Kompetenzen für den Frieden lernen

Kompetenzen für den Frieden lernen

Universität als Kreativwerkstatt

von Verena Brenner, Tatjana Reiber und Michaela Zöhrer

Wer Friedens- und Konfliktforschung studiert, sollte lernen, aktiv zu einem friedlichen gesellschaftlichen Miteinander beitragen und friedenskompetent handeln zu können. Der Beitrag wirft die Frage auf, wie Friedenskompetenzen in der universitären Ausbildung von Friedens- und Konfliktforscher*innen berücksichtigt und erworben werden können – und warum das wichtig ist.

Was bedeutet es friedenskompetent zu sein? Kompetenzen umfassen die Bereiche Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen. Um es bildhaft – und angelehnt an Pestalozzi – auszudrücken: Wir lernen mit Kopf (Wissen über Fakten, Theorien, Konzepte sowie kognitive Analysekompetenzen), Hand (das Können, gewisse Tätigkeiten auszuführen) und Herz (spezifische Einstellungen, die die Herangehensweise und den Umgang mit Problemstellungen und Situationen prägen).

Doch was beinhaltet es, Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen in Bezug auf Frieden zu erwerben oder einzusetzen? Frieden wird bekanntlich sehr unterschiedlich definiert. So kann etwa – Johan Galtung folgend – zwischen einem engen, negativen Friedensbegriff und einem weiten, positiven Friedensbegriff unterschieden werden. Während der enge Friedensbegriff auf die dauerhafte Abwesenheit von direkter physischer Gewalt abzielt, umfasst der weite Friedensbegriff darüber hinaus soziale Gerechtigkeit, also die Abwesenheit von struktureller und kultureller Gewalt.

Geht man von einem engen Friedensbegriff aus, dann sind Friedenskompetenzen in erster Linie mit Kompetenzen zum konstruktiven Konfliktaustrag gleichzusetzen. Wählt man einen weiter­gefassten Friedensbegriff, dann rückt zusätzlich die Frage in den Vordergrund, wie wir einen Zustand sozialer Gerechtigkeit anstreben oder sogar herstellen können. Dementsprechend gewinnen weitere Kompetenzen an Bedeutung, wie beispielsweise das Vermögen, Ungleichheiten und Machtasymmetrien zu erkennen und zu hinterfragen, aktives Handeln für die Beseitigung von Ungerechtigkeiten sowie die Entwicklung gemeinsamer Visionen eines – im Sinne des vorher genannten – friedlichen Miteinanders.

Friedenskompetenzen und Universität

Universitäten verstehen sich eher als »neutrale« Orte der Wissensproduktion und -vermittlung denn als Institutionen, die sich zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen positionieren. So dürfen Forschung und Lehre etwa nicht indoktrinieren und kontrovers gesellschaftlich debattierte Themen sollen auch kontrovers dargestellt werden (»Beutelsbacher Konsens« von 1976). Vor diesem Hintergrund lässt sich durchaus die Frage stellen, ob die Friedens- und Konfliktforschung einen normativen Anspruch verfolgen oder sich ausschließlich auf eine theoretische und empirisch-analytische Betrachtung von Konflikten und Friedensprozessen fokussieren sollte.

Da Frieden ein zentraler Wert der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, der wiederum die Universitäten in Deutschland verpflichtet sind, halten wir das Vertiefen und Erlernen von Friedenskompetenzen, die über den reinen Wissenserwerb hinausgehen, für eine zentrale Verantwortung universitärer Lehre. Die an deutschsprachigen Universitäten institutionalisierten Studiengänge der Friedens- und Konfliktforschung bieten die Chance, Friedenskompetenzen mehr als nur punktuell oder durch extracurriculare Angebote zu erwerben. Wie aber kann ein ganzheitliches und umfassendes Friedenslernen im Kontext universitätsspezifischer Herausforderungen gelingen? Welche Potentiale werden im Studium der Friedens- und Konfliktforschung noch nicht ausreichend ausgeschöpft oder gar verschenkt?

Kopf: Wie wird wessen Wissen gelernt?

Auf der kognitiven Wissensebene sollten Studierende über Grundlagenwissen zu friedens- und konfliktrelevanten Themen verfügen und in der Lage sein, Friedens- und Konfliktprozesse zu analysieren. In dieser Hinsicht studieren sie „gewissermaßen ‚Konfliktologie‘“ (Weller 2016), können also beispielsweise die Implikationen unterschiedlicher Friedensbegriffe und Konflikttheorien diskutieren oder den Wirkungsbereich verschiedener Methoden und Akteur*innen praktischer Friedensarbeit bewerten.

Was den Wissenserwerb anbelangt, hat sich die Friedens- und Konfliktforschung an deutschsprachigen Hochschulen in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend professionalisiert. An aktuelle Forschung anknüpfend und diese weiterentwickelnd werden fachlich einschlägige Publikationen kritisch rezipiert, Fallstudien erstellt, Theorien entwickelt und angewandt sowie Konflikte analysiert. Eine zunehmend wichtige Rolle spielt dabei auch forschendes Lernen als Lernformat, bei dem Student*innen selbst eine Fragestellung entwickeln und den gesamten Forschungsprozess durchlaufen.

Potenzial für eine Verbesserung auf der Wissensebene sehen wir hinsichtlich einer Sensibilisierung für (Macht-)Asymmetrien und des Erlernens der Fähigkeit, das vermeintlich »Normale« zu hinterfragen: Es ist wichtig ein kritisches Bewusstsein dafür zu entwickeln, was gewusst und gelernt wird und was nicht, wer eingeschlossen und wer ausgeschlossen ist, welche Erkenntniswege und Formen wissenschaftlichen Wissens als legitim anerkannt werden und welche nicht. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, aufgrund welcher gesellschaftlichen Kräfte und Machtverhältnisse dem so ist (Stichwort: epistemische Gewalt; vgl. Brunner 2018). Für die Friedens- und Konfliktforschung gilt es beispielsweise zu fragen, wieso der inhaltliche Fokus häufig auf Missstände im Globalen Süden gelegt wird, ohne zu berücksichtigen, dass viele der Maßstäbe, anhand derer wir Missstände identifizieren, einer eurozentrischen Logik folgen? Warum werden Forschung, die recht bewegungs- oder allgemein praxisnah ist, oder auch indigenes Wissen als Wissensformen häufig delegitimiert? Weshalb wird trotz der Interdisziplinarität vieler friedensbezogener Themen bestimmten Fachdisziplinen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als anderen?

Wichtig für die Entwicklung von Friedenskompetenzen scheinen uns das Offenlegen bestehender Machtungleichgewichte sowie die Bereitschaft, eigenes Wissen und dessen Bedingungsfaktoren immer wieder zu hinterfragen. Dies gilt für individuelle Gewissheiten ebenso wie für den einen oder anderen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen »Common Sense«. Jenseits des Rückgriffs auf altbewährte oder naheliegende Themen, klassische Texte und Autor*innen sowie gängige Methoden der Erkenntnisgewinnung, liegt ein großes Lernpotenzial in der bewussten (Neu-)Wahl von Inhalten. Dieser Prozess des Auswählens kann selbst als friedenskompetentes Vorgehen gestaltet werden, wenn Lehrende und Studierende gemeinsam Literatur »kritisch« im Sinne des obigen Verständnisses recherchieren und besprechen sowie individuelles (Vor-)Wissen und Erfahrungen einbringen. Studierende können dazu eingeladen werden, Sitzungsinhalte aktiv mitzubestimmen (anstatt fertige Seminarpläne »abzuarbeiten«) und neue oder eher unübliche Wege der Erkenntnisgewinnung und -präsentation auszuprobieren (warum nicht einmal partizipative Aktionsforschung betreiben oder die eigenen Erkenntnisse in lyrischer Form zur Diskussion stellen?). Angedeutet ist damit bereits, dass das Studium über den reinen Wissenserwerb hinausgehen und zu einem kooperativ von Lehrenden und Studierenden verantwortungsvoll und kreativ gestalteten Raum bzw. Prozess werden kann.

Hand und Herz: Kreativwerkstatt Frieden

Wir möchten dazu ermutigen, Lehrveranstaltungen bewusst als Kreativwerkstätten des Friedens zu sehen, in denen friedenskompetentes Handeln auf fehlerfreundliche Weise ausprobiert, erlebt, reflektiert und eingeübt werden kann. In einer solchen Kreativwerkstatt ist Diversität erwünscht und Teilhabe möglich, Lehrende und Studierende kommunizieren ehrlich und wertschätzend; es gilt aber auch: im Seminar auftretende Konflikte werden konstruktiv bearbeitet und Ungerechtigkeiten klar benannt. Derart (vor-)gelebte Kompetenzen können internalisiert und durch Reflexionsprozesse hoffentlich für andere Situationen reproduzierbar werden. Für Lehrende bedeutet das, eine wertschätzende und empathische Haltung zu haben, machtsensibel zu sprechen und zu handeln sowie einen wechselseitigen Austausch mit und unter den Studierenden über das Miteinander, nicht zuletzt auch über Störungen und Widerstände, auf der Meta-Ebene anzuregen. Studierende sind gefordert, die eigenen Einstellungen und das eigene Verhalten immer wieder zu reflektieren, sich aktiv und offen einzubringen sowie Verantwortung für sich, andere und das gemeinsame Geschehen im Seminar zu übernehmen. Wichtig ist zudem der allseitig reflektierte Umgang mit bestehenden Privilegien, Machtunterschieden und Hierarchien, die es sowohl zwischen Lehrenden und Studierenden (z. B. Notengebung), aber auch unter Studierenden (z. B. Sprachkompetenz, ungleiche Redeanteile) gibt (Brenner und Reiber 2017).

Beim Erlernen konkreter Friedensfertigkeiten kommt der Handlungsorientierung in der Lehre eine besondere Bedeutung zu. Diese drückt sich zuvorderst in einer didaktischen Haltung aus, die Lernen als aktiven Prozess betrachtet und auf aktivierende Methoden der Sitzungsgestaltung baut. Freie oder strukturierte Debatten, Sensibilisierungsübungen, die zum Perspektivwechsel einladen und Aha-Erlebnisse hervorrufen, oder Rollenspiele, in denen z. B. Friedensverhandlungen durchgespielt werden, lassen sich gut in die universitäre Lehre integrieren. Sicherlich können Studierende im Studium nicht noch »nebenbei« zu Mediator*innen oder spezialisierten Friedensfachkräften ausgebildet werden – hierfür sind außeruniversitäre Lernorte unverzichtbar. Sie sollten jedoch Grundfertigkeiten lernen und Instrumente an die Hand bekommen, beispielsweise gewaltfrei zu kommunizieren oder Dialoge zu moderieren.

Aus unserer Sicht werden universitäre Lernräume noch zu wenig als Kreativwerkstätten gestaltet, in denen nicht nur der Kopf, sondern auch Hand und Herz mit einbezogen werden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Noch liegen nicht an allen Hochschulstandorten die nötigen curricularen Rahmenbedingungen vor, die eine entsprechende interaktive universitäre Lehre ermöglichen. Zudem erschweren große Gruppen, mangelnde und schlecht ausgestattete Räumlichkeiten, veraltete Technik und fehlende Sachausstattung aktives Lernen. Nicht zuletzt können Hochschullehrende nicht alle potenziell interessanten und relevanten Praxiserfahrungen und Kompetenzen mitbringen. Aus diesem Grund bietet es sich an, Expert*innen aus der Praxis in Lehre einzubinden. Darüber hinaus können Fertigkeiten, die Studierende im Rahmen von Praktika, »Service Learn­ing« (Lernen durch Engagement), dem Ehrenamt oder Beruf erworben haben, in die universitären Lernräume einfließen.

Ein Beispiel: Zusammenarbeit in Gruppen

Das Zusammenspiel der drei Kompetenzbereiche lässt sich gut am Beispiel »Gruppendynamik« verdeutlichen (hierzu ausführlicher: Reiber 2016). Gruppenarbeit ist mittlerweile ein fester Bestandteil universitärer Lehre und findet nicht nur als Kleingruppenarbeit während einer Seminarsitzung statt, sondern kann gerade bei mehrwöchigen Projektarbeiten mit selbstgesteuerten Arbeitsprozessen sehr anspruchsvolle Formen annehmen. Diese Gruppenprozesse sind voller Lerngelegenheiten. Studierende können üben, Konfliktdynamiken wahrzunehmen, Konflikte zu thematisieren sowie zu bearbeiten, und sie können lernen, das soziale Miteinander wertschätzend und gleichberechtigt zu gestalten. Derlei Erfahrungen und Kompetenzen können vom Seminarraum auf weitere gesellschaftliche und politische Konfliktkonstellationen übertragen werden und sind zentral für das eigene friedenskompetente Wirken als Konfliktpartei oder auch als Dritte Partei in einem Vermittlungsprozess.

Noch zu selten werden Gruppenprozesse im Studium der Friedens- und Konfliktforschung jedoch dazu genutzt, um Friedenskompetenzen zu stärken. Möglich wäre das durchaus: Auf der Wissensebene könnten Erkenntnisse der Sozialpsychologie und speziell solche zu Gruppendynamiken vermittelt werden, um den konkreten Prozess der Gruppenarbeit theoretisch einzuordnen. Auf der Ebene der Fertigkeiten könnten die Studierenden bestimmte Techniken kennenlernen und einüben, die die Zusammenarbeit in Gruppen erleichtern und bei der Bearbeitung von Konflikten helfen (Moderations- und Feedbacktechniken, aktives Zuhören). In Reflexionsrunden könnten sich die Teilnehmenden vor dem Hintergrund des erworbenen Wissens und der gemeinsam gemachten Erfahrungen dann nicht nur kritisch mit ihrem eigenen Verhalten, sondern auch mit ihren zugrundeliegenden, teils unbewussten Einstellungen auseinandersetzen. Ist ihnen Harmonie beispielsweise ein wichtiger Wert, so kann die Einsicht erhellend sein, wie problematisch es in Gruppenprozessen sein kann, wenn Kritik, abweichende Meinungen, aber auch Frustration oder Wut nicht ausgedrückt und somit bestehende Konflikte nicht ausgeräumt werden können.

Umsetzung mit Mut zum Experimentieren

Wir sind vom Wert einer sich stetig weiterentwickelnden, auf Friedenskompetenzen ausgerichteten Lehre überzeugt. Nur wie können wir als Lehrende vor dem Hintergrund eigener Grenzen, zum Teil hinderlicher Rahmenbedingungen und anderer Widerstände das beschriebene Ideal in der Praxis umsetzen? Dazu gehört sicherlich eine gute Portion Mut – Mut dazu, ausgetretene Pfade zu verlassen, für eigene Werte und Normen einzustehen und gleichzeitig eigene Gewissheiten und Vorgehensweisen immer wieder kritisch zu überdenken und hinterfragen zu lassen. Dabei kann es helfen, sich als Lernende*r unter Lernenden zu verstehen; Verantwortung zu teilen und aus (gemeinsamen) Fehlern zu lernen; groß zu denken, aber mit kleinen Schritten anzufangen; Spaß am Experimentieren zu entwickeln, dabei aber regelmäßig innezuhalten und zu reflektieren; Inhalte zu verdichten, um damit Raum und Zeit für Prozesse zu schaffen; für sich und andere zu sorgen. Nicht zuletzt gehört auch dazu, immer wieder in Dialog darüber zu treten oder gar darüber zu streiten, was unter Friedenskompetenzen zu verstehen ist.

Literatur

Brenner, V.; Reiber, T. (2017): Der Umgang mit Macht. In: Lehrgut. Ein Blog für Lehrende der Friedens- und Konfliktforschung (23.05.2017).

Brunner, C. (2018): Epistemische Gewalt. Konturierung eines Begriffs für die Friedens- und Konfliktforschung. In: Dittmer, C. (Hrsg.): Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung (ZeFKo Sonderband), S. 125-153.

Reiber, T. (2016): Konfliktkompetenz üben! Zur Nutzung von Gruppenprozessen. In: Lehrgut. Ein Blog für Lehrende der Friedens- und Konfliktforschung (21.12.2016).

Weller, C. (2016): Konfliktkompetenz lehren. In: Lehrgut. Ein Blog für Lehrende der Friedens- und Konfliktforschung (16.12.2016).

Verena Brenner (Transkulturelle Trainerin/Mediatorin), Tatjana Reiber (Deutsches Institut für Entwicklungspolitik) und Michaela Zöhrer (Universität Augsburg) sind Initiatorinnen und Redakteurinnen des seit 2016 bestehenden Blogs »Lehrgut. Ein Blog für Lehrende der Friedens- und Konfliktforschung« (lehrgut.hypotheses.org).

Schulen als Lernort für Frieden

Schulen als Lernort für Frieden

Grundlagen, Zielsetzungen und Praxiserfahrungen

von Janna Articus, Larissa Berner, Anne Kruck und Claudia Möller

In diesem Artikel werden Praxis­erfahrungen aus der Arbeit der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg vorgestellt und reflektiert, u.a. aus ihrem Pilotprojekt »Modellschulen Friedensbildung«. Im Kern geht es um die Stärkung von Friedenskompetenz, Friedensfähigkeit und Friedenshandeln sowie um die Förderung einer Kultur des Friedens am Lernort Schule.

Als sie gefragt wurde, was Friedensbildung für sie sei, antwortete eine Schülerin der Walther-Groz-Schule in Albstadt, Baden-Württemberg – einer Modellschule für Friedensbildung:
„Friedensbildung bedeutet, dass man übers ganze Leben lernt – man lernt nicht eine Definition von Frieden, weil das für jeden speziell und individuell ist. Aber man lernt, was gehört zum Frieden dazu, wie kann man das in der Schule machen und wie kann man für Frieden kämpfen – allein jetzt ich, wenn ich zu Hause bin und nicht im Krieg.“

Friedensbildung muss als ein umfassendes Bildungskonzept verstanden werden, das sowohl direkte Bildungsmaßnahmen als auch strukturelle Veränderungsprozesse in Bildungsinstitutionen und -systemen bezeichnet. Die Kernfragen jeder Friedensbildung müssen daher lauten:

  • Wie können Menschen, soziale Gruppen und Systeme Frieden lernen?
  • Wie können sie Wissen, Fähigkeiten und Rahmenbedingungen entwickeln, die einen gewaltfreien und konstruktiven Konfliktaustrag ermöglichen und fördern? (vgl. Frieters-Reermann 2017, S. 94).

Friedensbildung orientiert sich in unserem Verständnis an einem prozessualen und positiven Friedensbegriff, der nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch den Abbau verschiedener Gewaltformen und die Zunahme von Gerechtigkeit umfasst. Somit können Beiträge zum Frieden von allen Menschen in der Gesellschaft geleistet werden. Friedensbildung betont zudem den selbstgesteuerten, dialogorientierten und partizipativen Charakter des Lernens und Lehrens. Sie lässt sich als Teil der politischen Bildung verstehen und wird derzeit im deutschsprachigen Raum vor allem mit Blick auf den Lernort Schule diskutiert und praktiziert.

Formate und Ziele der Friedensbildung

Direkte Bildungsmaßnahmen umfassen etwa die Bearbeitung friedensrelevanter Themen im Fachunterricht, Workshops für Schulklassen, Projekttage an Schulen oder Streitschlichtungsprogramme. Mit strukturbezogenen Maßnahmen hingegen sind die Entwicklung und Implementierung von Curricula sowie der Aufbau von Infrastrukturen und Netzwerken für Friedensbildung gemeint (vgl. Jäger 2014). Friedensbildung ist demnach nicht nur ein Thema im Unterricht (Bildung über Frieden) und nicht nur die Förderung individueller Fähigkeiten (Bildung für Frieden). Auch die Rahmenbedingungen und Strukturen müssen friedlich und gewaltsensibel gestaltet werden (Bildung durch Frieden), damit sich eine Kultur des Friedens entfalten kann (vgl. Frieters-Reermann 2015, S. 209).

Friedensbildung orientiert sich an anspruchsvollen Zielsetzungen, die auf mehreren Ebenen angesiedelt sind: Auf globaler Ebene sind die 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen handlungsleitend. Insbesondere das Ziel 4 »Hochwertige Bildung« und das Ziel 16 »Frieden und Gerechtigkeit« sind wichtige Referenzen. Da in Deutschland Bildungspolitik Ländersache ist, gilt es bei Friedensbildung in der Schule die jeweiligen Schulgesetze und Landesverfassungen zu berücksichtigen. So ist beispielsweise in der baden-württembergischen Landesverfassung in Art. 12 das Ziel der »Erziehung zur Friedensliebe« verankert. In Bildungsplänen werden darüber hinaus Kompetenzansprüche formuliert, die für Lehrkräfte Grundlage für die Entwicklung individueller Lernziele sind. Auf dieser Ebene zielt die Friedensbildung auf die Förderung von Friedenskompetenz (Sachwissen), Friedensfähigkeit (Konflikt- und Dialogkompetenz) und auf die Befähigung zum Friedenshandeln (vgl. Jäger 2018, S. 327). Friedensbildung will einen Beitrag leisten zur Ächtung von Krieg, zur Reduzierung von Gewalt in allen Ausprägungen, zur konstruktiven Konfliktbearbeitung und zur Entwicklung von Visionen eines friedlichen Zusammenlebens.

Bei diesen anspruchsvollen Zielsetzungen stellen sich stets Fragen nach den Zielgruppen und der Umsetzbarkeit direkter und strukturbezogener Friedensbildung in der Praxis. Im Folgenden werden einige Praxiserfahrungen und sich daraus ergebene Fragen und Aufgaben an die Friedensbildung dargestellt. Diese Erfahrungen wurden in der 2015 gegründeten Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg gesammelt.

Frieden lernen – aber wie?

Aktuelle Kriege, der Klimawandel, aber auch Gewalt und unfriedliche Strukturen im eigenen Umfeld, wie Armut, Geschlechterungleichheit, fehlende Partizipationschancen für jüngere Generationen und Rassismus, beschäftigen Kinder und Jugendliche nach Aussage aktueller Studien (Calmbach et al. 2020, S. 405ff.). Die befragten Jugendlichen betonen darüber hinaus den Wunsch nach sozialer Geborgenheit, Halt und Orientierung (ebd., S. 31). Friedensbildung kann diesen Gefühlen wie Ängsten und Hoffnungen begegnen, indem sie Wege für den individuellen und kollektiven Einsatz für Frieden aufzeigt. In der Praxis der Servicestelle heißt das: Hier bearbeiten Schüler*innen in Workshops mithilfe friedenspädagogischer Methoden die großen Themen des menschlichen Miteinanders: Leben wir in einer friedlichen Welt? Was heißt eigentlich Frieden? Warum gibt es Krieg? Wie können Konflikte bearbeitet werden?

Dabei werden die Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen einbezogen. Denn: Frieden ist nicht nur ein abstrak­tes, theoretisches Konzept, sondern ein konkreter Leitwert für das menschliche Miteinander – in der Schule, in der Familie, national und international und speist sich daher direkt aus eigenem Erfahrungswissen der Kinder und Jugendlichen.

Zentral ist also das biographische Lernen und das Lernen von Beispielen: Wie setzen sich andere Menschen in ihrem Umfeld für Frieden ein? Ein konkretes Beispiel dafür ist der Workshop »Peace Counts – Frieden zählt« (vgl. Servicestelle Friedensbildung o.J.). Hier werden Friedensmacher*innen und ihr Engagement vorgestellt: Zum Beispiel Mateo und seine Hip-Hop Gruppe Esk-Lones in Kolumbien, die Jugendlichen Alternativen zur Gewalt der Drogengruppen bietet.

In der Gesamtschau sind die Schüler*innen oft erstaunt und ermutigt von der (ihnen unbekannten) vielfältigen Arbeit der Friedensmacher*innen und den Erkenntnissen, dass gewaltfreies Handeln wirksam ist und dass Frieden nicht nur von Politiker*innen gemacht wird. Die Beispiele bestärken sie zum eigenen Handeln vor Ort. „Wenn die in Ruanda das schaffen, dann ist alles möglich – so die Aussage eines Schülers, nachdem er die begleitende Reportage von Peace Counts über Versöhnung nach dem Völkermord gelesen hatte.

Neben direkten Workshopangeboten müssen Inhalte der Friedensbildung in der heutigen Zeit auch dezentral und online als Lernressource zur Verfügung stehen. Denn angesichts zahlreicher bedrückender Nachrichten über gesellschaftliche Krisen suchen auch jüngere Kinder verstärkt im Internet nach Antworten auf große Fragen: „Wird es zu einem dritten Weltkrieg kommen?“, „Wann wird Corona endlich vorbei sein?“, oder „Wie kann ich Streit verhindern?“ Auf der Online Plattform »Frieden-Fragen« bekommen die Fragenden individuelle und passgenaue Antworten von Mitarbeiter*innen der Berghof Foundation und finden altersgerecht aufbereitete Informationen zu Krieg und Gewalt, aktuellen Konflikten und Friedensansätzen.

Frieden lehren – aber wie?

Bei der Entwicklung von Angeboten für Lehrkräfte und Referendar*innen ist es in der Erfahrung der letzten sechs Jahre Arbeit der Servicestelle wichtig, konkrete Anknüpfungspunkte für Friedensbildung im Bildungsplan in Baden-Württemberg aufzuzeigen. Obwohl sich vereinzelt Schlagworte wie »Friedensbildung« und »Frieden« in den Bildungsplänen finden, gibt es weder ein Fach, noch ein Schul- oder Handbuch zur Friedensbildung für Lehrkräfte und Referendar*innen. Berner und Fleischer (2018) haben mit ihrer Analyse der Bildungspläne gezeigt: Wenig explizite Verankerung der Friedensbildung, aber viel Potenzial für friedensrelevante Fragestellungen und friedenspädagogische Zugänge im Unterricht. In den Lernmedien der Servicestelle werden daher immer konkrete und fachspezifische Bezüge zum Bildungsplan hergestellt. So lässt sich das Bilderset »Menschen im Krieg – Menschen gegen Krieg, 40 Fotos für den Frieden« oder das Begleitheft zur Ausstellung »Frieden machen – gelungene Beispiele aus aller Welt« beispielsweise in Ethik, Deutsch, Gemeinschaftskunde oder Geschichte in verschiedenen Jahrgangstufen einsetzen.

Fortbildungen und Vernetzung für Lehrkräfte sind ein weiterer Baustein der Arbeit. Der Bedarf an Kooperation und Austausch im Schulalltag mit Kolleg*innen zu Friedensbildung ist groß. Zur Ausbildung einer Friedenshaltung braucht es gezielte fachliche Unterstützung und kollegiale Beratung (Berner 2020, S. 84). Daher bietet die Servicestelle Friedensbildung Fortbildungen an, bei denen ganzheitliches, beziehungs- und bedürfnisorientiertes Lernen sowie die Selbstreflexion der Lehrkräfte im Mittelpunkt stehen (vgl. Berner 2020, S. 77ff). Sie bieten einen geschützten Raum zum fachlichen und persönlichen Austausch über friedensrelevante Fragen am Lernort Schule – denn positive Feed­backkultur und gemeinsame Reflexion gehören zur Friedensbildung. So betonen teilnehmende Lehrkräfte, wie
gut es tut, andere zu treffen, denen das Thema ebenso am Herzen liegt“ und mit „ganz neuen Impulsen für den Unterricht und das Miteinander im Schulalltag“ nach Hause zu gehen. Mit dem neu entwickelten praxis­orientierten E-Learning-Kurs zu den Grundlagen der Friedensbildung bietet die Servicestelle nun auch eine dezentrale, asynchrone und digitale Fortbildungsmöglichkeit für Lehrkräfte.

Frieden verankern – aber wie?

Friedensbildung am Lernort Schule systematisch zu stärken bedeutet, nachhaltig auf Strukturen einzuwirken, um die Bedingungen für das Lehren, Lernen und Erfahren von »Frieden« zu verbessern. Dazu gehören Maßnahmen einer vertieften und reflektierten Partizipation aller am Schulleben Beteiligter ebenso wie die Gestaltung der Lernumgebung und einer friedenspädagogischen Betrachtung der Schularchitektur. Friedensbildung und eine Kultur des Friedens werden durch Vernetzung und Austausch gefördert. Genau hier setzt das Pilotprojekt »Modellschulen Friedensbildung« an. Von Ende 2019 bis Ende 2021 arbeitet die Servicestelle orientiert an den Grundlagen der Friedensbildung (siehe Grafik) sehr individuell mit fünf Schulen (zwei Gymnasien, zwei Gemeinschaftsschulen und einem Berufsschulzentrum) zusammen.

Wenn es gelingt, die Selbstwirksamkeit vieler am Schulleben Beteiligter in ihrem Beitrag zu einer Kultur des Friedens an ihrem Lern- und Lehrort zu stärken, dann ist ein wesentliches Ziel von Friedensbildung und des Pilotprojekts erreicht. Schon jetzt zeichnen sich erste Erkenntnisse ab:

  • Die systematische, ganzheitliche Stärkung von Friedensbildung im Schulsystem ist herausfordernd und erfordert von Anfang an die konfliktsensible Einbeziehung möglichst aller am Schulleben Beteiligter, von Schulleitung über Lehrkräftekollegium, Schulsozialarbeit, Schüler*innen bis hin zu den Eltern. Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen Formen direkter, struktureller und kultureller Gewalt am Lernort Schule im Sinne des angestrebten Prinzips der Gewaltfreiheit.
  • Es muss eine Übereinkunft geben, prinzipiell an einer Kultur des Friedens mitwirken zu wollen. Hierfür bieten sich bestehende Gremien wie die Gesamtlehrerkonferenz, die Schulkonferenz und auch die Schülermitverantwortung an. Es erscheint sinnvoll, auch explizite Gremien und Teams für Friedensbildung an der Schule ins Leben zu rufen.
  • Außerdem ist die Entwicklung eines »Spiralcurriculums« für Friedensbildung erstrebenswert. Dies bedeutet, Inhalte der Friedensbildung sollten von der ersten bis zur letzten Klasse in Form einer Spirale, also wiederkehrend, aufeinander aufbauend und dem Lernniveau angepasst im Fachunterricht und darüber hinaus unterrichtet werden.
  • Die Vernetzung der Modellschulen spielt eine große Rolle und hat sich als wichtiger Gelingensfaktor herausgestellt. Bewusst wurden jeweils möglichst zwei Schulen derselben Schulart ausgewählt, um den Austausch untereinander zu erleichtern, da sie ähnliche Fragen und Herausforderungen umtreiben.
  • Pilotprojekte benötigen zur Verstetigung nicht zuletzt die Anerkennung durch Akteur*innen auch im erweiterten Schulsystem und in der Bildungspolitik.

Ausblick und offene Fragen

Die Einrichtung der Servicestelle Friedensbildung in Baden-Württemberg ist ein erster, wichtiger Schritt, um Friedensbildung in einem Bundesland ganzheitlich zu denken und umzusetzen. Aus den gesellschaftlichen Entwicklungen und den Praxiserfahrungen ergeben sich laufend neue Fragen und Aufgaben. Es sollen hier nur einige wenige genannt werden:

1. Frieden lernen: Wie kann Friedensbildung ihrem ganzheitlichen Lernverständnis auch im digitalen Raum gerecht werden? Wie lässt sich bereits vorhandenes (Friedens-)Engagement von Schüler*innen nachhaltig unterstützen? Wie können aktuelle Herausforderungen von Klimawandel bis Alltagsrassismus aus der Sicht der Friedensbildung bearbeitet werden? Es ist ermutigend, dass sich Schüler*innen auch in den aufgrund der Corona-Pandemie online abgehaltenen Workshops auf Inhalte der Friedensbildung eingelassen haben. Ob dies zu nachhaltigen Effekten führen kann, ist offen.

2. Frieden lehren: Wie lassen sich die Bedarfe von Lehrkräften erheben und damit besser erfüllen? Wie können fächerspezifische Angebote v.a. im Bereich der naturwissenschaftlichen Fächer aussehen?

3. Frieden verankern: Wie kann eine gewalt- und konfliktsensible strukturelle Stärkung von Friedensbildung am Lernort Schule vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller, zeitlicher und personeller Ressourcen aller Beteiligten gelingen? Welchen Beitrag kann ein agiles und lernendes Netzwerk von »Schulen für Friedensbildung« dabei leisten?

Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen erfordert kontinuierliche Arbeit und weitere Vernetzung mit schulischen Akteur*innen, sowie den systematischen Auf- und Ausbau einer Infrastruktur für Friedensbildung. Denn nur so lässt sich Frieden am Lernort Schule dauerhaft verankern.

Literatur

Berner, L.; Fleischer, F. (2018): Erziehung zur Friedensliebe – Ansätze oder umgesetztes Ziel? Bestandsaufnahme und Perspektiven der gymnasialen Bildungspläne 2016 des Landes Baden-Württemberg. In: Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, T. (Hrsg): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 207-264.

Berner, L. (2020): Schulen als Lernorte für den Frieden? Theoretisch-konzeptionelle Grundlagen für Friedensbildung im Lernort Schule und deren Bedeutung für Modellschulen Friedensbildung. Tübingen: Unveröffentlichte Masterarbeit.

Calmbach, M. et al. (2020): SINUS-Jugendstudie 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Bonn: bpb.

Frieters-Reermann, N. (2015): Friedenspädagogik als Teil gewaltsensibler Bildung – oder umgekehrt? Denkanstöße aus der konfliktsensiblen Entwicklungszusammenarbeit. In: Frieters-Reermann, N.; Lang-Wojtasik, G. (Hrsg.): Friedenspädagogik und Gewaltfreiheit: Denkanstöße für eine differenzsensible Kommunikations- und Konfliktkultur. Opladen u.a.: Barbara Budrich, S. 209–224.

Jäger, U. (2014): Friedenspädagogik und Konflikttransformation. Online Berghof Handbook for Conflict Transformation. Berlin.

Jäger, U. (2018): Friedensbildung 2020: Grundzüge für eine zeitgemäße „Erziehung zur Friedensliebe“ an Schulen. In: Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, T. (Hrsg): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 325-343.

Servicestelle Friedensbildung (o.J.): Ausstellung „Frieden machen – gelungene Beispiele aus aller Welt“. Ein Peace Counts Projekt. URL: friedensbildung-bw.de

Claudia Möller (M.A.) arbeitet als Abteilungsleiterin »Haus auf der Alb« Bad Urach und Fachreferentin für »Nachhaltigkeit« bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Bis April 2021 war sie Leiterin der Servicestelle Friedensbildung.
Larissa Berner (B.A.) arbeitet als Fachreferentin für die Servicestelle Friedensbildung bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
Anne Kruck (M.A.) arbeitet als Advisor für Peace Education Approaches bei der Berghof Foundation Operations gGmbH.
Janna Articus (M.A.) arbeitet als Junior Project Manager bei der Berghof Foundation Operations gGmbH für die Servicestelle Friedensbildung.

Gelingende Friedenslehre – Nordmazedonien

Das »Nansen Dialogue Centre« Skopje (NDC)

Das NDC engagiert sich seit seiner Gründung im Jahr 2000 im Bereich der interkulturellen (Friedens-)Bildung in Nordmazedonien. Die Gründung erfolgte als Reaktion auf den Krieg in Nordmazedonien. Das NDC ist Teil des Netzwerks von Nansen-Zentren auf dem Balkan. Die Arbeit des Zentrums ist von der Vision einer Gesellschaft geleitet, in der alle den gleichen Zugang zu Bildung haben – einer Bildung, die auf Interkulturalität, interethnischer Integration und Zusammenhalt basiert. Der Fokus der Bildungsprogramme liegt in der Förderung des Dialogs bei Konfliktprävention, Versöhnungsarbeit und Friedensbildung.

In den Gründungsjahren konzentrierte sich das NDC auf die Stärkung der Zusammenarbeit in der Region durch Programme und Foren für Journalist*innen, junge Führungskräfte und Politiker*innen. Die Aktivitäten wurden von der lokalen Bevölkerung stark unterstützt, dadurch konnten 2008 und 2010 die ersten integrierten zweisprachigen Schulen des Landes eingerichtet werden – als Gegenmodell zum segregierten Schulsystem des restlichen Landes. In der Grundschulausbildung wird Kindern aus verschiedenen ethnischen Gemeinschaften ein Umfeld geboten, in dem sie selbst erleben, dass Sprache, Kultur, Tradition, Glaube u.a. Bestandteile der Einheit und nicht der Trennung sind.

Das NDC hat in der Folge das Nansen-Modell für interkulturelle Bildung in Nordmazedonien eingeführt, das mittlerweile in mehr als 30 Grund- und ­Sekundarschulen angewendet wird. Zudem wirkte das NDC an viele strategischen Dokumenten mit, so z. B. dem Konzept für interkulturelle Bildung, das 2016 zur institutionellen Verankerung dem Bildungsministerium übergeben wurde. 2012 gründete das NDC Skopje in Zusammenarbeit mit dem nordmazedonischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft das erste Trainingszentrum für interkulturelle Bildung. Dieses bietet theoretische und praktische Schulungen für interkulturelle Bildung zur persönlichen und beruflichen Entwicklung des Bildungspersonals im Land und in der Region.

Mehr Informationen: ndc.org.mk

Friedenspädagogik in Transformation

Friedenspädagogik in Transformation

Potentiale eines vielfältigen Feldes

von Annalena Groppe und Melanie Hussak

Zunehmend beachtete de- und postkoloniale, transformative und elicitive/transrationale Perspektiven verstehen die Vielfalt der Friedenspädagogik als Potential, fordern allerdings machtkritische, systemische und ganzheitlich-subjektive Reflexionen des jeweiligen Kontexts und der Position der Bildungsakteur*innen darin. Der Beitrag gibt hierfür einen Einblick in das Feld der Friedenspädagogik und thematisiert zentrale Herausforderungen der Praxisvielfalt sowie das Problem inhärenter Reproduktion von Gewalt.

Friedenspädagogik komprimiert zu beschreiben und ebenso der Breite der Disziplin gerecht zu werden ist eine Herausforderung, erlebt dieses Feld doch gegenwärtig vielfältige Transformationen: So existiert ein Nebeneinander unterschiedlicher, teils miteinander in Konflikt stehender, theoretischer Grundlegungen in einer vielfältigen und dynamischen Praxis, die aber wenig empirisch erforscht oder wissenschaftlich begleitet wird (Frieters-Reermann 2009, S. 61ff.). Neue Forschungen der Humanwissenschaften weisen zudem auf die inhärente Gefahr der Reproduktion von epistemischer und ontologischer Gewalt1 in Bildungskontexten hin und fordern zu einer Problematisierung dieser Risiken auf, denn „Friedenspädagogik kann Teil des Problems werden, das sie zu lösen versucht“ (Zembylas und Bekerman 2013, S. 198).

Auch wir Autor*innen verstehen uns innerhalb dieses Spannungsfeldes und sind in unserer Perspektive vor allem in der deutschsprachigen, akademischen Friedenspädagogik verortet. Die Ausein­andersetzung mit internationalen und interdisziplinären Diskursen sowie die eigene Praxiserfahrung bereichern uns und sollen uns dabei unterstützen, blinden Flecken in unserem pädagogischen Denken und Handeln, das auch auf unserer privilegierten Position als weiße, europäische Forschende beruht, durch beständigen Austausch selbst-reflexiv zu begegnen.

Dieser Perspektive entsprechend gehen wir von einem Verständnis von Hilary Cremin und Kevin Kester aus, nach welchem Friedenspädagogik auf die „Transformation von Inhalten, Form und Strukturen von Bildung [fokussiert], um direkte strukturelle und kulturelle Formen von Gewalt zu begegnen“ (Kester und Cremin 2017, S. 1416), und diskutieren aktuelle Spannungsfelder und Transformationen friedenspädagogischer Ansätze. Wir fragen uns:

  • Wie können vielfältige theoretische Perspektiven bei der Begleitung von Lernprozessen zur Transformation von Konflikten und der Entfaltung von Friedenspotentialen unterstützen?
  • Wie antworten die Ansätze auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen?
  • Wie können Friedenspädagog*innen Formen von system-inhärenter Gewalt und insbesondere der Reproduktion kolonialer Denkweisen begegnen?

Begriffe, Grundannahmen und Denklinien

Die umfassende Praxis, die oftmals als »Friedenserziehung« bezeichnet wird, ebenso wie die »Friedensbildung«, welche begrifflich vor allem den schulischen Bereich umfasst, ist im deutschsprachigen Raum im Vergleich zur theoretisch-reflektierenden »Friedenspädagogik« strukturell und inhaltlich stärker entwickelt (Frieters-Reermann 2009, S. 66). In unserem Beitrag widmen wir uns deswegen vordergründig den friedenspädagogischen Perspektiven.

Dabei ist das Praxis-Feld sehr vielfältig: Insbesondere durch die Integration struktureller Gewalt als zentralem Gegenstand sind weitreichende Abgrenzungsschwierigkeiten zu benachbarten Disziplinen entstanden, wie der politischen Bildung, dem Globalen Lernen oder der Menschenrechtsbildung (Hussak und Werthes 2018). Der Friedenskreis Halle e.V. fasst etwa sowohl Anti-Bias Trainings und Workshops zu Fairem Handel, als auch Weiterbildungen zur Konfliktbearbeitung als Teil von Friedensbildung (Starke und Groppe 2019).

Trotz Diversität lassen sich als Zielsetzungen (a) die Sensibilisierung gegenüber (jeder) Gewalt, (b) das Kennenlernen und Entwickeln von Friedensvorstellungen und -potentialen sowie (c) die Befähigung zur Transformation von Konflikten benennen. Die gemeinsame didaktische Grundhaltung von Friedenserziehung ist die Verbindung von Wissen, Fähigkeiten und Handlungskompetenzen. Diese werden im deutschsprachigen Raum als »Friedenskompetenz«, »Friedensfähigkeit« und »Friedenshandeln« konzeptualisiert (Gugel 2008, S. 65).

Die Vielfalt an Ansätzen und Konzepten basiert nicht nur auf unterschiedlichen Gewalt- und Friedensverständnissen (z. B. »Frieden als Sicherheit« oder »Frieden als Gerechtigkeit«), sondern auch auf unterschiedlichen Vorstellungen davon, auf welcher Interventionsebene (Mikro, Meso oder Makro) Friedensbildungsprojekte Veränderungen erreichen wollen (Salomon 2002, S. 5). Daraus entstehen voneinander abweichende Vorstellungen von friedens­pädagogischen Prozessen und damit divergierende Friedensstrategien. Dies spiegelt sich auch in typologischen Denklinien aus unterschiedlichen sozio-politischen Entstehungskontexten wie der »Kritischen Friedenspädagogik« (vgl. Wulf 1982), die sich etwa von individualorientierten Denklinien abgrenzt und der »Pädagogik in Begegnung mit dem Anderen« (vgl. Wintersteiner 2000; vgl. auch Jäger, S. 10 in diesem Heft).

Mit letzterer gewinnt auch die Reflexion von Macht und der jeweiligen Sprecher*innen-Position in der Friedenspädagogik verstärkt an Bedeutung.

Potentiale und Herausforderungen für eine Friedenspädagogik im Wandel

Die benannten Divergenzen und Herausforderungen für eine reflektierte und kontextspezifische Friedenspädagogik können durch einen verstärkten Austausch a) im internationalen Diskurs, b) mit Nachbardisziplinen und c) zwischen Wissenschaft und Praxis bearbeitet werden. Einen ersten Schritt in diese Richtung wollen wir durch das exemplarische Aufzeigen von drei neu gedachten oder wiederentdeckten theoretisch-konzeptionellen Perspektiven leisten und einen reflexiven Umgang mit Pluralität anbieten. Anhand von Praxisbeispielen wird ihre Relevanz für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen deutlich.

Perspektive des Transformativen Lernens

Friedenspädagogik nimmt aktuell Ansätze des »Transformativen Lernens« auf, insbesondere mit Blick auf ökologische Krisen. Diese werden mit strukturellen und kulturellen Gewaltformen des vorherrschenden, neoliberal geprägten Weltwirtschaftssystems ursächlich in Verbindung gebracht. In der Praxis wird dies etwa vom »Konzeptwerk Neue Ökonomie« durch die Verbindung von sozial-ökonomischer Kritik mit Bewegungen wie Post-Wachstum oder der Anerkennung von Sorgearbeit umgesetzt2.

Transformatives Lernen begreift
„Bildung als einen Prozess der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses angesichts der Konfrontation mit neuen Problemlagen“ (Koller 2018, S. 17). Die Erfahrung der Endlichkeit »natürlicher Ressourcen« fordert etwa heraus, die Umwelt nicht mehr als Objekt, sondern als Partner*in zu betrachten (Brantmeier 2013). Daneben werden alternative Perspektiven ganzheitlich erfahrbar gemacht, z. B. durch eine Didaktik der Partizipation, Entschleunigung und Prozessorientierung. Dadurch kann kontextübergreifender und dauerhafter Wandel ermöglicht werden (Hoggan 2018). Im deutschsprachigen Raum wird dies mit machtkritischer Bildung (s.u. Postkolonialität) verbunden, indem die eigenen Privilegien zum zentralen Gegenstand werden (Lingenfelder 2020).

Machtkritische, post- und dekoloniale Perspektiven

»Perspektiven der feministischen Forschung, Gender- und Rassismusforschung« kritisieren gesellschaftspolitische Herrschaftsverhältnisse und fokussieren etwa auf systemimmanente (Ohn-)Machtverhältnisse wie Ungleichheit, gesellschaftliche Einteilung in Zugehörigkeiten oder Ausschluss. Konstituiert werden die diskriminierenden Zuschreibungen durch das sogenannte »Othering«, durch das Menschen von der Dominanzgesellschaft erst
„zum ‚Anderen‘ gemacht“ werden (Thattamannil-Klug 2015, im Titel). Das bedeutet, Praktiken des »Othering« grenzen Personen und Gruppen durch negative, »norm­abweichende« Zuschreibungen aus. Gleichzeitig dient die Ausgrenzung der Erzeugung der eigenen, zuweilen überhöhten, (Gruppen-)Identität.

Darauf antwortende ­machtkritische Ansätze der Friedenspädagogik wurden jüngst anhand des Begriffs der Intersektionalität3 auf einer Fachtagung4 des Norddeutschen Netzwerks Friedenspädagogik thematisiert. Methoden wie Theater der Unterdrückten, Anti-Bias-­Trainings oder auch Empowerment-­Konzepte für und von Personen mit Diskriminierungserfahrungen werden vielfach aus der anti-rassistischen Bildung übernommen. Zudem können extern begleitete Organisationsentwicklungsprozesse Friedensbildungsinitiativen dabei unterstützen, eigene diskriminierende Strukturen abzubauen.

»Post- und dekoloniale Perspektiven« sind eng mit machtkritischen Ansätzen verbunden. Auch sie setzen sich mit den Praktiken des »Othering« auseinander, etwa mit dem vorherrschenden, westlich geprägten Wissen der Friedenspädagogik und der ihm zugrunde liegenden Arten der Wissensproduktion. Sie verweisen auf die darin enthaltene epistemische Gewalt, die wirkt, indem bestehende dominante, eurozentrische Wissen­(schafts-)formen davon abweichendes Wissen marginalisieren. Dies führt in eine andauernde Kolonialität: Die während der Kolonialzeit hervorgebrachten gewaltsamen Denkmuster, Strukturen und Prozesse reproduzieren sich beständig in Form eines hegemo­nialen westlichen Systems.

Dies zeigt sich auch und besonders in Bildung und Wissenschaft (Mignolo und Walsh 2018), zum Beispiel durch die Unterrepräsentanz von indigenen und nicht-westlichen Friedenspädagog*innen sowie ihrer Marginalisierung in diskursprägenden Journals und Curricula (Kurian und Kester 2019). Daher betonen Kevin Kester und Hilary Cremin (2017, S. 16) die Notwendigkeit einer Metareflexion darüber, wie Friedenspädagogik in das hegemoniale System der Kolonialität eingebettet ist und dieses reproduziert. Hinzu kommt die ontologische Gewalt, die beschreibt, wie Menschen die Welt grundlegend anders erleben, als dominierende Bildungssysteme dies abbilden. Darauf antwortende Konzepte von Lernen basieren auf der Annahme einer Interdependenz zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Welten (Zembylas 2017, S. 1411ff.). Dies drückt sich zum Beispiel in der hohen Bedeutung von Land und heiligen Plätzen im Lernen vieler indigener Gemeinschaften aus.

Auch Sandy Grande, eine von vielen BIPoC5-Stimmen, die der Friedenpädagogik wichtige Denkanstöße geben, versteht Pädagogik als „Bewusstsein und eine Art, in der Welt zu sein und sie zu lesen (2010, S. 204). Ihre »Red Pedagogy«, eine Pädagogik der Dekolonialisierung, basiert auf indigenem Wissen, Praktiken und Elementen wie Ortsbezogenheit, Relationalität und Spiritualität. Grande sieht Anschlussmöglichkeiten an die kritische Pädagogik zur Überbrückung von Wissenswelten durch eine Neugestaltung von Wissen für das pädagogische Feld. Dies beinhaltet eine grundlegende Veränderung dominanter Wissensstrukturen und Machtbeziehungen, z. B. durch einen souveränen Raum der Begegnung, der frei von imperialistischer, kolonialistischer und kapitalistischer Ausbeutung ist (Grande 2010, S. 204).

Elicitive und Transrationale Perspektiven

Die »Transrationale Friedensphilosophie«, entwickelt von Wolfgang Dietrich, beschreibt Frieden im Plural, als subjektiv und dynamisch (Dietrich 2008). Eine darauf aufbauende »Elicitive Friedenspädagogik« stellt das Selbst der Lernenden mit ihren Friedens- und Gewalterfahrungen in den Mittelpunkt. Gleichzeitig werden diese als relational verwoben mit der Gruppe und der auch spirituell konzeptionierten Umwelt verstanden. Diese »Transpersonalität« zu erfahren, ist zentrale Lernressource.

Ein solch transrationaler oder elicitiver Ansatz wird methodisch beispielsweise in Gabrielle Roths »5Rhythms« (1998) umgesetzt. Begleitet von zyklisch wechselnder Musik werden dabei, in Form von freier und achtsamer Bewegung in einer Gruppe, jeweils subjektiv bedeutsame Konfliktphasen körperlich, emotional und spirituell erfahren. Die Methode ermutigt zur Erprobung neuer Bewegungsräume, die Bedeutung für transformative Schritte außerhalb des Lernraums haben können.

Die transrationale Perspektive wird jüngst (erneut) gekreuzt von machtkritischen Perspektiven. Jennifer Murphy schlägt einen »Sowohl als auch«-Ansatz vor, der anerkennend die kritisch-intersektionale Position des anderen hört, Resonanz mit der eigenen Perspektive zulässt und dabei eine Reflexion der Machtverhältnisse ergänzt (z. B. in Form des Aktiven Zuhörens). Die Grundhaltung der transpersonalen Verbundenheit auf Basis der emotionalen, körperlichen und spirituellen Erfahrung ermöglicht, ein Bewusstsein über diskriminierende Strukturen zu schaffen, ohne dabei binäre Oppositionen zwischen Personen oder Gruppen zu reproduzieren (Murphy 2018).

Dies kann in polarisierenden Konflikten hilfreich sein, in denen zunehmend Grundpfeiler der Demokratie selbst zum Gegenstand werden und in denen Menschen nicht (mehr) miteinander ins Gespräch kommen (wollen) (vgl. ­Groppe 2021). Diese Perspektive ermöglicht Kritik an autoritärer Ideologie, Selbstreflexion von Positionalität ebenso wie ein Methodenrepertoire zur Bearbeitung von starken Emotionen wie Wut und Angst auch in ihrer Verwobenheit mit kollektiven Wissensbeständen (z. B. Verdrängung von Täter*innenschaft).

Nicht zuletzt sind diese polarisierenden Konflikte auch geprägt von neuen Kommunikationsformen über Soziale Medien. Während einer ganzheitlichen Begegnung im digitalen Raum enge Grenzen gesetzt sind, liegen auch Potentiale z. B. in Kontakten über große Distanzen hinweg (vgl. Groppe 2020). In der Praxis gibt es dazu auch erste wissenschaftlich begleitete Projekte, so z. B. #vrschwrng der Berghof Foundation, wo junge Menschen partizipativ Bildungsbausteine zu Verschwörungstheorien für den Einsatz in Sozialen Medien entwickeln.

Fazit

Zu Beginn haben wir auf die Vielfalt des Feldes wie auch auf das Potential einer gegenwärtig stattfindenden und notwendigen Transformation hingewiesen. Diese ergibt sich zum einen aufgrund »äußerer« gesellschaftlicher Entwicklungen und Krisenerfahrungen (wie Konflikte um Demokratie, den Klimawandel), in denen Friedenspädagogik mit ihrem breiten Theorie- und Methodenrepertoire relevante Beiträge leisten kann.

Zum anderen zeigen sich Entwicklungen einer »inneren« und »selbstreflexiven« Neugestaltung. Die skizzierten machtkritischen, de- und postkolonialen Perspektiven eröffnen eine »Rekonzeption« des Feldes durch Ansätze des Lernens abseits gewohnter Epistemologien und Ontologien. In ihrer Kritik an (system-)immanenten kolonialen und diskriminierenden Denkweisen fordern sie Bildungsakteur*innen zu einer beständigen Reflexion der eigenen Machtpositionierung und damit verbundener blinder Flecken auf. Im Transformativen Lernen steht das Potential systemischen Ver- und Neulernens des eigenen Selbst-Welt-Verhältnisses im Mittelpunkt. Schließlich betonen elicitive/transrationale Perspektiven die Bedeutung von Transpersonalität und Erfahrungswissen. Der inhärenten Gewalt-Reproduktion wird von allen drei Perspektiven durch einen Blick auf das eigene darin verwobene Selbst begegnet – sowohl auf die Person als auch auf die institutionalisierte Disziplin.

Die dargelegte Vielfalt der Friedens­pädagogik kann somit als Potential verstanden werden, um die eigene Bildungspraxis auf einer kontextspezifisch anschlussfähigen theoretischen Grundlage aufzubauen: In manchen Situationen kann beispielsweise eine eher individuell orientierte Streitschlichtungs-Ausbildung transformativ wirken, in anderen der begleitete anti-rassistische Organisationsentwicklungsprozess. Ein kontinuierlicher Wissenschaft-Praxis-Dialog sowie der (internationale) Austausch mit Nachbardisziplinen erscheint als bedeutsamer Reflexionsraum für eine Friedenspädagogik in Zeiten innerdisziplinärer und gesellschaftlicher Transformation.

Anmerkungen

1) Unter epistemischer Gewalt wird dominantes und normalisiertes Wissen verstanden, das davon abweichende, andere Erkenntnisformen delegitimiert und auch von der Wissenschaft selbst ausgeht. Ontologien konzeptualisieren, wie die Welt gemacht und geschaffen ist; ontologische Gewalt beschreibt dementsprechend die gewaltvolle Unterdrückung einer Weltsicht durch eine dominierende andere.

2) Siehe: konzeptwerk-neue-oekonomie.org

3) Intersektionalität beschreibt das Zusammenwirken unterschiedlicher Dimensionen von Ungleichheit, Differenz und Herrschaft.

4) »Zusammen. Gerecht. Handeln. Intersektionalität beleuchten – Friedensbildung weiter denken« (25. bis 26. Februar 2021)

5) BIPoC, kurz für ‚Black Indigenous and People of Colour‘ ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung, die nicht als weiß und westlich wahrgenommen werden und die explizit auch indigene Menschen mit einbezieht.

Literatur

Brantmeier, E. J. (2013): Toward a critical peace education for sustainability. In: Journal of Peace Education 10(3), S. 242–258.

Dietrich, W. (2008): Variationen über die vielen Frieden. Band 1: Deutungen. Wiesbaden: VS Verlag.

Frieters-Reermann, N. (2009): Frieden lernen: Friedens- und Konfliktpädagogik aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive. Duisburg: Wiku-Wissenschaftverlag.

Grande, S. (2010): Chapter 21: Red Pedagogy. In: Counterpoints 356, S. 199–207.

Groppe, A. (2020): Verbunden in Quarantäne? Neue Formen transpersonalen Lernens in der COVID-19-Pandemie. Friedensakademie-blog.eu, 25.04.2020.

Groppe, A. (2021): Peace education in polarizing conflicts over democracy. The example of „Corona Protests“ in Germany. In: Dany, Ch.; Groppe, A. (Hrsg.): Peace and the pandemic. International perspectives on social polarization and cohesion in times of COVID-19. Landau, S. 6-15.

Gugel, G. (2008): Was ist Friedenserziehung? In: Grasse, R.; Gruber B. und Gugel, G. (Hrsg.): Friedenspädagogik: Grundlagen, Praxisansätze, Perspektive. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, S. 61-82.

Hoggan, C. (2018): Exercising clarity with transformative learning teory. In: Milana, M. et al. (Hrsg.): The Palgrave international handbook on adult and lifelong education and learning. London: Palgrave Macmillan, S. 35-52.

Hussak, M.; Werthes, S. (2018): Herausforderung Menschenrechtsbildung: Impulse aus der Friedenspädagogik. In: Bahr, M.; Reichmann, B.; Schowalter, C. (Hrsg.): Menschenrechtsbildung. Handreichung für Schule und Unterricht. Ostfildern: Grünewald, S. 336-348.

Kester, K.; Cremin, H. (2017): Peace education and peace education research: Toward a concept of poststructural violence and second-order reflexivity. In: Educational Philosophy & Theory 49(14), S. 1415–1427.

Koller, H.-C. (2018): Bildung anders denken: Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

Kurian, N.; Kester, K. (2019): Southern voices in peace education: interrogating race, marginalisation and cultural violence in the field. In: Journal of Peace Education 16(1), S. 21–48.

Lingenfelder, J. (2020): Transformatives Lernen: Buzzword oder theoretisches Konzept? In: Eis, A. et al. (Hrsg.): Bildung Macht Zukunft. Lernen für die sozial-ökologische Transformation? Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag, S. 25-36.

Mignolo, W.; Walsh, C. E. (2018): On decoloniality: concepts, analytics, praxis. Durham: Duke University Press.

Murphy, J. M. (2018): Elephant watering (w)hole: Transrational learning spaces. In: Echavarría Alvarez, J.; Ingruber, D. und Koppensteiner, N. (Hrsg.): Transrational resonances: Echoes to the many peaces. Cham: Springer, S. 263-286.

Roth, G. (1998): Maps to ecstasy: The healing power of movement. New World Library.

Salomon, G. (2002): The nature of peace education: Not all programs are created equal. In: Salomon, G.; Baruch, N. (Hrsg.): Peace education: The concepts, principles and practices around the world. Mahwah, N.J: Lawrence Erlbaum, S. 3-13.

Starke, C.; Groppe, A. (2019): Frieden fühlen?! Wie Emotionen in der Friedensbildung global-politische Bedeutung haben. In: Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung 2, S. 40–45.

Thattamannil-Klug, A. (2015): Othering – zu »Anderen« gemacht. In: ZeFKo 4(1), S. 147–161.

Wintersteiner, W. (2000). Pädagogik des Anderen: Bausteine für eine Friedenspädagogik in der Postmoderne. Münster: Agenda-Verl.

Wulf, C. (Hrsg.) (1982): Kritische Friedenserziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Zembylas, M.; Bekerman, Z. (2013): Peace education in the present: dismantling and reconstructing some fundamental theoretical premises. In: Journal of Peace Education 10(2), S. 197–214.

Zembylas, M. (2017): The contribution of the ontological turn in education: Some methodological and political implications. In: Educational Philosophy and Theory 49(14), S. 1401–1414.

Annalena Groppe und Melanie Hussak sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz an der Universität Koblenz Landau und dort im Bereich der Friedenspädagogik tätig. Melanie Hussak promoviert zu Friedensprozessen indigener Gemeinschaften. Sie ist Redaktionsmitglied von Wissenschaft & Frieden. Annalena Groppe verfolgt in ihrem Promotionsprojekt Potentiale der Friedenspädagogik in polarisierenden Konflikten um Demokratie. Besonders interessieren sie dabei elicitve/transrationale Perspektiven.

Lernschritte Richtung Frieden

Lernschritte Richtung Frieden

Zur Entwicklung der Friedenspädagogik in der BRD

von Uli Jäger

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten sich den an einer Friedenspädagogik interessierten Pädagog*innen Fragen nach der Aufarbeitung der Verantwortung für Krieg und Holocaust und Möglichkeiten der Versöhnung. Seitdem hat sich schrittweise in Theorie und Praxis eine vielfältige Landschaft zeitgemäßer pädagogischer Ansätze entwickelt, die mit den Begriffen Friedenserziehung, Friedenspädagogik, Friedensbildung und Friedenslehre umschrieben werden. Der folgende Beitrag zeichnet Etappen und Erfahrungen der letzten 70 Jahre nach und macht Linien in die heutige Zeit sichtbar.

Im Einführungstext zum Themenschwerpunkt »Friedenspädagogik« der Zeitschrift »Psychosozial« aus dem Jahr 1985 steht:
„Wir wissen, daß unsere Zukunft davon abhängt, daß die Erziehung zum Frieden gelingt“ (Ebd., S. 5). Man muss es nicht so dramatisch sehen, aber die unterstützende Rolle der Friedenspädagogik auf dem Weg in eine friedlichere Zukunft ist unbestritten. Schließlich geht es um die Aneignung von Werten und Wissen und um die Entwicklung von Einstellungen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen, damit Gewalt reduziert, Konfliktpotenzial konstruktiv bearbeitet und Frieden gefördert werden kann (vgl. Jäger 2019). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich schrittweise in Theorie und Praxis eine vielfältige Landschaft zeitgemäßer pädagogischer Ansätze entwickelt, die mit den Begriffen Friedenserziehung, Friedenspädagogik, Friedensbildung und Friedenslehre umschrieben werden. Der folgende Beitrag zeichnet Etappen und Erfahrungen nach und macht Linien in die heutige Zeit sichtbar.

Re-education und Orientierungsphase

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellten sich den an einer Friedenserziehung interessierten Pädagog*innen an erster Stelle Fragen nach einer Aufarbeitung der Verantwortung für Krieg und Holocaust und den Möglichkeiten der Versöhnung. Hinzu kam, dass sich das geteilte Deutschland rasch im Brennpunkt der Weltpolitik als Schauplatz des Kalten Krieges und der (atomaren) Aufrüstung befand. Schließlich trafen in Deutschland Feindbilder zwischen Ost und West besonders heftig aufeinander. Nicht nur die Entwicklung der von Theodor Adorno geforderten
„Erziehung zur Mündigkeit“ hatte es schwer, sondern auch die Friedenserziehung. Eine Phase der »Re-education« im Sinne einer systematisch konzipierten, die gewaltsame Vergangenheit aufarbeitenden Erziehung zum Frieden und zur internationalen Völkerverständigung hat es denn auch nicht gegeben. Der Pädagoge Hermann Röhrs wies später als Begründung auf den beginnenden Kalten Krieg hin, weil
„mit der wachsenden Skepsis der Alliierten gegenüber den Russen auch die Vorbehalte hinsichtlich der Friedenserziehung und internationalen Verständigung zunahmen“ (Röhrs 1983, S. 53).

Gleichzeitig wurde angesichts mangelnder Konzeptionen aber auch Geduld angemahnt. Für in der Bildung tätige Menschen, die sich um die schwere Aufgabe der ‚Friedenspädagogik‘“ bemühen wollen, sei
„es notwendig zu sagen, daß es im Augenblick vielleicht nur darum gehen kann, vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, um Zeit und Raum für den eigentlichen Aufbau einer ‚Erziehung zum Frieden‘ zu gewinnen“ (Roth 1967, S. 95). Dieser Aufbau vollzog sich als Orientierungsphase schritt- und facettenreich in Theorie und Praxis. Die Bandbreite der anstehenden Themen wurde schon in den ersten beiden Publikationen des 1976 gegründeten »Vereins für Friedenspädagogik« (Tübingen) deutlich. Heft 1 der 1978 erschienen »Materialien für die schulische und außerschulische politische Bildung« widmete sich der Auseinandersetzung mit der sicherheitspolitisch relevanten Problematik der Neutronenwaffen, Heft 2 der innergesellschaftlichen Suche nach einem am Leitwert Frieden orientierten Gedenken an »40 Jahre ‘Reichskristallnacht’«.

Friedensforschung und Kritische Friedenserziehung

Ab Mitte der 1970er Jahre lässt sich eine Intensivierung der friedenspädagogisch orientierten Theoriediskussionen feststellen, beginnend mit dem Band »Kritische Friedenserziehung« (vgl. Wulf 1973). Wesentliche Impulse kamen aus der neuen Disziplin der Friedensforschung, wobei die Relevanz von Johan Galtungs Friedens- und Gewaltdefinitionen für Friedenspädagogik (wissenschaftlich konzeptionell orientiert) und Friedenserziehung (praxeologisch orientiert) ausführlich diskutiert wurden. In einer beachtlichen Anzahl von Publikationen wurde in den 1980er und -90er Jahren das Spektrum der Friedenspädagogik entfaltet und konstruktiv diskutiert (vgl. die Sammelbände Calließ und Lob 1988; Buddrus und Schnaitmann 1991) und dabei auch nicht mit Kritik an einer zu individualistisch orientierten Ausrichtung gespart (vgl. Bernhard 1988). Hans Nicklas und Änne Ostermann, die an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung forschten, schrieben dazu:
„Friedens­er­ziehung, die den einzelnen Menschen Friedlichkeit, weltbürgerliche Gesinnung und rationales Konfliktverhalten anempfiehlt, ist sicher gut gemeint, aber naiv. […] Friedenserziehung kann also nicht heißen: Erziehung zur Friedlichkeit, sondern zu der Fähigkeit, Frieden durch kollektives Handeln herzustellen und zu erhalten“ (Nicklas und Ostermann 1988, S. 148).

Friedensbewegung und Massenlernprozesse

Dafür war die Friedensbewegung der 1980er Jahre ein geeignetes ­Handlungs- und Lernfeld (vgl. van Dick 1984). Abgesehen vom persönlichen Engagement in der Bewegung ging es um die professionelle Unterstützung der Auseinandersetzung mit inhaltlichen und methodischen Themenstellungen. Als Ergebnisse erschienen auf publizistischer Ebene zahlreiche didaktische Materia­lien, die den Anspruch vertraten, sicherheits- und friedenspolitisch relevante Themen (z. B. Herrschende Sicherheitspolitik und Rolle der Bundeswehr, alternative Sicherheitskonzepte und Soziale Verteidigung) so aufzubereiten, dass neben der angemessenen Reduktion von Komplexität auch die Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen in allen denkbaren Erziehungs- und Bildungsfeldern, aber auch innerhalb der Friedensbewegung berücksichtigt wurden.

Zu diesem Zusammenspiel von Friedensforschung und Friedenspädagogik gehörte auch die von Mitte der 1970er Jahre bis in die 1990er Jahre veröffentlichte Publikationsreihe »Friedensanalysen«, als deren Zielsetzung die
Vermittlung von Friedensforschung und Friedenspolitik bzw. -erziehung“ genannt wurde, und das von 1989 bis 1998 jährlich im Verlag C.H. Beck erschienene »Jahrbuch Frieden«. Durch die Einbeziehung des formalen wie non-formalen Bildungsbereiches – und einem daraus resultierenden Multiplikator*inneneffekt – leistete die Friedenspädagogik einen Beitrag zu einer breiten »Alphabetisierung« der Öffentlichkeit in Sachen Sicherheits- und Friedenspolitik.

Die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der Gewaltfreiheit als Handlungs- und Lebensprinzip entwickelte sich in diesen Jahren zu einem noch heute aktuellen Kernthema der Friedenspädagogik (vgl. Frieters-Reermann und Lang-Wojtasik 2015). Es wurde gelernt, eigene Gestaltungsspielräume zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung – genauso wie zwischen basisbezogenen Lernansätzen und etablierter politischer Bildung – zu eröffnen und zu behaupten. Ein wichtiger Erfahrungsschatz, der bis heute wirkt.

Friedensbildung in der Schule

Eignet sich die Schule als Lernort für Frieden? Diese grundsätzliche Frage beschäftigt die Friedenspädagogik immer wieder aufs Neue (vgl. exemplarisch Duncker 1988; Meisch, Jäger und Nielebock 2018). Dabei ist die (kritische) Auseinandersetzung mit internationalen Entwicklungen im Bereich der Friedens- und Sicherheitspolitik nur ein Aspekt. Aber wie pädagogisch (und politisch) kontrovers in der Bundesrepublik der Umgang mit sicherheitspolitischen Themen in der Schule diskutiert wurde, zeigt das Scheitern des Unternehmens »Friedenserziehung bundesweit«. Zu Beginn der achtziger Jahre starteten Beratungen in der Kultusministerkonferenz zu der Frage, wie »Friedenserziehung und Friedenssicherung« in der Lehrer*innenbildung und im Unterricht verankert werden sollten. Es kam es zu keiner Einigung und am Ende lagen zwei unterschiedliche Dokumente vor: eines für die sozialdemokratisch und eines für die christdemokratisch regierten Bundesländer. Hintergrund dieser Beratungen war ein Versuch aus dem Bundesverteidigungsministerium, angesichts steigender Bereitschaft zur Kriegsdienstverweigerung über die Kultusministerien Einfluss auf die Behandlung des Themas »Friedenssicherung« an den Schulen zu nehmen (vgl. Lutz 1984; Jäger 2014). Die Thematik und der Umgang mit der Präsenz von Jugendoffizier*innen in der Schule beschäftigt die Friedenspädagogik auch noch im Jahr 2021. Gleichwohl ist das schulische Angebot der Friedensbildung viel umfassender geworden und deckt ein breites Spektrum von Themen und Methoden ab, die sich an den Grundsätzen der politischen Bildung und den Bildungsplänen der Länder orientieren (siehe Articus et al., S. 20 in diesem Heft).

Meilenstein 2000: Recht auf gewaltfreie Erziehung

Die Förderung gewaltfreier Erziehung gehört zu den Grundkonstanten der Friedenspädagogik. Die Wurzeln reichen weit zurück in die Vergangenheit. So wies schon die Reformpädagogik von Maria Montessori darauf hin, dass es gezielter Erziehung bedürfe, um in einem jungen Menschen die Fähigkeit zum Frieden zu entwickeln. Montessori lies aber auch keinen Zweifel daran, dass das Ende von Gewalt und Krieg und die Etablierung eines Friedens neben erzieherischen Maßnahmen auch der politischen Anstrengungen und der Verrechtlichung bedürfen.

Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges, im Jahr 2000, wurde mit der Verankerung des Rechts der Kinder auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch in Deutschland ein wirklicher Meilenstein für die Legitimation einer gewaltfreien Erziehung erreicht. Gewalt gegen Kinder – vor allem im familiären Kontext – ist jedoch leider auch heute noch Bestandteil unserer Gesellschaft und es bedarf anhaltender Anstrengungen für deren Reduzierung oder gar Überwindung.

Internationale Dekaden und globales Lernen

Drei sogenannte inhaltliche »Dekaden« (alle in einem Jahrzehnt) stellen weitere wegweisende Etappen in der Entwicklung der Friedenspädagogik dar: Am 10. November 1998 rief die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Jahre 2001–2010 zur »Internationalen Dekade für eine Kultur der Gewaltfreiheit und des Friedens für die Kinder der Welt« aus. Ein wesentliches Ziel darin: die Förderung und Vertiefung der Friedenskultur durch Erziehung und Ausbildung. Bei der Umsetzung der Dekade konnten sich die nationalen UNESCO-Kommissionen auf friedenspädagogische Erfahrungen und Strukturen stützen – und die friedenspädagogischen Diskurse wurden im Gegenzug theoretisch wie praktisch bereichert, vor allem mit Blick auf die inhaltliche Füllung des Leitmotivs einer »Kultur des Friedens« (Wintersteiner 2011).

Zeitgleich rief der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) für den Zeitraum von 2001 bis 2010 die »Dekade zur Überwindung von Gewalt« aus. Die Vernetzung von in der Friedenserziehung engagierten Personen und Einrichtungen mit theologischen Institutionen wurde zu einem Merkmal der Dekade und die Überschneidungen der Friedenspädagogik mit Ansätzen der interreligiösen Erziehung sichtbar (vgl. Nipkow 2007).

Schließlich rundete die UN-Dekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (2005-2014) das Jahrzehnt der Dekaden ab. Alle drei Dekaden stärkten die Vernetzung und internationale Ausrichtung der Friedenspädagogik. Friedenspädagogische Ansätze sind weltweit zu finden und sie eint in aller Unterschiedlichkeit, dass sie einen Beitrag zur Etablierung einer globalen und nachhaltigen Kultur des Friedens leisten wollen.

Infrastruktur und Masterstudiengänge

Zwei wesentliche Institutionalisierungen der letzten Jahre haben der Verankerung der Friedensbildung geholfen: Zum einen fand mit dem Georg-Zundel-Haus der Berghof Foundation in Tübingen ein Teil der Friedenspädagogik in Deutschland im Jahr 2000 einen attraktiven Ort, an dem im Rahmen der begrenzten Ressourcen das systematische Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis und die stetige Verknüpfung von lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene praktiziert wird. Glücklicherweise bestehen weitere, seit vielen Jahrzehnten friedenspädagogisch ausgerichtete Einrichtungen (z. B. die Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik München / Institut für Gewaltprävention und demokratische Bildung) und die Infrastruktur wird immer wieder durch sich etablierende neue Netzwerke oder Arbeitsbereiche bereichert. Als Beispiele lassen sich das Norddeutsche Netzwerk Friedenspädagogik oder die Friedensakademie Rheinland-Pfalz nennen. Mit der Einrichtung der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg (siehe Articus et al., S. 20 und Rieche, S. 24 in diesem Heft) ist eine Institutionalisierung für den schulischen Kontext gelungen und in Niedersachsen werden Grundlagen für vergleichbare Entwicklungen gelegt. Der Arbeitskreis Friedenspädagogik der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) gibt Raum für Vernetzung, Erfahrungsaustausch und aktuelle Diskurse.

Eine neue, innovative und nachhaltige Dimension der wissenschaftlichen Infrastruktur wurde mit der Einführung von Masterstudiengängen zur Friedensforschung eröffnet. Zu dieser Form von Friedenslehre werden allein sieben über ganz Deutschland verteilte Angebote gezählt, darunter ein Studiengang mit explizit friedenspädagogischer Komponente (Tübingen).
Die große Nachfrage nach den verfu¨gbaren Studienplätzen zeugt von der Attraktivität dieser Masterstudiengänge“, so der Wissenschaftsrat (Wissenschaftsrat 2019, S. 42). Und eine aktuelle, gute Nachricht kommt aus dem Friedensinstitut Freiburg: Dort soll im Sommersemester 2022 erstmals in der Geschichte Deutschlands ein dreisemestriger Vollzeit-Masterstudiengang »Friedenspädagogik / Peace Education« starten (derzeit in Akkreditierung).

Lernschritte mit Perspektive

Trotz großer Lernschritte und Entwicklungen beim »Frieden lernen« bleibt die
„unzureichende theoretische Fundierung“ (Frieters-Reermann 2017, S. 96) eine Herausforderung. So gibt es noch immer keinen Lehrstuhl für Friedenspädagogik und die Fördermöglichkeiten sind mehr als begrenzt. Gleichzeitig steigen die Erwartungen: So heißt es im Nachhaltigkeitsziel 4 der UNO (SDG 4), dass eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit geschaffen werden soll. Diese soll helfen, dass bis 2030 alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben können. Deutschland könnte mit der gezielten Förderung von Friedenspädagogik einen starken Beitrag zur Umsetzung des Zieles leisten. In Zeiten der Covid-19-Pandemie, anhaltender Gewalt und Klimakrise, zunehmender Digitalisierung und Globalisierung sowie den friedenspädagogisch wichtigen gesellschaftlichen Debatten über Rassismus oder Dekolonialisierung muss die zukünftige Ausrichtung von Bildung neu ausgelotet werden. Dabei besteht
kein Zweifel darüber, dass Frieden, Umgang mit kultureller Diversität und Nachhaltigkeit zu den Bedingungen zukunftsfähiger Bildung in der globalen Moderne gehören“ (Wulf 2020, S. 204). Dazu muss auch der systematische Austausch zwischen den „Überlebenspädagogiken“ (Lang-Woj­tasik 2019, S. 10) dringend verstärkt werden.

Literatur

Bernhard, A. (1988): Mythos Friedenserziehung. Zur Kritik der Friedenspädagogik in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Gießen: Focus.

Buddrus, V.; Schnaitmann, G. W. (Hrsg.) (1991): Friedenspädagogik im Paradigmenwechsel. Allgemeinbildung im Atomzeitalter: Empirie und Praxis. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Calließ, J.; Lob, R. E. (Hrsg.) (1988): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. Band 3: Friedenserziehung. Düsseldorf: Schwann.

Duncker, L. (Hrsg.) (1988): Frieden lehren? Beiträge zu einer undogmatischen Friedenserziehung in Schule und Unterricht. Langenau-Ulm: Armin Vaas Verlag.

Frieters-Reermann, N. (2017): Friedenspädagogik. In: Lang-Wojtasik, G.; Klemm, U. (Hrsg.): Handlexikon Globales Lernen. Ulm: Klemm+Oelschläger, S. 94-98.

Frieters-Reermann, N.; Lang-Wojtasik, G. (Hrsg.) (2015): Friedenspädagogik und Gewaltfreiheit. Denkanstöße für eine differenzsensible Kommunikations- und Konfliktkultur. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich.

Jäger, U. (2019): Friedenspädagogik. In: Gießmann, H. J.; Rinke, B. (Hrsg.): Handbuch Frieden. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: SpringerVS, S. 133-145.

Jäger, U. (2014): Friedenspädagogik in Zeiten des Kalten Krieges (1945-1989): Herausforderungen, Etappen, Erfahrungen. In: Kössler, T.; Schwitanski, A. J. (Hrsg.): Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert, Essen: Klartext, S. 39-55.

Lang-Wojtasik, G. (2019): Große Transformation als große Verantwortung – Globales Lernen als Bildungsauftrag. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): SDGs: Globale Ziele, unterschiedliche Perspektiven?! Friedensbildung – Globales Lernen – Bildung für nachhaltige Entwicklung. Stuttgart, S. 10.

Lutz, D. S. (Hrsg.) (1984): Weder Wehrkunde noch Friedenserziehung? Der Streit in der Kultusministerkonferenz 1980-1983 – Arbeitsmaterialien zum Thema Frieden in Unterricht und politischer Bildung. Baden-Baden: Nomos.

Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, Th. (Hrsg.) (2018): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos.

Nicklas, H.; Ostermann, Ä. (1988): Kann man zum Frieden erziehen? Neue Überlegungen zu einem alten Thema. In: Antimilitarismus Information 12/1988, S. 148-152.

Nipkow, K.-E. (2007): Der schwere Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Psychosozial (1985): Friedenspädagogik. Ausgabe 26, Reinbek bei Hamburg.

Röhrs, H. (1983): Frieden – eine pädagogische Aufgabe. Idee und Realität der Friedenspädagogik. Braunschweig: Agentur Pedersen.

Roth, K. F. (1967): Warum Friedenserziehung? Zit. nach: Heck, G.; Schurig, M. (Hrsg.) (1991): Friedenspädagogik. Theorien, Ansätze und bildungspolitische Vorgaben einer Erziehung zum Frieden (1945-1985). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft., S. 95.

van Dick, L. (Hrsg.) (1984): Lernen in der Friedensbewegung. Verantwortung von Pädagogen. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Wintersteiner, W. (2011): Von der „internationalen Verständigung“ zur „Erziehung für eine Kultur des Friedens“. Etappen und Diskurse der Friedenspädagogik seit 1945. In: Schlotter, P.; Wisotzki, S. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos, S. 345-381.

Wissenschaftsrat (2019): „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung“.

Wulf, C. (2020): Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän. Weinheim / Basel: Beltz.

Wulf, C. (Hrsg.) (1973): Kritische Friedenserziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Uli Jäger leitet bei der Berghof Foundation die Abteilung „Global Learning for Conflict Transformation“. Von 1986 bis 2012 war er Ko-Direktor des Instituts für Friedenspädagogik, Tübingen e.V.. 2017 erhielt Uli Jäger von der Universität Tübingen eine Honorarprofessur für Friedenspädagogik und Globales Lernen.

Gelingende Friedenslehre – Costa Rica

Ein Studium an der Friedensuniversität

Jedes Jahr zieht es ca. 200 internationale Studierende nach Costa Rica, um gemeinsam über Frieden und Konflikt in der Welt zu diskutieren, Theorien zu erlernen und praktische Erfahrungen auszutauschen – mittlerweile haben mehr als 1.600 Alumni die Ausbildung durchlaufen. Die Friedensuniversität bietet Masterstudiengänge und ein Doktorand*innenprogramm sowie zusätzliche Bildungsangebote an. Die Masterstudiengänge sind in drei Fachbereiche aufgegliedert: Friedens- und Konfliktforschung, Umwelt und Entwicklung sowie Internationales Recht. Das Programm gestaltet sich interaktiv, Exkursionen sind zentraler Bestandteil des Studiums.

In der Amtszeit des Präsidenten Rodrigo Carazo (1978-1982) wurde der Prozess zur Gründung der Friedensuniversität angestoßen. Am 5. Dezember 1980 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 35/55 zur Gründung der »Universität für den Frieden« (UPEACE). 41 Staaten wurden in der Folge Unterzeichnerstaaten der UPEACE-Charta.

Der Auftrag der Universität ist es, „der Menschheit mit einer internationalen Bildungseinrichtung für den Frieden zur Seite zu stehen mit dem Ziel, unter allen Menschen den Geist des Verständnisses, der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens zu fördern, die Zusammenarbeit zwischen den Völkern anzuregen und dazu beizutragen, Hindernisse und Bedrohungen für den Weltfrieden und den Fortschritt abzubauen, im Einklang mit den edlen Bestrebungen, die in der Charta der Vereinten Nationen verkündet wurden“.

Die Universität, am Rande eines Naturschutzgebietes in der Nähe der Hauptstadt San Jose gelegen, steht für gelebte Diversität und zeichnet sich durch die internationale Lernatmosphäre aus. Seit einigen Jahren werden die Programme auch online angeboten. Für Masterstudierende weltweit besteht die Möglichkeit, ein Auslandssemester an der Universität zu verbringen.

Für weiterführende Informationen: upeace.org

Globale/lokale Krisen im Blick


Globale/lokale Krisen im Blick

52. Kolloquium der AFK, Online-Veranstaltung, 17.-19. März 2021

von Claudia Cruz Almeida, Alexander Kusnezow, Elke Verlinden

Im März 2021 fand das 52. AFK-Kolloquium unter dem Titel »Globale/lokale Krisen als Herausforderung für die Friedens- und Konfliktforschung« in Kooperation mit der Universität Magdeburg statt. In ihrer Einleitung erinnerte die AFK-Vorsitzende Prof. Dr. Bettina Engels an die pandemiebedingte Absage des Kolloquiums 2020, weshalb das Kolloquium 2021 das gleiche Schwerpunktthema behandelte, das aber keineswegs weniger relevant geworden sei. Das letzte Jahr habe vielmehr gezeigt, so Engels, wie eine globale Krise strukturelle Ungleichheiten und Populismus verstärken könne und wie viele Konflikte und strukturelle Konfliktursachen im Kontext einer globalen Krise in Vergessenheit geraten können. Der Leiter des Magdeburger Organisationsteams Prof. Dr. Alexander Spencer hob die große Resonanz auf die Tagung hervor. Mit über 250 internationalen Teilnehmenden erreichte die AFK die größte Teilnehmendenzahl eines Kolloquiums in ihrer Geschichte.

Keynote: Kritische Analyse von Machtverhältnissen

Die Keynote zum Thema »Global/Local Crises as Challenges for Peace and Conflict Studies: A Feminist Perspective from the African Continent« hielt Prof. Dr. Amina Mama (University of Ghana). In ihrem Vortrag zeigte sie auf, wie die Vergangenheit kolonialer Herrschaft in vielen afrikanischen Staaten und Gesellschaften weiterhin vielfach sichtbar sei und ebenso noch stets Konsequenzen trage. So sei ein fortbestehender Militarismus eine dieser Folgen der höchst militarisierten kolonialen Herrschaft und noch heute zentrale Antriebskraft hinter vielen gewaltsamen Konflikten, Armut und genderbezogener Gewalt. Mit Beispielen, unter anderem von den (zwangsweisen) Einsätzen afrikanischer Soldaten in beiden Weltkriegen, den heutigen Konditionen für internationale Unterstützungsprojekte, der geostrategischen Stationierung US-amerikanischer Soldat*innen auf dem afrikanischen Kontinent, des Extraktivismus und der Waffenexporte, legte Prof. Dr. Mama dar, wie Staaten aus dem globalen Norden noch immer zur Militarisierung und Abhängigkeit afrikanischer Staaten beitragen. Sie betonte auch, dass diese Kultur der Gewalt mitunter durch Popkultur weiter verbreitet wird.

Sie rief dazu auf, kritisch zu hinterfragen, wer von Kriegen und militärischen Konflikten profitiere, und den Trend steigender Budgets für Militärausgaben umzukehren. Hierfür seien transdisziplinäre und transnationale Forschungs- und aktivistische Ansätze nötig. Solche müssten gleichermaßen die lokale wie die globale Vernetzung der Akteure betrachten, aber auch den Blick über Gewalt hinaus darauf werfen, welche Machtkonstellationen bestehen und welche Kontextfaktoren Gewalt begünstigen.

Roundtable zur Evaluierung der Friedens- und Konfliktforschung

Zur durch den Wissenschaftsrat erfolgten Evaluierung der Friedens- und Konfliktforschung organisierte der AFK-Vorstand einen Roundtable. Nach einleitenden Beiträgen von Dr. Conrad Schetter (BICC), Prof. Dr. Margit Bussmann (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Malte Göttsche (RWTH Aachen, FONAS) diskutierten die Teilnehmenden intensiv über zentrale Themen der Evaluation, unter anderem über die Stärkung der naturwissenschaftlichen Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, über das Spannungsfeld von politischer Nähe und Relevanz sowie über die BMBF-Förderlinie zur Vernetzung der Friedens- und Konfliktforschung, die im Nachgang der Evaluierung veröffentlicht wurde. Mit dem Roundtable sollte ein Anstoß zur weiteren Diskussion möglicher Entwicklung der Friedens- und Konfliktforschung sowie zu Überlegungen zur (interdisziplinären) Vernetzungsarbeit der AFK, auch zwischen Standorten, gegeben werden.

Panels und Arbeitskreise: Zentrale Themen in der Erforschung »glokaler« Krisen

Inhaltlich deckten die Beiträge zum AFK-Kolloquium ein breites Spektrum an Themen, Ansätzen und Methoden ab. Panelübergreifend können einige zentrale Themen herausgestellt werden: So waren die verschiedenen Machtkonstellationen im Verhältnis des Globalen Norden zum Globalen Süden ein zentrales Element diverser Panel-Diskussionen. Hierbei wurden in den Beiträgen sehr häufig postkoloniale und feministische Perspektiven eingenommen, um ein Thema weitreichend wissenschaftlich beleuchten, diskutieren und analysieren zu können. Die besagten Perspektiven dienten nicht nur als Diskussions- und Analysegrundlagen, sondern eröffneten neue Wege für das Verständnis von Gewalt, Macht und Frieden in den jeweiligen Fallbeispielen. Auch wurden viele Themen als »glokal« eingeordnet und entsprechend in dieser Multidimensionalität besprochen.

Ein besonderes Augenmerk wurde zudem auf grundsätzlichere Fragen und Herausforderungen geworfen. Hier stachen die Relevanz von Vertrauen in der lokalen Bevölkerung für Aktionen und Engagement jeder Art, Diskussionen zum potentiell systemstabilisierenden Charakter von Aktivismus und den allgemeineren Problemen von internationalisiertem Aktivismus (beispielsweise die Frage, ob die Projekte als Ausdrücke eines internationalisierten Arbeitsmarktes gesehen werden können) hervor. Angesichts der unterschiedlichen Machtkonstellationen wurde u.a. dafür plädiert, intersektionale Analysen durchzuführen, die diese berücksichtigen.

Ein weiteres zentrales Thema der Konferenz war die Frage, inwiefern Gender-sensitive und feministische Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung noch weiter vertieft und für die Erlangung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse genutzt werden können. Bei mehreren Gelegenheiten wurde Besorgnis über populistische Bewegungen geäußert, die Gender als »symbolic glue«1 betrachten, und über Länder, in denen ganze Forschungsrichtungen wie »Gender Studies« verboten wurden. Viele Tagungsteilnehmer*innen werteten diese Entwicklungen als eine Gefahr für Freiheiten und individuelle Rechte. Angesichts dieser Herausforderungen schlugen die Sprecher*innen beispielsweise einen starken Zusammenschluss verschiedener Akteur*innen, die Entwicklung eines Netzwerks, um die Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter weiter zu fördern und zu festigen, sowie generationsübergreifende Bündnisse und Allianzen mit allen Arten von Bewegungen, Frauen*, Männern und LGBTQI+ Kollektiven vor.

Zusätzlich zu den klassischen Panelformaten und alternativen Formaten zum Tagungsthema fanden auch darüber hinausgehende Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung ihren Platz. So wurden ein Workshop zur Bearbeitung von Dilemmata in politischen Krisen und Konflikten, eine Fishbowl zur Rolle von Theorie für und in der Friedens- und Konfliktforschung sowie ein Panel zu »Data Constraints and Biases in Peace and Conflict Studies« angeboten. Zudem organisierten die Frauenbeauftragten der AFK einen Workshop zur strategischen Zukunftsgestaltung des »Netzwerks Friedensforscherinnen«.

Trotz der Online-Veranstaltung ist es zudem gelungen, ein breites Angebot an alternativen, interaktiven Formaten anzubieten, in denen das interaktive Element sehr gut funktionierte. Insgesamt umfasste das AFK-Kolloquium nicht weniger als acht Fishbowls, Roundtables, Workshops, Storytellings und andere Formate sowie nicht zuletzt die Treffen der Arbeitskreise.

Die Arbeitskreise innerhalb der AFK sind für die Vernetzung und thematische Zusammenarbeit von Friedens- und Konfliktforschenden auch außerhalb der jährlichen AFK-Kolloquien von großer Bedeutung. Während im vergangenen Jahr viele Workshops und Treffen ausfallen mussten, kamen im Rahmen des 52. Kolloquiums wieder viele Arbeitskreise zusammen.

Christiane-Rajewsky-Preis und Mitgliederversammlung

Jährlich vergibt die AFK einen Nachwuchspreis an junge Wissenschaftler*innen, die mit ihrer Masterarbeit oder Dissertation einen herausragenden Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung geleistet haben. Der Preis ist dem Andenken der Friedensforscherin Prof. Christiane Rajewsky gewidmet. Die Preisjury vergab den diesjährigen Nachwuchspreis unter Vorsitz von PD Dr. Gabi Schlag an drei junge Forscherinnen: Theresa Leimpek (ETH Zürich) erhielt die Auszeichnung für ihre Dissertation »A Theory of Internal Displacement in Civil War: Rebel Control and Civilian Movement in Sri Lanka«; Annalena Pott (University of Oxford) wurde für ihre Masterarbeit »Pride or Prejudice? Exploring the Construction of Homosexuality in post-Euromaidan Ukraine« ausgezeichnet; an Eva Willems (Universiteit Ghent) ging der Preis für ihre Dissertation »Open Secrets & Hidden Heroes. Violence, Citizenship and Transitional Justice in (Post-)Conflict Peru«.

Aufgrund der Absage des AFK-Kolloquiums 2020 wurden in diesem Jahr die Preisverleihungen für die Jahre 2020 und 2021 gemeinsam ausgerichtet. In einer digitalen Abendveranstaltung führten Dr. Werner Distler (Jury-Vorsitzender 2018-2020) und PD Dr. Gabi Schlag mit den drei diesjährigen Preisträgerinnen sowie jenen aus 2020, Anne-Katrin Kreft und Pia Falschebner, ein Podiumsgespräch.

Während der diesjährigen AFK-Mitgliederversammlung, die ebenfalls online stattfand, wurden die Wahlergebnisse der Vorstandswahl bekannt gegeben. Die Wahl hatte im Vorfeld digital stattgefunden. Zur ersten Vorsitzenden und Nachfolgerin von Prof. Dr. Bettina Engels, die nicht mehr kandidierte, wurde Dr. Simone Wisotzki (HSFK) gewählt. Zweite Vorsitzende wurde Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber (Hochschule Rhein-Waal). Als Beisitzer*innen wurden außerdem in den Vorstand gewählt: Prof. Dr. Andrea Schneiker (Zeppelin Universität Friedrichshafen), Prof. Dr. Nils Weidmann (Universität Konstanz) und Prof. Dr. Timothy Williams (Universität der Bundeswehr München). Als Frauenbeauftragte wurden Christine Buchwald (Universität Koblenz-Landau) und Madita Standke-Erdmann (Universität Wien) gewählt. Prof. Dr. Alexander Spencer (Beisitzender 2018-2021) sowie Lena Merkle (Frauenbeauftragte 2018-2021) schieden aus dem Vorstand aus. Nachwuchssprecher*innen sind David Haase (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg), Astrid Juckenack (ZfK Marburg), Lilli Kannegießer (Universität Augsburg) und Stefanie Wesch (Potsdam Institute for Climate Impact Research).

Besonderheiten einer online-Veranstaltung und 30 Jahre Netzwerk Friedensforscherinnen

Um den sozialen Charme eines unter normalen Umständen stattfindenden Kolloquiums zumindest in seinen Grundzügen zu erhalten, wurde das Online-Tool »Gather.town« verwendet. Dies erlaubte es allen Teilnehmenden, sich in einem offenen Raum in der digitalen Sphäre zu treffen, frei zu bewegen und auszutauschen. Das Angebot war während der gesamten Veranstaltung nutzbar und wurde sehr gut angenommen. Neben Unterhaltungsräumen und einer virtuellen Bar konnten interessierte Personen eine digitale Ausstellung zum 30+1-jährigen Bestehen des »Netzwerks Friedensforscherinnen« besuchen. Weiterhin bestand die Möglichkeit, sich an zwei Ständen zur ZeFKo sowie zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden zu informieren und sich mit den jeweiligen Herausgeber*innen und Redakteur*innen auszutauschen.

Auch wenn ein digitales AFK-Kolloquium eine Präsenzveranstaltung in keiner Weise ersetzen kann, ist durch die vielfältigen Austauschmöglichkeiten und Formate dennoch eine lebendige Tagung mit vielen persönlichen Kontaktmomenten gelungen.

Anmerkung

1) Der Begriff soll verdeutlichen, wie sich rechtspopulistische Bewegungen als Antwort auf die neoliberale Krise und mit dem Ziel der Wählermobilisierung um eine »Anti-Gender«-Haltung organisieren und Geschlechtergleichheit als »Ideologie« präsentieren.

Claudia Cruz Almeida, Alexander Kusnezow, Elke Verlinden

Radikalisierung und kollektive Gewalt zusammendenken


Radikalisierung und kollektive Gewalt zusammendenken

Tagung des Arbeitskreises »Junge AFK«, online, 16.-17. März 2021

von Daniel Beck und Julia Renner

Die ins Internet verlagerte Tagung »Radicalization and Collective Violence« wurde durch die Sprecher*innen der Jungen Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) eröffnet, die sich sehr über das große Interesse von Beitragenden und Zuhörenden freuten. Denn die Tagung hatte pandemiebedingt um ein Jahr verschoben werden müssen. Prof. Dr. Alexander Spencer, der die Teilnehmenden im Namen des AFK-Vorstands begrüßte, ermutigte alle Vortragenden, sich die Hürden einer Publikation zuzutrauen und die auf der Konferenz vorgestellten Beiträge auch zu veröffentlichen.

In den vergangenen Jahren erreichte das allgemeine Thema »Radikalisierung« immer mehr Aufmerksamkeit in der Mitte der Gesellschaft durch spektakuläre Fälle radikalisierter Täter*innen. Der spezifische Fokus dieser Tagung lag vor allem auf den Grundlagen und konzeptionellen Überlegungen zu den Grundbegriffen »Radikalisierung« und »Gewalt«, sowie auf »Prävention und Deradikalisierung«, ergänzt und illustriert durch internationale Fallstudien.

Zur Diskussion des Tagungsthemas fanden sich rund 100 junge und junggebliebene Personen aus verschiedenen Wissensdomänen zusammen: universitär verortete Forscher*innen, Personen aus dem Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung, sowie freie Forschende und vereinzelte Aktivist*innen. Gleich vier Workshops reflektierten daher ein grundlegendes Anliegen dieser Tagung: Die Genese und den Austausch von Wissen praktisch und didaktisch wertvoll miteinander und über die Grenzen der jeweiligen Institutionen hinweg zu gestalten.

Gleich der Abendvortrag zu »Dynamics of collective violence. Bridging micro, meso and macro perspectives« von Prof. Dr. Timothy Williams von der Universität der Bundeswehr München zog die Zuhörer*innen in seinen Bann. Williams machte deutlich, dass der methodisch enge Blick jeweils über die Makro- und Mikro-Ebene von Radikalisierung hinaus erweitert werden sollte, da nicht alle Gewaltprozesse dadurch adäquat erklärt werden könnten. Er zeigte, dass sich Modelle zur Beschreibung von Radikalisierungsprozessen und deren Zusammenhang mit kollektiver Gewalt sowie Maßnahmen zu deren Prävention weitestgehend auf die Maßstabsebene des Individuums beziehen. Laut Williams beklagen Kritiker*innen dieser Ansätze – zu denen er selbst gehört – daher ein Empirie- und Handlungsdefizit bei der Aufarbeitung von Ursachen kollektiver Gewaltanwen­dungen. Dieses Defizit bestünde, so ­Williams, sowohl auf der Mikro- (intrapersonalen), Meso- (interpersonalen) als auch der Makro-Ebene (Gesellschaft und Gruppen). Er schlug daher eine Erweiterung und Fokussierung der Betrachtungsweise auf die Meso-Ebene vor. Seine theoretischen Überlegungen veranschaulichte er anhand von Beispielen aus der Forschung zum Genozid in Ruanda und der Massengewalt in Kambodscha.

Radikalisierung: Was ist das?

Radikalisierung wird auch in der Forschung tendenziell als ein negativer Prozess verstanden, was teilweise kritisiert wird. Viele Panelist*innen und Workshopleiter*innen machten es sich dementsprechend zur Aufgabe, nach Lösungen und adäquaten Umgangsformen damit zu suchen.

Ramzi Merhej und Anna Mühlhausen diskutierten beispielsweise in einem Panel zu »Deradikalisierung und Prävention« die Rolle von Ideologien und Normen. Ideologie stellten sie dabei als spezifischen Erklärungsfaktor für Radikalisierung infrage: Da Ideologie bei allen Radikalisierungsprozessen im Spiel sei, sei dies kein signifikanter Erklärungsfaktor bei der Suche nach Gründen für Radikalisierung.

Gleich mehrere Workshops widmeten sich praktischen Herausforderungen im Umgang mit Radikalisierungsprozessen. Im Workshop von Mareike Tichatschke konnten die Teilnehmenden am eigenen Leib die Macht von Narrativen erfahren. Insbesondere im Fall von Terrorismus spielen Deutungen und Zuschreibungen von Zusammenhängen eine zentrale Rolle bei der Reaktion auf das Gewaltereignis und für die Legitimation weiterer Gewalt. Die Teilnehmenden sollten sich in die Rolle von verschiedenen Konfliktparteien wie Regierungen und terroristischen Akteuren versetzen und so die Schwierigkeit erfahren, wie auf reale jihadistische Anschläge in Europa beispielhaft mit verschiedenen Narrativen reagiert werden kann. Dadurch wurden die Dynamiken, die aus Reaktionsnarrativen resultieren können, problematisiert und die üblichen Narrative in Reaktion auf terroristische Anschläge kritisch hinterfragt.

Annalena Groppe untersuchte in ihrem Workshop, wie die Polarisierung von Gesellschaften durch politische Themen Radikalisierungsprozesse verstärkt und inwiefern Friedenspädagogik als Gegenmittel eingesetzt werden kann. Mithilfe von Einzel- und Gruppenübungen wurden Elemente des »Elicitive Conflict Mappings« (hervorkitzelnde Konfliktkartierung) genutzt und so konnten die Teilnehmenden, ausgehend von ihrer subjektiven Perspektive auf polarisierende Konflikten um Demokratie, Orientierung gewinnen und kontextspezifische nächste Schritte ableiten.

Im Workshop »Extremismus und die Wissenschaft im post-digitalen Zeitalter« von Stephen Albrecht wurde deutlich, warum Extremismus und die digitale Welt zusammen erforscht werden müssen. Verschiedene Plattformen, Apps und Kommunikationskanäle dienen als wesentliche Vernetzungs- und Rekrutierungswerkzeuge für Extremist*innen. Zudem gab der Workshop Einblicke in Methoden und Tools zu Umgang, Dokumentation und Sicherung von Daten. Albrecht war es sehr wichtig, auf die unterschätzten Risiken und Gefahren für Forschende hinzuweisen, die zum Thema Radikalisierung in rechten Strömungen forschen und sich öffentlich äußern.

Rechte Radikalisierung und rassistische Gewalt

Im abschließenden Roundtable zum Thema »In Times of Right-wing and Racist Terror« diskutierten Alex Engelsdorfer, Ramzi Merhej, Kristine Andra Avram und Sebastian Salzmann.

Die Diskutant*innen erörterten die Überschnitte von Rassismus und rechter Gewalt und thematisierten deren relative Unsichtbarkeit in der Friedens- und Konfliktforschung. Die Diskutant*innen fragten, weshalb so wenig Forschung zu rassistischer Gewalt existiere, sei doch Gewalt eines der Kernthemen der Friedens- und Konfliktforschung. Nicht zuletzt wurde überlegt, welche Konsequenzen sich daraus für Forschung und Praxis ergeben (müssten).

Das Online-Format: Chancen und Perspektiven

Das Organisationsteam betonte zum Abschluss, welch große Resonanz die Tagung gefunden habe. So sei auch der Zugang zur Tagung – die von der Deutschen Stiftung Friedensforschung unterstützt wurde – diesmal sehr niedrigschwellig gewesen, da keine Teilnahmegebühren erhoben wurden. Durch das Online-Angebot sei auch eine stärkere Internationalisierung der Tagung erreicht worden. Zudem wurde beispielsweise Gather.town, eine Online-Plattform, für persönliche Gespräche und für Ausstellungen genutzt, um auch einen Raum für persönliche Kontakte außerhalb des offiziellen Programms zu bieten. Für die Zukunft sei es nach Ansicht der Organisator*innen sicherlich zu überlegen, ob und wie die Nachwuchstagung nachhaltig als Hybrid-Konferenz sinnvoll umgesetzt werden könne.

Während der Konferenz fand auch die Wahl eines neuen Nachwuchssprecher*innen-Teams statt. Daniel Beck, Julia Renner und Alex Engelsdorfer übergaben ihr Amt an David Haase (Universität Magdeburg), Astrid Juckenack (ZfK Marburg), Lilli Kannegießer (Universität Augsburg) und Stefanie Wesch (Potsdam Institute for Climate Impact Research). Das alte Sprecher*innen Team wünscht dem neuen Team viel Spaß und Erfolg bei dieser Aufgabe.

Daniel Beck und Julia Renner

Wechselnde Herrschaft in Postkonfliktkontexten


Wechselnde Herrschaft in Postkonfliktkontexten

Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, online, 31. März – 1. April 2021

von Regine Schwab und Hanna Pfeifer

Die in den letzten Jahren stark wachsende Literatur zu »rebel governance« (RG) untersucht interne Dynamiken in Bürgerkriegen, in denen Rebell*innen Teile eines Territoriums unter ihre Kontrolle bringen, das zivile Leben regulieren und für soziale, politische sowie wirtschaftliche Güter sorgen. Auf dem Online-Workshop »Fractures and Continuities of Changing Rule in (Post-)Conflict Settings« diskutierten die Teilnehmenden die Brüche und Kontinuitäten von Herrschaftssystemen in solchen Kontexten. Viele setzten dazu bei der RG-Literatur an, gingen aber dann oft über diese hinaus. Auf dem Workshop versammelten sich Expert*innen für mehrere Weltregionen und (Post-)Konfliktzonen. Nahezu alle vorgestellten Arbeiten basieren auf Feldforschung in teils schwer zugänglichen Gebieten.

Wie Paul Staniland in seinem Abendvortrag ausführte, ist RG nur ein Strang eines inzwischen stark ausdifferenzierten, regelrecht fragmentierten Feldes der (Post-)Konfliktstudien. Dennoch sind in diesem Unterfeld längst noch nicht alle Fragen geklärt. Mehrere Beiträge zum Workshop kritisierten das RG-Konzept aufgrund seines funktionalistischen und instrumentalistischen Verständnisses der Beziehung zwischen »Herrschenden« und »Beherrschten«. Diese Beziehungen sind konzeptionell beschränkt auf die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen durch Rebell*innen. Ein solches Verständnis, so der Beitrag von Jude Kagoro und Klaus Schlichte, habe entpolitisierende Effekte. Statt sich auf Governance oder Kosten-Nutzen-Analysen zu beschränken, untersuchte der Beitrag daher am Beispiel der »National Resistance Army/Movement« in Uganda, wie militärische und andere Formen von Macht legitimiert und auf diese Weise in Herrschaft umgewandelt werden und wie dies wiederum mit der Einbindung in regionale Dynamiken zusammenhängt.

Der Beitrag von Tim Glawion, Anne-Clémence Le Noan und Igor Acko argumentierte am Beispiel der von Rebell*innen kontrollierten Stadt Ndélé in der Zentralafrikanischen Republik, dass diese Kontrolle in Wirklichkeit durch Zwang aufrechterhalten wurde und nicht durch die Bereitstellung von Governance. Zwar wurden öffentliche Güter zu Beginn der Rebellion beschworen. Allerdings lagerten die Rebell*innen nach Konsolidierung ihrer Kontrolle deren Bereitstellung an internationale und staatliche Akteure aus, um sich gegen Kritik an ihrer mangelhaften Bereitstellung abzuschirmen und sich stattdessen auf die Generierung von Einkommen und Ressourcenextraktion zu konzentrieren. Nicht »rebel governance«, sondern Zwang erklärt also die lange Dauer der Rebellenherrschaft in Ndélé. Damit stellte der Beitrag einige zentrale Annahmen der RG-Literatur in Frage, die bislang davon ausging, dass die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zentral für die Steigerung von Legitimität und damit Machterhalt ist.

Francesco Buscemi kritisierte die Konzeptualisierung von »Macht« als Eigenschaft von Akteuren oder Institutionen in der RG-Literatur. Dieses statische Verständnis reduziere Erwerb und Kontrolle von Gewaltmitteln auf Handlungsfähigkeit und vermeintlich rationale Aushandlungsprozesse. Stattdessen seien die gesamtgesellschaftliche Zirkulation von Rationalitäten und Techniken zur Kontrolle der Gewaltmittel in den Vordergrund zu stellen. Anhand einer Langzeitstudie zu Myanmar folgte sein Beitrag den Verläufen der Ta‘ang-Rebellenbewegungen in ihren Zyklen von Bewaffnung, Entwaffnung und Wiederbewaffnung sowie deren Zusammenhang mit Rationalitäten der Ethnonationalität einerseits und der Drogenbekämpfung andererseits.

Ein weiterer zentraler Diskussionsstrang der Veranstaltung entwickelte sich aus der Diskussion von Legitimitätskonzepten. Mara Revkins Beitrag zum Islamischen Staat (IS) argumentierte, dass für die Eroberung und Konsolidierung von territorialer Kontrolle durch aufständische Gruppen die Unterstützung und Zusammenarbeit der lokalen Zivilbevölkerung erforderlich sei. Dies konnte der IS bis zu einem gewissen Grad durch das Angebot einer effektiven und als gerecht wahrgenommenen Alternative zur irakischen Regierung erreichen, wenn auch nur anfangs. Es könnte fruchtbar sein, so ein Ergebnis der Diskussion, zwischen der Eroberung und der Konsolidierung von territorialer Kontrolle zu unterscheiden und die Rolle von Legitimität und lokaler Unterstützung über die verschiedenen Phasen von Macht- und Herrschaftserwerb, -konsolidierung und -verlust zu betrachten.

In mehreren Workshop-Beiträgen wurde zudem deutlich, dass Studien oft einen eng umrissenen lokalen Kontext untersuchen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund externer Interventionen in viele Konflikte und der Verbindung von Konfliktparteien zur Diaspora ein gravierendes Defizit. Maria Ketzmericks Beitrag untersuchte etwa die Eskalation und Transnationalisierung des »Anglophonen Konfliktes« in Kamerun unter Berücksichtigung der komplexen Beteiligung von lokalen, nationalen, trans- und internationalen Akteuren. In Andrea Jaramillos Beitrag wurde deutlich, dass in der Post-Konfliktphase ebenfalls Spannungen entstehen können zwischen global existierenden »Skripten der Friedensstiftung« und deren Implementierung in lokalen Alltagskontexten und -praktiken – die durch diese Maßnahmen unterbrochen, manchmal sogar zerstört werden könnten. Dies erkläre die Apathie mancher lokalen Gemeinschaften in Kolumbien gegenüber Reinkorporationsmaßnahmen, wie Programme zur Reintegration ehemaliger Kämpfer*innen in die Gesellschaft in Kolumbien genannt werden.

Siddharth Tripathi und Solveig Richter argumentierten in ihrem Beitrag zum Kosovo, dass Ordnung in einem Post-Konfliktkontext durch einen dynamischen und interaktiven Prozess von informellen Netzwerken etabliert werde, die bereits während des Konflikts entstanden sind. Internationale Akteure, die in einem solchen Kontext aktiv werden, sähen sich mit Zielkonflikten konfrontiert und priorisierten Sicherheit und Stabilität anstelle von echten demokratischen Reformen. Folglich sei die »neue« politische Ordnung mehr durch Kontinuitäten als Veränderungen gekennzeichnet. Auch in Deniz Kocaks Beitrag zu Ost-Timor standen Kontinuitäten zwischen Konflikt- und Post-Konfliktordnung im Vordergrund, konkret die Fortschreibung von Vertrauensverhältnissen zwischen Bevölkerung und Sicherheitsinstitutionen. Die Polizeikräfte würden auch heute noch gefürchtet, da sie, trotz einer Neugründung, größtenteils an repressiven Methoden des Polizierens festhielten und somit die Polizierungspraktiken der ehemaligen indonesischen Besatzung fortführten. Demgegenüber vertraue die Bevölkerung dem Militär, das hauptsächlich aus ehemaligen Rebell*innen besteht und als Widerstandsorganisation großes Ansehen genießt. Solveig Richter und Laura Sabogal argumentierten mit Blick auf die Frage nach der Reinkorporation von ehemaligen Rebell*innen in Kolumbien, dass auch hier die soziale Ordnung, wie sie sich während des Konflikts herausgebildet hat, einen entscheidenden Einfluss habe. Und schließlich betonte Marika Sosnowskis Beitrag zur politischen Ordnung im heutigen Süd-­Syrien ebenfalls, wie zentral die Analyse von (Prä-)Konfliktdynamiken ist, um zu verstehen, welche Formen von Autorität sich herausbilden. Diese seien mit dem formal anmutenden Begriff von Governance nicht zu fassen; vielmehr ergäben sich diese aus überlagernden Zuständigkeiten von staatlichen wie nicht-staatlichen Akteuren.

Mit dieser Hybridität von Ordnungen setzten sich zwei weitere Beiträge auseinander. Lydia Letsch untersuchte, wie die Bevölkerung in der tunesischen Grenzregion zu Algerien, die von der Koexistenz formaler wie informeller Institutionen geprägt ist, ihre eigene (Un-)Sicherheit und – in der Konsequenz – die Legitimität von Ordnungstifter*innen wahrnimmt. Juan Albarraci´n, Juan Corredor, Juan Pablo Milanese, Inge H. Valencia und Jonas Wolff forderten gängige Erklärungen von Gewalt im Post-Konflikt-Kontext Kolumbiens heraus, die von einem Machtvakuum in vormaligen Rebellengebieten und damit verbundener, wachsender Kriminalität ausgehen. Sie argumentierten, dass vielmehr eine subnationale, autoritäre Ordnung gegen wahrgenommene Bedrohungen verteidigt würde, und zwar von den darin involvierten staatlichen und nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren und lokalen Eliten. Schließlich thematisierte der einzige völkerrechtliche Beitrag von Parisa Zangeneh ein aus sozialwissenschaftlicher Sicht spannendes Phänomen: die Auseinandersetzung mit Ansprüchen auf Staatlichkeit im Rahmen von Prozessen vor dem Internationalen Strafgerichtshof und die in Urteilen vorhandene implizite Anerkennung von Quasi-Staaten. Welche Auswirkungen derartige Prozesse auf lokale und regionale Konfliktdynamiken haben, wäre in künftiger Forschung zu ergründen.

Regine Schwab und Hanna Pfeifer

Globale Konfliktdynamiken

Globale Konfliktdynamiken

Eine Zusammenfassung des Konfliktbarometers 2020

von Maximilian Brien, Giacomo Köhler und Maximilian Orth

Mit der 29. Ausgabe des Konfliktbarometers setzt das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) seine jährlich erscheinende Studie zum weltweiten Konfliktgeschehen fort.

Im Jahr 2020 dokumentierte das HIIK weltweit 359 politische Konflikte, von denen 220 gewaltsam und 139 gewaltlos ausgetragen wurden. Im Vergleich zum Vorjahr erhöhte sich die Zahl der erfassten Kriege von 15 auf 21 und erreichte damit den bisher als solchen verzeichneten Höchstwert von 2014. Von den im Jahr 2019 verzeichneten Kriegen de-eskalierten drei zu begrenzten Kriegen oder gewaltsamen Krisen, während 13 Kriege auf der gleichen Intensitätsstufe fortgesetzt wurden. Sieben weitere Konflikte eskalierten zu Kriegen und ein neuer Konflikt brach direkt auf Kriegs-Niveau aus.

Die Anzahl der begrenzten Kriege hingegen sank von 23 auf 19. Neun Konflikte setzten sich auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr fort. Zehn begrenzte Kriege de-eskalierten auf das Niveau einer gewaltsamen Krise, während wiederum acht gewaltsame Krisen zu begrenzten Kriegen eskalierten (vgl. Graphik 1).

Die Regionen im Einzelnen

  • Im Unterschied zum vorherigen Jahr war 2020 Sub-Sahara Afrika die Region mit den meisten Kriegen. In der Sahel-Zone, der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien, Mosambik, Somalia, Südsudan sowie Nigeria wurden insgesamt elf Kriege beobachtet. Davon waren fünf neu: Konflikte zwischen islamistischen Gruppierungen und Regierungskräften in der Demokratischen Republik Kongo und Mosambik sowie innerstaatliche Konflikte im Südsudan und Äthiopien eskalierten auf Kriegs-Niveau. Des Weiteren brach in Äthiopien der Konflikt um die Tigray-Region direkt auf dem Niveau eines Krieges aus. Keiner der in 2019 beobachteten Kriege de-eskalierte. Die Zahl der begrenzten Kriege nahm um einen auf neun ab (vgl. im Weiteren Graphik 2).
  • In Westasien, Nordafrika und Afghanistan verringerte sich die Zahl der Kriege von acht auf sieben. Die Konflikte um die Sinai-Halbinsel sowie zwischen der Türkei und von ihr unterstützter syrischer Oppositionsgruppen mit dem Bündnis »Demokratische Kräfte Syriens« de-eskalierten. Gleichzeitig eskalierte der Sezessionskonflikt um die Region Südjemen. Die Zahl der begrenzten Kriege sank von vier auf einen. Insgesamt erlebte die Region also eine begrenzte Entspannung bezüglich der Anzahl an hochintensiven Konflikten.
  • In den Amerikas verblieb der Drogenkonflikt in Brasilien weiter auf der Intensitätsstufe eines Kriegs, während in Mexiko der Konflikt zwischen Drogenkartellen, Milizen und der Regierung zu einem begrenzten Krieg de-eskalierte. Die beiden begrenzten Kriege zwischen unterschiedlichen nichtstaatlichen Gruppen in Mexiko und Kolumbien setzten sich jeweils fort, während die gewaltsame Krise zwischen der Nationalen Befreiungsarmee und der kolumbianischen Regierung zu einem begrenzten Krieg eskalierte. Somit stieg die Zahl der begrenzten Kriege in der Region von drei auf vier.
  • In Asien und Ozeanien verzeichnete das HIIK wie in den vergangenen Jahren keinen Krieg. Die Zahl der begrenzten Kriege sank leicht von fünf auf vier. Während der Konflikt zwischen Indien und Pakistan sowie der Unabhängigkeitskonflikt um Papua in Indonesien de-eskalierten, eskalierten der Autonomiekonflikt in Myanmars Bundesstaaten Kayah und Karen sowie der Konflikt zwischen kommunistischen Rebellengruppen und der philippinischen Regierung.
  • Anders als in den letzten Jahren wurde mit dem Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien erstmals ein Krieg in Europa verzeichnet, während der Donbass-Konflikt in der Ukraine als begrenzter Krieg weitergeführt wurde.

Zwischenstaatliche Konflikte

Der Großteil der vom HIIK dokumentierten zwischenstaatlichen Konflikte wurde auch 2020 nicht gewaltsam ausgetragen. Verglichen mit den vergangenen zehn Jahren, wurde im aktuellen Untersuchungszeitraum jedoch ein markanter Anstieg gewaltsamer Konflikt-Dyaden verzeichnet. Während 2019 elf zwischenstaatliche Konfliktbeziehungen durch Gewalt gekennzeichnet wurden, stieg diese Zahl 2020 auf 19. Auch wenn der begrenzte Krieg zwischen Indien und Pakistan de-eskalierte, wurde mit der Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan der erste zwischenstaatliche Krieg seit 2012 beobachtet.

Das jährliche Heidelberger Konfliktbarometer kann auf der Homepage des HIIK kostenlos heruntergeladen werden. Der Bericht erscheint in englischer Sprache.

Maximilian Brien hat Politische Ökonomik an der Universität Heidelberg studiert und ist Vorstandsmitglied und Co-Chefredaktor des Konflikt Barometers 2020.
Giacomo Köhler studiert im Master Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg und ist Vorstandsmitglied und Co-Chefredaktor des Konflikt Barometers 2020.
Maximilian Orth studiert im Master Security Risk Management an der Universität Kopenhagen und ist Vorstandsmitglied als Leiter des Kommunikations Gremiums.

Definitionen – Der Heidelberger Ansatz

Politischer Konflikt:

Ein politischer Konflikt ist eine Positionsdifferenz hinsichtlich gesamtgesellschaftlich relevanter, immaterieller oder materieller Güter – den Konfliktgegenständen – zwischen mindestens zwei als durchsetzungsfähig wahrgenommenen direkt beteiligten Akteuren, die mittels beobachtbarer und aufeinander bezogener Konfliktmaßnahmen ausgetragen wird.
Diese Maßnahmen gelten als konstitutiv für einen Konflikt, sofern sie außerhalb etablierter Regelungsverfahren liegen und eine staatliche Kernfunktion oder die internationale Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen.

Intensitätsstufen:

Es werden insgesamt fünf Intensitätsstufen unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg.
Die gewaltsame Krise, der begrenzte Krieg und der Krieg bilden zusammen die Kategorie der Gewaltkonflikte, im Unterschied zu den gewaltfreien Konflikten.

Indikatoren:

Zur Ausdifferenzierung des Gewaltkonflikts werden als weitere Kriterien die zur Durchführung der gewaltsamen Konfliktmaßnahmen eingesetzten Mittel und die Folgen des Gewalteinsatzes herangezogen.
Die Dimension der Mittel umfasst die Indikatoren Waffeneinsatz und Personaleinsatz, die Dimension der Folgen ferner die Indikatoren Todesopfer, Zerstörung und Geflüchtete (Flüchtlinge sowie Binnenvertriebene).

Eine ausführliche Darstellung der Methodik findet sich unter hiik.de/hiik/methodik/.

(Re)thinking Time and Temporalities


(Re)thinking Time and Temporalities

Digitale Zentrumstage, Zentrum für Konfliktforschung, Marburg, 29.-31. Oktober 2020

von Alina de Luna Aldape, Alina Giesen, Pia Falschebner, Sara Kolah Ghoutschi und Miriam Tekath

Wie beeinflussen Zeit und Zeitlichkeit Konfliktdynamiken und Friedensprozesse und wie prägen Zeitlichkeitsvorstellungen unser Verständnis eben dieser Dynamiken und Prozesse ? Wie können Zeit und Zeitlichkeit verstanden und analytisch stärker für die Friedens- und Konfliktforschung nutzbar gemacht werden ? Wie können temporale Aspekte kritische Forschungsperspektiven bereichern ?

Mit diesen und anderen spannenden Fragen setzten sich die rund 180 Konferenzteilnehmer*innen der diesjährigen Zentrumstage »(Re)thinking Time and Temporalities in Peace and Conflict« im Rahmen eines umfangreichen und abwechslungsreichen Programms auseinander. Besonders erfreulich an diesen Zentrumstagen war das durchweg große Interesse von Wissenschaftler*innen in unterschiedlichen Stadien ihrer akademischen Laufbahn. Dabei fanden die Zentrumstage auch international großen Zuspruch mit Teilnehmer*innen aus insgesamt 20 Ländern.

Aufgrund der aktuellen Covid-19-Pandemie fanden die diesjährigen Zentrumstage digital statt. Dies ging mit Herausforderungen einher, eröffnete gleichzeitig aber auch neue Chancen : Wie die geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Konfliktforschung, Susanne Buckley-Zistel, in ihren einleitenden Worten feststellte, konnte durch die Verlagerung der Konferenz in den digitalen Raum einer größeren Anzahl an Teilnehmenden aus verschiedenen Kontexten die Konferenzteilnahme ermöglicht werden.

Trotz ihrer Allgegenwärtigkeit in (Post-)Konflikt-Kontexten und ihrer Bedeutung für das Verständnis von Konflikt- und Friedensprozessen, ist die explizite Beschäftigung mit temporalen Dimensionen in der Friedens- und Konfliktforschung meist marginal. Diesem bisher noch nicht ausgeschöpften Potenzial nahm sich die Konferenz an. Dabei wurde deutlich, wie produktiv temporale Perspektiven auch für Forschungsvorhaben sein können, in denen das Thema Zeitlichkeit nicht im Zentrum des Interesses steht.

Herrschaftskritische Konzeptualisierungen

Die Keynote-Vorträge der Konferenz beleuchteten, jeweils auf ihre Weise, das Zusammenspiel von Zeitlichkeit und Macht. In ihrer eröffnenden Keynote »Chronopolitics and temporal resistance in peace and conflict« erörterte Natascha Mueller-Hirth (Aberdeen), wie Zeitlichkeit zu einer Art des Regierens werden kann. Am Beispiel von Reparationen in Kenia zeigte sie auf, wie die Produktion von temporaler Ungewissheit als staatliche Zeitpolitik zum Einsatz kommt, um Opfer zu disziplinieren sowie Reparationen statt als grundlegendes Recht als eine Geste des guten Willens darzustellen. Gleichzeitig erläuterte sie aber auch, dass Widerstand gegen diese dominante Zeitlichkeit möglich ist und welche Widerstandspraktiken sich auf Seite der Betroffenen formieren.

Im zweiten Teil ihres Vortrages appellierte Natascha Mueller-Hirth am Beispiel von Konfliktbearbeitung an der Schnittstelle von Klimawandel und Entwicklung dafür, auch Gewaltphänomenen, die nicht der vorherrschenden Logik von Spektakel und Unmittelbarkeit genügen, mehr Beachtung zu schenken. Hier arbeitete sie ebenfalls heraus, wie Macht in Narrativen über Zeitlichkeit verortet und durch diese ausgeübt wird.

Zeit als solche sei, so Natascha Mueller-Hirth, nie neutral. Vielmehr sei sie immer gleichzeitig von Ungleichheiten geprägt und wirke ihrerseits wiederum auf Ungleichheiten ein.

Annick Wibben (Stockholm) schloss die dreitägige Konferenz mit ihrem Vortrag »Feminist Narratives of Peace & War : Conceptualizing Violence as Continua«. Einprägsam appellierte sie an die Teilnehmenden, Gewalt über Kontinuitäten hinweg zu denken und in Analysen von Gewalt verschiedene, sich überlagernde Dominanzstrukturen zu beachten. Dabei betonte sie insbesondere den Wert von feministischen und intersektionalen Perspektiven für die Analyse von Zeit und Zeitlichkeit und warb für die Betrachtung von Gewalt als etwas Gemachtem, damit aber auch als etwas potenziell Aufhebbarem.

Theoretische und praktische Perspektiven auf Zeit und Zeitlichkeit

Auch in den Panels wurden aus verschiedenen Forschungsfeldern heraus eine große Vielfalt an Themen und Konzepten behandelt und bereichernde Denkanstöße gegeben. Dabei zog sich die Frage, wie Forschende über eine zu vereinfachende, zeitlich lineare Betrachtung von Konflikt- und Friedensprozessen hinausgehen oder deren Komplexität besser (auch konzeptionell) gerecht werden können, wie ein roter Faden durch viele Beiträge.

Ingrid Samset lud beispielsweise dazu ein, sich vom Verständnis von politischen Transitionen und Aufarbeitungsprozessen als von vornherein festgelegten, eindimensional ablaufenden Prozessen mit einem klaren Start- und Zielpunkt zu lösen. Stattdessen bedarf es einer ergebnisoffeneren Konzeption, die sich von Beginn an besser an sich wandelnde Umstände sowie Erwartungen und Prioritäten anpassen kann.

Gleichzeitig schärfte die Konferenz den Blick dafür, dass Transitionen durch die Wechselwirkungen von geplanten und ungeplanten Prozessen beeinflusst werden und simultan ablaufende, gegensätzliche Entwicklungen beinhalten können. Beide Faktoren gilt es, in die Analyse mit einzubeziehen. Dieser Aspekt wurde etwa im Vortrag von Mariam Salehi herausgear­beitet.

Hinsichtlich der Ausgestaltung von »Transitional Justice«-Prozessen wurde darüber hinaus klar, dass nicht selbstverständlicherweise von homogenen Gerechtigkeitsverständnissen und -forderungen innerhalb einer Opfergruppe ausgegangen werden kann. Vielmehr sind diese, wie etwa Julie Bernath in ihrem Beitrag erörterte, in hohem Maße abhängig von Faktoren wie Lebensbedingungen, momentanen Prioritäten und Bedürfnissen, oder generationeller Zugehörigkeit und befinden sich somit in einem steten Prozess des Wandels und der Anpassung – abhängig von Zeit und Ort. Diese Komplexität von Gerechtigkeitsverständnissen gilt es beim Sequenzieren von »Transitional Justice«-Mechanismen zu beachten.

Die Bedeutung zeitlicher Aspekte wurde auch bezüglich der besonderen Rolle von Erinnerung und intergenerationellen Dynamiken in Konflikten und Aufarbeitungsprozessen offensichtlich : Wie etwa Bertie Kangoya’s Vortrag zeigte, überlagern sich insbesondere in langanhaltenden Konflikten Erinnerungen an Gewalterlebnisse der Vergangenheit mit Gewaltkontinuitäten in der Gegenwart. Somit wird die Gewalt­erfahrung ständig neu aktualisiert. Dabei kommt Trauma eine besondere Bedeutung zu : Trauma kann in seiner Gewalthaftigkeit gleichzeitig sowohl als zeitlich disruptive Erfahrung, als auch zeitlich ungebrochenes Element, welches bis in die Gegenwart hineinragt und über Generationen hinweg weitergegeben wird, verstanden werden.

Schließlich müssen auch Vorstellungen von der linearen Entwicklung kollektiver politischer Mobilisierung, etwa im Rahmen von Protesten, und rein rational-strategische Erklärungen dieses Phänomens hinterfragt werden. So zeigte etwa der Beitrag von Felix Schulte auf, wie unerwartete Trigger­events kollektive Emotionen bündeln sowie politische Mobilisierungsprozesse und Gewalteskalationen beeinflussen.

Fazit

Mit solchen und weiteren Diskussionspunkten trugen die Zentrumstage dazu bei, das Verständnis von Zeit und Zeitlichkeit zu vertiefen und schufen einen wertvollen Raum für Gespräche darüber, wie dieser elementare Fokus in der Friedens- und Konfliktforschung in Zukunft weiter verstärkt werden kann.

Insgesamt wurde deutlich, dass die verschiedenen Arten, wie Konflikt und Frieden zeitlich geordnet werden, Auswirkungen auf die Auffassungen des Gegenstandsbereiches haben. Zeitliche Dynamiken innerhalb von Konflikten wie Beschleunigung oder Verlangsamung, oder das Aufeinandertreffen unterschied­licher, potenziell konfligierender Zeitlinien in einer Konfliktarena, stellen wertvolle Bezugspunkte für die Analyse von Konfliktsituationen dar.

Darüber hinaus können »Zeitlichkeitskonstrukte« wesentlichen Einfluss auf die Fortsetzung, Transformation oder das Wiederaufleben von Konflikten haben. Dies ist beispielsweise dann wichtig, wenn Ideen von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem selbst strittig sind, oder wenn unterschiedliche Auffassungen darüber vorliegen, ob ein gewaltsamer Konflikt als (erfolgreich) beendet oder als fortlaufend zu verstehen ist. Nicht zuletzt ist dieser Einfluss sichtbar, wenn Uneinigkeit besteht hinsichtlich der zeitlichen Begrenzung beziehungsweise Offenheit eines Aufarbeitungsprozesses.

Alina de Luna Aldape, Alina Giesen, Pia Falschebner, Sara Kolah Ghoutschi und Miriam Tekath

Vage und tendenziös


Vage und tendenziös

Die IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus

von Peter Ullrich

Die »Arbeitsdefinition Antisemitismus« der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ist eine institutionelle Erfolgsgeschichte. Seit 2016 wurde sie von vielen Staaten, internationalen Organisationen und hierzulande auch vom Bundestag, mehreren Bundesländern und großen Kommunen angenommen. Auch verschiedene Institutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen haben die Definition übernommen. Doch bleibt die Definition weiter umstritten, zum Teil wegen massiver inhaltlicher und logischer Schwächen, besonders jedoch aufgrund ihrer politischen Implikationen. Insbesondere Kritiker*innen der israelischen Besatzung und Unterstützer*innen der Palästinenser*innen nehmen sie als einseitige Parteinahme im Nahostkonflikt wahr.

Mit der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« sollte ein Instrument für die notwendige Erfassung und Bekämpfung von Antisemitismus vorgelegt werden (vgl. Kasten S. 42). In einem Handlungsfeld, das durch hochgradige begriffliche Verunsicherung gekennzeichnet ist (vgl. Kohlstruck und Ullrich 2015; Kohlstruck 2020), verspricht die Definition als praktische Arbeitsgrundlage Orientierung. Tatsächlich stellt die »Arbeitsdefinition« mit ihrer konkreten, ohne Fachterminologie auskommenden Sprache sowie mit überwiegend anschaulichen Beispielen für typische antisemitische Sprache und Handlungen inzwischen eine Grundlage für die Arbeit verschiedener Nutzergruppen dar. Mit der Aufnahme bis dato nur wenig beleuchteter (israelbezogener) Aspekte von Antisemitismus erfolgte eine zum Zeitpunkt der ursprünglichen Formulierung der Definition notwendige Aktualisierung der Diskussion (Anfang der 2000er Jahre im Rahmen der EU und der OSZE). Die Definition und der Prozess ihrer Etablierung waren auch eine Reaktion auf die Welle antijüdischer Gewalt in verschiedenen Ländern Westeuropas, die sich nahostpolitisch zu legitimieren versuchte.

Eine vage Definition…

Eine nähere Untersuchung des Textes fördert gravierende Mängel zutage. Er erfüllt die basalen Anforderungen guten Definierens – eine klare und logische Bestimmung und Abgrenzung des zu Definierenden – nicht. Insbesondere durch »kann«-Formulierungen, Worthülsen („bestimmte Wahrnehmung“, die allerdings unbestimmt bleibt) und die Substitution von Bestimmungen durch Beispiele, deren Funktion aber kaum geklärt wird, ist sie äußerst vage. Die Kerndefinition ist zudem reduktionistisch. Sie hebt einige antisemitische Phänomene und Analyseebenen hervor (besonders negative Emotionen und Gewalt), spart aber andere wesentliche weitgehend aus. Dies gilt insbesondere für ideologische und diskursive Aspekte, beispielsweise den Antisemitismus als verschwörungstheoretisches Weltbild. In der Konsequenz ihrer Konzeptualisierung von Antisemitismus als emotionales und kognitives Phänomen („Wahrnehmung“) finden auch organisations­soziologische Aspekte wie die Mobilisierung in Be­wegungen und Parteien sowie deren Niederschlag in diskriminierenden institutionellen Regelungen und Praktiken nur knappe bis keine Erwähnung, ebensowenig die religiösen Dimensionen des Antisemitismus.

In der Gesamtschau verbleiben drei zentrale Aspekte äußerst vage: Als was Antisemitismus im Kern verstanden wird, welche Phänomene als antisemitisch zu betrachten sind und gegen wen genau diese sich richten. Diese Unschärfe resultiert u.a. aus missverständlichen bzw. widersprüchlichen Objektbestimmungen. Zum Beispiel wird nicht erläutert, inwiefern sich Antisemitismus gegen „jüdische und nicht-jüdische Personen“ richtet (üblich und in der Forschung verbreiteter wäre hier die Formulierung »gegen Personen als Juden«, z.B. bei falschen Zuschreibungen der Zugehörigkeit zum Judentum). Vor allem irritiert ein widersprüchliches sprachliches Alternieren des Definitionstextes zwischen zwingenden und nicht zwingenden Bestimmungen sowie zwischen Aussagen über Wesen und Erscheinungsformen des zu definierenden Begriffs. Diese Unschärfe alleine sollte reichen, den im Namen der »Arbeitsdefinition« anklingenden Auftrag der Weiterentwicklung und Schärfung ernst und von ihrer Verwendung im jetzigen Zustand Abstand zu nehmen. Befürworter*innen wie Kritiker*innen der Definition nehmen diese Probleme zur Kenntnis, doch die Intensität der Debatte um den Gegenstand1 resultiert weniger aus einem breiten gesellschaftlichen Interesse an wissenschaftlichen Gütekriterien und einem darin wurzelnden Ringen um begriffliche Klarheit, sondern aus den Implikationen der Definition und ihrer zunehmenden Verbreitung in der Debatte um den israelisch-palästinensischen Konflikt.

… im Streit um den Nahostkonflikt

Nachvollziehbar aus ihrem Entstehungskontext und zugleich angetrieben von konservativeren nahostpolitischen Interessengruppen legt die Definition großes Augenmerk auf israelbezogenen Antisemitismus. Kenneth Stern, der wichtigste Autor der Definition und aktuell einer der größten Kritiker ihrer missbräuchlichen Verwendung als politisches Zensurinstrument, verweist jedoch noch auf einen anderen wichtigen Hintergrund: Es ging zumindest ihm darum, die falsche Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus, die 1975 bis 1991 Beschlusslage der Vereinten Nationen war und mit der UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban 2001 neuen Aufwind bekommen hatte, offensiv anzugehen (Stern 2020, S. 153ff.).

Doch was immer damals die entscheidenden Beweggründe waren oder bei der heutigen Propagierung der Definition sein mögen – klar ist, dass die Fokussierung auf nahostkonflikt- oder israelbezogenen Antisemitismus in den Erläuterungen und in sieben der elf Beispiele einen Grundtenor vorgeben. Sie suggerieren, vor allem hier würde Antisemitismus auftreten (während bspw. Antisemitismus von evangelikalen Christ*innen oder der extremen Rechten kaum oder nur sehr knapp vertieft wird). Dabei werden Beispiele, die als solche klare Instanzen von Antisemitismus sind (bspw. Jüdinnen und Juden kollektiv für die israelische Politik in Haftung zu nehmen), mit solchen vermengt, die nicht zwingend antisemitisch sind und angesichts der Mehrdeutigkeiten des Beschriebenen nicht ohne weitere Kontextinformationen als antisemitisch klassifiziert werden können. Antisemitismus tritt nämlich häufig in komplexen, sich überlagernden Konfliktkonstellationen auf, bei denen eine Zuordnung zu einem spezifischen Problemkreis, wie Antisemitismus, oft nicht einfach möglich ist. Ein Beispiel ist das Kriterium der Anwendung »doppelter Standards« bei der Kritik an Israel. Sie sind als solche keinesfalls hinreichendes Kriterium, um eine antisemitische Fokussierung auf Israel von einer solchen zu unterscheiden, die mit den Spezifika israelischer Politik, ihrer weltpolitischen Bedeutung oder persönlicher Betroffenheit zusammenhängen. Doppelte Standards sind quasi universales Kennzeichen von stark involvierten Akteur*innen in antagonistischen Konflikten. Ähnliches gilt für das Beispiel der Aberkennung des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung und „die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“. Diese Positionierung würden womöglich auch rechte israelfeindliche Antisemit*innen einnehmen können, aber auch ganz andere Motivationen können für solche Positionen maßgeblich sein. Das Beispiel, als bloßes Kriterium missverstanden und (anders als es der Text des Dokuments fordert) ohne weiteren Kontext interpretiert, würde radikale postzionistische, bi- und antinationale oder anarchistische Kritiken an Israel per se unter Antisemitismusverdacht stellen.

Was das bedeutet, erfahren nicht nur vermeintlich feindliche Kritiker*innen Israels von »außen«, sondern immer ­wieder auch progressive Jüd*innen innerhalb und außerhalb des Landes, die als Verräter*innen, selbsthassende Jüd*innen, oder gar als „Kapos“ beschimpft werden (vgl. bspw. Stern 2020, S. 168ff.). Ein aktuelles Beispiel aus dem deutschen Kontext ist die Diffamierung der »School for Unlearning Zionism«. Dieses künstlerische Projekt jüdischer Israelis an der Weißensee Kunsthochschule Berlin diente der kritischen Auseinandersetzung mit dem dominanten zionistischen Geschichtsnarrativ. Massive Angriffe in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit mit dem Vorwurf der Nähe zur BDS-Bewegung (»Boykott, Divestment, Sanctions«) und damit des Antisemitismus führten zur zeitweiligen Schließung der Webseite und der öffentlichen Distanzierung der Hochschule.2 Man muss die radikal-kritische Sicht dieses Projektes auf den Staat Israel nicht teilen, um anzuerkennen, dass eine solche Dekonstruktion erstens als Teil eines kritischen demokratischen Diskurses diskutierbar sein muss und zweitens nicht ein Phänomen von »Feindschaft gegen Juden als Juden« ist – denn das wäre Antisemitismus.

Fazit

Diese Darstellungen verdeutlichen, dass die in den Erläuterungen der Definition selbst aufgestellte Maßgabe, immer den übergeordneten Kontext einer Aussage oder Handlung zu beachten, in ihrer Anwendungspraxis allzu oft ignoriert wird. Die »Arbeitsdefinition« begünstigt eine unangemessene und fehleranfällige Anwendungspraxis. In ihrer Unschärfe führt sie zu Einschätzungen von Sachverhalten, die gerade nicht auf klaren Kriterien basieren (die eine Definition eigentlich bereitstellen sollte), sondern eher auf Vorverständnissen derer, die sie anwenden, oder auf unreflektiert übernommenen Deutungsschablonen aus der öffentlichen Debatte. Die Anwendung der »Arbeitsdefinition« simuliert nur kriteriengeleitetes, objektives Beurteilen. Die Definition stellt prozedurale (Schein-)Legitimität für Entscheidungen zur Verfügung, die faktisch auf der Grundlage anderer, implizit bleibender Kriterien getroffen werden, welche weder in der Definition noch in den Beispielen festgelegt sind.

Die Schwächen der »Arbeitsdefinition« sind das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren. Die zunehmende Implementierung der »Arbeitsdefinition« mit quasi-rechtlicher Geltung (vgl. Gould 2018), beispielsweise als Grundlage von Verwaltungshandeln, hat relevante grundrechtliche Implikationen. Sie schafft für Politik und Verwaltung die Fiktion von Orientierung (und bietet zugleich die Gelegenheit, Aktivität im Kampf gegen Antisemitismus symbolisch zur Schau zu stellen). Stattdessen lädt sie als Instrument faktisch geradezu zu Willkür ein. Ein solches Instrument kann im extremen Fall genutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden. Wie weit diese Einschnitte gehen können, verdeutlichen auch internationale Entwicklungen, wie ein aktueller Vorstoß des britischen Bildungsministers, der Universitäten Budgetkürzungen androhte, sollten diese die »Arbeitsdefinition Antisemitismus« nicht implementieren (vgl. Adams 2020).

Der Versuch, mittels der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« eine allgemeingültige begriffliche Klärung herbeizuführen und die universelle Einsetzbarkeit einer solchen Definition zu garantieren, muss insgesamt als gescheitert angesehen werden. Vor allem aufgrund ihrer handwerklichen Schwächen, ihrer defizitären Anwendungspraxis, ihres trotz gegenteiliger Behauptung („nicht rechtsverbindlich“) zudem in verschiedenen Bereichen doch verbindlichen rechtlichen Status und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit mit problematischen Implikationen für die Meinungsfreiheit, kann die Verwendung der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« nicht empfohlen werden.

Wie die Entstehungsgeschichte der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« und ihre weite Verbreitung deutlich machen, gibt es – auch angesichts einer weiter bestehenden realen Bedrohung durch gegenwärtigen Antisemitismus, nicht zuletzt antisemitische Gewalt, Enthemmung in den sozialen Medien und, ganz aktuell sichtbar, in der Selbsstilisierung der Coronaleugner*innen mit Judensternen – einen großen Bedarf nach in der Praxis anwendbaren Kriterien zur Identifikation antisemitischer Phänomene. Folglich ist die Entwicklung von klaren und kontextspezifischen Instrumenten für die Praxis dringend zu empfehlen. Dazu laufen derzeit verschiedene Initiativen auf nationaler und internationaler Ebene. Hoffentlich werden diese mehr zur Öffnung der sich aktuell eher schließenden Debattenräume um das vertrackte Spannungsfeld »Nahostkonflikt und Antisemitismus« beitragen.

Dieser Artikel fußt auf einem Gutachten des Autors für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und medico international (Ullrich 2019) und stellt dessen wichtigste Ergebnisse komprimiert vor.

»Arbeitsdefinition Antisemitismus« der IHRA (2016)

Am 26. Mai 2016, entschied das Plenum in Bukarest die folgende nicht rechtsverbindlichte Arbeitsdefinition von Antisemitismus anzunehmen:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen:

Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.

Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein:

  • Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
  • Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden oder die Macht der Jüdinnen und Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Jüdinnen und Juden.
  • Das Verantwortlichmachen der Jüdinnen und Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jüdinnen und Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nichtjüdinnen und Nichtjuden.
  • Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
  • Der Vorwurf gegenüber den Jüdinnen und Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
  • Der Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
  • Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
  • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
  • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
  • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.

Das kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden für Handlungen des Staates Israel.

Antisemitische Taten sind Straftaten, wenn sie als solche vom Gesetz bestimmt sind (z.B. in einigen Ländern die Leugnung des Holocausts oder die Verbreitung antisemitischer Materialien).

Straftaten sind antisemitisch, wenn die Angriffsziele, seien es Personen oder Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht werden.

Antisemitische Diskriminierung besteht darin, dass Jüdinnen und Juden Möglichkeiten oder Leistungen vorenthalten werden, die anderen Menschen zur Verfügung stehen. Eine solche Diskriminierung ist in vielen Ländern verboten.

Anmerkungen

1) Vgl. dazu auch den klugen Text von Brian Klug (2018), der neben grundlegenden Fragen vor allem die Diskussion im Vereinigten Königreich im Blick hat.

2) Für weitere aktuelle Fälle der Beschneidung von Meinungsfreiheit in der Nahostdiskussion durch überzogene und falsche Antisemitismusvorwürfe, meist auf Basis von auf die Arbeitsdefinition gestützten Vorwürfen der Nähe zu oder der Unterstützung der BDS-Kampagne, vgl. die Beiträge in Benz (2020) und Hanloser (2020).

Literatur

Adams, R. (2020): Williamson accuses English universities of ignoring antisemitism. The Guardian, 9.10.2020.

Benz, W. (2020): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Berlin: Metropol Verlag.

Gould, R.R. (2018): Legal Form and Legal Legitimacy. The IHRA Definition of Antisemitism as a Case Study in Censored Speech. Law, Culture and the Humanities, S. 1-34.

Hanloser, G. (Hrsg.) (2020): Linker Antisemitismus? Kritik & Utopie. Wien: Mandelbaum.

International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) (2016): Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Bukarest.

Klug, B. (2018): The left and the Jews. Labour’s summer of discontent. Jewish Quarterly, 29.10.2018.

Kohlstruck, M. (2020): Zur öffentlichen Thematisierung von Antisemitismus. In: Benz, W. (Hrsg.): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Berlin: Metropol, S. 119-148.

Kohlstruck, M.; Ullrich, P. (2015): Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin. Berliner Forum Gewaltprävention 52. Berlin.

Stern, K. S. (2020):. The Conflict over the Conflict. The Israel/Palestine Campus Debate. Toronto: New Jewish Press.

Ullrich, P. (2019): Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance. Herausgegeben von der Rosa Luxemburg Stiftung. Bd. 2/2019. Papers. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung.

Dr. phil. Dr. rer. med. Peter Ullrich ist Soziologe und Kulturwissenschaftler, Senior Researcher am Zentrum Technik und Gesellschaft sowie Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.