.B. in einigen Ländern die Leugnung des Holocausts oder die Verbreitung antisemitischer Materialien).

Straftaten sind antisemitisch, wenn die Angriffsziele, seien es Personen oder Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht werden.

Antisemitische Diskriminierung besteht darin, dass Jüdinnen und Juden Möglichkeiten oder Leistungen vorenthalten werden, die anderen Menschen zur Verfügung stehen. Eine solche Diskriminierung ist in vielen Ländern verboten.

Anmerkungen

1) Vgl. dazu auch den klugen Text von Brian Klug (2018), der neben grundlegenden Fragen vor allem die Diskussion im Vereinigten Königreich im Blick hat.

2) Für weitere aktuelle Fälle der Beschneidung von Meinungsfreiheit in der Nahostdiskussion durch überzogene und falsche Antisemitismusvorwürfe, meist auf Basis von auf die Arbeitsdefinition gestützten Vorwürfen der Nähe zu oder der Unterstützung der BDS-Kampagne, vgl. die Beiträge in Benz (2020) und Hanloser (2020).

Literatur

Adams, R. (2020): Williamson accuses English universities of ignoring antisemitism. The Guardian, 9.10.2020.

Benz, W. (2020): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Berlin: Metropol Verlag.

Gould, R.R. (2018): Legal Form and Legal Legitimacy. The IHRA Definition of Antisemitism as a Case Study in Censored Speech. Law, Culture and the Humanities, S. 1-34.

Hanloser, G. (Hrsg.) (2020): Linker Antisemitismus? Kritik & Utopie. Wien: Mandelbaum.

International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) (2016): Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Bukarest.

Klug, B. (2018): The left and the Jews. Labour’s summer of discontent. Jewish Quarterly, 29.10.2018.

Kohlstruck, M. (2020): Zur öffentlichen Thematisierung von Antisemitismus. In: Benz, W. (Hrsg.): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Berlin: Metropol, S. 119-148.

Kohlstruck, M.; Ullrich, P. (2015): Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin. Berliner Forum Gewaltprävention 52. Berlin.

Stern, K. S. (2020):. The Conflict over the Conflict. The Israel/Palestine Campus Debate. Toronto: New Jewish Press.

Ullrich, P. (2019): Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance. Herausgegeben von der Rosa Luxemburg Stiftung. Bd. 2/2019. Papers. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung.

Dr. phil. Dr. rer. med. Peter Ullrich ist Soziologe und Kulturwissenschaftler, Senior Researcher am Zentrum Technik und Gesellschaft sowie Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.

Geopolitik der Energiewende


Geopolitik der Energiewende

Infrastrukturen für den nachhaltigen Frieden

von Jürgen Scheffran

Geopolitische Konflikte im fossil-­nuklearen Zeitalter haben das vergangene Jahrhundert bestimmt und prägen auch das 21. Jahrhundert. Mit dem Ende des fossilen Kapitalismus nehmen Krisen zu. Die Alternative »Krieg um Öl« oder »Frieden durch Sonne« betrifft neben dem Wandel der Energieversorgung auch einen Systemwandel. Erneuerbare Energien gelten als konfliktärmer, sind jedoch nicht konfliktfrei. Eine sozial-ökologische Transformation geht einher mit Infrastrukturen einer nachhaltigen Friedenssicherung und schafft kooperative Strukturen auf allen Ebenen.

Energie ist wesentlich für Entwicklung und Wohlstand, kann aber auch Risiken verursachen. Physikalische Kräfte können in politische Macht umgewandelt werden. Energiemangel wird als Sicherheitsbedrohung wahrgenommen. Konflikte erwachsen aus dem Missbrauch von Energie und ihrer ungerechten Verteilung. Gewaltkonflikte erschweren den Zugang zu Energieressourcen, während das Energiesystem selbst Ziel oder Mittel von Angriffen und Widerstand sein kann. Die Komponenten des fossil-nuklearen Energiesystems haben immer wieder internationale Konflikte provoziert. Im 19. Jahrhundert waren Kohle und Dampfkraft Macht- und Konflikttreiber, im 20. Jahrhundert Öl und Erdgas, zunehmend auch die Kernenergie. Auch im 21. Jahrhundert ist Energie eine Voraussetzung für die Durchsetzung nationaler Interessen, aber auch für Kooperation.

Die Transformation von fossilen zu erneuerbaren und kohlenstoffarmen Energieformen kann die globalen Machtverhältnisse verändern. Geopolitische Konfliktlinien verschieben sich mit wachsendem Energiebedarf, abnehmenden Brennstoffreserven und ungleicher Verteilung, zunehmenden Umweltschäden und Klimawandel sowie Nord-Süd-Differenzen. Komplexe Konfliktkonstellationen zeigen sich in jüngsten Streitigkeiten. So wurde die Gaspipeline zwischen Europa und Russland zum Spielball im Fall Nawalny. Territorialkonflikte im Südchinesischen Meer, zwischen Türkei und Griechenland im östlichen Mittelmeer oder in der Arktis haben auch mit vermuteten Gas- und Ölvorräten zu tun. Der Bedarf an strategischen Materialien für die Energiewende schafft neue Konfliktmuster.

Produktionsketten und Handelsströme

Länder mit fossilen Brennstoffen verfügen über erhebliche Macht und Gewinne, die in die sozioökonomische Entwicklung, aber auch in militärische Fähigkeiten investiert werden. Mit der Energiewende und Dekarbonisierung verlieren sie an geopolitischem Einfluss und geraten in die Defensive. Damit verbunden sind steigende Preise fossiler Brennstoffe und sinkende Einnahmen. Verstärkt durch schwache Regierungsführung kann dies zu einem Machtvakuum führen, mit sozialen Unruhen, Rechtspopulismus, Machtkämpfen und Gewalt, die sich über Landesgrenzen ausbreiten. Der Zerfall der Sowjetunion dient hier als Beispiel.

Einige ölexportierende Länder verfolgen das Ziel, von den Ölrenten weniger abhängig zu werden und ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Der rasche Anstieg erneuerbarer Energien transformiert die geopolitische Landkarte. Zunehmend werden sie vom Wettlauf um technologische Innovation und Dominanz erfasst. Die meisten Länder verfügen über ein tragfähiges Potenzial erneuerbarer Energien, um von fossilen Brennstoffen unabhängig zu werden, Energiesicherheit und eine bessere Handelsbilanz zu schaffen. Eine Transformation bietet für diese Länder strategische Vorteile, macht sie weniger anfällig gegen Versorgungsengpässe und Preisschwankungen, politische Instabilität, Terroranschläge und bewaffnete Konflikte. Eine vollständig erneuerbare Stromversorgung ist technisch machbar, wenn verschiedene Quellen zur Verfügung stehen und die Variabilität der Stromerzeugung im Netz durch einen Energiemix abgefedert wird.

Globale Verschiebungen

Nachdem die USA über Jahrzehnte von Öl und Gas aus konfliktreichen Regionen abhingen, konnten sie durch Fracking und Schiefergas einen großen Teil ihres Energiebedarfs selbst decken und wurden zum Nettoexporteur von Erdgas, zunehmend auch von Erdöl. Auch wenn die Regierung Trump weiter auf fossile Energien setzt, arbeiten Teile der USA an der Energiewende und nutzen dabei technologische Fähigkeiten der US-Industrie.

Die Europäische Union kann die Abhängigkeit durch fossile Brennstoffe mit erneuerbaren Energien mindern und ihre technologischen Fähigkeiten nutzen. Deutschland wurde zum Vorreiter der Energiewende und ist in Europa bei Patenten für erneuerbare Energien führend. Island entwickelte sich mit dem Ausbau erneuerbarer Energien von einem der ärmsten Länder Europas zu einem Land mit hohem Lebensstandard, das seine Elektrizität aus Wasserkraft und Erdwärme gewinnt. Ähnliche Vorteile eröffnen sich in Japan. Große Herausforderungen bedeutet die Energiewende für Russland, den weltweit größten Gas- und zweitgrößten Ölexporteur. Öl- und Gaseinnahmen sind mit rund 40 % ein wichtiger Bestandteil des Staatshaushalts. Obwohl Russland zunehmend in erneuerbare Energien investiert, liegt es bei den Patenten weit zurück.

China verfügt zwar über große Kohleressourcen, ist aber von Gas- und Ölimporten abhängig. Da eine Energiewende der eigenen Energiesicherheit dient, fördert die Regierung seit Jahren Innovationen in erneuerbare Energietechnologien. Mit mehr als 45 % der weltweiten Investitionen war China 2017 der weltweit größte Produzent, Exporteur und Installateur von Sonnenkollektoren, Windturbinen, Batterien und Elektrofahrzeugen. Zudem hat es eine Vorreiterrolle bei Technologien, wie Silizium-Photovoltaik-Modulen oder Lithium-Ionen-Batterien, und ist führend bei den Patenten für erneuerbare Energien. Das Infrastrukturprojekt einer »neuen Seidenstraße« stärkt Chinas geostrategische Position.

Nordafrika und Nahost

Die MENA-Region (Middle East, North Africa) ist reich an fossilen Brennstoffressourcen, die eine wichtige Einkommensquelle bilden, ist damit aber auch besonders verwundbar gegen Einnahmenverluste, die sich negativ auf Wirtschaftswachstum und Staatseinnahmen auswirken. Die Abhängigkeit hat zu gewaltsamen Konflikten beigetragen, die Ressourcen absorbieren, die Demokratie untergraben und Umweltschäden verursachen. Ein Teil der Einnahmen wurde verwendet, um den Zugang zu Wasser und Nahrungsmittelimporten zu sichern. Um bei Erschöpfung fossiler Reserven damit verbundene Instabilitäten zu vermeiden, ist die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern, die den für die Region bedrohlichen Klimawandel fördern. Die wachsende Energienachfrage lässt sich nicht mit Kernenergie befriedigen, auch wegen ihrer militärischen Sicherheitsrisiken in dieser konfliktträchtigen Region.

Der MENA-Raum verfügt über hohe Potenziale an Sonnenenergie und Windkraft. Mit dem Desertec-Konzept entstand die Vision einer Energiezusammenarbeit zwischen Europa und MENA, die erneuerbare Energiesysteme rund um das Mittelmeer über ein Stromnetz verbindet, um verschiedene Ziele zugleich zu erreichen (Energiesicherheit, Klimaschutz, Entwicklung, Arbeitsplätze, Versorgung mit Wasser und Nahrung). Aufgrund der Destabilisierung durch den Arabischen Frühling konnte das Konzept nicht realisiert werden. Einzelne Staaten planen jedoch, die erneuerbaren Potentiale stärker zu nutzen. Marokko will bis 2030 etwa die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Quellen liefern und zum Nettoexporteur von Elektrizität werden.

Perspektiven für den Globalen Süden

Auch andere Entwicklungsländer können von der Nutzung erneuerbarer Energie profitieren, um ihre Ölabhängigkeit zu senken, den Klimawandel zurückzudrängen und die Resilienz zu stärken. Die eingesparten Importkosten lassen sich in neue Technologien investieren. Indien gehört zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften und könnte China bald als weltgrößten Wachstumsmarkt im Energiebereich überholen. Geplant ist ein massiver Ausbau erneuerbarer Energien.

Auch in vielen Ländern Subsahara-­Afrikas lassen sich durch die eigenständige Erzeugung erneuerbarer Energien Arbeitsplätze schaffen und Entwicklung vorantreiben. Probleme ergeben sich für Ölproduzenten, wie Nigeria und Angola, die bei einer Energiewende große Einnahmeverluste fürchten. Ob es gelingt, das fossile Entwicklungsmodell zu überspringen, hängt auch davon ab, ob Staaten der Verlockung schnellen Reichtums durch neu entdeckte fossile Ressourcen folgen.

Die gilt auch für den Ölboom in einigen Staaten Lateinamerikas, die sich durch den Fall Venezuelas nicht abschrecken lassen. Viele haben große Ressourcen erneuerbarer Energien. Am bekanntesten ist das brasilianische Ethanolprogramm, das nach dem Ölschock 1973 eingeführt wurde, um die Energieautarkie zu stärken. Heute ist Brasilien der zweitgrößte Produzent und größte Exporteur von Ethanol. Kleine Inselstaaten, die durch den Klimawandel besonders bedroht sind, versuchen mit ihren erneuerbaren Energiequellen den Großteil ihres heimischen Energiebedarfs zu decken.

Konfliktpotentiale der Energiewende

Eine nachhaltige Energiewende vermeidet die für fossil-nukleare Energiesysteme typischen Konflikte. Beispiele sind Liefer­embargos des OPEC-Kartells im Gefolge des arabisch-israelischen Konflikts, Machtkämpfe um Pipelines oder Kriege um Öl am Persischen Golf. Mit einer Energiewende könnte auf militärische Operationen, Stützpunkte und Streitkräfte zur Sicherung fossiler Ressourcen verzichtet werden. Teile des Militärs versuchen, erneuerbare Ressourcen in ihre Planungen einzubeziehen.

Erneuerbare Energieträger und ihre Infrastrukturen sind jedoch nicht konfliktfrei. Sie benötigen wichtige natürliche Ressourcen (Land, Wasser, Nahrungspflanzen, Mineralien), deren konkurrierende Nutzungen Spannungen hervorrufen. Umweltauswirkungen führen zu meist lokalen Protesten und Widerständen in der Bevölkerung, gegen Stromnetze, Staudämme, Bioenergie, große Windkraft- und Solaranlagen.

Die Verbreitung erneuerbarer Energien erhöht die Elektrifizierung und stimuliert den Stromhandel, was regionale Kooperation und den Ausgleich zwischen Energiequellen fördert; Verbundnetze gibt es auf praktisch allen Kontinenten. Die Möglichkeit, Stromnetze kontrollieren, abschalten oder zerstören zu können, mag als Bedrohung angesehen werden, eignet sich aber nur bedingt als Druckmittel, solange Staaten auf verschiedene Weise Strom beziehen können. Regulierungen können die Risiken minimieren.

Kritische Materialien und Cyber-Sicherheit in Energienetzen

Es spricht einiges dafür, dass durch die Energiewende geopolitische Instrumente an Bedeutung verlieren, aber nicht verschwinden. Auch wenn ein „Embargo gegen die Sonne“ (Jimmy Carter) nicht möglich ist, könnten neue Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten entstehen. Sonnenkollektoren, Windturbinen, Elektrofahrzeuge und Energiespeicher benötigen für ihre Herstellung nicht-­erneuerbare Mineralien und Metalle, wie Kobalt, Lithium, Gallium und Seltene Erden. Davon finden sich große Reserven in Lateinamerika und Afrika, in China, Süd- und Südostasien sowie am Meeresboden. Oft handelt es sich um fragile oder autoritäre Staaten. Mehr als 60 % des weltweiten Kobaltvorrats stammen aus der Demokratischen Republik Kongo. In Kolumbien beuteten bewaffnete Gruppen illegale Rohstoffvorkommen aus. Strategien zur Kontrolle von Konfliktmineralien zielen auf eine Verbesserung der Transparenz entlang globaler Lieferketten.

Länder mit reichen Vorkommen kritischer Materialien könnten ihre Macht nutzen. Als der größte Produzent China 2008 die Lieferung von Seltenen Erden einschränkte, gerieten die Märkte in Panik, und die Preise stiegen stark an. Obwohl sie weltweit reichlich vorkommen, sind Abbau und Produktion der Materialien teuer, umweltschädlich und mit Preisschwankungen verbunden, was andere Länder bislang abgehalten hat. Zudem gibt es Alternativen, wenn auch zu höheren Kosten. Zunehmend wird darauf gesetzt, kritische Mineralien in einer Kreislaufwirtschaft zu recyceln und wiederzuverwenden, was einer Kartellbildung entgegenwirkt.

Für die globale Machtprojektion entscheidend ist die Kontrolle der Netzinfra­struktur, die physische Vermögenswerte ebenso umfasst wie virtuelle Verbindungen, die sich mit der Digitalisierung des Energiesektors vervielfachen. Dies schafft Risiken für Sicherheit und Datenschutz, durch kriminelle Gruppen, Terrorist*inn en oder auswärtige Geheimdienste, die Versorgungs- und Stromnetze manipulieren. Oft zitiert wird der Cyberangriff auf das Stromnetz der Westukraine im Dezember 2015, wodurch mehr als 230.000 Menschen bis zu sechs Stunden im Dunkeln blieben. Konsequenzen sollen mit »Smart Grids« minimiert oder durch Gegenmaßnahmen und Regeln eingedämmt werden. Zukünftige Energiepfade sind systematisch anhand geeigneter Kriterien zu bewerten und zu vergleichen

Neue Allianzen in Energielandschaften

Erneuerbare Energien ermöglichen Allianzen aus Staaten, transnationalen und substaatlichen Akteuren (Bürger*innen, Städte und Unternehmen). In der neuen Energiediplomatie geht es um Partnerschaften in nachhaltigen Energielandschaften, mit Verbindungen zwischen Stadt und Land, globalen Netzen und regionalen Märkten. Um den üblichen Konzentrations- und Akkumulationsprozessen im Kapitalismus entgegenzuwirken, braucht es einen Systemwandel mit der partizipativ-demokratischen Kontrolle von Machtstrukturen. Chancen bestehen durch die Verbindung von dezentralen Energiesystemen und interkontinentalen Verteilungsnetzen, die die Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern fördern. Daran können alle als »Prosumer« (Produzenten und Konsumenten) mitwirken, die ein Dach oder etwas Land besitzen, um Energie zu produzieren, für den Eigenverbrauch oder für das Netz.

In einer solchen »Viable World« werden die Menschen im Sinne von »Power to the People« befähigt, die sozial-ökologische Transformation mit anderen zusammen in die eigenen Hände zu nehmen. Wenn Konflikte durch die Kohabitation der Nationalstaaten im gemeinsamen Haus der Erde bewältigt werden, kann die globale Energietransformation eine nachhaltige Friedensdividende erzeugen.

Literatur

Alt, F. (2002): Krieg um Öl oder Frieden durch die Sonne. Riemann-Verlag.

Bazilian, M. et al. (2019): Model and manage the changing geopolitics of energy. Nature, Vol. 569, S. 29-31.

Economist (2020): 21st century power – How ­clean energy will remake geopolitics. The Econo­mist, 19.9.2020, S. 19-25.

Hafner, M.; Tagliapietra, S. (2020): The Geopol­itics of the Global Energy Transition. Cham: Springer.

IANUS (1996): Energiekonflikte – Kann die Menschheit das Energieproblem friedlich lösen? W&F-Dossier 22.

IRENA (2019): A New World – The Geopolitics of the Energy Transformation. International Renewable Energy Agency.

Link, P.M.; Scheffran, J. (2017): Impacts of the German Energy Transition on Coastal Communities in Schleswig-Holstein, Germany. Regions Magazine, Vol. 307, Nr. 1, S. 9-12.

O’Sullivan, M.; Overland, I.; Sandalow, D. (2017): The Geopolitics of Renewable Energy. Working Paper, Harvard Kennedy School.

Scheffran, J.; Cannaday, T. (2013): Resistance Against Climate Change Policies. In: Maas, A. et al. (eds.): Global Environmental Change – New Drivers for Resistance, Crime and Terror­ism? Baden-Baden: Nomos.

Scheffran, J.; Froese, R. (2016): Enabling environments for sustainable energy transitions. In: Brauch, H.G. (ed.): Handbook on Sustainabil­ity Transition and Sustainable Peace. Cham: ­Springer, S. 721-756.

Scheffran, J.; Schürmann, E. (2020): Viable ­World – Zusammenleben im Gemeinsamen Haus der Erde. Blickpunkt Zukunft, Vol. 40, Nr. 69, S. 2-8.

Tänzler, D.; Oberthür, S.; Wright, E. (2020): The Geopolitics of Decarbonization – Reshaping European foreign relations. Berlin: adelphi.

Vakulchuk, R.; Overland, I.; Scholten, D. (2020): Renewable energy and geopolitics – A review. Renewable and Sustainable Energy Reviews, Vol. 122, 109547.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Klimawandel und Konflikt


Klimawandel und Konflikt

Was wir gegenwärtig sagen können

von Adrien Detges

Fragen rund um Klimawandel und Konflikt erfreuen sich derzeit großer Aufmerksamkeit. Erst kürzlich, im Juli 2020, waren klimabedingte Sicherheitsrisiken wieder im Fokus einer öffentlichen Debatte im UN-Sicherheitsrat. Entsprechend wächst der Druck auf die Wissenschaft, verlässliche Informationen über das Verhältnis zwischen Klima und Konflikt zu liefern. Zentral sind hierbei die Fragen, wie und unter welchen Umständen klimabedingte Prozesse und Ereignisse zur einer Verschärfung von Konflikten führen können und welche präventiven Maßnahmen angesichts dieser Gemengelage ergriffen werden müssen. Doch was lässt sich beim jetzigen Stand der Forschung dazu tatsächlich sagen?

Die empirische Klimakonfliktforschung ist eine relativ junge Disziplin, die sich etwa am Anfang des neuen Jahrtausends aus der Debatte der 1990er Jahre über Ressourcenknappheit und so genannte »Umweltkonflikte« entwickelte (siehe Homer-Dixon 1999; Baechler 1999). Zur Verbreitung und wachsenden Popularität der Disziplin trugen vor allem der vierte und fünfte Sachstandbericht des Weltklimarates bei, in denen mögliche Sicherheitsrisiken im Zusammenhang mit Extremwetterereignissen und anderen klimatisch bedingten Entwicklungen thematisiert wurden (IPCC 2007, 2014).

In der relativ kurzen Zeit ihres Bestehens wurde die Klimakonfliktforschung durch mehrere Debatten geprägt. So bestand beispielsweise Uneinigkeit darüber, mit welchen Methoden das Verhältnis zwischen Klima und Konflikt am besten erforscht werden sollte, wie wichtig die Rolle des Klimawandels im Vergleich zu anderen Konfliktursachen einzustufen sei oder welche ethischen Implikationen eine Forschungsrichtung mit direktem Einfluss auf internationale entwicklungs- und sicherheitspolitische Diskurse und Agenden hat (siehe Hsiang et al. 2013; Buhaug et al. 2014; Selby et al. 2017).

Auch wenn diese Fragen nicht abschließend geklärt wurden, so zeichnete sich doch in den letzten fünf bis sechs Jahren, insbesondere in der empirischen Forschung, ein vorsichtiger Konsens ab. Für viele Forscher*innen geht es demnach nicht mehr darum, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen Klima und Konflikt gibt, sondern vielmehr darum, wie und unter welchen Umständen klimabedingte Prozesse und Ereignisse zur einer Verschärfung sozialer Probleme beitragen und somit das Risiko gewaltsamer Konflikte erhöhen können. Die empirische Forschung ist somit nicht nur differenzierter geworden in ihrer Betrachtung verschiedener Wirkungszusammenhänge, sondern auch in ihrer Betrachtung verschiedener Risiken und Konfliktformen, die sich aus diesen Zusammenhängen ergeben können.

Von Klima zu Konflikt: mögliche Pfade

Zentral ist in der neueren Klimakonfliktforschung die Idee indirekter Zusammenhänge und längerer Wirkungsketten, die klimatische Einflussgrößen zunächst mit einer Reihe unmittelbarer wirtschaftlicher und sozialer Auswirkungen verknüpfen, die sich wiederum auf politische Entwicklungen und schließlich auf bestimmte Konfliktdynamiken auswirken können. Wichtig ist hierbei, dass diese Wirkungsketten nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern dass sich Konfliktsituationen gerade aus dem Zusammenspiel verschiedener ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren ergeben.

Einer Reihe möglicher Wirkungsketten kommt in der Klimakonfliktforschung eine besondere Bedeutung zu, wobei die nachfolgende Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

  • In Anlehnung an die Umweltsicherheitsliteratur der 1990er Jahre spielt etwa die klimabedingte Verknappung natürlicher Ressourcen, wie Wasser, Wald oder Ackerland, eine wichtige Rolle in vielen Arbeiten. Studien zeigen, wie Verknappung unter bestimmten Umständen zu Verteilungskämpfen führen kann, insbesondere, wenn die Verteilung und der Zugang zu Ressourcen als ungerecht empfunden werden und kein Ausgleich über entsprechende Mechanismen hergestellt werden kann, indem z.B. von der Ressource ausgeschlossene Menschen entschädigt werden oder sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten und andere Vorteile für sie ergeben (Sedova et al. 2020). Dies betrifft sowohl lokale Konflikte, z.B. zwischen Viehzüchter*innen und Landwirt*innen im Sahel, als auch potentielle Spannungen zwischen Staaten, z.B. solchen entlang großer Flüsse, wie dem Nil, dem Mekong oder dem Indus.
  • Extreme Ereignisse, wie Dürren und Überschwemmungen, aber auch schrittweise Klimaauswirkungen, wie der Anstieg der Meerestemperaturen, können die Existenz von Menschen bedrohen, die ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, Fischerei oder anderen klimasensiblen Bereichen verdienen. Fehlen diesen Menschen alternative Einkommensquellen oder andere Absicherungsmöglichkeiten, so suchen sie gelegentlich einen Ausweg in kriminellen Aktivitäten oder anderen Formen der Anpassung, die ein erhöhtes Konfliktrisiko nach sich ziehen. Diese Situation wird nicht zuletzt von bewaffneten Gruppen für ihre Rekrutierungsaktivitäten ausgenutzt. So konnte beispielsweise in Indonesien ein systematischer Anstieg der Piraterie in Perioden beobachtet werden, in denen die klimatischen Bedingungen für die Fischerei ungünstig waren (Axbard 2015).
  • Weitere Wirkungsketten können sich aus den politischen Folgen von extremen Ereignissen und Krisen ergeben. Stürme, Überschwemmungen und andere Katastrophen erfordern zum einen das Einschreiten des Staates, was dazu führen kann, dass wichtige Ressourcen an anderer Stelle fehlen und der Staat andere Leistungen nicht mehr im gleichen Maße erbringen kann. Zum anderen sind Krisen oftmals auch ein Offenbarungsmoment, in dem politische Versäumnisse, soziale Ungleichheiten und andere Probleme auf besonders schmerzhafte Weise zum Vorschein treten. Dies kann die Beziehung zwischen Staat und Bürger*innen auf die Probe stellen und Auslöser sowohl für gewaltbereite Opposition als auch für brutale Repression durch den Staat sein (Wood und Wright 2016; Detges 2018, S. 34 f.).
  • Schließlich können auch klimapolitische Maßnahmen unvorhergesehene Nebeneffekte haben, die sich negativ auf soziale Beziehungen und Frieden auswirken. Biodiesel, »green tech« und der phasenweise Ausstieg aus den fossilen Energieträgern haben das Potential, den Klimaschutz voranzutreiben, doch können sie auch zu neuen Problemen führen, etwa Landgrabbing, Konflikte um seltene Erden und andere Rohstoffe oder politische Krisen in ölexportierenden Staaten (Busby 2020). Ebenso können Projekte der Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der Klimaanpassung ungeahnten Einfluss auf lokale soziale Dynamiken ausüben und somit zu Konflikten führen (Tänzler und Scherer 2019).

Der Kontext zählt

Aus der Betrachtung dieser möglichen Wirkungsketten ergibt sich eine zweite wesentliche Erkenntnis: Die Wirkung klimatischer Einflüsse wird maßgeblich durch wirtschaftliche, soziale und institutionelle Rahmenbedingungen sowie durch das Tun und Unterlassen politischer Akteur*innen bestimmt. Das Konfliktrisiko erhöht sich dort, wo klimatische Schocks auf mangelnde soziale Leistungen, Ungleichheiten, defizitäre Institutionen und bereits bestehende Spannungen treffen (Sedova et al. 2020, S. 37 f.).Konflikte um knappe Ressourcen sind außerdem eher dort zu erwarten, wo formale und informelle Institutionen der Konfliktbeilegung defizitär sind – wo entsprechend funktionierende Systeme bestehen, lässt sich in Zeiten von Knappheit teilweise sogar ein erhöhtes Maß an Kooperation beobachten (Tubi und Feitelson 2016). Ebenso können Regierungen in Krisenzeiten durch solide Prävention und ein gelungenes Krisenmanagement punkten und somit nicht nur ihre Popularität und Legitimität, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken (Detges 2018, S. 34 f.). Schließlich können durch eine konfliktsensitive Gestaltung von Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen auch mögliche Nebenwirkungen reduziert werden. Auch hier spielen institutionelle Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle (Tänzler und Scherer 2019).

Blinde Flecken und Einschränkungen

Doch bestehen in der empirischen Forschung auch Lücken und Einschränkungen, die es bei einer Bewertung möglicher Konfliktrisiken zu berücksichtigen gilt. So wird vor allem in Ländern und Regionen geforscht, die für ihre Konflikt­anfälligkeit bekannt sind und in denen Feldforschung vergleichsweise einfach ist, etwa weil dort Englisch gesprochen wird, wie in vielen Ländern Afrikas. Dies führt dazu, dass vor allem in Asien und Lateinamerika viele gefährdete Orte außer Acht gelassen werden und Forscher*innen es zudem versäumen, gerade die Bedingungen auszumachen, unter denen es trotz extremer klimatischer Bedingungen nicht zu Krisen und Konflikten kommt (Adams et al. 2018).

Ebenso lässt sich ein klarer Fokus auf räumlich begrenzte Dynamiken feststellen. Konfliktrisiken werden vor allem in unmittelbarer Nähe der klimatischen Prozesse und Ereignisse vermutet, durch die sie vermeintlich ausgelöst werden. Dabei sollte nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie deutlich geworden sein, dass in einer stark vernetzten Welt auch lokale Risiken schnell eine globale Dimension erreichen können, etwa wenn wesentliche Lieferketten oder außenpolitische Interessen betroffen sind. So könnten sich zum Beispiel gleichzeitige Dürren in Russland, China und Kanada stark auf die Lebensmittelpreise in Ägypten und im Libanon auswirken und dort zu Unruhen führen, was dann auch wieder für die europäische Außenpolitik unmittelbar relevant wäre. Solche transnationalen Effekte finden in der empirischen Forschung jedoch erst seit kurzer Zeit Beachtung (Benzie et al. 2019).

Die wohl wichtigste Einschränkung der empirischen Forschung bleibt aber ihr Fokus auf relativ kurzfristige Temperatur- und Niederschlagsschwankungen, die nicht direkt den Klimawandel, sondern vielmehr Klimavariabilität erfassen. Inwieweit bestimmte Schwankungen und Extremwetterereignisse ursächlich auf den Klimawandel zurückgeführt werden können, ist im Einzelfall oft schwer zu sagen (Selby et al. 2017). So lassen sich über Klimawandel und Konflikt auch nur vorsichtige probabilistische Aussagen treffen. Schenkt man den Expert*innen des Weltklimarates Glauben, so wird es in Zukunft häufiger zu extremen Ereignissen, wie Stürmen und Dürren, kommen (IPCC 2014). In diesem Zusammenhang ist die Annahme naheliegend, dass eine solche Häufung in entsprechend vulnerablen und anfälligen Regionen zu einer Vermehrung der weiter oben beschriebenen Risiken führen könnte, wenn keine geeigneten präventiven Maßnahmen ergriffen werden.

Ausblick

Was lässt sich also abschließend über die Beziehung zwischen Klimawandel und Konflikt sagen? Zunächst sollte festgehalten werden, dass es sich um ein vielseitiges Verhältnis handelt, das situationsbedingt sehr unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Wesentlich ist das Zusammenspiel klimatischer Faktoren mit weiteren sozialen, wirtschaftlichen und institutionellen Variablen. Vor diesem Hintergrund sind Vergleiche zwischen klimabedingten und nicht klimabedingten Konfliktrisiken nicht wirklich hilfreich. Ebenso wenig haben wir es, wie z.B. die Rede vom „Krieg ums Wasser“ unterstellt, mit einer neuen Gattung von »Klimakonflikten« zu tun. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, wie und unter welchen Umständen bekannte Konfliktdynamiken und -risiken durch klimatische Einflüsse weiter verschärft werden können.

Weiterhin wichtig ist die Feststellung, dass Klimavulnerabilität einen ganz maßgeblichen Einfluss darauf hat, ob in Gesellschaften, die von schwierigen klimatischen Bedingungen betroffen sind, auch klimabedingte Konfliktrisiken entstehen. Neben Klimaschutz können also auch Maßnahmen der Anpassung an den Klimawandel zur Prävention besagter Risiken beitragen.

Das heißt aber nicht, dass deshalb andere Formen der Konfliktprävention obsolet würden. Gewaltsame Konflikte sind vielschichtige multi-kausale Phänomene und erfordern daher ein breites Spektrum an Lösungen und präventiven Ansätzen. Wichtig ist hierbei, dass klima- und entwicklungspolitische Maßnahmen, sofern ihr friedensstiftendes Potential genutzt werden soll, in Abstimmung mit anderen Maßnahmen geplant und umgesetzt werden sollten. Andernfalls besteht das Risiko der oben beschriebenen Nebeneffekte oder das Risiko, dass Maßnahmen der Konflikteindämmung ihrerseits zu höherer Klimavulnerabilität führen. In der Tschadseeregion z.B. haben Grenzschließungen im Kampf gegen Boko Haram auch den Binnenhandel unterbrochen, der gerade in Dürreperioden für die Bewohner*innen der Region essentiell ist (Vivekananda et al. 2019).

Ebenso wenig sollten die Ergebnisse der Klimakonfliktforschung Anlass für eine Versicherheitlichung der Klimapolitik geben. Es gibt genügend andere gute Gründe für den Klimaschutz. Diese gilt es nicht aus den Augen zu verlieren, wenn klima-, entwicklungs- und sicherheitspolitische Agenden miteinander abgestimmt werden.

Literatur

Adams, C.; Ide, T.; Barnet, J.; Detges, A. (2018): Sampling bias in climate-conflict research. Nature Climate Change, Vol. 8, Nr. 3, S. 200-203.

Axbard, S. (2015): Income Opportunities and Sea Piracy in Indonesia – Evidence from Satellite Data. American Economic Journal – Applied Economics, Vol. 8, Nr. 2, S. 154-194.

Baechler, G. (1999): Environmental Degradation in the South as a Cause of Armed Conflict. In: Carius, A.; Lietzmann, K.M. (eds.): Environmental Change and Security – A European Perspective. Berlin: Springer, S. 107-130.

Benzie, M.; Carter, T.R.; Carlsen, H.; Taylor, R. (2019): Cross-border climate change impacts – implications for the European Union. Regional Environmental Change, Vol. 19, Nr. 3, S. 763-776.

Buhaug, H.; Nordkvelle, J.; Bernauer, T. et al. (2014): One effect to rule them all? A comment on climate and conflict. Climatic Change, Vol. 127, Nr. 3, S. 391-397.

Busby, J. (2020): The Field of Climate and Secur­ity – A Scan of the Literature. New York: Social Science Research Council.

Detges, A. (2018): Drought, Infrastructure and Conflict Risk in Sub-Saharan Africa. Disserta­tion, Berlin: Freie Universität Berlin.

Homer-Dixon, T.F. (1999): Environment, Scarcity, and Violence. Princeton: Princeton University Press.

Hsiang, S.M.; Burke, M.; Miguel, E. (2013): Quantifying the influence of climate on human conflict. Science, Vol. 341, Nr. 6151, S. 1160.

Intergovernmental Panel on Climate Change/IPCC (2007): Climate Change 2007 – Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Fourth Assessment Report of the IPCC. Cambridge: Cambridge University Press.

IPCC (2014): Climate Change 2014 – Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Genf: IPCC.

Sedova, B.; Pohl, B.; König, C. et al. (2020): 10 Insights on Climate Impacts and Peace – A summary of what we know. Berlin und Potsdam: adelphi und Potsdam Institute for Climate Impact Research (PIK) e.V.

Selby, J.; Dahi, O.; Fröhlich, C.; Hulme, M. (2017): Climate change and the Syrian civil war revisited. Political Geography, Nr. 60, S. 232-244.

Tänzler, D.; Scherer, N. (2019): Guidelines for conflict-sensitive adaptation to climate change. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt.

Tubi, A.; Feitelson, E. (2016): Drought and cooperation in a conflict-prone area – Bedouin herders and Jewish farmers in Israel’s northern Negev, 1957-1963. Political Geography, Nr. 51, S. 30-42.

Vivekananda, J.; Wall, M.; Sylvestre, F.; Nagarajan, C. (2019): Shoring up Stability – Addressing Climate and Fragility Risks in the Lake Chad Region. Berlin: adelphi.

Wood, R.M.; Wright, T.M. (2016): Responding to Catastrophe – Repression Dynamics Following Rapid-onset Natural Disasters. Journal of Conflict Resolution, Vol. 60, Nr. 8, S. 1446-1472.

Dr. Adrien Detges ist Senior Advisor beim Berliner Thinktank adelphi, wo er an der Schnittstelle zwischen Klima-, Entwicklungs-, und Sicherheitspolitik forscht und berät. Seine Arbeiten sind unter anderem in den Zeitschriften »Nature Climate Change« und »Journal of Political Geography« erschienen.

Biodiversitätskonflikte


Biodiversitätskonflikte

Eine sozial-ökologische Perspektive

von Thomas Fickel, Robert Lütkemeier, Diana Hummel

Am Umgang mit Biodiversität entzünden sich weltweit Konflikte, die bisher nicht umfassend erforscht und systematisiert wurden, da die Zusammenhänge zwischen Biodiversitätsverlust und gesellschaftlichen Konflikten vielfältig sind (Fickel und Hummel 2019; Scheffran 2018). Der jüngste Bericht des Intergovernmental Panel on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES 2019) prognostiziert, dass der Verlust der globalen biologischen Vielfalt in den kommenden Jahrzehnten dramatisch ansteigen wird. Somit werden gesellschaftliche Konflikte infolge der Degradation oder des Zusammenbruchs von Ökosystemen wohl weiter zunehmen. Die Bewältigung von Biodiversitätskonflikten muss daher sowohl die nachhaltige Lösung von Umweltproblemen als auch die Deeskalation und Bearbeitung von Konflikten zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteur*innen einschließen.

Ein wesentliches Merkmal von Konflikten im Bereich der Biodiversität ist die Überlagerung von widerstreitenden Interessen und Einflussmöglichkeiten der beteiligten Parteien, ungleichen Zugängen zu Ressourcen und erheblichen Wertedifferenzen. Biodiversitätskonflikte zeichnet überdies aus, dass sie von fehlendem, unsicherem oder strittigem Wissen über ökologische und sozial-ökologische Prozesse geprägt sind. Dies betrifft die lokalen ebenso wie die globalen Zusammenhänge von gesellschaftlichem Handeln und Biodiversität. Die Bearbeitung und Lösungssuche braucht jedoch dieses Wissen, um zu guten und nachhaltigen Lösungen zu gelangen.

Wir wollen in diesem Artikel zeigen, wie eine konfliktsensible sozial-ökologische und transdisziplinäre Forschung einen Beitrag zum besseren Verständnis von Konflikten um Biodiversität und zu deren Bearbeitung leisten kann. Sozial-ökologische Forschung fokussiert explizit auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft und deren krisenhafte Entwicklungen. Der transdisziplinäre Forschungsansatz ermöglicht es, neben wissenschaftlichem Wissen unterschiedlicher Disziplinen auch das Praxiswissen der relevanten Akteur*innen zusammenzubringen. Durch diesen integrierten, problemorientierten Zugang kann die Forschung ein verbessertes Wissen über die umstrittenen lokalen gesellschaftlichen Naturverhältnisse bereitstellen und so zur Vermittlung in Biodiversitätskonflikten beitragen. Zur Erläuterung werden wir zuerst die Besonderheit des Konfliktfeldes Biodiversität darstellen und anschließend sozial-ökologische Forschung an zwei Fallbeispielen – Konflikte im Kontext des Insektenschutzes in Deutschland und um Wildtiermanagement in Namibia – veranschaulichen.

Konflikte im Feld Biodiversität

Der Begriff Biodiversität bezeichnet keinen eindeutig abgrenzbaren oder direkt greifbaren Gegenstand, sondern umfasst eine Vielzahl von Perspektiven auf die Vielfältigkeit natürlicher Lebensformen und Interaktionen. Weit verbreitet ist die der Artenvielfalt als Vorkommen unterschiedlichster Arten von Lebewesen auf der Erde. Darüber hinaus beschreibt der Begriff die Vielfalt von Genpools innerhalb und zwischen Arten und die Vielfalt unterschiedlicher Ökosysteme auf der Welt, von Regenwäldern bis zu Wüsten. Ein zentrales Thema der Forschung ist die Frage nach der Bedeutung von Biodiversität für menschliche Gesellschaften, auf die verschiedene wissenschaftliche Disziplinen unterschiedliche Antworten geben.

Aus ökologischer Perspektive wird der Wert von Biodiversität als stabilisierender Faktor für Ökosysteme bemessen. Mikroorganismen im Boden z.B. zersetzen organisches Material, und Raubtiere verhindern ein Anwachsen von Beutetier-Populationen. Das komplexe Zusammenspiel unterschiedlichster Tiere und Pflanzen in einem Ökosystem trägt zu dessen Stabilität bei. Sehr bekannt ist die Forschung zu Ökosystemleistungen, die zum Ziel hat, die Bedeutung einer intakten Natur für das menschliche Wohlergehen offenzulegen (MEA 2005). Ein Teil der Forschung versucht, den Nutzen von biologischer Vielfalt in monetäre Werte zu fassen (TEEB 2010). Ein prominentes Beispiel ist die Berechnung des wirtschaftlichen Nutzens der globalen Bestäubung durch Insekten für die Landwirtschaft, der für das Jahr 2015 auf 235-577 Mrd. US$ beziffert wurde (IPBES 2016). Auch der ökonomische Wert von touristischer Wildtierjagd lässt sich so abschätzen. Kulturell ausgerichtete Perspektiven betonen hingegen den symbolischen Charakter von Biodiversität, z.B. ihre Ästhetik oder ihren Erholungswert. In aktuellen Debatten im Rahmen des IPBES-Prozesses wird auch aus nicht-westlichen Perspektiven die Bedeutung von Biodiversität für die eigene Identität, das »gute Leben« und den sozialen Zusammenhalt mit einbezogen (Christie et al. 2019).

Die gesellschaftliche (und individuelle) Bewertung von Biodiversität ist regional und kulturell sehr spezifisch. Mensch-Wildtier-Interaktionen in Namibia sind schwer mit denen in Deutschland zu vergleichen. Und sogar innerhalb Deutschlands unterscheiden sich die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichem Handeln und Biodiversität erheblich, beispielsweise hinsichtlich der Nutzungspraktiken in Schutzgebieten (wie Beweidung, Einsatz von Pestiziden, Umweltbildung). Ökologische und natürliche Funktionsweisen sind untrennbar mit kulturellen Bezugnahmen verbunden (Schramm et al. 2020). Die Soziale Ökologie bezeichnet diese dynamischen Beziehungen zwischen Individuen, Gesellschaft und Natur als gesellschaftliche Naturverhältnisse.

Konflikte im Feld Biodiversität entstehen in der Praxis oft, wenn Ziele des Biodiversitätsschutzes mit anderen Zielen kollidieren, die kurz- oder langfristig zur Degradation oder Zerstörung der Biodiversität führen, oder wenn bestehende lokale Beziehungen zu Biodiversität gefährdet sind. In der englischsprachigen Debatte wird dies als „conservation conflict“ (Redpath et al. 2015) bezeichnet und zeigt sich in unserer Forschung u.a. im Spannungsfeld von Schutz vs. Nutzung von Elefanten bzw. Wildtieren der namibischen Savanne oder beim Schutz von Insektenbiodiversität in deutschen Naturschutzgebieten. Darüber hinaus deuten sich Konflikte an, in denen der Umbau von Ökosystemen (z.B. Forstumbau in Bezug auf Klimawandelanpassung) zu Konflikten führt.

Sozial-ökologische Dimensionen von Biodiversitätskonflikten

Die Betrachtung der unterschiedlichen Bewertungen von Biodiversität ist wichtig, da sie den sozial-ökologischen Charakter dieser Konflikte belegen, was Auswirkungen auf die Konfliktanalyse und -bearbeitung haben kann. Diese müssen im Sinne von Nachhaltigkeit 1. die sozialen/politischen Dimensionen von Konflikten (Interessen, Eskalationsgrad, Diskurse etc.), 2. die Stabilität bzw. den Funktionserhalt von Ökosystemen sowie 3. unterschiedliche gesellschaftliche Bezugnahmen auf und Wechselwirkungen mit Biodiversität berücksichtigen. Um dieses charakteristische Zusammenwirken von »Natur« und »Gesellschaft« für die Konfliktanalyse und Lösungsfindung besser handhabbar zu machen, ist eine systemische Zugangsweise erforderlich.

Zum besseren Verständnis der sozial-­ökologischen Wechselwirkungen in Bezug auf Biodiversität wurde am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung (Frankfurt a.M.) ein Modell sozial-ökologischer Systeme (SES) erarbeitet (Mehring et al. 2017). Es bietet einen analytischen Rahmen und eine Heuristik für die Erforschung von Biodiversitätskonflikten und ermöglicht es, die drei oben genannten Bereiche angemessen zusammen zu betrachten und sowohl disziplinäres wissenschaftliches Wissen als auch lebensweltliches Praxiswissen zu integrieren. Im Zentrum des SES stehen die Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteur*innen und Ökosystemfunktionen, die genuin sozial-­ökologische Strukturen und Prozesse hervorbringen. Intendiertes Management (z.B. der Einsatz von Pestiziden) ebenso wie dessen unbeabsichtigte Folgen beeinflussen die Ökosystemfunktionen. Zugleich stellen Ökosystemfunktionen Ökosystemleistungen (z.B. Bestäubung) bereit – oder auch negative Effekte (Disservices), die schädlich für die Akteur*innen sein können (z.B. Zerstörung von Zäunen durch Wildtiere). Die sozial-ökologischen Dynamiken werden durch vier Gestaltungsdimensionen beeinflusst: Wissen (wissenschaftliches und praktisches Wissen, z.B. wildtierbiologische Kenntnisse), Institutionen (formelle und informelle Handlungsregeln, z.B. staatliche Verordnungen), Technologien (z.B. Landmaschinen oder Zäune) und Praktiken (Verhaltensmuster bezüglich der Nutzung von Biodiversität und Ökosystemleistungen, wie Wiesenmahd oder Jagd).

Aus der sozial-ökologischen Perspektive lassen sich Konflikte um Biodiversität nur angemessen verstehen und bearbeiten, wenn die soziale und die ökologische Seite in der Konfliktbearbeitung nicht additiv bearbeitet, sondern die Wechselwirkungen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse beleuchtet werden.

Transdisziplinäre Forschung unterstützt Konfliktbearbeitung

Doch wie kann dies gelingen? Um die Mehrdimensionalität von Biodiversitätskonflikten zu untersuchen und zugleich die Anliegen und Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen, ist ein transdisziplinärer Forschungsansatz erforderlich, der es erlaubt, sozialwissenschaftliches mit naturwissenschaftlichem Wissen zu verknüpfen. Doch auch das lokale Praxiswissen der beteiligten Konfliktparteien ist mit in den Forschungsprozess einzubeziehen (Jahn et al. 2012). Die Konfliktbeteiligten vertreten nicht nur als »Stakeholder« unterschiedliche Interessen, sondern verfügen zugleich als »Knowledgeholder« über unterschiedliches Wissen, das zu berücksichtigen ist.

Wir möchten anhand von zwei Biodiversitätskonflikten und damit verbundenen Forschungsprojekten Wege aufzeigen, wie transdisziplinäre sozial-ökologische Forschung den Konfliktbearbeitungsprozess unterstützen kann.

Konflikte im Bereich Insektenschutz in Deutschland

Am Projekt DINA (Diversität von Insekten in Naturschutz-Arealen) lässt sich illustrieren, wie ein transdisziplinärer Forschungsprozess dazu beitragen kann, unterschiedliche Bezugnahmen auf Biodiversität offenzulegen und durch Wissensintegration eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu schaffen. Das Projekt beschäftigt sich mit dem Insektenrückgang in Deutschland. Zugespitzt haben sich damit verbundene Konflikte spätestens seit der öffentlichen Diskussion der »Krefeld-Studie« (Hallmann et al. 2017), die nachwies, dass in deutschen Naturschutzgebieten in den letzten 30 Jahren mehr als 70 % der Biomasse von Insekten verschwunden sind. Die gesellschaftlichen Reaktionen auf diesen Befund waren enorm und gegensätzlich (Fickel et al. 2020). Ein Beispiel ist die bayerische Petition »Rettet die Bienen«, die mit mehr als einer Million Unterschriften Rekorde brach und die Landespolitik zur Überarbeitung des Naturschutzgesetzes drängte. Auf der anderen Seite führten Landwirt*innen deutschlandweit Proteste durch und blockierten deutsche Innenstädte mit großen Landmaschinen. In den Forderungen dieser Bewegungen wurden Insektenschutz, geplante Verbote von Pestiziden, ökonomische Zwänge sowie Anerkennungsdefizite hinsichtlich landwirtschaftlicher Leistungen in der Nahrungsmittelproduktion betont. Zusätzlich wird bei diesem Konflikt wissenschaftliches Wissen unterschiedlich bewertet und die Aussagekraft dieses Wissens für lokale Kontexte in Frage gestellt.

Zur Erarbeitung von Lösungen bieten sich Dialogrunden auf lokaler Ebene an, in denen gemeinsam wissenschaftliche Ergebnisse diskutiert, lokale Bedingungen analysiert und Lösungsmöglichkeiten gesucht werden. Im Rahmen des DINA-Projekts werden in drei Naturschutzgebieten in Deutschland Dialogformate zum Thema »Insektenmanagement« mit Landwirt*innen, Behördenmitarbeiter*innen und Naturschützer*innen erprobt. Dabei werden die verschiedenen Interessen betrachtet, aber auch die sozial-ökologischen Zusammenhänge, wie das praktizierte Biodiversitätsmanagement, oder der Einfluss von landwirtschaftlichen Praktiken, eingesetzter Technik oder Förderrichtlinien auf die Insektenbiodiversität in den jeweiligen Schutzgebieten mit einbezogen. Die naturwissenschaftlichen Ergebnisse aus dem Projekt werden in die Diskussion eingebracht und diskutiert, um zusammen mit den Akteur*innen eine gemeinsame Wissensbasis zu den lokalen Bedingungen zu schaffen. Der Forschungsprozess selbst erlaubt also nicht nur, die widerstreitenden Interessen offenzulegen, sondern die Beteiligten als »Knowledgeholder« zu adressieren, die sozial-ökologisches Systemwissen haben. Unter Einbezug erfahrener Mediator*innen wird im Prozess Zuhören ermöglicht und somit ein besseres wechselseitiges Verstehen gefördert. Als Ergebnis werden unter Berücksichtigung der Dimensionen Intuitionen, Technologie, Wissen und Praktiken dann Lösungen gesucht, die für alle Parteien umsetzbar sind und im besten Fall Vorteile bringen.

Konflikte um Wildtiermanagement in Namibia

Unser zweites Beispiel zur Veranschaulichung von Biodiversitätskonflikten befasst sich mit der Koexistenz von Menschen und Wildtieren in Namibia. Es zeigt, wie transdisziplinäre Forschung das Wissen unterschiedlicher Akteur*innen über sozial-ökologische Wechselwirkungen nutzen kann, um damit eine Konfliktbearbeitung zu unterstützen.

Im namibisch-deutschen Forschungsverbund ORYCS (Wildtier-Managementstrategien in Namibia, orycs.org) schauen sich die beteiligten Forscher*innen u.a. die unterschiedlichen Perspektiven von Akteur*innen auf Wildtiere der namibischen Savanne an, mit einem speziellen Fokus auf Elefanten. Der Schutz von Biodiversität im Allgemeinen und von Wildtieren im Speziellen ist ein hohes politisches Ziel in Namibia. Die Erfolge der Politik, die insbesondere auf ein Nutzungsrecht an Wildtieren setzt (z.B. Tourismus, Jagd, Fleischproduktion) und damit Anreize zu ihrem Schutz erzeugt, zeigen sich nicht zuletzt in steigenden Populationszahlen. Diese positive Entwicklung führt allerdings auch zu Spannungen zwischen Naturschutz, Landwirtschaft und Tourismus. Während der Naturschutz die steigenden Populationszahlen begrüßt und sie als Zeichen intakter Ökosysteme und einer resilienten Umwelt gegenüber den Folgen des Klimawandels einstuft, sehen insbesondere Landwirt*innen die Situation kritisch. Großlandwirt*innen, die vorrangig Viehwirtschaft betreiben, verspüren deutliche Nachteile, wie häufigere Schäden an Zäunen und Wasserstellen; Kleinlandwirt*innen, die keinen eigenen Grundbesitz haben und sich für ihre Viehwirtschaft die Allmende teilen, klagen über gefährliche Begegnungen zwischen Mensch und Tier. Der Tourismussektor fördert unterdessen wildtierbasierte Managementformen, wie Foto-Safaris. Alle Akteur*innengruppen schieben sich gegenseitig die Schuld für die Zunahme von Konfliktsituationen zwischen Menschen und Elefanten sowie weiteren Wildtierarten, wie Löwen und Hyänen, zu.

Unsere empirischen Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass diese Biodiversitätskonflikte in unterschiedlichen ökonomischen Interessen und moralischen Vorstellungen sowie persönlichen Beziehungen und historisch bedingter sozialer Ungleichheit begründet liegen. Während die traditionelle Viehwirtschaft aufgrund zunehmender Dürren finanzielle Einbußen hinnehmen musste, hat der Tourismus sowohl auf privaten Farmen als auch im Nationalpark großen Erfolg. Beide Strategien schließen sich in unmittelbarer Nachbarschaft jedoch aus, da Wildtiere und ihr Verhalten von den einen als Ökosystemleistung, von den anderen hingegen als etwas Negatives wahrgenommen werden. Parallel schwelen Wertekonflikte im Hinblick auf die Zulässigkeit der Jagd von Wildtieren. Im Hintergrund dieser Diskussionen spielt außerdem die Kolonialgeschichte des Landes eine wichtige Rolle, um gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen weißen und schwarzen Landwirt*innen verstehen zu können.

Es zeigt sich, wie eng die Dimensionen Institutionen, Wissen, Technologien und Praktiken eines sozial-ökologischen Systems zusammenwirken und die Konfliktdynamik prägen. Zur transdisziplinären Bearbeitung dieses komplexen Biodiversitätskonfliktes bietet sich ein breiter partizipativer Ansatz an, um für eine ganze Region ein Konzept zur Förderung der Koexistenz zwischen Wildtieren und Menschen zu entwickeln. Individuelle Lösungen, z.B. der Bau von Schutzzäunen oder das Anlegen künstlicher Wasserstellen, verlagern das Problem eher. Für eine langfristige Lösung bedarf es einer verstärkten gegenseitigen Akzeptanz der Bedürfnisse aller Interessengruppen. Das Projekt unterstützt dies inhaltlich durch die Generierung neuen Wissens, u.a. über das Wanderverhalten der Tiere oder potentielle Managementstrategien, sowie durch die Einbindung der Akteur­*innen in den Forschungsprozess zur Vergemeinschaftung des Wissens.

Ausblick

Biodiversitätskonflikte umfassen einen für die Konfliktanalyse und -bearbeitung relevanten sozial-ökologischen Bereich. Die Soziale Ökologie beansprucht mit ihrem transdisziplinären Ansatz, mit einer vertieften und gemeinsam erarbeiteten Wissensbasis Ansatzpunkte für einen nachhaltigeren Umgang mit Biodiversität und zugleich Wege zur Deeskalation von Konflikten aufzuzeigen. Hier steht die Forschung bislang noch am Anfang. Der analytische Rahmen zur Erforschung von Biodiversitätskonflikten wird am ISOE derzeit in der empirischen Forschung für verschiedene thematische Problemstellungen angewendet und erprobt. Erst auf Basis dieser empirischen Ergebnisse werden sich allgemeinere Aussagen über die Voraussetzungen für Konflikttransformationen im Konfliktfeld Biodiversität treffen lassen.

Für die sozial-ökologische Forschung stellt sich die Aufgabe, die umfangreichen Erkenntnisse aus der Friedens- und Konfliktforschung in stärkerem Maße aufzunehmen und vermehrt den Austausch zu suchen und anzubieten. Um die prognostizierten Herausforderungen und sozial-ökologischen Konflikte im Anthropozän zu bewältigen, ist eine bessere Vernetzung und Anschlussfähigkeit der verschiedenen wissenschaftlichen Gemeinschaften – Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung, sozial-ökologische Forschung und Friedens- und Konfliktforschung – dringlicher denn je.

Literatur

Christie, M.; Martín-López, B.; Church, A.; Siwicka, E.; Szymonczyk, P.; Mena Sauterel, J. (2019): Understanding the diversity of values of »Nature’s contributions to people« – insights from the IPBES Assessment of Europe and Central Asia. In: Sustainability Science, Vol. 14, Nr. 5, S. 1267-1282.

Fickel, Th.; Hummel, D. (2019): Sozial-ökologische Analyse von Biodiversitätskonflikten – Ein Forschungskonzept. Frankfurt a.M.: ISOE, Materialien Soziale Ökologie 55.

Fickel, Th.; Lux, A.; Schneider, F.D. (2020): Insektenschutz in agrarischen Kulturlandschaften Deutschlands – Eine Diskursfeldanalyse. Frankfurt a.M.: ISOE, Materialien Soziale Ökologie 59.

Hallmann, C.A.; Sorg, M.; Jongejans, E.; Siepel, H.; Hofland, N.; Schwan, H.; Stenmans, W.; Müller, A.; Sumser, H.; Hörren, T.; Goulson, D.; de Kroon, H. (2017): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PloS one, Vol. 12, Nr. 10, e0185809.

Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services/IPBES (2016): The Assessment Report on Pollinators, Pollination and Food Production. Summary for policy makers. Bonn.

IPBES (2019): Global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovern­mental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. Brondizio, E.S.; Settele, J.; Díaz, S.; Ngo, H.T. (eds.). Bonn: IPBES secretariat.

Jahn, Th.; Bergmann, M.; Keil, K. (2012): Transdisciplinarity – Between mainstreaming and marginalization. Ecological Economics Nr. 79, S. 1-10.

Mehring, M.; Bernard B. et al. (2017): Halting biodiversity loss – How social-ecological biodiversity research makes a difference. International Journal of Biodiversity Science, Ecosystem Services & Management, Vol. 13, Nr. 1, S. 172-180.

Millennium Ecosystem Assessment/MEA (2005): Ecosystems and human well-being. Synthesis. A report of the Millennium Ecosystem Assessment. Washington, D.C.: Island Press.

Redpath, S.M.; Gutiérrez, R.J.; Wood, K.A.; Young, J. (eds.) (2015): Conflicts in Conserva­tion – Navigating towards solutions. Cambridge: Cambridge University Press.

Schramm, E.; Hummel, D.; Mehring, M. (2020): Die Soziale Ökologie und ihr Beitrag zu einer Gestaltung des Naturschutzes. Natur und Landschaft, 95. Jg.; Heft 9/10, S. 397-406.

Scheffran, J. (2018): Biodiversity and Conflict. Supplementary Contribution to IPBES Global Assessment on Biodiversity and Ecosystem Services.

The Economics of Ecosystems and Biodiversity/TEEB (2010): Mainstreaming the Economics of Nature – A synthesis of the approach, conclusions and recommendations of TEEB; teebweb.org.

Thomas Fickel, Politikwissenschaftler (M.A.), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Biodiversität und Bevölkerung am ISOE – Institut für sozial-­ökologische Forschung, in Frankfurt a.M.
PD Dr. Diana Hummel, Politikwissenschaftlerin, ist Mitglied der Institutsleitung des ISOE und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung.
Dr. Robert Lütkemeier, Geograph, ist Ko-Leiter der Nachwuchsforschungsgruppe »regulate« und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Wasserressourcen und Landnutzung am ISOE.

Intersektionale Zugänge


Intersektionale Zugänge

3. Tagung des Netzwerks Friedensforscherinnen, Hochschule Rhein-Waal, 16.-17. Juni 2020

von Christine Buchwald, Eva-Maria Hinterhuber, Lena Merkle, Victoria Scheyer und Elke Schneider

Bereits zum dritten Mal luden die Frauenbeauftragten der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) am 16. und 17. Juni zur Tagung »Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung« ein. Diesmal lag der Fokus auf intersektionalen Zugängen, also auf den Wechselwirkungen, die sich aus unterschiedlichen Differenzkategorien, wie Geschlecht, Ethnizität und Klasse, ergeben. Die Veranstaltung wurde gemeinsam mit der Geschäftsstelle der AFK, angesiedelt an der Hochschule Rhein-Waal, sowie der dortigen Fakultät Gesellschaft und Ökonomie ausgerichtet.

Aufgrund der Corona-Pandemie konnte die Tagung nicht vor Ort stattfinden und wurde virtuell durchgeführt. Das bereits bewährte Format des Work-in-progress-Workshops stand auch diesmal im Fokus, sodass Arbeiten auch in einem frühen Bearbeitungsstadium vorgestellt werden konnten. Um während der Onlinesitzungen genug Zeit für die Diskussion zu lassen, wurde die Tagung angelehnt an das »Flipped Classroom«-Modell gestaltet: Die Vortragenden wurden gebeten, Manuskripte, Podcasts und Videos im Vorfeld bereitzustellen. In der Onlinesitzung lag der Fokus nach einer kurzen Vorstellung des Beitrags mehr auf der beratenden Diskussion.

Durch das Onlineformat nahmen an den vier Panels und der Keynote zum Teil unterschiedliche Personen teil. Im Durchschnitt waren 35 Personen in den Onlinesitzungen.

Im ersten Panel, »Arms, Violence and Gender Roles«, präsentierte Veronika Datzer ihre Arbeit »The Necessity of Gender in (Non-) Proliferation Policy-Making«, in der sie die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive auf die Debatte über die Verbreitung von Atomwaffen beschreibt. Zur Begründung führte sie die Auswirkungen auf und die Rolle von Frauen in Abrüstungsverhandlungen sowie von Männlichkeit in der Politikgestaltung an. Daran anknüpfend präsentierte Jannis Kappelmann seine Überlegungen zu »Nuclear Weapons and Patriarchy – A Gender Perspective on Disarmament«, in denen er auch auf die Konsequenzen von hegemonialer Männlichkeit in der politischen Debatte verwies. Für die Diskussion fragte er unter anderem danach, wie der vorherrschende männliche Habitus dekonstruiert werden könne. Im letzten Vortrag des Panel, »Putting Intersectionality into Peacebuilding Practice – Diversifying Spaces of Options in DDR Discourse« (DDR = disarmament, demobilisation and reintegration; die Red.), ging Celia Schütt auf die Bandbreite an intersektionalen Perspektiven im DDR-Diskurs ein, die es in einem „portfolio of options“ zu integrieren gelte, um allen beteiligten Personen die für sie jeweils notwendige Unterstützung zukommen zu lassen.

Am Nachmittag folgte ein Panel zu »Transition towards Peace«, in dem Claudia Cruz Almeida in ihrem Beitrag »State-demolishing – The Phenomen of Gender-blind Statebuilding. Sierra Leone Case Study« die Frage stellte, ob der Statebuilding-Prozess in Sierra Leone tatsächlich als Erfolg bezeichnet werden kann, obwohl Frauen von dem DDR-Programm nicht profitiert haben. Dominik Folger ging anschließend in seinem Beitrag »Women and Transition in Tunisia« auf das Konzept der Repräsentation von Frauen ein. Er unterschied dabei zwischen »descriptive representation« und »substantive representation«. In der Diskussion wurden unterschiedliche Möglichkeiten für substantielle Repräsentation betrachtet: über gendersensitive Themensetzungen in den politischen Debatten oder über die von Frauen benannten Zielsetzungen und deren Erreichung. Im Anschluss adressierte Juliana Gonzalez Villamizar in ihrem Vortrag »The Promise and Perils of Mainstreaming Intersectionality in the Colombian Peace Process« die Instrumentalisierung von Intersektionalität durch die kolumbische Wahrheitskommission. Abschließend diskutierte Laura Gerards Iglesias in ihrem Beitrag »Women for Peace but No Piece for Women« einen Vergleich des lokalen Engagements von Frauen in zwei kolumbianischen Regionen. Dabei stellte sie gerade die je eigene intersektionale Verortung als einen wesentlichen Unterschied zwischen den Frauengruppen heraus.

Der erste Tag endete mit der Keynote von Prof. Dr. Tatiana Zimenkova und Dr. Verena Molitor, die über »Executive Power and Sexual Citizenship – Negotiating Loyalities, State-Citizen Relations and Uniforming Sexual Citizenship« sprachen. In ihrer Forschung betrachten sie LGBTQI*-Personen, die im Polizeidienst tätig sind. Diese versuchen, ihre beiden Lebenswelten miteinander zu verknüpfen, einerseits als Teil des staatlichen Systems, andererseits qua sexueller Orientierung und Identität potenziell auch als Teil politischer Bewegungen. In der Diskussion verdeutlichten sie, dass die Identität als Polizist*in für die Beteiligten gewichtiger ist als andere gesellschaftliche Identitätszuschreibungen, wie etwa Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Ethnizität. Das begründen sie damit, dass die Berufsidentität sich auf eine dauerhafte und klar umrissene Gruppe bezieht. Zudem gebe es eine große Loyalität gegenüber der Institution, die gleichzeitig als Familie wahrgenommen werde.

Im Panel »Can the Women, Peace and Security Agenda Work as a Tool for Peace?« beschäftigten sich die Panelistinnen am zweiten Tag aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der UN-Agenda zu »Women, Peace and Security« (WPS). Meike Fernbach vertrat in ihrem Beitrag »Does Protection Lead to Peace? The WPS Agenda and Its Focus on Conflict-Related Sexual Violence« die Perspektive, dass in der Debatte über die WPS-Agenda der Fokus zu stark auf den Schutz von Frauen gelegt werde, indem diese auf ihre Betroffenheit als Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt reduziert werden. Ihre These ist, dass der vornehmliche Fokus auf Schutz keinen Frieden bringt, sondern dass hierfür Partizipation und Empowerment von Frauen notwendig seien. Im folgenden Beitrag, »Does Participation Bring Peace? How CSOs Contribute to NAPs Agenda«, ging Amy Herr auf die Rolle von zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs) bei der Etablierung und Umsetzung von nationalen Aktionsplänen (NAPs) in Bezug auf die »Women, Peace and Security«-Agenda ein. Amy Herr fragt danach, wie »meaningful participation« dieser Organisationen aussehen kann. Im letzten Beitrag in diesem Panel präsentierte Victoria Scheyer ihre Gedanken zu »Does Security Equal Peace – What Security is the WPS Agenda Talking About?«. Sie argumentierte, dass die WPS-Agenda aus einem Sicherheitsanspruch heraus formuliert ist, der nicht feministisch ist. Die WPS-Agenda unterstütze demnach Militarismus, füge Frauen als Körper, aber nicht deren Perspektiven hinzu und habe den Anspruch, Krieg für Frauen sicherer zu machen, aber nicht, Krieg an sich zu verhindern.

Im letzten Panel, »Epistemology and Knowledge Transfer«, thematisierte Viviane Schönbächler in ihrem Beitrag »Women Journalists Covering Conflicts? An Intersectional Analysis of Media Practices in Proximity Radios in Burkina Faso« ihr Promotionsprojekt, in dem sie analysiert, inwiefern die Beteiligung von Frauen an Radioprogrammen in Burkina Faso die Teilnahme an Konfliktbewältigungsprozessen beeinflusst. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen nutzte sie die Tagebuchmethode für ihre Befragung weiblicher Radio-Journalistinnen. Im letzten Beitrag von Alena Sander, »Feminist Field Research in Times of COVID-19 – Challenges, Innovation and Responsibility«, ging es um die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Da sie ihre Forschung zu jordanischen Frauenorganisationen mit dem Anspruch verknüpft, »research as care« zu leisten, ist es ihr wichtig, ihre Forschung so auszurichten, dass Rücksicht auf die und Anteilnahme an den persönlichen Bedürfnissen ihrer Interviewpartnerinnen gewährleistet werden können. Deren Bedürfnisse verändern sich aber aktuell.

Die Rückmeldungen zum Veranstaltungsformat sowie zu den einzelnen Beiträgen waren durchweg positiv, sodass eine Fortsetzung der Tagungsreihe im kommenden Sommer geplant ist. Ein ausführlicher Tagungsbericht kann auf der AFK-Homepage abgerufen werden (afk-web.de/cms/netzwerk-friedensforscherinnen).

Christine Buchwald, Eva-Maria Hinterhuber, Lena Merkle, Victoria Scheyer und Elke Schneider