Kompetenzen für den Frieden lernen
Kompetenzen für den Frieden lernen
Universität als Kreativwerkstatt
von Verena Brenner, Tatjana Reiber und Michaela Zöhrer
Wer Friedens- und Konfliktforschung studiert, sollte lernen, aktiv zu einem friedlichen gesellschaftlichen Miteinander beitragen und friedenskompetent handeln zu können. Der Beitrag wirft die Frage auf, wie Friedenskompetenzen in der universitären Ausbildung von Friedens- und Konfliktforscher*innen berücksichtigt und erworben werden können – und warum das wichtig ist.
Was bedeutet es friedenskompetent zu sein? Kompetenzen umfassen die Bereiche Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen. Um es bildhaft – und angelehnt an Pestalozzi – auszudrücken: Wir lernen mit Kopf (Wissen über Fakten, Theorien, Konzepte sowie kognitive Analysekompetenzen), Hand (das Können, gewisse Tätigkeiten auszuführen) und Herz (spezifische Einstellungen, die die Herangehensweise und den Umgang mit Problemstellungen und Situationen prägen).
Doch was beinhaltet es, Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen in Bezug auf Frieden zu erwerben oder einzusetzen? Frieden wird bekanntlich sehr unterschiedlich definiert. So kann etwa – Johan Galtung folgend – zwischen einem engen, negativen Friedensbegriff und einem weiten, positiven Friedensbegriff unterschieden werden. Während der enge Friedensbegriff auf die dauerhafte Abwesenheit von direkter physischer Gewalt abzielt, umfasst der weite Friedensbegriff darüber hinaus soziale Gerechtigkeit, also die Abwesenheit von struktureller und kultureller Gewalt.
Geht man von einem engen Friedensbegriff aus, dann sind Friedenskompetenzen in erster Linie mit Kompetenzen zum konstruktiven Konfliktaustrag gleichzusetzen. Wählt man einen weitergefassten Friedensbegriff, dann rückt zusätzlich die Frage in den Vordergrund, wie wir einen Zustand sozialer Gerechtigkeit anstreben oder sogar herstellen können. Dementsprechend gewinnen weitere Kompetenzen an Bedeutung, wie beispielsweise das Vermögen, Ungleichheiten und Machtasymmetrien zu erkennen und zu hinterfragen, aktives Handeln für die Beseitigung von Ungerechtigkeiten sowie die Entwicklung gemeinsamer Visionen eines – im Sinne des vorher genannten – friedlichen Miteinanders.
Friedenskompetenzen und Universität
Universitäten verstehen sich eher als »neutrale« Orte der Wissensproduktion und -vermittlung denn als Institutionen, die sich zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen positionieren. So dürfen Forschung und Lehre etwa nicht indoktrinieren und kontrovers gesellschaftlich debattierte Themen sollen auch kontrovers dargestellt werden (»Beutelsbacher Konsens« von 1976). Vor diesem Hintergrund lässt sich durchaus die Frage stellen, ob die Friedens- und Konfliktforschung einen normativen Anspruch verfolgen oder sich ausschließlich auf eine theoretische und empirisch-analytische Betrachtung von Konflikten und Friedensprozessen fokussieren sollte.
Da Frieden ein zentraler Wert der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, der wiederum die Universitäten in Deutschland verpflichtet sind, halten wir das Vertiefen und Erlernen von Friedenskompetenzen, die über den reinen Wissenserwerb hinausgehen, für eine zentrale Verantwortung universitärer Lehre. Die an deutschsprachigen Universitäten institutionalisierten Studiengänge der Friedens- und Konfliktforschung bieten die Chance, Friedenskompetenzen mehr als nur punktuell oder durch extracurriculare Angebote zu erwerben. Wie aber kann ein ganzheitliches und umfassendes Friedenslernen im Kontext universitätsspezifischer Herausforderungen gelingen? Welche Potentiale werden im Studium der Friedens- und Konfliktforschung noch nicht ausreichend ausgeschöpft oder gar verschenkt?
Kopf: Wie wird wessen Wissen gelernt?
Auf der kognitiven Wissensebene sollten Studierende über Grundlagenwissen zu friedens- und konfliktrelevanten Themen verfügen und in der Lage sein, Friedens- und Konfliktprozesse zu analysieren. In dieser Hinsicht studieren sie „gewissermaßen ‚Konfliktologie‘“ (Weller 2016), können also beispielsweise die Implikationen unterschiedlicher Friedensbegriffe und Konflikttheorien diskutieren oder den Wirkungsbereich verschiedener Methoden und Akteur*innen praktischer Friedensarbeit bewerten.
Was den Wissenserwerb anbelangt, hat sich die Friedens- und Konfliktforschung an deutschsprachigen Hochschulen in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend professionalisiert. An aktuelle Forschung anknüpfend und diese weiterentwickelnd werden fachlich einschlägige Publikationen kritisch rezipiert, Fallstudien erstellt, Theorien entwickelt und angewandt sowie Konflikte analysiert. Eine zunehmend wichtige Rolle spielt dabei auch forschendes Lernen als Lernformat, bei dem Student*innen selbst eine Fragestellung entwickeln und den gesamten Forschungsprozess durchlaufen.
Potenzial für eine Verbesserung auf der Wissensebene sehen wir hinsichtlich einer Sensibilisierung für (Macht-)Asymmetrien und des Erlernens der Fähigkeit, das vermeintlich »Normale« zu hinterfragen: Es ist wichtig ein kritisches Bewusstsein dafür zu entwickeln, was gewusst und gelernt wird und was nicht, wer eingeschlossen und wer ausgeschlossen ist, welche Erkenntniswege und Formen wissenschaftlichen Wissens als legitim anerkannt werden und welche nicht. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, aufgrund welcher gesellschaftlichen Kräfte und Machtverhältnisse dem so ist (Stichwort: epistemische Gewalt; vgl. Brunner 2018). Für die Friedens- und Konfliktforschung gilt es beispielsweise zu fragen, wieso der inhaltliche Fokus häufig auf Missstände im Globalen Süden gelegt wird, ohne zu berücksichtigen, dass viele der Maßstäbe, anhand derer wir Missstände identifizieren, einer eurozentrischen Logik folgen? Warum werden Forschung, die recht bewegungs- oder allgemein praxisnah ist, oder auch indigenes Wissen als Wissensformen häufig delegitimiert? Weshalb wird trotz der Interdisziplinarität vieler friedensbezogener Themen bestimmten Fachdisziplinen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als anderen?
Wichtig für die Entwicklung von Friedenskompetenzen scheinen uns das Offenlegen bestehender Machtungleichgewichte sowie die Bereitschaft, eigenes Wissen und dessen Bedingungsfaktoren immer wieder zu hinterfragen. Dies gilt für individuelle Gewissheiten ebenso wie für den einen oder anderen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen »Common Sense«. Jenseits des Rückgriffs auf altbewährte oder naheliegende Themen, klassische Texte und Autor*innen sowie gängige Methoden der Erkenntnisgewinnung, liegt ein großes Lernpotenzial in der bewussten (Neu-)Wahl von Inhalten. Dieser Prozess des Auswählens kann selbst als friedenskompetentes Vorgehen gestaltet werden, wenn Lehrende und Studierende gemeinsam Literatur »kritisch« im Sinne des obigen Verständnisses recherchieren und besprechen sowie individuelles (Vor-)Wissen und Erfahrungen einbringen. Studierende können dazu eingeladen werden, Sitzungsinhalte aktiv mitzubestimmen (anstatt fertige Seminarpläne »abzuarbeiten«) und neue oder eher unübliche Wege der Erkenntnisgewinnung und -präsentation auszuprobieren (warum nicht einmal partizipative Aktionsforschung betreiben oder die eigenen Erkenntnisse in lyrischer Form zur Diskussion stellen?). Angedeutet ist damit bereits, dass das Studium über den reinen Wissenserwerb hinausgehen und zu einem kooperativ von Lehrenden und Studierenden verantwortungsvoll und kreativ gestalteten Raum bzw. Prozess werden kann.
Hand und Herz: Kreativwerkstatt Frieden
Wir möchten dazu ermutigen, Lehrveranstaltungen bewusst als Kreativwerkstätten des Friedens zu sehen, in denen friedenskompetentes Handeln auf fehlerfreundliche Weise ausprobiert, erlebt, reflektiert und eingeübt werden kann. In einer solchen Kreativwerkstatt ist Diversität erwünscht und Teilhabe möglich, Lehrende und Studierende kommunizieren ehrlich und wertschätzend; es gilt aber auch: im Seminar auftretende Konflikte werden konstruktiv bearbeitet und Ungerechtigkeiten klar benannt. Derart (vor-)gelebte Kompetenzen können internalisiert und durch Reflexionsprozesse hoffentlich für andere Situationen reproduzierbar werden. Für Lehrende bedeutet das, eine wertschätzende und empathische Haltung zu haben, machtsensibel zu sprechen und zu handeln sowie einen wechselseitigen Austausch mit und unter den Studierenden über das Miteinander, nicht zuletzt auch über Störungen und Widerstände, auf der Meta-Ebene anzuregen. Studierende sind gefordert, die eigenen Einstellungen und das eigene Verhalten immer wieder zu reflektieren, sich aktiv und offen einzubringen sowie Verantwortung für sich, andere und das gemeinsame Geschehen im Seminar zu übernehmen. Wichtig ist zudem der allseitig reflektierte Umgang mit bestehenden Privilegien, Machtunterschieden und Hierarchien, die es sowohl zwischen Lehrenden und Studierenden (z. B. Notengebung), aber auch unter Studierenden (z. B. Sprachkompetenz, ungleiche Redeanteile) gibt (Brenner und Reiber 2017).
Beim Erlernen konkreter Friedensfertigkeiten kommt der Handlungsorientierung in der Lehre eine besondere Bedeutung zu. Diese drückt sich zuvorderst in einer didaktischen Haltung aus, die Lernen als aktiven Prozess betrachtet und auf aktivierende Methoden der Sitzungsgestaltung baut. Freie oder strukturierte Debatten, Sensibilisierungsübungen, die zum Perspektivwechsel einladen und Aha-Erlebnisse hervorrufen, oder Rollenspiele, in denen z. B. Friedensverhandlungen durchgespielt werden, lassen sich gut in die universitäre Lehre integrieren. Sicherlich können Studierende im Studium nicht noch »nebenbei« zu Mediator*innen oder spezialisierten Friedensfachkräften ausgebildet werden – hierfür sind außeruniversitäre Lernorte unverzichtbar. Sie sollten jedoch Grundfertigkeiten lernen und Instrumente an die Hand bekommen, beispielsweise gewaltfrei zu kommunizieren oder Dialoge zu moderieren.
Aus unserer Sicht werden universitäre Lernräume noch zu wenig als Kreativwerkstätten gestaltet, in denen nicht nur der Kopf, sondern auch Hand und Herz mit einbezogen werden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Noch liegen nicht an allen Hochschulstandorten die nötigen curricularen Rahmenbedingungen vor, die eine entsprechende interaktive universitäre Lehre ermöglichen. Zudem erschweren große Gruppen, mangelnde und schlecht ausgestattete Räumlichkeiten, veraltete Technik und fehlende Sachausstattung aktives Lernen. Nicht zuletzt können Hochschullehrende nicht alle potenziell interessanten und relevanten Praxiserfahrungen und Kompetenzen mitbringen. Aus diesem Grund bietet es sich an, Expert*innen aus der Praxis in Lehre einzubinden. Darüber hinaus können Fertigkeiten, die Studierende im Rahmen von Praktika, »Service Learning« (Lernen durch Engagement), dem Ehrenamt oder Beruf erworben haben, in die universitären Lernräume einfließen.
Ein Beispiel: Zusammenarbeit in Gruppen
Das Zusammenspiel der drei Kompetenzbereiche lässt sich gut am Beispiel »Gruppendynamik« verdeutlichen (hierzu ausführlicher: Reiber 2016). Gruppenarbeit ist mittlerweile ein fester Bestandteil universitärer Lehre und findet nicht nur als Kleingruppenarbeit während einer Seminarsitzung statt, sondern kann gerade bei mehrwöchigen Projektarbeiten mit selbstgesteuerten Arbeitsprozessen sehr anspruchsvolle Formen annehmen. Diese Gruppenprozesse sind voller Lerngelegenheiten. Studierende können üben, Konfliktdynamiken wahrzunehmen, Konflikte zu thematisieren sowie zu bearbeiten, und sie können lernen, das soziale Miteinander wertschätzend und gleichberechtigt zu gestalten. Derlei Erfahrungen und Kompetenzen können vom Seminarraum auf weitere gesellschaftliche und politische Konfliktkonstellationen übertragen werden und sind zentral für das eigene friedenskompetente Wirken als Konfliktpartei oder auch als Dritte Partei in einem Vermittlungsprozess.
Noch zu selten werden Gruppenprozesse im Studium der Friedens- und Konfliktforschung jedoch dazu genutzt, um Friedenskompetenzen zu stärken. Möglich wäre das durchaus: Auf der Wissensebene könnten Erkenntnisse der Sozialpsychologie und speziell solche zu Gruppendynamiken vermittelt werden, um den konkreten Prozess der Gruppenarbeit theoretisch einzuordnen. Auf der Ebene der Fertigkeiten könnten die Studierenden bestimmte Techniken kennenlernen und einüben, die die Zusammenarbeit in Gruppen erleichtern und bei der Bearbeitung von Konflikten helfen (Moderations- und Feedbacktechniken, aktives Zuhören). In Reflexionsrunden könnten sich die Teilnehmenden vor dem Hintergrund des erworbenen Wissens und der gemeinsam gemachten Erfahrungen dann nicht nur kritisch mit ihrem eigenen Verhalten, sondern auch mit ihren zugrundeliegenden, teils unbewussten Einstellungen auseinandersetzen. Ist ihnen Harmonie beispielsweise ein wichtiger Wert, so kann die Einsicht erhellend sein, wie problematisch es in Gruppenprozessen sein kann, wenn Kritik, abweichende Meinungen, aber auch Frustration oder Wut nicht ausgedrückt und somit bestehende Konflikte nicht ausgeräumt werden können.
Umsetzung mit Mut zum Experimentieren
Wir sind vom Wert einer sich stetig weiterentwickelnden, auf Friedenskompetenzen ausgerichteten Lehre überzeugt. Nur wie können wir als Lehrende vor dem Hintergrund eigener Grenzen, zum Teil hinderlicher Rahmenbedingungen und anderer Widerstände das beschriebene Ideal in der Praxis umsetzen? Dazu gehört sicherlich eine gute Portion Mut – Mut dazu, ausgetretene Pfade zu verlassen, für eigene Werte und Normen einzustehen und gleichzeitig eigene Gewissheiten und Vorgehensweisen immer wieder kritisch zu überdenken und hinterfragen zu lassen. Dabei kann es helfen, sich als Lernende*r unter Lernenden zu verstehen; Verantwortung zu teilen und aus (gemeinsamen) Fehlern zu lernen; groß zu denken, aber mit kleinen Schritten anzufangen; Spaß am Experimentieren zu entwickeln, dabei aber regelmäßig innezuhalten und zu reflektieren; Inhalte zu verdichten, um damit Raum und Zeit für Prozesse zu schaffen; für sich und andere zu sorgen. Nicht zuletzt gehört auch dazu, immer wieder in Dialog darüber zu treten oder gar darüber zu streiten, was unter Friedenskompetenzen zu verstehen ist.
Literatur
Brenner, V.; Reiber, T. (2017): Der Umgang mit Macht. In: Lehrgut. Ein Blog für Lehrende der Friedens- und Konfliktforschung (23.05.2017).
Brunner, C. (2018): Epistemische Gewalt. Konturierung eines Begriffs für die Friedens- und Konfliktforschung. In: Dittmer, C. (Hrsg.): Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung (ZeFKo Sonderband), S. 125-153.
Reiber, T. (2016): Konfliktkompetenz üben! Zur Nutzung von Gruppenprozessen. In: Lehrgut. Ein Blog für Lehrende der Friedens- und Konfliktforschung (21.12.2016).
Weller, C. (2016): Konfliktkompetenz lehren. In: Lehrgut. Ein Blog für Lehrende der Friedens- und Konfliktforschung (16.12.2016).
Verena Brenner (Transkulturelle Trainerin/Mediatorin), Tatjana Reiber (Deutsches Institut für Entwicklungspolitik) und Michaela Zöhrer (Universität Augsburg) sind Initiatorinnen und Redakteurinnen des seit 2016 bestehenden Blogs »Lehrgut. Ein Blog für Lehrende der Friedens- und Konfliktforschung« (lehrgut.hypotheses.org).