Konflikttextilien

Konflikttextilien

Analytischer, ästhetischer und politischer Stoff für Friedensforschung und -arbeit

von Christine Andrä und Berit Bliesemann de Guevara

Von textilen Wandbildern aus Zeiten der chilenischen Militärdiktatur bis hin zu bestickten Taschentüchern zum Gedenken an die Opfer des aktuellen Drogenkrieges in Mexiko: Textile Handarbeiten, die sich mit Krieg, Gewalt und Frieden auseinandersetzen, finden sich in unterschiedlichen Weltregionen und historischen Kontexten. Der folgende Beitrag stellt einige dieser Konflikttextilien vor, macht Vorschläge zu ihrer Nutzung in Friedensforschung und Friedensarbeit und diskutiert ihr emanzipatorisches Potenzial.

Textile Formen des Protests und der Friedensarbeit sind heute so aktuell wie eh und je. Schon in den 1970er und 1980er Jahren dokumentierten Chilen*innen ihren entbehrungsreichen Alltag, die Gräueltaten des Pinochet-Regimes und ihren Widerstand dagegen in »Arpilleras« genannten textilen Wandbildern (Adams 2013), während in Großbritannien aufwändig genähte Transparente die Proteste der Frauen des Greenham Common Women’s Peace Camp begleiteten (Parker 2010). Heute nutzen Aktivist*innen in Katalonien Wandbilder im Arpillera-Stil, um Europas Umgang mit Geflüchteten
an den europäischen Außengrenzen anzuprangern. Frauengruppen in Simbabwe arbeiten mit Textilien vergangene Konflikterfahrungen und deren bis heute spürbare Nachwirkungen auf. Künstler*innen nutzen das Textile für ausdrucksstarke Werke, in denen sie auf persönliche Weise über Gewaltkonflikte reflektieren. Soziale Bewegungen in Mexiko besticken weiße Taschentücher, um gegen die im so genannten Drogenkrieg gängige Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens zu protestieren, und Menschen weltweit greifen diese Idee auf, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen.

In diesem Beitrag plädieren wir vor dem Hintergrund der „ästhetischen Wende“ (Bleiker 2017) in den Internationalen Beziehungen und der zunehmenden Beliebtheit interpretativer Methoden in der Friedensforschung (Fujii 2017) dafür, mit Konflikttextilien neue Wege der Datengenerierung und -analyse zu beschreiten, die zugleich einen Beitrag zur praktischen Friedensarbeit leisten. Dabei stützen wir uns auf Erfahrungen als Ko-Organisatorinnen und Ko-Kuratorinnen einer Konflikttextilien-Ausstellung1 und auf erste Ergebnisse unseres aktuellen
Forschungsprojekts zu textiler Biographiearbeit mit ehemaligen Kombattant*innen in Kolumbien.2 Anhand des Beispiels der Arpillera »La Cueca Sola« schlagen wir einerseits vor, Konflikttextilien als dokumentarische, visuelle und materielle Primärquellen von Konfliktwissen zu begreifen. Andererseits diskutieren wir in Bezug auf das Kolumbienprojekt, wie die Fertigung von Konflikttextilien als partizipative Methode zur Erforschung komplexer Kriegs- und Gewalterfahrungen und als Friedensarbeit genutzt werden kann.

Konflikttextilien als Primärquellen

Die Arpillera »La Cueca Sola« (Abb. 1) zeigt eine Gruppe Frauen in weißen Blusen und schwarzen Röcken, die – erkennbar am Taschentuch, das die Tänzerin in der erhobenen Hand hält – den chilenischen Nationaltanz Cueca aufführen. Eigentlich ist die Cueca ein Paartanz, doch hier bewegt sich eine Frau allein zur Gitarrenmusik. »La Cueca Sola« dokumentiert eine kreative Form des Protests gegen die Diktatur Pinochets (1973-1990): Die Cueca Sola tanzten Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Töchter verschwundener Männer allein an öffentlichen Orten, ein Foto des Vermissten am Revers,
um auf die Grausamkeiten des Regimes aufmerksam zu machen. Zugleich stellen auch die Arpilleras selbst eine kreative Protestform dar. Weltweit existieren Dutzende Versionen von »La Cueca Sola«. Die auf S. 7 abgebildete wurde von Violeta Morales in Chile gefertigt, dann von Takahashi Masa’aki, Professor in lateinamerikanischer Geschichte und Mitglied der japanischen Solidaritätsbewegung mit Chile, erworben und gelangte als Schenkung zuerst an das Oshima-Hakko-Museum (Japan) und schließlich in die Conflict Textiles Collection (Nordirland).

Der Lebensweg von »La Cueca Sola« verweist auf die unterschiedlichen Funktionen, die Konflikttextilien erfüllen können: Sie dokumentieren Gewalt, erinnern an ihre Opfer, drücken Solidarität aus, verschaffen finanzielle Unterstützung; durch sie wird Wissen in Museen öffentlich zugängig und in Sammlungen archiviert. Um das von ihnen verkörperte Wissen für die Friedensforschung nutzbar zu machen, können Konflikttextilien als Primärquellen auf drei analytischen Ebenen erschlossen werden.

Erstens stellen Konflikttextilien historische Sachquellen dar, deren Bedeutung und Glaubwürdigkeit quellenkritisch untersucht werden können. Wovon berichtet die Konflikttextilie? Wann, wo, von wem, an wen gerichtet, in welchem Kontext, mit welcher Absicht und in welchem zeitlichen und räumlichen Abstand zu den in ihr dokumentierten Ereignissen wurde sie angefertigt? »La Cueca Sola«, deren Geschichte gut dokumentiert ist, berichtet von den Erfahrungen ihrer Schöpferin. Nachdem ihr Bruder Newton im August 1974 vom Pinochet-Regime festgenommen worden war, machte Violeta Morales die Suche nach
ihm und den Protest gegen das Regime zu ihrer Lebensaufgabe: Sie engagierte sich in Menschenrechtsinitiativen, als Arpillerista und ab 1978 auch in einer Folklore-Tanzgruppe von Angehörigen der Opfer der Diktatur. Als sie 1989 kurz vor dem Ende der Diktatur »La Cueca Sola« nähte, blickte Morales auf anderthalb Jahrzehnte des Aktivismus zurück und richtete zugleich den Blick nach vorn: „Ich hoffe, dass die Arpilleras anderen Generationen, nicht nur in Chile, sondern in der ganzen Welt, als Zeugnis dienen werden, damit andere mehr lernen können, als wir zu lernen
vermochten
. (in Agosín 2008, S. 93) Als historische Quelle von dokumentarischem Wert bietet diese Arpillera ein retrospektives Fenster auf den alltäglichen zivilen Widerstand gegen die chilenische Diktatur.

Zweitens können Konflikttextilien als visuelle Quellen analysiert werden. Was bildet eine Textilie ab? Wie bringen ihr Bildaufbau, ihre Farbgebung und ihre Symbolik ihr politisches Anliegen zum Ausdruck? Eine visuelle Analyse hilft, den ersten Eindruck zu hinterfragen, den viele Betrachter*innen von Arpilleras haben: dass es sich bei ihnen um farbenprächtige, aber letztlich unpolitische, ästhetisch schlichte Artefakte handelt. »La Cueca Sola« erzielt ihre visuelle Wirkmacht durch Komposition, Farben und Symbolik. Die Perspektivgebung scheint den Betrachter*innen einen Platz im Zuschauerraum
des Theaters zuzuweisen, in dem die Solo-Cueca im Mai 1978 uraufgeführt wurde. Die schwarz-weiße Kleidung der vor kräftig pinkem und violettem Hintergrund tanzenden Frauen bricht subversiv die traditionelle Form der Cueca, die normalerweise von bunt gekleideten Paaren getanzt wird und die unterschiedlichen Emotionen und Phasen einer Liebesbeziehung symbolisiert, was das Fehlen der Männer besonders unterstreicht.

Drittens stellen Konflikttextilien materielle Quellen dar, die ein auf Sinneseindrücken basierendes und durch unterschiedliche soziale Kontexte geprägtes Konfliktwissen in sich tragen. Aus welchen Materialien und mit welchen Methoden wurde eine Textilie kreiert? Wurden die Materialien gekauft oder recycelt? Was sagt uns dies über ihr Anliegen und ihren Entstehungskontext? Wie verändert sich die Bedeutung, wenn eine Textilie ins Ausland verkauft oder in eine Sammlung aufgenommen wird? Bei »La Cueca Sola« fällt hier zunächst der gehäkelte Rahmen auf, der sie als »textiles Gemälde«
kennzeichnet, sowie die Applikationstechnik, die als einfaches Nähverfahren von vielen Arpilleristas genutzt wurde. Als Materialien für Arpilleras dienten oft abgelegte Kleidungsstücke – weil Stoffe Mangelware waren, aber auch, weil die Arpilleristas so mittels persönlicher Gegenstände von ihren Erfahrungen erzählen konnten. Die Erfahrungen des Verlusts direkter Angehöriger und der unterschiedlichen Formen kreativen Protests waren für Morales mit widerstreitenden Gefühlen verbunden, wie sie auch in »La Cueca Sola« zum Ausdruck kommen: „Wir wollten nicht nur sticken und unsere
Trauer hinausweinen, sondern wir wollten unsere Protestbotschaft auch [
fröhlich] singend verbreiten. (in Agosín 2008, S. 88) Die buchstäbliche Weltreise, welche »La Cueca Sola« seit 1989 unternommen hat, zeugt von der wichtigen Rolle, die internationale Solidarität für Friedensarbeit damals wie heute spielt, und davon, wie Konflikttextilien etwa im Rahmen von Ausstellungen einen neuen Abschnitt ihres soziales »Lebens« beginnen, der weit über ihren ursprünglichen Entstehungskontext hinausreichen kann.

Konflikttextilien als kreative Forschungsmethode

Konflikttextilien sind auch als eine Methode für die Forschungspraxis nutzbar, die zugleich praktisch zur Friedensarbeit beitragen kann. In unserem Forschungsprojekt zum Versöhnungsprozess in Kolumbien betreiben wir narrative und textile Biographiearbeit mit ehemaligen Kombattant*innen der FARC-Guerilla (Abb. 2), um ihre Perspektiven auf den Konflikt und den Friedensprozess zu ergründen und sie durch Ausstellungen der im Projekt entstehenden Textilien mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft ins Gespräch zu bringen (Bliesemann de Guevara und Arias Lopez 2019). Unsere Forschung zeigt zum
einen auf, wie strukturelle und physische Gewalt­erfahrungen im ländlichen Kolumbien Entscheidungen zum Eintritt in die Guerilla beeinflussten. Zum anderen legt sie die vielschichtigen Biographien der demobilisierten Kämpfer*innen offen, die neben dem Leben in der FARC etwa auch Familien- und Geschlechterrollen und persönliche und kollektive Wünsche und Hoffnungen umfassen, und ermöglicht so die Erzählung von nicht immer nahtlos zusammenpassenden politischen, praktischen und emotionalen Dimensionen der Lebensläufe unserer Teilnehmer*innen.

Nadelarbeit ist dabei eine zentrale Methode: Unsere Teilnehmer*innen sind eingeladen, ihre Erfahrungen und Botschaften in Form einer Seite eines »textilen Buches« zu nähen oder zu sticken. Dieses »textile Erzählen« ist für unsere Forschungsmethode auch insofern bedeutsam, als die manuelle, repetitive, kollektive und über einen längeren Zeitraum erfolgende Handarbeit eine Atmosphäre der Öffnung und des Austauschs über schwierige Themen befördert und in einem durch harte Arbeit geprägten Alltag Raum und Zeit für persönliche Reflexion schafft.

Die entstehenden textilen Bücher dienen nicht nur der Datengenerierung: Als Wanderausstellung bringen sie die Erfahrungen der ehemaligen FARC-Mitglieder anderen Gesellschaftsgruppen näher und nuancieren so die in den Medien und der Politik dominanten Narrative, welche die ehemaligen Kämpfer*innen weiterhin vornehmlich als Feind*innen und Terrorist*innen bezeichnen. In unserer Arbeit mit Frauen in einem armen Stadtteil Medellíns hat dieser textile Dialog bereits zu einem Umdenken über den bis dato kritisch beäugten Friedensprozess geführt: Die Frauengruppe arbeitet an einem textilen
»Wörterbuch der Versöhnung«, in dem sie ihre neu gewonnen Erkenntnisse über die Komplexität des kolumbianischen Konflikts reflektieren. So wird Friedensforschung mit Konflikttextilien zur praktischen Friedensarbeit.

Ästhetik, Politik und Emanzipation

„Bei ästhetischer Politik“, so Roland Bleiker (2017, S. 261), „[…] handelt es sich um die Fähigkeit, Abstand zu gewinnen, zu reflektieren, politische Konflikte […] auf neue Weise zu sehen, zu hören und zu spüren. Eine so verstandene Politik kann neue Denk- und Handlungsräume und Adressat*innenkreise erschließen. Konflikttextilien können eine zentrale Rolle dabei spielen, politische Konflikte auf neue Weise wahrnehmbar zu machen, und so ein emanzipatorisches Potenzial entfalten. Bleiker stützt sich auf die Theorie Jacques Rancières (2006), für den
sich Politik und Ästhetik wechselseitig implizieren. Unter Ästhetik versteht Rancière die sozial und politisch konstituierte »Aufteilung des Sinnlichen« – des Sichtbaren und Nicht-Sichtbaren, Hörbaren und Nicht-Hörbaren, Spürbaren und Nicht-Spürbaren – und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Unmöglichkeiten politischer Teilhabe. Hingegen besteht Politik für ihn aus der Konfrontation der gegebenen Aufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren und der Möglichkeiten zur Teilhabe mit einer alternativen Ordnung.

Folgt man diesem Verständnis von Ästhetik und Politik, so sind Konflikttextilien gerade insofern politisch, als sie gegebene gesellschaftliche Aufteilungen des sinnlich Wahrnehmbaren und der politischen Teilhabe infrage stellen und zu verändern suchen. Das emanzipatorische Potenzial von Konflikttextilien liegt dabei einerseits darin begründet, dass sie marginalisierten Stimmen – seien es Frauen aus den Slums Santiago de Chiles oder ehemalige FARC-Rebell*innen im ländlichen Kolumbien – Gehör verschaffen und jene sehr persönlichen Erfahrungen sichtbar machen, die in den Medien
zugunsten eines Fokus auf »high politics« sonst wenig Beachtung finden. Andererseits bieten Konflikttextilien gerade durch ihre visuellen und materiellen Aspekte eine Möglichkeit, sich der gelebten Komplexität von Krieg und Gewalt anzunähern, die Grenzen des sinnlich Erfahrbaren zu verschieben und damit das für Friedensprozesse wichtige Verstehen anderer Positionen und Erfahrungen zu ermöglichen.

Anmerkungen

1) »Stitched Voices/Lleisiau wedi eu Pwytho«, Aberystwyth Arts Centre in Aberystwyth, Wales/Vereinigtes Königsreich, 25.3.-13.5.2017.

2) Internationales Forschungsprojekt »(Des)tejiendo miradas sobre los sujetos en proceso de reconciliación en Colombia/(Un)Stitching the subjects of Colombia’s reconciliation process«, gemeinschaftlich gefördert durch Colciencias, Kolumbien (Projektreferenz FP44842-282-2018) und Newton Fund/AHRC, Großbritannien (Projektreferenz AH/R01373X/1), getragen von der Universität von Antioquia, der Universität Aberystwyth und dem Verein der Opfer und Überlebenden Nordost-Antioquias (­ASOVISNA).

Literatur

Adams, J. (2013): Art Against Dictatorship. Austin: University of Texas Press.

Agosín, M. (2008): Tapestries of Hope, Threads of Love. Lanham: Rowman & Littlefield.

Bleiker, R. (2017): In Search of Thinking Space – Reflections on the Aesthetic Turn in International Political Theory. Millennium, Vol. 45, Nr. 2, S. 258-264.

Bliesemann de Guevara, B.; Arias Lopez, B. (2019): Biographiearbeit und Textilkunst am Beispiel des kolumbianischen Friedensprozesses. In: Franger, G. (Hrsg.): Alltag, Erinnerung, Kunst, Aktion. Nürnberg: Frauen in der Einen Welt, S. 50-53.

Conflict Textiles Collection; cain.ulster.ac.uk/conflicttextiles/.

Fujii, L. (2017): Interviewing in Social Science Research. New York: Routledge.

Parker, R. (2010): The Subversive Stitch. London: I.B. Tauris.

Rancière, J. (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin: b-books.

Stitched Voices Blog; stitchedvoices.wordpress.com/.

Dr. Christine Andrä ist Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »(Un)Stitching the subjects of Colombia’s reconciliation process« am Department für Internationale Politik der Universität Aberystwyth in Wales.
Dr. Berit Bliesemann de Guevara ist Forscherin und Dozentin am Department für Internationale Politik der Universität Aberystwyth in Wales.

Festung Europa?

Festung Europa?

51. Kolloquium der AFK, 7.-9- März 2019, Erfurt

von Daniel Beck und Alexandra Engelsdorfer

Das 51. AFK-Kolloquium fand vom 7. bis zum 9. März 2019 unter dem Titel »Von der Friedensmacht zur Festung Europa?« im Augustinerkloster in Erfurt statt. Schwerpunktthema bildete das veränderte Verständnis inneren und äußeren Friedens in Bezug auf Europa. Die AFK-Vorsitzende Bettina Engels und Uwe Trittmann von der Evangelischen Akademie Villigst gingen zu Beginn auf die große Resonanz ein, auf die das Thema des Kolloquiums gestoßen war.

Das Tagungsthema kann grob in die Blöcke Selbstverständnis der EU, Konflikte im Inneren und die EU als Akteur auf internationaler Ebene gegliedert werden und wurde von folgenden Leitfragen strukturiert:

  • Ist Europa noch eine normative Friedensmacht? War die EU jemals eine wirkliche Friedensmacht?
  • Inwieweit helfen Theorien der Friedens- und Konfliktforschung, die gegenwärtige Situation in Europa zu verstehen?
  • Was bedeutet die wachsende militärische Zusammenarbeit der EU in einer »Europäischen Verteidigungsunion«?
  • Wie unterdrücken autokratische Regierungen lokale Bevölkerungen und wie kann Europa sich dagegen positionieren?

Oliver Richmond (University of Manchester) eröffnete die Tagung mit einem Keynote-Vortrag zur Zukunft von Peacebuilding als internationales Friedenskonsolidierungskonzept. In einer genealogischen Beschreibung der Peacebuilding-Architektur zeichnete er sechs aufeinander aufbauende Ebenen nach. Dabei zeigte er eine Komplexitätszunahme bezüglich der Aufgaben und der Ausdifferenzierung von Peacebuilding auf, die zu einem Legitimitätsproblem für Peacebuilding und zu einer wachsenden Instabilität des internationalen politischen Systems geführt habe. Für die Zukunft der internationalen
Friedenskonsolidierung prognostizierte Oliver Richmond zwei mögliche Szenarien: entweder eine Rückbesinnung auf das kritische und emanzipatorische Potential von Peacebuilding, orientiert an einer Ausweitung von Menschenrechten, oder aber den Kollaps des UN-basierten Systems Peacebuilding an sich.

Das Kolloquium widmete sich auch dem Weltfrauentag am 8. März mit einigen Programmpunkten. Gabriele Wilde, u.a. Leiterin des Zentrums für Europäische Geschlechterstudien (ZEUGS), trug zu diesem Anlass eine theoretische Betrachtung vor und erläuterte, wie das Autoritäre auf die Zerstörung von Pluralität, Differenz und Vielfalt in den Gesellschaften ausgerichtet ist und damit die Grundlagen für demokratische Geschlechterverhältnisse auflöst. Wilde entwickelte die These, dass es sich beim autoritären Populismus um eine diskursive Praxis handelt, die in ihrer sexistisch und rassistisch
unterlegten, exkludierenden Form in zentralen Bereichen der Gesellschaft wirkt und wesentliche demokratische Grundlagen untergräbt.

Panels

Im Panel zum Thema Militärunion wurde die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) der EU-Mitgliedsstaaten in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorgestellt. Faktisch stelle die PESCO eine von Deutschland und Frankreich dominierte Reorganisation der EU-Militärpolitik dar, die mit einer Aufstockung der Verteidigungshaushalte der teilnehmenden Staaten sowie letztlich einer Förderung der EU-Rüstungsindustrie und der Rüstungsexporte einher gehe, so die Referent*innen.

Auch ein weiteres zentrales Element der aktuellen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde erläutert: der Europäische Verteidigungsfonds, der die Fragmentierung des europäischen Rüstungsmarktes überwinden soll. Der Fonds stellt Gelder für die europäische Rüstungsproduktion bereit und gilt somit als ein weiteres militärpolitisches Element zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben.

Zudem wurde der Nexus von Sicherheit, Migration und Entwicklung in der EU-Politik thematisiert. Nichtregierungsorganisationen und kirchliche Hilfswerke kritisieren, dass »Sicherheit« immer stärker zulasten ziviler Krisenprävention und Entwicklungspolitik gehe. Die Vermischung von Finanzierungsinstrumenten und die damit verbundene Zweckentfremdung von ursprünglich für Entwicklungspolitik ausgewiesenen Mitteln für militärische und polizeiliche Maßnahmen wurde beanstandet.

Besonders kritisiert wurde der Ausbau der europäischen Rüstungsproduktion, ebenso die mangelnde demokratische Kontrolle und Einflussnahme auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Ein Panel zu den EU-Afrika-Beziehungen verdeutlichte, dass die EU ihre Partner nicht nach der Größe der Organisation wählt, sondern verstärkt auch Kooperationen mit kleineren Organisationen eingeht, mit denen sich die eigenen Interessen zielgerichteter umsetzen lassen. Insgesamt sei zunehmend eine Verquickung von Ausgaben für Entwicklungs- und Sicherheitspolitik zu beobachten, was im Sinne einer Politikkohärenz problematisch sei, so die Referenten. Daraus wurden zwei Schlüsse gezogen: Es gibt eine Zunahme an Pluralität und Heterogenität der Akteursgruppen und es findet eine stärkere
Militarisierung der Außenpolitik statt.

Zudem gab es Panels zu Themen, die über das Tagungsthema hinausreichten. Dazu zählten zum Beispiel Narrative in Konflikten oder Konfliktakteure und die Rolle von Popkultur und (Selbst-) Inszenierung.

Roundtable

Ein Roundtable beschäftigte sich mit konzeptionellen Fragen in Bezug auf die EU. Darin wurde das spezifische Wirken der EU als Zivilmacht durch die institutionelle Gestalt der EU thematisiert. Insbesondere seit dem Vertrag von Maastricht habe die Bürokratie innerhalb der EU immer größeren Einfluss bekommen, und die EU sei zunehmend als internationaler Akteur aufgetreten. Da an der Spitze der EU Kollektivgremien die Entscheidungsgewalt hätten, würden stets Kompromisse benötigt, um agieren zu können. Es wurde geschildert, dass ein genereller Krisendiskurs über die EU zu beobachten sei, und es
wurde für eine Abkehr vom starren Akteursbegriff argumentiert, da die EU in sehr verschiedenen Politikfeldern aktiv sei und sich in jedem Feld anders verhalte. Die EU müsse Ian Manners folgend als »normative Macht« gesehen werden, daher solle bei der Beobachtung ihrer Aktivitäten ein stärkerer Fokus auf Sprache und Diskurse gelegt werden, so eine Referentin. Aus deklaratorischer Sicht wurde die EU als Friedensmacht gesehen. Bei der Unterstützung schwacher Demokratien und durch die Osterweiterung konnten Erfolge erreicht werden, welche jedoch in der Vergangenheit liegen. Aktuell gebe es eher
ambivalente Wirkungen der EU. Die EU fokussiere sich zunehmend auf technische Kooperationen anstatt auf Demokratieforderungen.

Die Diskussion zeigte, dass eine europäische Armee bei ungelösten inneren Streitigkeiten nicht handlungsfähig sein kann.

Rajewsky-Preis

In diesem Jahr wurden zwei Forscher*innen mit dem Christiane-Rajewsky-Preis ausgezeichnet. Elisabeth Bunselmeyer erhielt den Preis für ihre Dissertation »Trust Repaired? The Impact of the Truth and Reconciliation Commission and the Reparation Program on Social Cohesion in Post-Conflict Communities of Peru«. Zweiter Preisträger ist Robin Markwica, Universität Oxford, für seine Schrift »Emotional Choices: How the Logic of Affect Shapes Coercive Diplomacy«.

Daniel Beck und Alexandra Engelsdorfer

Debating Postcolonialism

Debating Postcolonialism

Workshop des AK Theorie der AFK, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 1.-2.2.2019

von Hartwig Hummel, Lotta Mayer und Frank A. Stengel

Was können de- und postkoloniale Perspektiven zur Friedens- und Konfliktforschung (FKF) beitragen? Was bedeutet de- und postkoloniale Kritik für bestehende Ansätze und zentrale Analysebegriffe der FKF?

Mit diesen Fragen beschäftigte sich aus der Perspektive der deutschsprachigen, in der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) organisierten FKF der zweitägige Workshop des AK Theorie der AFK, der am 1. und 2. Februar 2019 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattfand und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert wurde. Der Ausgangspunkt des Workshops »Debating Postcolonialism – Eine kritische Auseinandersetzung mit postkolonialen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung« war die Beobachtung, dass die international in sehr vielen
Disziplinen sehr lebhafte Debatte um de- und postkoloniale Perspektiven in der deutschsprachigen FKF – im Unterschied zur englischsprachigen – wenig rezipiert wird. Zwar fanden die genannten Ansätze mittlerweile in Form von Publikationen Eingang in die deutschsprachige FKF (vgl. etwa den von Cordula Dittmer 2018 herausgegebenen ZeFKo-Sonderband »Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung«), doch ihre Rezeption ist nach wie vor sehr begrenzt. Erstens ist die Anzahl von de- und postkolonialen Beiträgen bislang noch sehr überschaubar; zweitens
ist zu beobachten, dass eine systematische – ob nun affirmative oder kritische – inhaltliche Auseinandersetzung mit solchen Perspektiven bisher, wenn überhaupt, in nur sehr geringem Maß stattfindet.

Dies ist insofern überraschend, als de- und postkoloniale Perspektiven zum einen mit ihrer Kritik an der Fortschreibung kolonialer Hierarchien zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“ (Stuart Hall) durch westliche »Friedens-« und »Entwicklungs-« Politik – einschließlich ihrer teilweise sehr gewalt­reichen Folgen, welche ihre Bezeichnung konterkarieren – einen zentralen Analysegegenstand der FKF ins Visier nehmen. Mehr noch: Teils stellen die genannten Politikbereiche auch ein Betätigungsfeld der FKF dar, insofern diese sich auch als praktische Wissenschaft
versteht. Gerade vor diesem Hintergrund wäre zum anderen zu erwarten, dass die FKF (und zwar auch die deutsche) darüber diskutiert, ob die von Vertreter*innen post- und dekolonialer Ansätze konstatierte Verstrickung akademischer Wissensproduktion in die Reproduktion von Eurozentrismus und Kolonialität auch in der FKF vorzufinden bzw. in manche ihrer zentralen Begriffe eingeschrieben ist. Dies wäre umso mehr zu erwarten, als die FKF, wie Christoph Weller argumentiert, eine „reflexive Wissenschaft“ ist, d.h. eine Wissenschaft, die kritisch ihre eigene Wissensproduktion hinterfragt.
Jedoch finden diese Auseinandersetzungen, soweit wir das überblicken, bislang allenfalls sehr randständig statt.

Vor diesem Hintergrund war es das Ziel des Workshops, Vertreter*innen de- und postkolonialer Ansätze mit Friedensforscher*innen zusammenzubringen, die sich bislang nicht oder nicht primär mit solchen Ansätzen befasst haben, um die theorieübergreifende Debatte über de- und postkoloniale Perspektiven voranzutreiben – aber nicht über die Köpfe von deren Vertreter*innen hinweg, sondern im Dialog mit ihnen. Gemeinsam sollte der Beitrag de- und postkolonialer Ansätze zur FKF, aber auch deren Grenzen, ausgelotet werden. Nachfolgend fassen wir zentrale Diskussionspunkte, Schlussfolgerungen
und offene Fragen zusammen, die unserer Ansicht nach von übergreifendem Interesse für die FKF sind.

Zentrale Diskussionspunkte waren (1) die Frage nach dem Verhältnis von kritischen und postkolonialen Ansätzen in der FKF, (2) die Vor- und Nachteile eines um den Begriff der »epistemischen Gewalt« erweiterten Gewaltbegriffs, womit auch die Frage nach der Möglichkeit gewaltfreier Wissenschaft überhaupt angesprochen war, und (3) die wiederum damit verbundene Frage der Bewertung von westlicher Moderne und Rationalität überhaupt.

Kritische und postkoloniale Ansätze in der FKF

Da die meisten, wenn nicht sogar alle, Workshop-Teilnehmer*innen sich explizit selbst als Vertreter*innen einer kritischen FKF verstanden, waren die miteinander verbundenen Fragen, worin post- und dekoloniale Ansätze mit anderen kritischen Ansätzen übereinstimmen, wo zentrale Unterschiede liegen und was erstere entsprechend einer kritischen FKF noch hinzufügen, von wesentlichem Interesse. Übereinstimmung bestand dahingehend, dass die FKF in zwei Dimensionen kritisch sein müsse: zu den sozial hergestellten Gegebenheiten, die sie in ihrem Feld vorfindet (also zum empirischen Gegenstand), als
auch zu sich selbst. In beiden Dimensionen, auch hier waren die Diskutierenden sich einig, leisten post- und dekoloniale Ansätze einen wichtigen Beitrag.

Besonders lebhaft entwickelte sich die Debatte im Hinblick auf die spezifischen forschungsethischen Folgerungen, die sich aus einer post- bzw. dekolonialen Sichtweise ergeben. Konsensuell war die Forderung, vorab das persönliche Erkenntnisinteresse und den eigenen Standpunkt zu reflektieren und nicht bloß den jeweiligen Fall weiterhin aus einer distanzierten Perspektive zu analysieren. Kontrovers diskutiert wurde dagegen der Versuch, sich vermeintlich authentischer, vorkolonialer Begriffe und Bewertungen zu bedienen. Allerdings verwiesen die anwesenden Vertreter*innen postkolonialer
Perspektiven darauf, dass auch die Orientierung an universalistischen, global geltenden Werten, wie z.B. den Menschenrechten, angesichts von deren Entstehungszusammenhang in der mit dem Kolonialismus eng verwobenen westlichen Aufklärung keinesfalls unproblematisch sei.

Michaela Zöhrer wies in ihrem Papier einige Punkte zurück, die sehr häufig aus der Perspektive anderer kritischer Ansätze an postkolonialen Studien vorgebracht werden (insbesondere den einer Ausblendung materieller Ungleichheiten durch einen bloßen Fokus auf symbolische Ungleichheit). Auf der anderen Seite warf Hartwig Hummel die grundsätzliche Frage nach dem Standpunkt postkolonialer Kritik auf: Wo verorteten sich denn de- und postkoloniale Ansätze selbst in der Wissenschaft, wenn sie doch gleichzeitig behaupteten, dass die Wissenschaft als Teil der Moderne durch und durch kolonial
durchdrungen sei?

Die Diskussion nach dem Standpunkt de- und postkolonialer Ansätze führte zum grundlegenden epistemologischen bzw. metaethischen Problem aller »kritischen« (auch z.B. feministischen oder kapitalismuskritischen) Ansätze, nämlich der Frage, inwieweit Wissenschaftler*innen es vermögen, einen Diskurs kritisch zu reflektieren und ihm widersprechende Positionen zu formulieren, wenn sie doch im Foucault’schen Sinne durch ihn erst objektiviert (zu Subjekten gemacht) werden. Denn bei aller Heterogenität teilen kritische Ansätze ja die Annahme, dass es eben keinen Archimedischen Punkt außerhalb von
Gesellschaft gibt, von dem aus letztere objektiv beobachtet werden könnte.

Epistemische Gewalt: Kann Wissenschaft gewaltfrei sein?

Ein weiterer Gegenstand intensiver Diskussion war der Begriff der »epistemischen Gewalt« in Claudia Brunners Beitrag. Brunner versteht darunter den „Beitrag zu gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, der im Wissen selbst, in seiner Genese, Ausformung, Organisation und Wirkmächtigkeit angelegt ist“ (Brunner 2015: Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie. In: Friedensforschung in Österreich, hrsg. von Wintersteiner und Wolf; S. 39). Diese Debatte verweist zunächst auf die (für die FKF nicht ganz neue) Frage der
Vor- und Nachteile einer Erweiterung des Gewaltbegriffs. Einerseits geht es dabei um das Bemühen, die Rolle von Wissen bzw. Diskursen, Kultur usw. beim Entstehen und dem Fortbestand von physischer Gewalt ernst zu nehmen; andererseits führt dies zum Problem der Unterscheidbarkeit von angrenzenden Phänomenen, wie sozialer Ungleichheit, und zur Sorge, ob eine Erweiterung des Gewaltbegriffs möglicherweise auch für Delegitimierungsstrategien genutzt werden könnte, wie in der Diskussion insbesondere Klaus Ebeling hervorhob. Allerdings gingen Brunners Beitrag und die an ihn anschließende Diskussion
in mehreren zentralen Aspekten über die in der FKF etablierten erweiterten Gewaltbegriffe hinaus. Erstens kritisierte Brunner Johan Galtungs Konzept der kulturellen Gewalt als ein Beispiel für Eurozentrismus. Zweitens wurde heftig diskutiert, inwieweit Galtung vorgeworfen werden könne, selbst Wissen unsichtbar gemacht zu haben, indem er zwar de- und postkoloniale Argumente aufgenommen habe, dies allerdings nur in relativ holzschnittartiger Weise und ohne die Quellen derart zu nennen, dass die Herkunft der Argumente nachvollzogen werden könne. Drittens stellte Brunner die grundsätzlichere
Frage, inwieweit epistemische Gewalt überhaupt jemals vollkommen vermieden werden könne und, damit verbunden, ob gewaltfreie Wissenschaft überhaupt möglich sei. In seinem Kommentar bezweifelte Christoph Weller jedoch, dass die Dekonstruktion wissenschaftlicher Autorität durch die Offenlegung impliziter Annahmen und inhärenter Widersprüche – ein zentraler Anspruch vieler »kritischer« Analysen – aus methodologischer Sicht überhaupt möglich sei und wenn doch, ob diese automatisch zu einer Reduktion epistemischer Gewalt führe.

Die hier aufgeworfene Frage der (Mit-) Verantwortung von Wissenschaft zog sich als eine zentrale Diskussionslinie durch die gesamte Tagung. Alke Jenss und Ruth Streicher erinnerten an die Verquickung der Entstehungsprozesse von moderner Wissenschaft, Kolonialismus und Kapitalismus. Ebenso wurde darauf verwiesen, dass Wissenschaft dazu genutzt wurde und wird, andere Wissensformen und -bestände insbesondere in den Ländern des Globalen Südens zu delegitimieren. Während in diesem Punkt weitgehend Einigkeit unter den Tagungsteilnehmer*innen bestand, blieb jedoch die Frage nach den Konsequenzen
einer inhärenten Gewaltsamkeit von Wissenschaft für den von ihr erhobenen Wahrheitsanspruch und für ihr emanzipatorisches Potential offen. Soll Wissenschaft ihren Wahrheitsanspruch – der, hier bestand Einigkeit, nur kontingenterweise auch eingelöst werden kann – aufgeben? Oder ist der Wahrheitsanspruch im Gegenteil konstitutiv auch für die Möglichkeit von Emanzipation im Sinne der Überwindung bestehender Abhängigkeiten und Machtungleichgewichte und als solcher gerade auch in emanzipatorischer Absicht aufrechtzuerhalten, trotz aller Uneinlösbarkeit und aller Ambivalenz infolge der
Instrumentalisierbarkeit von Wissenschaft und ihrer Ergebnisse? Hier wurden sehr unterschiedliche wissenschaftstheoretische Positionen erkennbar, die eine vertiefende Diskussion lohnen würden.

Zur Bewertung der Moderne

In einem engen Zusammenhang mit dieser wissenschaftstheoretischen Frage stand die noch grundlegendere Auseinandersetzung über die Definition und Bewertung moderner Rationalität. Hier wurden sehr grundlegende Differenzen zwischen einigen der Tagungsteilnehmer*innen sichtbar – wobei, dies soll hier ausdrücklich betont werden, die Trennlinie keinesfalls einfach zwischen Vertreter*innen postkolonialer Ansätze und »dem Rest« verlief. Die zentrale und in sehr unterschiedlicher Weise beantwortete Frage lautete letztlich – in Anlehnung an Jürgen Habermas reformuliert –, ob die
westliche Rationalität mit der instrumentellen Rationalität, die konstitutiv für Kapitalismus und Kolonialismus war, zusammenfalle oder ob dies nicht der Fall sei, weil auch noch andere Formen der Rationalität bestünden. Klaus Ebeling argumentierte, dass die westliche Moderne nicht nur von einem Zugewinn an Verfügungswissen getragen sei, sondern auch von einem Zugewinn an Reflexionswissen. Der Zugewinn an Reflexionswissen, von dem die moderne Wissenschaft ein Teil sei, bedeute auch ein Potential für Emanzipation.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Auseinandersetzung mit de- und postkolonialen Perspektiven von den Teilnehmenden als notwendig und gleichzeitig nutzbringend für die eigene Arbeit gesehen wurde – insbesondere hinsichtlich der Sensibilisierung für Selbstreflektion, die zwar in der FKF durchaus thematisiert wird, aber nicht notwendig in Forschung und Lehre ausreichend Beachtung findet. Gleichzeitig muss ebenso festgehalten werden, dass der Workshop mehr Fragen, auch sehr grundlegender wissenschafts- und gesellschaftstheoretischer Art, aufgeworfen als beantwortet hat. Er kann
nur Anfangspunkt eines ungleich breiteren Verständigungsprozesses innerhalb der FKF sein, den es noch anzustoßen gilt. Denn auch wenn durchaus kontrovers über einzelne Aspekte diskutiert wurde, bestand grundsätzliche Einigkeit darin, dass die FKF gut daran täte, de- und postkoloniale Argumente ernst zu nehmen. Insbesondere die Kritik des Eurozentrismus und der nachdrückliche Hinweis auf eine mögliche unbeabsichtigte Fortschreibung von Kolonialität auch in Forschung und Lehre sind für eine FKF wichtig, die sich dem Ideal der Gewaltfreiheit verschrieben hat, denn eine unzureichende Reflexion
birgt letztlich das Risiko, dass die FKF durch die unbeabsichtigte Legitimierung gewaltsamer Verhältnisse ihre eigenen Bemühungen untergräbt.

Hartwig Hummel, Lotta Mayer und Frank A. Stengel

Sackgassen in Venezuela


Sackgassen in Venezuela

von Stefan Peters

Venezuela ist Schauplatz politischen Scheiterns. Die aktuelle Regierung hat das Land in die schwerste wirtschaftliche und soziale Krise seiner Geschichte manövriert und greift auf autoritäre Maßnahmen des Machterhalts zurück. Die Opposi­tion konnte trotz massiver interna­tionaler Unterstützung aus der Krise kein Kapital schlagen. Damit haben sich auch die Außenpolitiker*innen und eine Reihe politischer Analyti­ker*innen dies- und jenseits des Atlantiks verspekuliert. Die deutsche Außenpolitik hat sich im Fahrwasser der USA und verschiedener konservativer Regierungen aus Lateinamerika gar ins diplomatische Abseits manövriert. Kurz: Venezuela ist ein Land der Sackgassen. Für politische Lösungen braucht es nun mutige politische Entscheidungen sowie die Rückkehr zu Sachthemen.

Die Bolivarische Revolution in Venezuela1 ist gescheitert, und seit Jahren übt sich die Regierung von Maduro vor allem in den Disziplinen Krisenmanagement und Machterhalt. Alle sozio-ökonomischen Makrodaten sind drastisch abgestürzt. Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Nach langem Schweigen publizierte die venezolanischen Zentralbank auf Druck des Internationalen Währungsfonds vor kurzem erneut statistische Daten. Das Bruttoinlandsprodukt ist demnach zwischen Ende 2014 und dem dritten Quartal 2018 um etwa 55 % geschrumpft und die Inflation außer Kontrolle geraten (Banco Central 2019). Nicht-offizielle Studien malen ein noch dunkleres Bild und verweisen vor allem auf die rasant steigenden Armutszahlen. Demnach leben – angesichts dramatisch gesunkener Reallöhne – mittlerweile fast 90 % der Venezolaner*innen in Armut. Diese Daten sind der statistische Ausdruck einer dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Situation. Die Produktion im Land liegt am Boden, und die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, alltäglichen Konsumgütern und vor allem Medikamenten kann bei Weitem nicht sichergestellt werden. Auch die Versorgung mit Wasser und Strom ist äußerst prekär. Kurz: Die Bolivarische Revolution gleicht einem Scherbenhaufen. Wie konnte es dazu kommen?

Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution

Noch vor wenigen Jahren löste die Bolivarische Revolution in Venezuela Hoffnungsstürme innerhalb der internationalen Linken aus. Unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez (1999-2013) fand in dem südamerikanischen Land ein beachtlicher Politikwandel statt. Im Kontext einer schweren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise, die das Land in den 1980er und 1990er Jahren erlebte, distanzierte sich Chávez vom Neoliberalismus und wies dem Staat erneut eine stärkere Rolle in der Wirtschaft zu. Weiterhin stellte er die soziale Frage in den Mittelpunkt und versprach die Situation der benachteiligten Bevölkerung zu verbessern sowie die schreienden Ungleichheiten zu reduzieren. Zudem wurde die vormals elitenzentrierte Demokratie runderneuert und es wurden innovative politische Partizipationsmöglichkeiten eingeführt. Auf der internationalen Ebene wurde Venezuela bald zum Aushängeschild der lateinamerikanischen Linkswende. Chávez spielte geschickt auf der Klaviatur lateinamerikanischer Solidarität, kooperierte verstärkt mit Kuba sowie bald mit anderen linksgerichteten Regierungen Lateinamerikas und würzte seine Politik mit einer starken Prise Antiimperialismus, ohne dabei die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA in Frage zu stellen.

Die Richtungsverschiebung hatte politische Konflikte mit den traditionellen Eliten zur Folge. Der Konflikt eskalierte jedoch erst, als Präsident Chávez seine Erdölpolitik änderte und sich die Kontrolle über die Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PdVSA sicherte. Als Reaktion kam es im April 2002 zu einem Putschversuch sowie nach dessen Scheitern zu einem wirtschaftlich desaströsen Streik der Erdölindustrie. Chávez gewann den Machtkampf und überstand im Jahr 2004 auch ein Abwahlreferendum. Im Anschluss begann das kurze »Goldene Zeitalter« des Chavismus. Im Kontext steigender Erdölpreise auf dem Weltmarkt erzielte Venezuela hohe Wachstumsraten. Die vollen Staatskassen wurden unter anderem für den Ausbau sozialpolitischer Maßnahmen genutzt und ermöglichten beachtliche soziale Entwicklungserfolge. Dies wurde ergänzt von der Förderung vormals unbekannter Formen der politischen Beteiligung insbesondere der sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Chávez gab der Bevölkerung damit nicht nur Brot, sondern auch eine Stimme, und sicherte sich so Unterstützung und Loyalität (Burchardt 2016).

Der Fokus auf die erfolgreiche sozialpolitische Bilanz sowie die Wachstumszahlen versperrte jedoch vielen den Blick auf die Leerstellen der chavistischen Politik. Insbesondere konnte auch der Chavismus nicht mit der jahrzehntelangen Erdölabhängigkeit des Landes brechen. Im Ergebnis hat sich die Erdölabhängigkeit Venezuelas während der Bolivarischen Revolution sogar nochmals gesteigert. Die Rohstoffexporte machen mittlerweile etwa 98 % der Gesamtausfuhren des Landes aus. Dies war gerade in Zeiten des jüngsten Erdölbooms angesichts hoher Preise für das Hauptexportprodukt verschmerzbar, schließlich waren die sprudelnden Erdöleinnahmen der Treibstoff der Erfolge des Chavismus. So wurde der Import von Konsumgütern über die Vergabe von verbilligten Dollars massiv subventioniert. Dies ermöglichte während des Booms auch Venezolaner*innen aus bescheidenen Verhältnissen den wachsenden Konsum von Importartikeln und ließ die Sektkorken in den Konzernzentralen einer Reihe von multinationalen Unternehmen in der Automobil-, Pharma- oder Kosmetikbranche sowie von Fluglinien knallen (Peters 2019, S. 143).

Doch spätestens mit dem Einbruch der Rohstoffpreise zeigten sich die Fallstricke der Ausrichtung auf das extrak­tivistische Entwicklungsmodell. Die einseitige Abhängigkeit vom Erdölexport sowie spiegelbildlich die extreme Abhängigkeit vom Import von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Konsumgütern wurde zum entwicklungspolitischen Bumerang und ließ das Land fast unweigerlich in eine schwere Krise stürzen. Doch der Preisverfall ist nicht der einzige Grund für die chavistische Bruchlandung. Ein zentraler Faktor ist zudem der massive Rückgang der Fördermengen. Weltweit werden zwar die größten Erdölreserven verzeichnet, das venezolanische Fördervolumen ist aber stark rückläufig und erreicht aktuell nur etwa 25 % der Vergleichszahlen aus der Zeit zwischen 2004 und 2015. Niedrige Preise und stark rückläufige Exportmengen haben die Staatskassen austrocknen, die Wirtschaft erlahmen und die soziale Situation explodieren lassen (Peters 2019).

Die Regierung von Maduro relativiert die Krise und erklärt die Probleme mit Verweis auf einen anhaltenden »Wirtschaftskrieg« sowie die aggressive Politik der USA und ihrer Verbündeten im In- und Ausland gegen die Bolivarische Revolution. Auf diese Weise vermeidet sie zugleich die schmerzhafte Entzauberung der revolutionären Ikone Hugo Chávez. Um Missverständnissen vorzubeugen: Zweifellos verschärfen die Sanktionen die aktuelle Notlage, sie sind jedoch nicht ursächlich für die Krise. Diese ist vielmehr hausgemacht, und ihre Ursprünge reichen in die Regierungszeit von Hugo Chávez zurück. Fehlgeschlagene wirtschaftliche Diversifizierungsinitiativen und die praktische Förderung des Importsektors gegenüber dem Aufbau von Produktionskapazitäten haben den Aufbau eines alternativen wirtschaftlichen Standbeins unterminiert. Zudem beschränkte sich die Regierung vor allem auf die Verteilung der Rohstoffeinnahmen und leitete einen größeren Teil der wachsenden Erdöleinnahmen an die sozial benachteiligte Bevölkerung auf dem Land und in den urbanen Armutsvierteln weiter. Strukturreformen zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums blieben jedoch aus. So stand etwa eine Steuerreform mit dem Ziel einer stärkeren Besteuerung von Kapital, Vermögen und hohen Einkommen nicht auf der politischen Agenda. Nach dem Einbruch der Erdöleinnahmen trockneten die Staatskassen schnell aus, und es fehlt zudem an den notwendigen Devisen zur Einfuhr von Nahrungsmitteln, Konsumgütern, Hygieneartikeln und Medikamenten. Hieraus folgt zwangsläufig eine Versorgungskrise.

Aktuell sucht die Regierung von Maduro händeringend nach neuen Investitionen und preist dafür die reichhaltigen Rohstoffvorkommen (Gold, Kupfer, Diamanten, Koltan, Eisen etc.) internationalen Investoren zu Schleuderpreisen an – mit überschaubarem Erfolg. Zur Sicherung ihrer Macht greift die Regierung zudem zu offen autoritären Maßnahmen. Eigene Ansprüche an eine Vertiefung der Demokratie wurden längst auf dem Altar des Machterhalts geopfert, die von der Opposition dominierte Nationalversammlung wurde entmachtet, und mittlerweile gehört auch politisch motivierte Repression zum Repertoire der Regierung. Kritik aus den eigenen Reihen wird entweder ignoriert oder an den Rand gedrängt, und gleichzeitig hat sich die Regierung immer stärker den Militärs zugewandt.

Venezolanische Sackgassen

Die Politik der venezolanischen Regierung hat progressive Ansprüche längst über Bord geworfen, und der Machterhalt ist zum Selbstzweck geworden. Dabei zeigt sich, dass der einstige Busfahrer Nicolás Maduro entgegen der vorherrschenden Meinung ein begabter Politiker ist, der sich trotz einer heftigen Krise, massiven internationalen Drucks und einer aggressiven Opposition als Präsident behauptet und weiterhin von einer relevanten Minderheit der Venezolaner*innen unterstützt wird. Doch Lösungen für die strukturelle Krise hat Maduro nicht anzubieten. Auswege aus der Sackgasse können nur ohne den Präsidenten und die chavistische Führungsriege erfolgen und brauchen den Druck der Basis. Sollte es Maduro um die ursprünglichen Zielsetzungen der Bolivarischen Revolution – wirtschaftliche Diversifizierung, Reduzierung sozialer Ungleichheiten, politische Partizipation und Korruptionsbekämpfung – gehen, müsste er den Weg für die Suche nach progressiven politischen Alternativen öffnen und den eigenen Machtanspruch aufgeben.

Maduros stärkster Trumpf im venezolanischen Machtpoker ist jedoch seit jeher die Schwäche der Opposition. Dies sollte sich auch in der politischen Krise zu Beginn des Jahres 2019 bestätigen. Juan Guaidó gelang mit seiner Ausrufung zum selbsternannter Interimspräsidenten am symbolträchtigen 23. Januar2 des Jahres 2019 zweifellos ein politischer Coup. Guaidó brachte Maduro dank der massiven Unterstützung der USA, verschiedener konservativer Regierungen Lateinamerikas und vieler europäischer Staaten ins Taumeln. Doch Maduro fiel nicht. Zwar gelang es Guaidó innerhalb kürzester Zeit, vom unbekannten Jung­star zum Oppositionsführer aufzusteigen und große Massendemonstrationen anzuführen. Doch seine politische Basis blieb beschränkt. Insbesondere erhielt Guaidó jenseits der Oppositionshochburgen in den Mittel- und Oberschichtsvierteln nicht die erhoffte massive politische Unterstützung. Guaidó deutete die Ablehnung und Enttäuschung von der Politik Maduros als Unterstützung seiner Person fehl und versuchte bald, den bröckelnden Rückhalt durch immer weitere Eskalationen zu kompensieren. Dies ­gipfelte am 30.4.2019 in einem dilettantischen Putschversuch gegen die Regierung von Maduro. Damit stellten Guaidó und der radikale Teil der Opposition zugleich ihr instrumentelles Verhältnis zur Demokratie unter Beweis. Dass Guaidó dennoch von der Regierung nicht inhaftiert wurde, stellt sich zunehmend als gekonnter Schachzug des Präsidenten heraus: Nach seinem schnellen Aufstieg verlor Guaidó rasch an politischem Gewicht, taugt aber immer noch zur fortwährenden Spaltung der Opposition.

Abgesehen von den notorischen internen Machtkämpfen hat die Opposition jenseits des Regierungswechsels auch programmatisch wenig anzubieten. In vielerlei Hinsicht wird der Chavismus von der Opposition weiterhin als ein Unfall der Geschichte wahrgenommen, und dies wird mit dem Wunsch verbunden, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und eine aktualisierte Variante der IV. Republik (1958-1998) zu schaffen. Breite Teile der Opposition übersehen, dass der Chavismus eine Zeitenwende für die venezolanische Politik darstellt und die soziale Basis des Chavismus auch in der Zukunft ein wichtiger politischer Faktor im Land sein wird. Zu Beginn des Jahres 2019 wurde mit dem »Plan País« von Guaidó zwar ein Programm für den »Tag danach« vorgelegt. Dieser ist jedoch wenig konkret und beinhaltet jenseits von Worthülsen aus der Feder politischer Kommunikationsagenturen vor allem die Hoffnung auf internationale Unterstützung und Investitionen, die Förderung von Privatisierungen sowie das Festhalten am Entwicklungsmodell Erdölexport. An diesem Punkt sind sich die sonst verfeindeten Regierungs- und Oppositionspolitiker*innen einig: Die Zukunft des Landes bleibt eng verbunden mit der Ausbeutung und dem Export von Rohstoffen. Gerade hiermit ist jedoch eine Reihe der strukturellen Probleme des Landes verbunden.

Die deutsche Außenpolitik in der Sackgasse

Auch die deutsche Außenpolitik befindet sich in Venezuela in einer Sackgasse. Schon wenige Tage nachdem sich Guaidó zum Interimspräsidenten Venezuelas ausgerufen hatte, wurde er von der deutschen Bundesregierung als Präsident des Landes anerkannt und bald von der deutschen Botschaft in Venezuela hofiert. Die offensichtliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes quittierte die Regierung von Maduro mit der Ausweisung des deutschen Botschafters, der erst Ende Juni nach Caracas zurückkehren konnte. Die Bundesrepublik hat sich mit der Positionierung für Guaidó im venezolanischen Machtkampf nicht nur offensichtlich verspekuliert. Sie hat sich zudem ins politische Abseits manövriert und ohne Not diplomatische Handlungsspielräume aus der Hand gegeben.

Die Anerkennung Guaidós durch die Bundesrepublik hat jedoch weiterreichende Folgen, da sie nicht nur nach Meinung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags völkerrechtlich mindestens fragwürdig ist und zudem eine Abkehr von der Praxis deutscher Außenpolitik darstellt, Staaten und nicht Regierungen oder Präsidenten anzuerkennen (Wissenschaftliche Dienste 2019; Telser 2019). Diese Kehrtwende ist auch aus politischer Sicht problematisch. Außenminister Heiko Maas sprach sich in seiner Amtszeit immer wieder deutlich für diplomatische Lösungen und die Bedeutung der Achtung des internationalen Rechts aus. Anlässlich seiner Lateinamerikareise im April 2019 schrieb er in einem Gastkommentar für den Tagesspiegel: „In einer Welt, in der das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts ersetzt, können wir nur verlieren.“ (Maas 2019) Zumindest in Lateinamerika wurde diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der deutschen Politik sehr deutlich wahrgenommen. Die Positionierung in Venezuela gefährdet so die Glaubwürdigkeit einer (völker-) rechtsbasierten deutschen Außenpolitik.

Lösungsansätze

Der venezolanische Machtkampf wird auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Im Fokus stehen die Namen und Köpfe an der Spitze, während Sachthemen zur Lösung der tiefen Krise im Land kaum Beachtung finden. Doch gerade die Fokussierung auf einzelne Personen behindert den Weg zu politischen Alternativen für die kurzfristige Krisenbearbeitung sowie eine mittel- und langfristige Strategie zur Überwindung der hartnäckigen Probleme des Landes. Maduro und Guaidó sind hier jeweils eher Teil des Problems denn der Lösung. Es muss deshalb darum gehen, gesprächsbereite Kräfte auf beiden Seiten einzubinden und auf der Basis von Sachthemen die zentralen Fragen für die Zukunft des Landes ergebnisoffen zu diskutieren.

An Themen mangelt es nicht: Es geht um die Gründe für die fatale Reduzierung der Fördermengen, aber eben auch um die Entwicklung von gangbaren Alternativen jenseits der Rohstoffförderung. Im sozialen Bereich muss kurzfristig die Armut reduziert, aber mittel- und langfristig die soziale Ungleichheit abgebaut werden. Zudem gilt es, stärkere Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung jenseits klientelistischer Vereinnahmungen zu schaffen, den Einfluss des Militärs auf Wirtschaft und Politik zu reduzieren sowie Maßnahmen zur gewaltfreien Konfliktlösung zu stärken. Doch es kann hier nicht darum gehen, eine Agenda vom Schreibtisch aus zu entwerfen. Im Gegenteil: Die Themen müssen vor allem aus der venezolanischen Bevölkerung kommen. Die deutsche Außenpolitik könnte solche Prozesse der Versachlichung der Debatte unterstützen. Eine Voraussetzung hierfür ist jedoch ein diplomatischer Kurs, der nicht auf die Unterstützung fragwürdiger Einzelner, sondern auf den Dialog mit vielen setzt.

Anmerkungen

1) Der Begriff der Bolivarischen Revolution bezieht sich auf den politischen Prozess unter den Präsidenten Hugo Chávez (1999-2013) und Nicolás Maduro (2013 bis heute). Der Begriff nimmt das Erbe des venezolanischen Nationalhelden Simón Bolívar auf und wurde von Chávez eingeführt, um den Bruch mit der vorherigen IV. Republik auszudrücken. Am Beginn der Bolivarischen Revolution wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und verabschiedet. Für eine umfassende Analyse der Bolivarischen Revolution siehe Peters (2019).

2) Am 23.1.1958 wurde die Diktatur von Marcos Pérez Jiménez gestürzt und damit der Weg für die venezolanische Demokratie und die IV. Republik (1958-1998) geebnet. Der 23. Januar ist auch Namensgeber für eine bekanntes Armenviertel in Caracas (23 de enero), in dem der Chavismus tief verankert ist.

Literatur

Banco Central de Venuela (2019): Producto Interno Bruto; bcv.org.ve/estadisticas/producto-interno-bruto.

Burchardt, H.-J. (2016): Zeitenwende? Lateinamerikas neue Krisen und Chancen. Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2016, S. 4-9.

Maas, H. (2019): „Für uns steht viel auf dem Spiel“ – Heiko Maas plädiert für eine neue trans­atlantische Allianz. Tagesspiegel, 29.4.2019.

Peters, S. (2019): Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela – Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Telser, D. (2019): „Anerkennung hat keine Wirkung“ – Interview mit Kai Ambos. tagesschau.de, 13.2.2019.

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2019): Sachstand – Zur Anerkennung ausländischer Staatsoberhäupter. Dokument WD 2 – 3000 – 014/19, 7.2.2019.

Prof. Dr. Stefan Peters ist Politikwissenschaftler und Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und wissenschaftlicher Direktor des Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ) in Bogotá.

Volksrepublik China


Volksrepublik China

Zivilisationsanspruch und Wahrnehmung hybrider Bedrohung

von Doris Vogl

China wird zunehmend mit hybrider Kriegsführung im Hochtechnologie-Bereich in Zusammenhang gebracht; die Position Pekings bleibt jedoch zumeist unterbelichtet. Im Sinne eines ausgewogenen Diskurses sollen daher im Folgenden grundlegende chinesische Begrifflichkeiten und Sichtweisen zum Thema Sicherheitspolitik näher untersucht werden.

Zunächst eine Vorbemerkung zum Begriff »Hybride Kriegsführung«. Dazu ein kurzer Rückblick auf die 1980er Jahre, als in der Politikwissenschaft der Begriff »Kriegsführung mit niedriger Intensität« (low intensity warfare) äußerst kontrovers diskutiert wurde. Der damalige US-amerikanische Referenzrahmen für »low intensity warfare« beinhaltete nicht-gewaltsame Mittel zu Zwecken von Information und Desinformation oder gesellschaftlicher Destabilisierung ebenso wie das außenpolitische Instrument des massivem wirtschaftlichen Drucks (Embargo, Strafzölle etc.) (vgl. Klare und Kornbluh 1987). Das Low-intensity-Konzept der Reagan-Ära leitete sich seinerseits aus dem Konzept »Counterinsurgency« ab, das auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges nach der Kubanischen Revolution 1959 aufkam.

Die Jahrzehnte davor war im sicherheitspolitischen Kontext der Begriff »Interventionismus« weit verbreitet. Auch in diesem Kontext spielten Operationen und Täuschungsmanöver auf der medialen oder psychologischen Ebene eine wesentliche Rolle. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Diskurs über »Hybride Kriegsführung« ein Phänomen betrifft, welches im Lauf der Jahrzehnte bereits mehrere Begrifflichkeiten durchlaufen hat. Die strategische Ausrichtung ist dabei dieselbe geblieben, der Instrumentenkoffer weist allerdings einen zeitgemäßen technologischen Wandel auf.

Die chinesische Sichtweise

Aus der Sicht Pekings weisen alle oben genannten Begrifflichkeiten eine grundlegende und für die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) wesentliche Gemeinsamkeit auf: Sie sind westlichen Ursprungs und folgen westlichen Narrativen.1 Dieser Umstand ist Grund genug für chinesische akademische Zirkel, um dem gegenwärtigen globalen Diskurs des jüngsten Begriffs »Hybride Kriegsführung« möglichst wenig Folge zu leisten. Dies heißt jedoch nicht, dass das Thema in chinesischen Publikationen oder Diskussionsforen ausgeklammert bleibt: Hybride Bedrohungsszenarien werden eingehend in diversen Medien diskutiert, jedoch weitgehend unter Anwendung anders lautender – von chinesischer Seite bevorzugter – Begrifflichkeiten. Diese Vorgangsweise folgt einer umfassenden strategischen Linie, die Peking keineswegs verborgen hält: Diskursen, die als hegemonistisch wahrgenommen werden, sollte argumentativ entgegengesteuert werden, ohne die entsprechenden international gängigen Schlüsselbegriffe anzuwenden.

Die eigentliche Zielsetzung besteht darin, in diverse globale Diskurse auch die chinesische Sichtweise – ergo chinesische Narrative – einzuweben. Im Idealfall gelingt es Peking, ein genuin chinesisches Narrativ zu schaffen, wie etwa die »Belt & Road Initiative«, die »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit«. Diese Strategie der internationalen Verbreitung eigenständiger chinesischer Narrative mit entsprechenden Begrifflichkeiten wird insbesondere seit der Ära Xi Jinping konsequent verfolgt; der sicherheitspolitische Bereich spielt hier selbstverständlich eine besonders sensible Rolle.

In diesem Kontext sei auf einen Bestseller hingewiesen, der im Jahr 2011 – noch vor dem Amtsantritt von Präsident Xi – unerwartet große Popularität auf dem heimischen chinesischen Buchmarkt erreichte. In seinem Buch »The China Wave – Rise of a Civilizational State« (Zhongguo Zhenzhan; englische Ausgabe 2012) setzt sich Prof. Zhang Weiwei mit der Frage auseinander, welchen Beitrag China in globalen politischen Diskursen leisten könnte, und schlägt Konzepte aus der klassischen und jüngeren chinesischen Ideengeschichte vor.2 Im Vordergrund der Diskussion steht hier die Frage der chinesischen Zivilisation: Im Gegensatz zu einem Nationalstaat – so Prof. Zhang Weiwei – hat China nicht nur sein Staatsterritorium oder ein politisches System zu verteidigen, sondern eine einzigartige Zivilisation, welche sich seit dem vorchristlichen Römischen Imperium weiterentwickelt hat. Besonders aufschlussreich sind seine Empfehlungen zur selektiven Annahme westlicher politischer Werte und Modelle:

„Was China angeht, sollte es all die Vorstellungen, Konzepte und Standards, die durch den Westen geformt oder definiert wurden, wie Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, das Mehrparteiensystem, Autokratie, die Marktwirtschaft, die Rolle des Staates, Zivilgesellschaft, in der Öffentlichkeit stehende Intellektuelle, das Bruttoinlandsprodukt, den Gini-Koeffizient und den Human Development Index, unter Berücksichtigung Chinas eigener Vorstellungen kritisch betrachten. China sollte nutzen, was immer an ihnen richtig ist, und verwerfen, was immer an ihnen falsch ist, und sie bereichern und neu definieren, wenn es nötig ist, und in diesem Prozess Chinas eigene Diskurse und Standards schaffen.“ (Zhang 2012, S. 137)

Bei genauerem Hinsehen enthalten diese Empfehlungen genau jenen springenden Punkt, welcher in der Diskussion zu Hybrider Kriegsführung zum Tragen kommt. Prof. Wang spricht von „bereichern“, in weiterer Folge von „neu definieren“ westlicher Standards und Konzepte. In letzter Konsequenz wird allerdings die Schaffung genuin chinesischer Diskurse angeraten. In unserer heutigen Zeit benötigt diese Zielsetzung auf analoger wie auch virtueller Ebene entsprechende mediale und soziale Netzwerke quer über den Globus. Mittlerweile ist es nicht mehr zu übersehen, dass China eben diese Zielsetzung mit Konsequenz und Nachdruck verfolgt. Die internationale Gemeinschaft nimmt dieses Bestreben als »hybride Bedrohung« – oder, um mit einem älteren Begriff zu hantieren, als »insurgency« – wahr. Tatsächlich ist die ideologisch-politische Realität der Volksrepublik nicht mit westlichen demokratischen Mehrparteien-Systemen kompatibel und wird logischerweise als rivalisierendes System eingestuft.

Die chinesischen Begriffe

Etwa um die Zeit, als das Thema »Hybride Kriegsführung« infolge der völkerrechtswidrigen Annektierung der Halbinsel Krim durch Russland im Publikationsbereich seinen Hype erlebte, veröffentlichte der Chinesische Staatsrat eine Neuversion der nationalen Sicherheitsstrategie unter dem Titel »China‘s Military Strategy« (State Council 2015). In diesem Weißbuch scheint das Wort »hybrid« nicht auf, jedoch werden die Begriffe »Informationisierung« sowie »informationalisierte Kriegsführung« wiederholt verwendet:

„Der Weltraum und der Cyberspace wurden zu neuen Kommandohöhen im strategischen Wettbewerb zwischen allen Parteien. Die Form von Krieg beschleunigt die Evolution hin zur Informationisierung. […] Die zuvor genannten revolutionären Veränderungen der Militärtechnologien und der Form von Krieg hatten nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die internationale politische und militärische Landschaft, sondern stellten die militärische Sicherheit Chinas vor neue und ernste Herausforderungen.“ (State Council 2015, Chapter 1)

„Die chinesischen Streitkräfte werden Waffen und Ausrüstung schneller auf den neuen Stand bringen und an der Entwicklung eines Waffen- und Ausrüstungssystems arbeiten, das wirksam auf informationisierte Kriegsführung reagieren und helfen kann, die Missionen und Aufgaben zu erfüllen.“ (State Council 2015, Chapter 4)

Besonders augenfällig ist, dass auch der Begriff »Digitalisierung« nicht verwendet wird. Die Sphäre des Internet wird jedoch als neues Bedrohungsszenario für die nationale Sicherheit der Volksrepublik angeführt. In diesem Zusammenhang wird auch darauf verwiesen, dass China eines der Hauptziele für Hacker-Attacken sei:

„Der Cyberspace wurde zu einem neuen Pfeiler der ökonomischen und sozialen Entwicklung und zu einer neuen Domäne der nationalen Sicherheit. Während der internationale strategische Wettbewerb im Cyberspace immer schärfer tobt, sind einige Staaten dabei, ihre militärischen Cyberkräfte zu entwickeln. Als eines der größten Opfer von Hackerangriffen ist China mit schwerwiegenden Sicherheitsbedrohungen seiner digitalen Infrastruktur konfrontiert.“ (State Council 2015, Chapter 4).

Im regionalen Strategie-Weißbuch »China‘s Policies on Asia-Pacific Security Cooperation« vom Januar 2017 werden nachdrücklich die Bemühungen Chinas dargelegt, auf UN-Ebene internationale Richtlinien für digitalisierte Kommunikation zu initiieren. Derartige Richtlinien sollten gemäß Pekings Ansicht sowohl ethische Maßstäbe als auch politische Parameter, wie Nicht-Diskriminierung, beinhalten. Dabei wird die aktive Rolle Pekings bei der Forderung nach einem »zivilisiert« geführten Internet mit international gültigem Regelwerk in diversen UN-Gremien sowie im Rahmen des jährlichen Internet Governance Forum hervorgehoben (Ministry of Foreign Affairs, Chapter 4).

Die westliche Sichtweise

Die Einflusssphäre des Internet – Cyberattacken und Nachrichtenzensur inbegriffen – nimmt eine zunehmend gewichtige Rolle bei der Thematik hybrider Bedrohungen ein. Entsprechend betrachten Menschenrechtsorganisationen oder politische Institutionen, wie das Europäische Parlament, die gegenwärtige chinesische Einflussnahme im Cyberspace keineswegs als zivilisationsförderlich. In einem Bericht von »Reporter ohne Grenzen« (2018) findet sich zu der jährlich unter chinesischem Vorsitz in Zhejiang (Wuzhen) abgehaltenen »World Internet Conference« folgender Kommentar:

„Die »World Internet Conference« lädt die internationale Gemeinschaft ein, sich dem Aufbau »einer gemeinsamen Zukunft im Cyberspace« anzuschließen. Unter dem Vorwand, sich für gute Praktiken im Internet einzusetzen, nutzt China diese Konferenzen, um seine Zensur- und Überwachungspraktiken zu exportieren.“ (Reporters without Borders 2018, S. 8)

Die Aufweichung nationaler Grundrechte und universeller Menschenrechte durch Zensur und digitale Observierungstechnologien mit Unterstützung Pekings außerhalb Chinas Grenzen wird zunehmend als bedrohliche hybride Praktik eingestuft. Es ist davon auszugehen, dass es in diesem thematischen Bereich zu keiner Kompromissfindung kommen wird. Allzusehr weicht die chinesische, hausgemachte Definition von Menschenrechten (»Menschenrechte chinesischer Prägung«) von der UN-Menschenrechtscharta ab.

Der lange Schatten des Krim-Szenarios

Immer häufiger findet sich in China-Analysen die Frage, ob in einem etwaigen Konfliktszenario mit verdeckt kämpfenden chinesischen Einheiten auf fremdem Territorium gerechnet werden kann. Als Referenzrahmen dient der Einsatz russischer Spezialeinheiten ohne Hoheitszeichen auf der Halbinsel Krim im Frühjahr 2014. Bei derartigen Überlegungen bleibt jedoch ein Punkt zumeist unbeachtet: Es war für ein russisches Einsatzkommando durchaus problemlos, sich in Zivil (oder auch grün gekleidet) unter Menschen mit ähnlichem äußeren Erscheinungsbild zu mischen. Doch wie sollte eine verdeckte chinesische Spezialeinheit etwa in Afrika, Europa oder Südasien unerkannt bleiben? Selbst ohne jegliches Hoheitsabzeichen würde die chinesische Nationalität von der lokalen Bevölkerung sehr rasch erkannt werden. Geht es jedoch um den Einsatz uniformierter Spezialkräfte der Volksbefreiungsarmee in Übersee, so bewegen wir uns bereits auf dem Terrain konventioneller Kriegsführung, ergo abseits hybrider Kampftaktiken. Wesentlich realistischer als hybride Bedrohung erscheint hier die verdeckte Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI). Dazu zählen etwa im Zivilbereich eingesetzte Drohnen mit Observierungsauftrag und beschränkter Entscheidungskompetenz. Auch wird von chinesischer Seite mit durchaus transparent gehaltener wissenschaftlicher Ambition daran gearbeitet, chinesische BeiDou-Navigationssatelliten mit KI-Technologie zu vernetzen. Dies würde zum Beispiel eine wesentlich raschere Auswertung von Personenerkennungsdaten durch Künstliche Intelligenz ermöglichen.

Das chinesische Selbstverständnis

China sieht sich als Nation des Friedens und beteiligt sich seit einigen Jahren mit großem Engagement an UN-Friedensmissionen. Selbst eingefleischte US-amerikanische China-Kritiker*innen müssen eingestehen, dass die chinesische Volksbefreiungsarmee (VBA) während der letzten 40 Jahre kaum Kampferfahrungen außerhalb der eigenen Grenzen sammeln konnte. Die letzte grenzüberschreitende Großoffensive (chinesische Diktion: Selbstverteidigungs- und Gegenangriffskampf an der chinesisch-vietnamesischen Grenze; vietnamesische Diktion: Krieg gegen den chinesischen Expansionismus) fand im Frühjahr 1979 statt, dauerte fünf Wochen und endete mit einem Rückzug der VBA. Die Jahrzehnte danach wurde zwar innerhalb der VR China mehrmals das Kriegsrecht verhängt (Lhasa: April 1989-Mai 1990, 2008; Beijing: Mai 1989-Januar 1990), die Konfrontation mit Vietnam auf dem Festland (1988) und zur See (2014) erreichte jedoch nur ein sehr eingeschränktes Ausmaß. Die maritimen Streitigkeiten der Volksrepublik mit den Philippinen (Höhepunkt: 2011-2014) um einige Spratly-Inseln sowie die kurzfristige Konfrontation mit indischen Grenzeinheiten in Ladakh (April-Mai 2013) erregten zwar erhebliches mediales Aufsehen, es waren allerdings auf keiner Seite Tote zu beklagen.

Betrachten wir also das chinesische Selbstverständnis als friedliebende Nation, so spricht die Faktenlage der letzten Jahrzehnte deutlich mehr für diese Einschätzung als dagegen. Wo liegt nun das Problem? Die eigentliche Problematik scheint in der unseligen Verflechtung von zwei völlig unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen zu liegen: Zum einen entsteht vor uns das dystopische Bild einer »unsichtbaren« – nicht fassbaren – Kriegstaktik, die sämtliche unserer Lebensbereiche auch in Friedenszeiten durchdringen kann; zum anderen beunruhigt der Unsicherheitsfaktor einer neuen Weltmacht, die demokratische Regelwerke nach westlichem Muster in Zweifel zieht.

Anmerkungen

1) Der Diskurs zu Hybrider Kriegsführung wurde zunächst vom US-amerikanischen Autor Frank G. Hoffman initiiert und fand in Europa ein lebhaftes Echo sowie rasche Ausbreitung.

2) Zhang Weiwei schlägt in Kapitel 5.3, »The Rise of a New Political Discourse«, folgende Konzepte vor: Shishi qiushi (Seeking Truth from Facts); Minsheng weida (Primacy of People’s Livelihood); Zhengti siwei (Holistic Thinking); Zhengfu shi biyaodeshan (Government is a Necessary Virtue); Liangzheng shanzhi (Good Governance); Minxin xiangbei and xuanxian renneng (Winning the Hearts and Minds of the People and Meritocracy); Jianshou bingxu (Selective Learning and Adaptation); Hexie zhongdao (Harmony and Moderation).

Literatur

Klare, T.; Kornbluh, P. (1987): Low Intensity Warfare – Counterinsurgency, Proinsurgency, and Antiterrorism in the Eighties. New York: Pantheon; ein Beitrag dieses Sammelbandes findet sich auf thirdworldtraveler.com.

Ministry of Foreign Affairs of the PRC (2017): China’s Policies on Asia-Pacific Security Cooperation. 11.1.2017; fmprc.gov.cn/mfa_eng/.

Reporters without Borders (2018): China´s Pursuit of a New World Media Order. Paris.

The State Council Information Office of the People’s Republic of China (2015): China’s Military Strategy. 26 May 2015; eng.mod.gov.cn/.

Zhang, W. (2012): The China Wave – Rise of a Civilizational State. Singapur: World Century Publishing.

Mag. Dr. Doris Vogl (Sinologie und Politikwissenschaft) ist externe Lektorin an der Universität Salzburg und assoziierte Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind China, Human Security in Krisengebieten, EU-Sicherheitspolitik.

»Hybride« Konflikte im Völkerrecht


»Hybride« Konflikte im Völkerrecht

von Michael Bothe

»Hybrid« ist eine gern gebrauchte Bezeichnung für einen Gegenstand oder eine Situation, die sich der Einordnung in eine einzelne Kategorie entzieht. Ein hybrides Automobil wird weder allein durch einen Verbrennungsmotor noch durch einen Elektromotor angetrieben, sondern je nachdem durch den einen oder den anderen Antrieb. Der Begriff des hybriden Konflikts wirft im Hinblick auf die völkerrechtliche Regelung ein grundlegendes Problem auf: Wenn das Recht auf Dichotomien aufbaut, unterschiedliche Regeln für die Situation A und die Situation B aufstellt, so muss eine »hybride« Situation Schwierigkeiten bereiten. Die internationalen Beziehungen sind in ihrer aktuellen Unübersichtlichkeit geradezu gekennzeichnet durch hybride Situationen. Das gilt insbesondere für die völkerrechtlichen Regeln für die Ausübung organisierter Gewalt.

Der Beginn der modernen Völkerrechtswissenschaft ist bei dem klassischen Werk von Hugo Grotius anzusetzen: »De iure belli ac pacis«, das Recht in Krieg und Frieden. Der Titel beschreibt eine klassische Dichotomie: Es gibt zwei unterschiedliche Rechtsbereiche, nämlich einmal das Recht, das die friedlichen Beziehungen zwischen Staaten regelt, zum andern das Kriegsrecht, das die Beziehungen der Staaten im Falle eines Krieges zum Gegenstand hat. Das führte natürlich zu der Frage der Unterscheidung zwischen der einen und der anderen Situation, zur Diskussion darüber, was eigentlich völkerrechtlich »Krieg« ist, bzw. zu einer Debatte über den »Kriegsbegriff«. Aus heutiger Sicht war das eine der unsinnigsten Streitigkeiten der Völkerrechtsgeschichte. Während der allgemeine Sprachgebrauch gerne noch nach der Unterscheidung zwischen Krieg und Nichtkrieg sucht, etwa in Bezug auf die Situation in Syrien, hat das moderne Völkerrecht an die Stelle des Kriegsbegriffs den des »bewaffneten Konflikts« gesetzt. Dieser Begriff soll die Unterscheidung, die von der immer noch gegebenen Dichotomie erfordert wird, vom Ballast unnötiger juristischer Spitzfindigkeiten befreien und näher an die Fakten bringen. Die neuere Formulierung der Dichotomie »bewaffneter Konflikt – alle anderen Beziehungen« (Bothe 2019, Rdn. 62; Crawford 2015, Rdn. 2; Kotzsch 1956) hat die praktische Bestimmung des anwendbaren Rechts sachgerechter gemacht. Aber die Dichotomie, die unterschiedliche Regelungskomplexe für die eine oder andere Situation erfordert, bleibt bestehen.

Die folgenden Zeilen haben zum Ziel, die völkerrechtliche Regelung einiger Situationen organisierter Gewalt­ausübung zu beleuchten, in denen etablierte rechtliche Dichotomien problematisch geworden sind. Für sie hat sich die Bezeichnung »hybride Konflikte« eingebürgert (Milanovic 2019, S. 33 ff.; Kahn 2019, S. 191 ff.; War Report 2018, S. 20 ff.).

Internationale oder nicht-internationale bewaffnete Konflikte

Eine fundamentale Dichotomie des Konfliktrechts ist die Unterscheidung zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten, da für beide Kategorien von Konflikten unterschiedliche Regelwerke gelten. Der Krieg der frühen Neuzeit war eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten. Bewaffnete Konflikte im Innern eines Staates waren vom Völkerrecht nicht geregelt. Es stellte sich aber heraus, dass die Regelungs- und vor allem Schutzfunktion des Kriegsvölkerrechts auch bei solchen inneren Konflikten gefragt war. So entwickelte sich ein besonderes Recht nicht-internationaler Konflikte, das die Souveränität der Staaten stärker berücksichtigt als das Recht des internationalen Konflikts und dessen Schutzniveau, dementsprechend niedriger (Bothe 2019, Rdn. 121).

Wesentliche Schritte der Entwicklung des Vertragsrechts waren der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Konventionen von 1949 (eine Art Mini-Konvention zum Schutz der Opfer nicht-internationaler Konflikte) und das Zusatzprotokoll II zu diesen Konventionen aus dem Jahr 1977. Seitdem lässt sich feststellen, dass sich das Recht des nicht-internationalen Konflikts gewohnheitsrechtlich sehr stark dem Recht der internationalen Konflikte angenähert hat. Es hat also eine Annäherung des Schutzniveaus stattgefunden (ICRC 2005, Bd. I, S. XXIX), und die Relevanz der Dichotomie ist geringer geworden. Sie bleibt aber bestehen, denn eine wesentliche Unterscheidung bleibt: Im internationalen Konflikt genießen die Angehörigen der Streitkräfte im Falle ihrer Gefangennahme den besonders geregelten Status eines Kriegsgefangenen. Das bedeutet nicht nur eine menschenwürdige Behandlung, sondern es verbietet auch eine Bestrafung dieser Personen für eine Teilnahme an den Kampfhandlungen, soweit sich diese im Rahmen des Kriegsrechts gehalten haben. Eine solche Teilnahme ist rechtmäßig: Soldaten sind keine Mörder!

Strafrechtlich ist das ein völkerrechtlich vorgegebener Rechtfertigungsgrund, das so genannte »combatant privilege« (Bothe 2019, Randnotiz 67). Für die Kämpfer und Kämpferinnen im nicht-internationalen Konflikt gibt es das nicht. Darum ist die Unterscheidung zwischen internationalem und nicht-internationalem Konflikt von zentraler Bedeutung für die Behandlung von Gefangenen. Allerdings gilt auch im nicht-internationalen Konflikt der gezielte Angriff auf die Kämpfer der anderen Seite als erlaubt (im Gegensatz zu Angriffen auf die Zivilbevölkerung), wenngleich die Tötung nicht durch das »combatant privilege« gedeckt ist. Das ist ein gewisser Wertungswiderspruch. Dennoch: Die Rechtslage ist so.

Die Einordnung bestimmter Konflikte in die eine oder andere Kategorie bereitet Probleme, und damit ist man bei der Frage hybrider Konflikte. Es sind insbesondere drei Konstellationen, in denen die Dichotomie unsicher wird: erstens der Streit um den Status einer Konfliktpartei, zweitens der nicht-internationale Konflikt mit ausländischer Beteiligung, eine sehr häufige Konstellation, und drittens ein grenzüberschreitender Angriff nicht-staatlicher Kämpfer.

Es gibt immer wieder bewaffnete Konflikte, bei denen eine oder mehrere Parteien von der jeweils anderen Seite nicht als Staat anerkannt sind. Sollte ein bewaffneter Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Taiwan ausbrechen, so wäre Taiwan jedenfalls aus der Sicht der Volksrepublik China eine abtrünnige Provinz, deren Streitkräfte also »Verräter« und als solche zu bestrafen. Sieht man Taiwan hingegen als einen Staat an, so genießen seine Streitkräfte das »combatant privilege«. Ein hybrider Konflikt wäre dies insofern, als die Parteien über ihren jeweiligen Status und damit über die Anwendung relevanter Rechtsnormen uneins sind. Völkerrechtlich wird diese Problematik mit der Konstruktion eines »De-facto-Regimes« aufgefangen, das zum Zwecke der Anwendung bestimmter Rechtsnormen einem Staat gleich zu achten ist (Frowein 2013, Rdn. 3). Ein solches wäre Taiwan jedenfalls.

Eine weitere und häufige Konstellation ist, dass auswärtige Staaten in unterschiedlicher Weise in einen Konflikt eingreifen („internationalisierter nicht-internationaler Konflikt“, Bothe 2019, Rdn. 127 ff.). Wenn ausländische Streitkräfte auf der Seite von Aufständischen gegen die Streitkräfte der etablierten Regierung kämpfen, entsteht ein internationaler Konflikt. Besonders problematisch ist diese Konstellation, wenn das Eingreifen der ausländischen Macht nicht offen erfolgt und nicht zugegeben wird, wie im Fall des Konflikts in der Ost-Ukraine. Der Konflikt zwischen der ukrainischen Regierung und den aufständischen Entitäten Donezk und Luhansk ist am ehesten dahingehend zu qualifizieren, dass es ein nicht-internationaler ist. Das russische Eingreifen stellt wohl eine rechtswidrige Intervention in die inneren Angelegenheiten der Ukraine dar, macht aber die Russische Föderation noch nicht zur Konfliktpartei.

Für den umgekehrten Fall, dass ausländische Streitkräfte auf der Seite der etablierten Regierung gegen Aufständische kämpfen, bestehen theoretisch drei Möglichkeiten: 1. der ganze Konflikt wird international; 2. der ganze Konflikt wird immer noch als nicht international angesehen; 3. der Konflikt teilt sich in einen internationalen (Beziehung zwischen ausländischem Intervenienten und Aufständischen) und einen nicht-internationalen (Beziehung zwischen etablierter Regierung und Aufständischen). Völkervertraglich ist eine solche Situation in den oben genannten Verträgen nicht geregelt; die gewohnheitsrechtsbildende internationale Praxis geht dahin, den ganzen Konflikt, d.h. auch die Beziehung zwischen dem ausländischen Intervenienten und dem lokalen nicht-staatlichen Akteur (den »Aufständischen«), als nicht international zu qualifizieren. Der U.S. Supreme Court entschied dies für das Verhältnis zwischen US-Truppen und Taliban in Afghanistan und erklärte den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen für anwendbar.1 Dies ist nunmehr auch die Auffassung der Bundesrepublik zur Lage in Afghanistan.2 Das bedeutet u.a., dass deutsche oder US-Streitkräfte gefangene nicht-staatliche Kämpfer den afghanischen Behörden zum Zwecke der Strafverfolgung überlassen dürfen, da diese Kämpfer nicht das »combatant privilege« genießen. Ob das aus praktischen Gründen unterbleibt, ist eine andere Frage.

Eine damit verwandte Konstellation ist die, dass nicht-staatliche Kämpfer vom Ausland aus die Regierung eines anderen Staates bekämpfen. Dabei entsteht zunächst auf dem Gebiet des bekämpften Staates ein nicht internationaler Konflikt. Wenn jedoch die nicht-staatlichen Kämpfer von einem ausländischen Staat, sei es der Nachbarstaat oder ein dritter Staat, in einer Weise kontrolliert werden, dass die von den nicht-staatlichen Akteuren ausgeübte Gewalt diesem ausländischen Staat zuzurechnen ist, so entsteht ein internationaler Konflikt zwischen dem letzteren und dem ersteren Staat. Der Grad von Kontrolle, der diese rechtliche Bewertung auslöst, ist in der Praxis und auch in der internationalen Rechtsprechung streitig.

Bewaffnete Konflikte oder sonstige Formen organisierter Gewalt

Die Anwendung des Rechts des nicht-internationalen Konflikts setzt voraus, dass eben ein solcher bewaffneter Konflikt vorliegt, d.h. Kampfhandlungen eines gewissen Ausmaßes, an denen Kämpfer oder Kämpferinnen beteiligt sind, die zu einer Partei gehören, die einen gewissen institutionellen Organisationsgrad aufweist. „Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen“ (Art. 1 Abs. 2 Genfer Zusatzprotokoll II) sind keine bewaffneten Konflikte. Die Feststellung dieser Schwelle zwischen einfacher Gewalt und Kampfhandlungen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bereitet erhebliche Schwierigkeiten.

Den Regeln des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts, mit der Folge, dass die Bekämpfung von Kämpfern der anderen Seite zulässig ist, unterliegen nur solche Handlungen, die einen Zusammenhang (nexus) mit dem Konflikt haben. Zwei Beispiele mögen die Problematik verdeutlichen: Bei der Besetzung eines Musical-Theaters in Moskau 2002 durch tschetschenische Rebellen setzten die russischen Streitkräfte einen chemischen Kampfstoff ein, um die Besetzer zu überwältigen. War dies eine Kampfhandlung im Rahmen des vorliegenden nicht-internationalen Konflikts in und um Tschetschenien, so war es der Einsatz einer chemischen Waffe, völkerrechtlich als solcher verboten. Verneint man diesen Nexus, so war es der Einsatz physischer Gewalt im Rahmen der Sicherung der Ordnung, was ganz anderen, insbesondere menschenrechtlichen, völkerrechtlichen Regeln unterliegt. Zum Zweiten: Als dem Generalbundesanwalt eine Strafanzeige wegen eines US-Drohnen­einsatzes in Pakistan vorlag, bei dem ein deutscher Staatsangehöriger getötet worden war, der als Al-Qaeda-Kämpfer galt (»Mir-Ali-Fall«), prüfte er gleichfalls diesen Konflikt-Nexus.3 Er stellte fest, dass der Einsatz im Rahmen zweier verbundener nicht-internationaler Konflikte in Afghanistan und Pakistan geschah, an denen die USA als Partei beteiligt waren und die deshalb nach dem Recht des nicht-internationalen Konflikts zu beurteilen waren. Danach war es eine erlaubte Kampfhandlung. Man kann diese Konstruktion kritisieren – sie ist jedenfalls in sich konsequent und sozusagen systemimmanent, weil sie die Dichotomie zwischen dem Recht des bewaffneten Konflikts und Situationen, die nicht bewaffneter Konflikt sind (Geiß 2009, 127 ff.), aufrechterhält. Sie erlaubte es dem Generalbundesanwalt, die Tötungshandlung als im Rahmen eines bewaffneten Konflikts erlaubt anzusehen, ohne auf andere, völlig unvertretbare Thesen zur Rechtfertigung im Kampf gegen den Terrorismus einzugehen, von denen sogleich noch zu reden ist.

Terrorismus

Die Art und Weise, wie von manchen Staaten, nicht nur den USA, die pauschale Rechtfertigung von Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus vertreten wird, läuft auf eine grenzenlose Lizenz zum Töten hinaus. Die immer wieder aus den USA zu hörende These geht dahin, dass sich die USA in einem internationalen Konflikt mit »dem Terrorismus« befinden, in dem das Töten der gegnerischen Kämpfer, wo immer man sie antrifft, erlaubt ist. Das soll gezielte Tötungen und insbesondere Drohneneinsätze überall auf der Welt rechtfertigen.

Diese These setzte sich in der internationalen Gemeinschaft aber nicht durch. Sie fand hinreichenden Widerspruch, sodass ein Wandel des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts, der durch diese Praxis wohl angestrebt wurde, nicht festzustellen ist (Bothe 2019, Rdn. 128). »Der Terrorismus« ist keine Organisation, die als Konfliktpartei rechtlich taugen würde. Gezielte Tötungen und Drohneneinsätze sind allenfalls dann völkerrechtlich zulässig, wenn sie als Kampfhandlungen gegen Kämpfer oder Kämpferinnen in einem wirklich bestehenden bewaffneten Konflikt charakterisiert werden können, wie das der Generalbundesanwalt im Mir-Ali-Fall vorgeführt hat. Gezielte Tötungen ohne diesen Konflikt-Nexus bedürften einmal der Zustimmung durch den Staat, auf dessen Gebiet sie stattfinden, zum anderen müssten sie den menschenrechtlichen Maßstäben für zulässige Formen der physischen Gewalt im Rahmen der polizeilichen Verbrechensbekämpfung entsprechen. Hinsichtlich beider Voraussetzungen bestehen angesichts der über viele Jahre geübten amerikanischen Praxis ganz erhebliche Bedenken. Hier gilt es, die besagte Dichotomie zwischen bewaffnetem Konflikt und einer Situation, die keinen solchen Konflikt darstellt, aufrecht zu erhalten. Der Kampf gegen den Terrorismus ist keine generelle »license to kill«.

»Drogenkrieg«

Eine ähnliche Problematik stellt sich bei der Bekämpfung des Drogenhandels. Auch wenn die Organisationen des illegalen Drogenhandels insbesondere in Mexiko Methoden anwenden, die in dem Ausmaß der Gewalt einem bewaffneten Konflikt gleichkommen, so bleiben diese Organisationen doch Verbrecherbanden, die eben nicht als vom Völkerrecht zu adressierende Konfliktparteien angesehen werden können. Auch hier gibt es also keine »license to kill« nach dem Recht des bewaffneten Konflikts. Die daraus folgenden menschenrechtlichen Grenzen staatlicher Gegengewalt können hier nicht im Einzelnen ausgelotet werden.

Neue Formen der Schädigung: analog oder digital

Eine weitere, früher kaum problematisierte Dichotomie spielt heute im Recht bewaffneter Konflikte eine große Rolle, nämlich die zwischen kriegerischen Schädigungshandlungen (insbesondere Tötung und Verwundung von Menschen, Schädigung und Zerstörung von Sachgütern), die das humanitäre Völkerrecht eingehend regelt, und anderen konfliktbezogenen Handlungen einer Konfliktpartei (z.B. die Anlage einer Festung), die keiner solchen Regelung unterliegen. Erstere Schädigungshandlungen definiert das Genfer Zusatzprotokoll I von 1977 als »Angriff«. Durch den Einsatz von Computern in bewaffneten Konflikten (Cyberwar) ist diese Dichotomie fraglich geworden (Bothe 2019, Rdn. 76). Im Cyberwar werden von Computern Signale oder Schadsoftware elektronisch an andere Computer, die sich im Bereich einer Konfliktpartei befinden, übermittelt. Die militärische Wirksamkeit dieses Vorgangs beruht auf der Tatsache, dass die angegriffenen Computer wesentliche Funktionen der Infrastruktur einer Konfliktpartei steuern. Wird z.B. durch die Übermittlung von Schadsoftware die elektronische Steuerung eines Elektrizitätswerkes außer Funktion gesetzt, dann ist die Wirkung zumindest vorübergehend genauso, als sei das Werk durch einen Bombenangriff zerstört: Es wird lebenswichtiger Strom nicht mehr geliefert. Es gibt also im Cyberwar eine neue Art von Schädigungshandlungen, bedingt durch eine neue Art von Verwundbarkeit. Aber nicht jede Übermittlung von Schadsoftware ist in besagtem Sinne ein »Angriff«. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Wirkung dieser Übermittlung der Schädigung mittels kinetischer oder Wärmeenergie gleichwertig ist (Tallinn Manual 2.0, S. 415 ff.). Mit diesem Abstellen auf den »equivalent effect« wird die traditionelle und sinnvolle Dichotomie zwischen Angriff und anderen militärischen Handlungen aufrechterhalten.

Das wesentliche und eigentlich neue Problem des Cyberwar liegt in der mangelnden Identifizierbarkeit und Lokalisierbarkeit der Schädiger. Die Urheber der Schadsoftware sind möglicherweise unbekannte Privatpersonen, die irgendwo in einem privaten Anwesen arbeiten. Für solche Schädigungshandlungen bedarf es nur eines Computers mit Internetanschluss. Das Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts, adressiert aber nur Staaten (und andere Völkerrechtssubjekte) sowie Personen, die als Organe dieser Rechtssubjekte handeln oder deren Handlungen aus besonderen Gründen diesen Rechtssubjekten zuzurechnen ist. Aktionen des Cyberwar, die von Staatsorganen, etwa Geheimdiensten, durchgeführt werden, unterliegen völkerrechtlichen Regeln wie oben erläutert. Hinsichtlich unbekannter nicht-staatlicher Schädiger hat das Völkerrecht noch keine klaren Regeln bereit. Es ist insbesondere an staatliche Kontrollpflichten zu denken, die mit der gebotenen Sorgfalt (due diligence) zu erfüllen wären (Tallinn Manual 2.0, S. 30 ff., S. 80). Sie werden vertraglich oder in der gewohnheitsrechtbildenden Praxis zu entwickeln sein.

Hybride Konfliktsituationen als Herausforderung für das Völkerrecht

Es wurde gezeigt, dass in heutigen Situationen der Ausübung organisierter Gewalt traditionelle Dichotomien, die die Anwendung bestimmter Rechtsmassen bestimmen, schwieriger anzuwenden sind. Dieser Befund wird mit dem Ausdruck »hybrider Konflikt« beschrieben. Es wurde des Weiteren gezeigt, dass es rechtliche Argumentationslinien gibt, die sinnvolle Unterscheidungen auch in solchen Situationen erlauben. Die Betonung liegt auf »sinnvoll«. Diese regulatorischen Dichotomien sollen sicherstellen, dass faktisch unterschiedliche Situationen jeweils einem sachgerechten Regelungsregime unterworfen sind. Sachgerechte Regelungen sind nicht ohne sachgerechte Differenzierungen zu haben. Deshalb bezeichnet der Begriff des »hybriden Konflikts« nicht einen neuen Regelungsbereich, eine neue Rechtsmasse zur Regelung dieses besonderen, neuen Konflikttypus, sondern die Notwendigkeit, die Definitionen vorhandener Kategorien zu überdenken und gegebenenfalls Unterscheidungsmerkmale oder inhaltliche Regelungen zu prüfen oder zu korrigieren. Nur so kann und muss das Völkerrecht seine Funktion, organisierte Gewalt in Schranken zu halten, mit Aussicht auf Erfolg erfüllen.

Anmerkungen

1) Urteil des U.S. Supreme Court, Hamdan v. Rumsfeld, 29.6.2006, 548 U.S. 557 (2006).

2) Bundesminister Westerwelle vor dem Deutschen Bundestag zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. 10.2.2010; auswaertiges-amt.de.

3) Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Betr: Drohneneinsatz vom 4. Oktober 2010 in Mir Ali/Pakistan – Verfügung des Generalbundesanwalts vom 20. Juni 2013 – 3 BJs 7/12-4. 23.7.2013; generalbundesanwalt.de.

Literatur

Bellal, A. (ed.) (2019): The War Report – Armed Conflicts in 2018: Geneva: Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights.

Bothe, M. (2019, 8. Aufl): Friedenssicherung und Kriegsrecht. In: Vitzthum, W. Graf; Proelß, A. (Hrsg.): Völkerrecht. Berlin: DeGruyter.

Crawford, E. (2015): Armed conflict, international. In: Wolfrum, R. (ed.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law.

Frowein, J.A. (2015): De Facto Regime. In: Wolfrum, R. (ed.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law.

Geiß, R. (2009): Armed violence in fragile States – low intensity conflict, spillover conflict, and sporadic law enforcement operations by third States. International Review of the Red Cross, Vol. 91, Nr. 873, S. 127 ff.

ICRC (ed.) (2005): Customary International Humanitarian Law. Edited by Henckaerts, J.-M.; Doswald-Beck, L. Cambridge: Cam­bridge University Press.

Kahn, J.: Hybrid conflict and prisoners of war – the case of the Ukraine. In: Ford, C.M.; Williams, W.S. (eds.): Complex Battlespaces. Oxford: Oxford University Press.

Milanovic, M. (2019): Accounting for the complexity of the law applicable to modern armed conflicts, In: Ford, C.M.; Williams, W.S. (eds.): Complex Battlespaces. Oxford: Oxford University Press.

Tallinn Manual 2.0 on the International Law Applicable to Cyber Operations. Prepared by the International Group of Experts at the Invitation of the NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence; edited by Schmitt, M.N. Cambridge: Cambridge University Press.

Michael Bothe, Dr. iur., Prof. emeritus für öffentliches Recht, J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Der Raum dazwischen


Der Raum dazwischen

Hybrider Krieg und die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges«

von Bernhard Koch

Die Ethik hat – ähnlich wie die Alltagssprache – lange Zeit Krieg und Frieden wie kontradiktorische Gegenteile behandelt: Entweder ist Krieg, oder es ist Frieden. Beides hat seine eigenen Regeln. Nun stellen wir aber gerade durch die »hybride« Kriegsführung fest, dass sich bereits sozialwissenschaftlich keine richtige Grenze zwischen Krieg und Frieden mehr ausmachen lässt. Ein »Hybrider Krieg« ist (noch) kein »voll ausgeprägter« Krieg, aber eben auch kein Frieden. Er liegt dazwischen: Tertium datur, es gibt ein Drittes. Kann eine Ethik, die auf die Unterscheidbarkeit dieser beiden Zustände setzt, überhaupt noch anwendbar sein (vgl. Koch 2017)?

Nein, sagt die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges«. Ihre Vertreter*innen wollen die These der normativen Trennung von Krieg und Frieden revidieren.1 Wenn wir über ethische Legitimation im Rahmen kriegerischer Gewalt sprechen, dann müssen wir dies – so ihre Annahme – auf einer Grundlage tun, wie sie auch für legitime Gewalt in einem friedlichen Umfeld gegeben ist. Eine Ethik von Kriegsführung kann auf keiner anderen normativen Quelle fußen als jede andere Ethik legitimer Gewaltanwendung. Diese Quelle findet die revisionistische Theorie in der Rechtfertigung verteidigender Gewalt: Nur wo die grundsätzliche Immunität einer Person übertreten und dadurch diese Person in ihren Rechten verletzt wird, ist Gewalt zur Abwehr des Angriffs erlaubt. Aber diese verteidigende Gegengewalt unterliegt selbst strengen Bedingungen. Im »verantwortungsbasierten Ansatz verteidigender Gewalt« (responsibility account of permissible defense) von Jeff McMahan (2011a, S. 392), dem wichtigsten Denker dieser Richtung, dürfen nur jene »Bedrohenden« Gegengewalt erfahren, die eine moralische Verantwortung für die relevante Bedrohung tragen. Solche Personen sind je nach Grad ihrer Verantwortung »haftbar« (d. h. legitim angreifbar; orig. »liable«) für ein bestimmtes Ausmaß von Verteidigung. So können entschuldigende Gründe, wie (unverschuldete) Unwissenheit oder der Umstand, dass man unter Druck gesetzt wurde, die Haftbarkeit merklich senken und dadurch auch das Maß erlaubter verteidigender Gegengewalt.

Moralische Verantwortlichkeit ist aber nicht die einzige Größe, die den Umfang der Haftbarkeit bestimmt. Hinzu kommen Faktoren wie das Ausmaß der Bedrohung oder die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Abwehrmaßnahme überhaupt erfolgreich sein kann (McMahan 2011b, S. 548). Wenn eine gewaltsame Handlung zur Bedrohungsabwehr nichts beitragen kann, ist sie nicht erlaubt, selbst wenn andere Faktoren eine Haftbarkeit begründen würden.

Wenn eine Person mutwillig und aggressiv eine andere Person in ungerechtfertigter Weise bedroht, ohne äußere Zwänge, bei klarem Bewusstsein, ist sie für die Bedrohung in anderer Weise verantwortlich als eine Person, die zwar auch illegitim bedroht, aber sich über diesen Umstand nicht im Klaren ist oder die von anderen dazu gezwungen wurde. Aus dieser veränderten Art der Verantwortlichkeit folgt eine veränderte Angreifbarkeit. Die intuitive Plausibilität dieses Ansatzes zeigt sich darin, dass es uns Unbehagen bereitet, wenn Kindersoldat*innen gleichermaßen massiv angegriffen werden wie erwachsene Kämpfer*innen.

Dieser Ansatz stellt immerhin einen grundsätzlichen Maßstab für kollektive Gewaltakte (worunter auch politische Gewalt und Krieg fällt) bereit, auch wenn er das Phänomen etwas einengt. Die Frage nach der Legitimation von kollektiver Gewalt wird in diesem »methodischen Individualismus« zurückgeführt auf die Frage nach der Legitimation individueller Gewalt; die Eigendynamik von Gruppen findet keine Berücksichtigung. (Menschen-) Rechte folgen nicht aus dieser Ethik, sondern sind ihre Voraussetzung. Vor allem ein Schritt ist bedeutsam: Das Haftbarkeitskonzept verlegt das Fundament dessen, was an verteidigender Gewalthandlung erlaubt ist, weg von den eigenen Sicherheitsbedürfnissen hin zu einer Eigenschaft des Gegners. Nicht die Frage, wieviel Gewalt ich benötige, um mich selber zu schützen, ist der erste Anker für das Gewaltmaß, sondern die Frage, wieviel Gewalt ich dem Gegner angesichts seines moralisch zu beurteilenden Zustands zumuten darf. Wenn ich in Rechnung stelle, dass auch der Gegner glaubt – und sei es irrtümlich –, er würde sich mit seinen Gewalthandlungen lediglich verteidigen, muss ich ihm diesen Irrtum unter Umständen entschuldigend anrechnen. Freilich unterliegt auch er einer solchen Pflicht, die moralische Situation seines Gegners in den Blick zu nehmen und sich ihr entsprechend zu mäßigen. Konsequent durchgedacht, beinhaltet also dieser ethische Ansatz ein beträchtliches Gewalt deeskalierendes Potential.

Akteur*innen in einem »hybriden« Konflikt sollten sich also fragen, ob sie überhaupt versuchen, die Sichtweise ihres Gegners adäquat in den Blick zu nehmen. Möglicherweise gibt es dort Sicherheits- und Identitätsbedürfnisse, denen man grundsätzlich Rechnung tragen muss. Freilich entbindet dies den Gegner nicht seinerseits von der Pflicht, vertrauensbildend zu agieren und zu reflektieren.

Im Folgenden sollen kurz – und unvermeidlich auch verkürzt – drei Felder die Anwendung dieser ethischen Überlegungen in praktischen Kontexten exemplifizieren: Waffenlieferungen, militärische Robotik und Kulturgüterschutz.

Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung?

Der verantwortungsbasierte Ansatz der verteidigenden Gewalt unterscheidet grundsätzlich nicht danach, wer die verteidigende Gewalt vornimmt. Es kommt nicht darauf an, ob es das bedrohte Opfer selbst ist, das abwehrend handelt, oder ein Dritter, der dem Opfer zu Hilfe eilt. Ausschlaggebend ist einzig die Haftbarkeit des*der Bedrohenden selbst, die die Grenzen der verteidigenden Gewalt festlegt, und zwar sowohl in einem Akt der Selbstverteidigung (Notwehr) wie in einem Akt der Fremdverteidigung (Nothilfe).

Nun könnte man denken, dass es aus diesem Grund auch gleichgültig ist, ob eine Person A dem bedrohten Menschen B Waffen zu dessen Selbstverteidigung bereitstellt oder ob A selbst die Waffen nutzt, um in Fremdverteidigung der bedrohten Person zu helfen. Wenn wir beispielsweise überlegen, ob Waffenlieferungen an die vom IS bedrohten Jesiden erlaubt oder gar geboten waren oder ob wir nicht besser selbst mit unseren eigenen Streitkräften hätten intervenieren sollen, bietet uns der verantwortungsbasierte Ansatz erst einmal wenig Hilfestellung. Häufig wird daher ein zusätzliches Prinzip herangezogen: Wenn die bedrohte Person die Verteidigung selbst übernehmen kann, dann soll sie dies auch tun. Dritte Personen sind lediglich aufgefordert, sie dazu zu ermächtigen. Die bedrohte Person bleibt dann nicht zu Dankbarkeit oder Abhängigkeit schaffenden Haltungen verpflichtet.

Das ist nachvollziehbar, aber vielleicht zu kurz gegriffen: Verteidigende Gewalt erfolgt ja in einem Rechtsrahmen, ohne den nicht einmal das Selbstverteidigungsrecht als solches begründet wäre. In einem Rechtsrahmen sollte aber die Rechtswahrung immer zunächst bei den dafür bestellten Rechtswahrern liegen. Daher kann man argumentieren, eine autorisierte Verteidigung der Rechte angegriffener Personen sei der Selbstermächtigung dieser Personen grundsätzlich vorzuziehen.2 Das Argument spräche also eher für die (z.B. durch die Vereinten Nationen mandatierte) Intervention als für das Liefern von Waffen. Dazu kommen wichtige konsequentialistische Überlegungen, wie die Möglichkeit der Proliferation der Waffen nach dem Konflikt oder ein mögliches Eskalationspotential (vgl. zur Debatte Pattison 2015). Andererseits ist es im internationalen System leider noch so, dass rechtswahrende Soldat*innen, wenn sie von einzelnen Staaten bereitgestellt werden, auch als Exponenten der Interessen ihrer Staaten wahrgenommen werden – zuweilen zurecht, was natürlich den Erfolg eines militärischen Einsatzes torpedieren kann.

Bewaffnete Drohnen und autonome Waffensysteme

Da die »revisionistische Theorie« von individueller Haftbarkeit ausgeht, fordert sie uns auf, das militärische Handeln immer wieder in legitimatorischer Hinsicht an die betroffenen Individuen zurückzubinden. In solchen Überlegungen zeigt sich die Tragik des Einsatzes militärischer Gewalt ganz besonders,3 denn häufig sind Menschen von der Gewalt betroffen, die nichts dazu getan haben, dass es zu den Bedrohungen kam, und es sind sogar Menschen von ihr betroffen, die viel oder alles dafür getan haben, dass es zu den Bedrohungen nicht kommt, und die nun dennoch in Gefahr sind. Dadurch werden im Krieg manche Menschen zu Tätern von Unrecht, obwohl sie gerade Unrecht verhindern und recht handeln wollen.

Weil es diese Tragik gibt, suchen wir Erlösung in der Technik. Die Hoffnun­gen, die Politik und Militär in bewaffnete ferngesteuerte Waffensysteme stecken, zeugen davon.4 Ferngesteuerte militärische Robotik (z.B. bewaffnete Drohnen) versprechen Sicherheit für die eigenen Streitkräfte, die ja dem Idealbild nach nur in gerechtfertigter Selbst- und Fremdverteidigung handeln, und gleichzeitig auch größere Sicherheit für jene Personen, die – obwohl ohne Haftbarkeit – bei den überkommenen militärischen Mitteln von der Gewalt betroffen wären, vor allem Zivilist*innen (Koch und Rinke 2018). Durch diese technischen Mittel sollen nur noch die wirklich haftbaren Personen die Folgen ihres bedrohenden Handelns zu spüren bekommen, was insbesondere bei komplexen Gemengelagen, wie den so genannten hybriden Kriegen, verheißungsvoll klingt.

Dabei wird aber ausgerechnet durch die gegebene Distanz die Legitimationsgrundlage für Gewalt immer schwammiger. Verteidigende letale Gewalt kann bestenfalls legitim sein, wenn eine unmittelbare Bedrohung für das Leben einer anderen Person oder anderer Personen vorliegt. Oft ist es aber die Drohne selbst, die durch ihre Aufklärungsfähigkeit dazu beiträgt, dass es zu dieser unmittelbaren Bedrohung nicht kommen muss, weil sie beispielsweise Rückzugsoptionen schafft. Zugestanden: Es sind Szenarien denkbar, in denen eine Person andere Personen mit unmittelbarer illegitimer tödlicher Gewalt bedroht, bei denen es naheliegt, dass eher der*die Bedrohende durch verteidigende tödliche Gewalt sein Leben verlieren sollte als die Opfer der Bedrohung. Alleine dadurch aber, dass die vom Militär genutzten Drohnen immer ein Gewaltausmaß schaffen, das für individuell austarierte Gewalt viel zu groß ist, ist die Konstruktion solcher Fälle reichlich hypothetisch. In gewisser Weise schaffen bewaffnete Drohnen ihren bevorzugten Handlungstyp selbst, nämlich die »targeted killings«,5 denn – salopp gesprochen – für jemanden, der einen Hammer hat, sehen viele Probleme wie ein Nagel aus.

Vor allem muss die Frage gestellt werden, welche Befriedungsfähigkeit im Einsatz roher Technik liegt oder ob diese nicht letztlich als Exekutionsinstrument einer dominanten Macht verstanden wird. Da die derzeitigen Drohnensysteme offenkundig nur den Auftakt zu wesentlich »autonomeren« Waffensystemen darstellen, werden sich künftig auch Fragen nach unkalkulierten und unkalkulierbaren Risiken beim Einsatz »autonomer« Technik sowie Probleme der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit stellen. Es deutet nichts darauf hin, dass sich mit diesen Systemen hybride Bedrohungen wirklich beseitigen und, mehr noch, Regionen hybrider Bedrohungen befrieden ließen.

Kulturgüterschutz in bewaffneten Konflikten

Dass in den gewaltsamen Auseinandersetzungen der letzten Jahre Kulturgüter zum Ziel von mutwilligen Angriffen wurden – also ihre Zerstörung oder Beschädigung nicht nur wie im Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger billigend in Kauf genommen wurde –, zeigt eine verschärfte Dimension dieser »hybriden« Kriegsführung an, denn mit dem Kulturgut werden zwar Menschen häufig nicht direkt in ihrer physischen Existenz getroffen, sollen aber indirekt in ihrer Identität geschädigt werden.

Damit ein Kulturgut im Modell der »revisionistischen Theorie des gerechten Krieges« überhaupt zum Gegenstand legitimer verteidigender Gewalt werden kann, muss sich sein Wert in irgendeiner Weise als bezogen auf das Leben von natürlichen Personen ausdrücken lassen. Es ist offenkundig, dass der militärische Schutz für ein Elektrizitätswerk ethisch erlaubt sein kann, wenn dessen Zerstörung das Leben von Menschen gefährden würde. Bei Kulturgütern hingegen muss zur Begründung ein sehr viel weitergehendes Konzept gelingenden menschlichen Lebens in Anschlag gebracht werden. Dort, wo Kulturgüter zu einem »reichhaltigeren« sozialen und damit individuellen Leben beitragen, kann man ihren Schutz immerhin als Schutz dieses »reichhaltigen« sozialen oder individuellen Lebens verstehen. So können religiöse Bauten für die Mitglieder dieser Gemeinschaft zu einer Fülle beitragen, ohne die sie ihr Leben als »unvollständig« oder »leer« empfinden würden.

Was aber ist mit solchen kulturellen Objekten, die nicht mehr einfachhin in einer identitätsstiftenden Beziehung zu einer lebendigen Gemeinde von kulturell verbundenen Menschen stehen, wie z. B. die 2001 zerstörten Buddhas von Bamyan? Mir scheint, wir müssen den Schutz von Kulturgütern als kosmopolitische Aufgabe begreifen und auch das gefährdete Objekt in seiner Bezogenheit auf die Menschheitsgeschichte als solche sehen (Koch 2016). Dies setzt die Bereitschaft voraus, etwas, was in einer partikularen Kultur besonderen Wert hat, auch als für die Weltgemeinschaft wertvoll anzuerkennen, weil man eben auch die andere partikulare Kultur als wertvoll bejaht. Nun mag man einwenden, dass gerade diese Anerkennungsforderung einer partikularen Kultur zugehört – nennen wir sie die »aufklärerisch-westliche« – und man von denen, die diesen Anspruch nicht teilen, den Schutz solcher Objekte nicht erwarten, ja nicht einmal einfordern könne. Das befreit aber nicht von der Verpflichtung, seinen eigenen Maßstäben treu zu bleiben. Manchmal bleiben eben nur noch unilaterale Kriterien und Wertbindungen.

Fazit

Die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges« setzt normativ um, was empirisch schon ansatzweise der Fall ist: Sie unterscheidet nicht grundsätzlich zwischen »zivil« und »militärisch«, zwischen »innerer« und »äußerer« Bedrohung oder zwischen »Krieg« und »Frieden«. Unterschiede sind eine Sache des Grades, nicht der Schwellen. Insofern stellt der »Revisionismus« in der Tat ein normatives Modell vor, das Gewalt auf allen Stufen der Eskalation binden und einhegen kann. Darin liegt die Stärke des Ansatzes. Seine Schwäche liegt vielleicht darin, dass er dem Menschen als bedeutungs- und wertsetzendes, als geschichtliches sowie als friedenssehnsüchtiges Wesen nicht ganz gerecht wird. Auch die Maßstäbe legitimer Angreifbarkeit (liability) beruhen auf werthaften Vorentscheidungen, die so oder anders getroffen werden können. Frieden im Sinne einer völligen Abwesenheit von Gewalt gibt es (zumindest in der geschichtlichen »civitas terrena«, dem irdischen Staat) nicht. Wichtig ist ein nüchterner und sachlicher Blick auf den Menschen und die realen Umstände, auch wenn es um eine normative Einschätzung der neuen Gewaltformen – seien sie asymmetrisch, terroristisch, hybrid oder dergleichen mehr – geht. Nüchterne Blicke relativieren Bedrohungen und eigene Ansprüche und verhindern so in guten Fällen Gewaltspiralen und Eskalationstendenzen.

Anmerkungen

1) Der Auftakt machte Jeff McMahans programmatischer Aufsatz McMahan 2004.

2) In innerstaatlichen Rechtsräumen würden wir es jedenfalls kaum akzeptieren, dass die Polizei, anstatt einzugreifen, bedrohten Personen Waffen zur Selbstverteidigung zur Verfügung stellt.

3) Tragik ist es ja nicht, zum Opfer eines Unglücks oder ungerechter Gewalt zu werden. Tragik ist es, im Streben nach Recht zum Täter ungerechter Gewalt zu werden oder werden zu müssen.

4) Zur Debatte um bewaffnete Drohnen vgl. Koch 2015 und Koch 2019.

5) Zum Begriff des »targeted killing« vgl. Melzer 2008, S. 3 f. Siehe zu diesem Thema auch Alston 2011.

Literatur

Alston, P. (2011): Dokumentation – Gezielte Tötungen. W&F 1-2011, S. 17-21 (Auszüge der »Studie über gezielte Tötungen« des Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen für den Menschrechtsrat der Vereinten Nationen).

Koch, B. (2015): Bewaffnete Drohnen und andere militärische Robotik – Ethische Betrachtungen. In: Gramm, C.; Weingärtner, D. (Hrsg.): Moderne Waffentechnologie – Hält das Recht Schritt? Baden-Baden: Nomos, S. 32-56.

Koch, B. (2016): Es geht nicht nur um Steine – Ist militärischer Schutz von Kulturgütern erlaubt oder gar geboten? Herder Korrespondenz, Vol. 70, Nr. 11, S. 38-41.

Koch, B. (2017): Diskussionen zum Kombattantenstatus in asymmetrischen Konflikten. In: Werkner, I.-J.; Ebeling, K. (Hrsg.): Handbuch Friedensethik. Wiesbaden: Springer VS, S. 843-854.

Koch, B. (2019): Die ethische Debatte um den Einsatz von ferngesteuerten und autonomen Waffensystemen. In: Werkner, I.-J.; Hofheinz, M. (Hrsg.): Unbemannte Waffen und ihre ethische Legitimierung. Wiesbaden: Springer VS, S. 15-46.

Koch, B.; Rinke, B.-W. (2018): Der militärische Einsatz bewaffneter Drohnen – Zwischen Schutz für Soldaten und gezieltem Töten. TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, Vol 27, Nr. 3, S. 38-44

McMahan, J. (2004): The Ethics of Killing in War. Ethics, Vol. 114, Nr. 4, S. 693-733.

McMahan, J. (2011a): Self-Defense Against Morally Innocent Threats. In: Robinson, P.H.; Garvey, S.; Kessler Ferzan, K. (eds.): Criminal Law Conversations. Oxford: OUP, S. 385-394.

McMahan, J. (2011b): Who is Morally Liable to be Killed in War? Analysis, Vol 71, Nr. 3, S. 544-559.

Melzer, N. (2008): Targeted Killing in International Law. Oxford: OUP.

Pattison, J. (2015): The Ethics of Arming Rebels. Ethics & International Affairs, Vol. 29, Nr. 4, S. 455-471.

Dr. Bernhard Koch ist stellvertretender Direktor des Hamburger Instituts für Theologie und Frieden und Lehrbeauftragter für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Hybride Kriegführung


Hybride Kriegführung

Die Diffusion eines Begriffs

von Wolfgang Schreiber

»Hybride Kriegführung« (hybrid warfare) ist kein theoretisch feststehender Begriff, sondern vielmehr eine Wortschöpfung, die in den letzten Jahren zur Beschreibung sehr unterschiedlicher Kriegsphänomene genutzt wurde. Dennoch lassen sich Merkmale der hybriden Kriegführung herausfiltern. Die Bandbreite lässt sich anhand historischer und aktueller Beispiele veranschaulichen.

Erstmalig explizit genutzt wurde »Hybride Kriegführung« 2002 in einer Arbeit über den Krieg in Tschetschenien (Nemeth 2002).1 Dabei stellte Nemeth fest, dass die Rebellen sowohl moderne Technologie als auch moderne Mobilisierungsmethoden (ebd., S. 29) und – je nach Lage – konventionelle oder Guerilla-Taktiken einsetzten (ebd., S. 61). Durch eine Analyse des Libanonkrieges von 2006, die für die Kriegführung der Hisbollah gegen Israel ähnliches herausstellte (Hoffman 2007), fand der Begriff weitere Verbreitung. Eine hybride Kriegführung wurde also zunächst nichtstaatlichen Akteuren zugeschrieben, von denen man eine Kombination aus konventionellen und Guerilla-Taktiken so nicht erwartet hatte, sodass eine neue Begrifflichkeit notwendig erschien.2

Eine Erweiterung erfuhr der Begriff spätestens 2010, als innerhalb der NATO von »hybriden Bedrohungen« gesprochen wurde (Asmussen et al. 2015, S. 10, 123). Damit gemeint war die Einbeziehung nicht originär militärischer Bedrohungen, wie Gewalt durch Nachrichtendienste, Cybergewalt, privatisierte Gewalt, diplomatische Macht, realwirtschaftliche Macht, finanzwirtschaftliche Macht, wissenschaftliche und technologische Macht, Medienmacht (Dengg und Schurian 2015, S. 60-63). Durch die Kombination dieser und ggf. militärischer Mittel ergeben sich logischerweise ganz unterschiedliche hybride Bedrohungsszenarien.

Die Sinnhaftigkeit des Begriffs wurde gleich aus mehreren Richtungen kritisiert. Einerseits führten Kritiker für die Kombination verschiedener militärischer Taktiken durch Kriegsakteure eine ganze Reihe von Beispielen an, die nahelegen, dass diese Art der Kriegführung auch historisch gesehen eher die Regel als die Ausnahme war (Murray und Mansoor 2012). Wird andererseits die Mischung von militärischen und nicht-militärischen Elementen als wesentliches Charakteristikum hybrider Kriegführung betont, so erscheint der Begriff noch weniger sinnvoll. Kriegführende Parteien bedienten sich zur Unterstützung ihrer Kriegführung immer auch nicht-militärischer Mittel: Diplomatie soll z.B. verhindern, dass der Gegner Bündnispartner findet; Wirtschaftssanktionen bis hin zu Blockaden sollen dessen Versorgung infrage stellen; Propaganda soll die Unterstützung der eigenen Bevölkerung sicherstellen und die des Gegners untergraben usw. Das Führen eines Krieges ist damit grundsätzlich hybrid (Schmid 2016, S. 119).

Für die Diskussion über hybride Kriegführung kommt dabei aus den Bedrohungsszenarien der Einzelkomponente des Cyberangriffs eine besondere Bedeutung zu. 2007 wurden estnische Einrichtungen Ziel eines Cyberangriffs (Asmussen et al. 2015, S. 6); 2010 waren vor allem Computer im Iran betroffen vom Computerwurm Stuxnet (Dengg und Schurian 2015, S. 27). In beiden Fällen konnte über die Urheber der Cyberattacken nur spekuliert werden: 2007 wurden russische Urheber vermutet; 2010 richtete sich der Verdacht gegen die USA und Israel. Bei Cyberangriffen geht es jedoch zumeist weniger um Angriffe mit Zerstörungspotenzial als um Spionage. Zu nennen ist hier vor allem das weltweite Überwachungsprogramm der US-amerikanischen National Security Agency (NSA), die auch vor dem Abhören befreundeter Staats- und Regierungschefs nicht haltmachte. Ein weiteres Beispiel ist die Veröffentlichung des Mailverkehrs der Demokratischen Partei in den USA, die die Einflussnahme der Parteispitze zugunsten Hillary Clintons und gegen Bernie Sanders im Nominierungswahlkampf vor der Präsidentschaftswahl 2016 deutlich machte. Im Fall der NSA blieben diese Aktivitäten bis zur Veröffentlichung durch Edward Snowden unbekannt; im zweiten Fall wird über Urheber in Russland spekuliert.

Diffusion des Begriffs

Wird in der aktuellen Diskussion von hybrider Kriegführung gesprochen, ist damit vor allem das russische Vorgehen in der Ukraine gemeint (Bilban et al. 2019, S. 22-25; Ehrhart 2014). Dabei werden folgende Hauptmerkmale der russischen Kriegführung genannt, welche die Bezeichnung »hybrid« rechtfertigen sollen: Da die russische Seite behauptet, die Rebellen lediglich zu unterstützen, bleibt im Unklaren, wer der treibende Akteur ist. Direkte russische Interventionen werden, so bei der Besetzung der Krim, allenfalls im Nachhinein zugegeben. Somit weist bereits die im engeren Sinne militärische Komponente einen hybriden Charakter auf. Diese Unklarheit über das militärische Agieren wird von einer Informationspolitik begleitet, die einerseits auf klassische Medien, wie den Fernsehsender RT, zurückgreift, andererseits auch auf sozialen Medien beruht, wo Urheberschaft und Einflussnahme staatlicher Stellen bewusst im Unklaren bleiben.

Die Möglichkeit, eine Verantwortung für bestimmte Aktionen oder sogar eine Kriegsbeteiligung mit einiger Plausibilität abstreiten zu können (Erhart 2016, S. 99; Schmid 2016, S. 115), wird hier zu einem Hauptmerkmal dieser Art der Kriegführung. Dies wird unterstützt durch die Verbreitung von Informationen und Desinformationen im Internet, die es erschweren, Fakten, Wahrnehmungen und Unwahrheiten voneinander zu unterscheiden, weil sich für jede Sichtweise vielfältige »Belege« finden lassen. Sofern eine Kriegsbeteiligung insgesamt bestritten wird, bedeutet dies eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden (Koch 2016, S. 110).

Mit diesen Zuordnungen hat sich der Begriff »hybrider Krieg« von den ersten, eingangs beschriebenen Definitionsversuchen doch ein Stück weit entfernt. Nicht die Vermischung regulärer und irregulärer Kriegführung macht hier den eigentlichen Charakter des Hybriden aus, sondern ein Vorgehen, dass die Zuschreibung einzelner Gewalthandlungen und Beiträge zur Kriegführung eher im Unklaren lässt. Statt von hybrider ließe sich treffender von verdeckter Kriegführung sprechen. Dabei kann der Grad der Verdeckung unterschiedlich sein: Es kann jegliche Beteiligung entweder verschwiegen oder geleugnet werden. Durch das Handeln mehrerer Akteure – meist eines staatlichen und mindestens eines nichtstaatlichen – wird es schwierig, die jeweils maßgebliche Kraft zu identifizieren. Oder es kommt zum Einsatz von Truppen, der Begriff »Krieg« wird für diese Einsätze aber trotz der Verwicklung in Kampfhandlungen vermieden. Auch dadurch entsteht eine Grauzone zwischen Krieg und Frieden, wie sie für die hybride Kriegführung konstatiert wird.

Dieses Vorgehen ist allerdings nicht neu. Immer wieder gab es Interventionen, in denen eine Kriegsbeteiligung nicht offen stattfand. So unterstützten US-amerikanische Kampfflugzeuge 1954 in Guatemala und 1958 in Indonesien aufständische Truppen. Am zwischenstaatlichen Koreakrieg beteiligte sich die Sowjetunion auf Seiten Nordkoreas mit Kampfflugzeugen, die von chinesischen Stützpunkten aus eingesetzt wurden. Offiziell beteiligte sich Moskau nicht an diesem Krieg. Auch in jüngerer Zeit wurden Einsätze, wie der durch französische und britische Spezialkräfte zugunsten der libyschen Opposition 2011, nicht von vornherein offengelegt (Ehrhart 2014).

Für eine besondere Art der verdeckten Intervention steht der Einsatz von Söldnern. In Guatemala 1954 und Kuba 1961 wurden Exilkräfte bei ihren Umsturzversuchen jeweils durch Söldner unterstützt, die mit der CIA in Verbindung standen. In afrikanischen Konflikten stieß man häufig auf den Söldner Bob Denard, der bis in die 1980er Jahre mehr oder weniger offen französische Interessen vertrat. Zu überlegen ist auch, wie die Aktivitäten privater Sicherheitsfirmen, z.B. im Irakkrieg, hier zugeordnet werden können.

Eine weitere Art verdeckter Kriegsbeteiligung ist die vorgeblich neutrale Intervention zur Beendigung eines Krieges. Die USA bedienten sich dieses Szenarios 1965 in der Dominikanischen Republik und agierten dabei formal als Teil der durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) entsandten Truppen. Mitte der 1990er Jahre wurde die von der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS entsandte Eingreiftruppe ein Akteur im Bürgerkrieg in Liberia, als sie unter nigerianischer Führung vor allem gegen die Rebellen unter Charles Taylor vorging. Auch Russland engagierte sich in mehreren derartigen Interventionstruppen. Zur Überwachung von Waffenstillständen wurden Einheiten unter dem Dach der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in verschiedene Nachfolgestaaten der Sowjet­union entsandt, u.a. nach Moldawien und Georgien. De facto unterstützten diese von Russland dominierten Truppen jedoch jeweils eine der Konfliktparteien. 2008 führte dies im Falle der Region Südossetien zum offenen Krieg zwischen Georgien und Russland.

Weiterhin gibt es zahlreiche Beispiel innerstaatlicher Kriege, in denen die staatliche Seite mehr oder weniger eng mit nichtstaatlichen Akteuren zusammenarbeitet. In diesen Fällen können insbesondere Kriegsverbrechen und grobe Menschenrechtsverstöße vom Staat geleugnet bzw. ihrem nicht immer kontrollierbaren Verbündeten zugeschrieben werden. Bekannte Beispiele hierfür sind die paramilitärischen »Selbstverteidigungsgruppen«, die in Kolumbien bei der Bekämpfung der verschiedenen linksgerichteten Rebellengruppen mitwirkten, sowie die so genannten Dschandschawid-Milizen, die im sudanesischen Darfurkrieg zum Einsatz kamen.

Eine letzte Form verdeckter Kriegführung ist die Beteiligung an Kriegen, die von den betreffenden Staaten nicht als Krieg deklariert werden. Zu erinnern ist hier an die Debatte in Deutschland, ob die Bundeswehr in Afghanistan an einem Krieg beteiligt ist. Dabei wurde offiziell lange die Interpretation als Nachkriegs- und Stabilisierungsmission im Rahmen der ISAF aufrechterhalten, obwohl nach der Reorganisation der Taliban bereits ab 2003 wieder ein offener Krieg zu beobachten war. Es handelt sich aber nicht nur um ein deutsches Phänomen: Als der französische Präsident nach den IS-Anschlägen in Paris am 13.11.2015 diese als »Kriegserklärung« bezeichnete, stellte sich durchaus die Frage, wie die in den Monaten zuvor im Irak und Syrien geführten französischen Luftangriffe gegen den IS im offiziellen Sprachgebrauch bezeichnet wurden.

Fazit: ein unklarer Begriff für vielfältige Phänomen

So vielfältig die Bedrohungsszenarien hybrider Kriegführung, so vielfältig sind die Phänomene, die als hybride Kriege bezeichnet werden können. Die Mischung konventioneller und unkonventioneller Arten der Kriegführung dürfte historischen Untersuchungen zufolge wohl eher die Regel als die Ausnahme im Kriegsgeschehen darstellen. Auch die Mischung des Einsatzes von militärischen und zivilen Mitteln, wie Diplomatie, Propaganda/Information/Desinformation, Spionage oder Wirtschaftssanktionen, kennzeichnen eher Kriege im Allgemeinen als hybride Kriege im Besonderen. Ob die Nutzung des Internets oder des Cyberraums einen neuen Kriegsbegriff erforderlich macht, kann an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise diskutiert werden, zumal auch der Begriff des Cyberwar eher umstritten ist (Rid 2018). Auch die Verdeckung von Verantwortlichkeiten im Kriegsgeschehen – bis hin zur Infragestellung des Kriegszustandes selbst – sind weder neue Phänomene noch wird durch sie ein neuer Begriff zu begründen sein.

Anmerkungen

1) Nemeth nimmt dabei aber an keiner Stelle in Anspruch, diesen Begriff erfunden zu haben. Er ordnet ihn in eine seit den 1980er Jahren geführte Debatte um die Kriegführung der 4. Generation (Fourth Generation Warfare) innerhalb des US-Militärs ein (S. 3) und bezeichnet hybride Kriegführung ohne weitere Erläuterung als zeitgenössische Form der Guerilla-Kriegführung (S. 29).

2) Im Gegensatz zu Nemeth war Hoffman bestrebt, hybride Kriegführung in Abgrenzung von anderen militärischen Begrifflichkeiten, wie Forth Generation Warfare, als eigenständiges Konzept zu definieren (Hoffman 2007, S. 18-23).

Literatur:

Asmussen, J.; Hansen, S.; Meiser, J. (2015): Hybride Kriegsführung – eine neue Herausforderung? Kiel: Universität Kiel, Institut für Sicherheitspolitik, Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 43.

Bilban, C.; Grininger, H.; Steppan, C. (2019): Gerasimov – Ikone einer tief verwurzelten Denktradition. In: Bilban, C.; Grininger, H. (Hrsg.): Mythos »Gerasimov-Doktrin« – Ansichten des russischen Militärs oder Grundlage hybrider Kriegsführung? Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 15-55.

Dengg, A.; Schurian, M. (2015): Zum Begriff der Hybriden Bedrohungen. In: dies. (Hrsg.): Vernetzte Unsicherheit – Hybride Bedrohungen im 21. Jahrhundert. Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 23-75.

Erhart, H.-G. (2014): Russlands unkonventioneller Krieg in der Ukraine – Zum Wandel kollektiver Gewalt. Aus Politik und Zeitgeschichte, 11.11.2014.

Erhart, H.-G. (2016): Postmoderne Kriegführung – In der Grauzone zwischen Begrenzung und Entgrenzung kollektiver Gewalt. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 97-103.

Hoffman, F.G. (2007): Conflict in the 21st Century – The Rise of Hybrid Wars, Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Koch, B. (2016): Tertium datur – Neue Konfliktformen wie sogenannte »hybride Kriege« bringen alte Legitimationsmuster unter Druck. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 109-113.

Murray, W.; Mansoor, P.R. (2012) (eds.): Hybrid Warfare – Fighting Complex Opponents from the Ancient World to the Present. Cambridge: Cambridge University Press.

Nemeth, W.J. (2002): Future War and Chechnya – A Case for Hybrid Warfare. Monterey: Naval Postgraduate School.

Rid, Thomas (2018): Mythos Cyberwar – Über digitale Spionage, Sabotage und andere Gefahren. Hamburg: Edition Koerber.

Schmid, J. (2016): Hybride Kriegführung und das »Center of Gravity« der Entscheidung. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 114-120.

Wassermann, F. (2016): Chimäre statt Chamäleon – Probleme der begrifflichen Zähmung des hybriden Krieges. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 104-108

Wolfgang Schreiber, geb. 1961, ist Dipl.-Mathematiker, Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.

Formen hybrider Kriege

Formen hybrider Kriege

Zwischen Ambivalenz und Komplexität

von Jürgen Scheffran

Die USA und ihre Verbündeten streben mit ständig neuen Rüstungsanstrengungen die Aufrechterhaltung ihrer militärischen Dominanz an. Gleichzeitig werden weltweit in den Grauzonen zwischen Krieg und Frieden »hybride Bedrohungen« ausgemacht, die diese Überlegenheit herausfordern und als Rechtfertigung für neue Militärstrategien dienen. Bei der hybriden Kriegsführung geht es um eine Kombination diffuser Konfliktformen und -technologien, die zu komplexen Konfliktdynamiken führen, alle Bereiche der Gesellschaft umfassen und die zugrundeliegenden Problemursachen verstärken. Dabei
ist der Begriff selbst so verschwommen und ambivalent wie sein Gegenstand.

Kriege haben sich immer gewandelt und den jeweiligen Bedingungen und Machtverhältnissen angepasst. Einst dominante Konfliktformen wurden durch neue abgelöst, oftmals verbunden mit einem Wechsel der Hegemonialmacht. Die nach dem Ende des Kalten Krieges verbliebene Supermacht USA war und ist bestrebt, ihre Dominanz im Hochtechnologiesektor in noch deutlichere militärische Überlegenheit zu verwandeln. Trotz erdrückender und weiter steigender Rüstungsausgaben stößt dies jedoch an Grenzen. Während herkömmliche Kriege zunehmend schwerer zu begründen und zu führen
sind, wurden die Grenzen technischer Kriege in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder deutlich (Neuneck und Scheffran 2000). Trotz militärischer Überlegenheit, die bis in den Weltraum reicht, war das mächtigste Land schlecht gerüstet gegen ein mit Teppichmessern und Zivilflugzeugen agierendes Terrornetzwerk (Hagen und Scheffran 2002).

Der Begriff »hybride Kriege«

Solche Erfahrungen bildeten die Grundlage für die seit 2005 aufkommende Debatte über hybride Bedrohungen und Kriege, die auf aktuelle Trends der Kriegsführung und damit verbundene sicherheitspolitische Defizite in den USA und im Westen verwies. Bei hybriden Kriegen geht es um Mischformen und Grauzonen von militärischen und nicht-militärischen, regulären und irregulären, symmetrischen und asymme­trischen Konfliktmitteln, die offen oder verdeckt zum Einsatz kommen.

Der Sicherheitsanalytiker Hoffmann (2007) machte den Begriff populär, indem er neue Bedrohungen und Herausforderer beschrieb, die die militärische Stärke der USA in Frage stellten. Er definierte hybride Bedrohungen als „verschiedene Arten der Kriegsführung, einschließlich konventioneller Fähigkeiten, irregulärer Taktiken und Formationen, terroristischer Handlungen, einschließlich wahlloser Gewalt und Zwangsmaßnahmen, sowie krimineller Unordnung“ (Hoffman 2007). Hybride Kriege werden durch eine Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure durchgeführt, die im
gleichen Kampfraum synergistisch zusammenwirken, um einen möglichst hohen Effekt zu erzielen. Dabei können verschiedene Kampfmittel zugleich eingesetzt werden, von klassischen Militäreinsätzen und wirtschaftlichem Druck über Computerangriffe bis hin zu Propaganda in den Medien und in sozialen Netzwerken, mit dem Ziel, Schaden anzurichten, Gesellschaften zu destabilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Der Begriff wurde offiziell in die strategischen Kerndokumente der NATO, der EU und nationaler Regierungen aufgenommen. Die NATO kam 2015 zu dem Schluss, dass „hybride Kriegsführung und ihre unterstützenden Taktiken breite, komplexe, adaptive, opportunistische und häufig integrierte Kombinationen von konventionellen und nicht konventionellen Methoden umfassen können. Diese Aktivitäten können offen oder verdeckt sein und militärische, paramilitärische, organisierte kriminelle Netzwerke und zivile Akteure aus allen Machtbereichen einbeziehen.“ (NATO
2015) Die EU definiert ­hybride Bedrohungen im weitesten Sinne als „Mischung aus erzwungenen und subversiven Aktivitäten-, konventionellen und nichtkonventionellen Methoden (d.h. diplomatische, militärische, wirtschaftliche, technologische), die von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren koordiniert eingesetzt werden können, um bestimmte Ziele zu erreichen und gleichzeitig unter der Schwelle der formell erklärten Kriegsführung zu bleiben“ (Maas 2017).

Ging es bei Hofmanns Definition zunächst um militärische Fragen und die Konvergenz verschiedener Kriegsformen, so wurde der Schwerpunkt in diesen Verlautbarungen auf andere Aspekte gelegt. Die Weitung des Begriffs auf nichtmilitärische Faktoren, wie Informationskrieg, Propaganda, Cybersicherheit, subversive und andere nicht unmittelbar physisch wirkende Mittel, erfolgte unter dem Eindruck der russischen Annexion der Krim und dem Konflikt in der Ukraine, was als „neue Art der Kriegsführung“ bezeichnet wurde. Vorgeworfen wurde Russland der Einsatz von militärischen
und nichtmilitärischen Instrumenten in einer integrierten Kampagne,
die darauf abzielt, Überraschungen zu erzielen, die Initiative zu ergreifen und sowohl psychologische als auch physische Vorteile zu erzielen unter Einsatz diplomatischer Mittel, durch ausgefeilte und schnelle Informations-, elektronische und Cyber-Operationen; verdeckte und gelegentlich offenkundige Militär- und Geheimdienstaktionen; und wirtschaftlichen Druck.“ (IISS 2015)

Konfliktformen

Vieles am Konzept der hybriden Kriegsführung ist nicht neu und wurde in verwandten Formen des Konfliktaustrags auch zuvor schon eingesetzt, wie eine Untersuchung von Caliskan und Cramers (2018) deutlich macht.

1. Politische Kriegsführung: Betrifft den Einsatz nationaler Mittel zur Erreichung nationaler Ziele in Friedenszeiten und kurz vor einem Krieg. Es geht um diplomatische, informationelle, militärische und wirtschaftliche Machtmittel, u.a. auch zur Bereitstellung bedingter militärischer Hilfe.

2. Irregulärer Krieg: Ist der gewaltsame Kampf zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren um Legitimität und Einfluss. Bevorzugt werden indirekte, asymmetrische und verdeckte Ansätze zur strategischen Kontrolle (z.B. Innenverteidigung, Aufstandsbekämpfung, Stabilitätsoperationen), die konventionelle und unkonventionelle militärische Fähigkeiten nutzen, um Macht, Einfluss und Willen eines Gegners zu untergraben.

3. Unkonventionelle Kriegsführung: Umfasst ein breites Spektrum militärischer und paramilitärischer Operationen, einschließlich Guerillakrieg, Subversion, Sabotage und Geheimdienstaktionen. Diese können von einheimischen oder Ersatzkräften durchgeführt und extern organisiert, ausgebildet, ausgerüstet, unterstützt und geleitet werden. Beispiele sind Widerstände, Aufstände oder Terroraktionen gegen eine Regierung oder Besatzungsmacht.

4. Subversive Kriegsführung: Untergräbt die militärische, wirtschaftliche, psychologische oder politische Stärke oder Moral eines Regimes durch Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen, die den gewaltsamen Sturz einer amtierenden Regierung befürworten. Hierzu gehören offene Handlungen und verdeckte Operationen.

5. Informationskrieg: Ist der inte­grierte Einsatz von informationsbezogenen Fähigkeiten (bis hin zu Fake News, Spionage oder Information als Waffe) in Konflikten und Militäroperationen, um die eigene Entscheidungsfindung zu schützen und zu unterstützen oder die von Gegnern zu stören, zu korrumpieren und zu usurpieren.

6. Cyberkrieg: Umfasst technische Mittel, um Computer und Cybersysteme im Rahmen eines breiteren Kriegskonzepts zu stören und zu deaktivieren. Cyberangriffe auf sensible Daten und Komponenten können als Kräftevervielfacher dienen, um relative Vorteile zu erreichen.

7. Propaganda: Ist Kommunikation zur Unterstützung bestimmter Interessen, um Meinungen, Emotionen, Einstellungen oder das Verhalten einer Gruppe eines Landes bewusst und gezielt zu beeinflussen, unter Einsatz systematischer Überzeugungstechniken bis hin zur Desinformation.

8. Psychologische Operationen: Betreffen die Übermittlung und Verbreitung selektiver Informationen für ein ausländisches Publikum zur Beeinflussung und Verstärkung seiner Emotionen, Motive, Argumente und Verhaltensweisen gegenüber Regierungen, Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen.

9. Umfassender Konfliktansatz: Verbindet politische, zivile und militärische Instrumente zur Bewältigung komplexer Krisensituationen und Sicherheitsrisiken, einschließlich Terrorismus, Völkermord, Verbreitung von Waffen und gefährlichem Material. Fachwissen und Ressourcen fließen in Partnerschaften zwischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, unter Einbeziehung internationaler Akteure in Sicherheits-, Gover­nance- und Entwicklungsstrukturen.

Die folgende Tabelle vergleicht die oben genannten Begriffe anhand herausragender Merkmale und Dimensionen der Kriegsführung (Caliskan und Cramers 2018).

  Ziel Militärische Mittel Nicht-militärische Mittel Akteure
Aufbau Schwächung oder Zer­störung Konven­tionelle Kräfte Irreguläre Kräfte Diplo­matisch Ökonomisch Informa­tionell Staat Nicht-Staat
Politische Kriegsführung   +   begrenzt + + + + +
Irregulärer Krieg   + begrenzt + + + +   +
Unkonventionelle Kriegsführung   + begrenzt + + begrenzt +   +
Subversive Kriegsführung   +   begrenzt + begrenzt +   +
Informations­krieg   +         + + +
Propaganda   +         + + +
Psychologische Operationen   +         + + +
Umfassender Konflikt­ansatz +   + + + + + + +
Hybrider Krieg   + + + + + + + +

Tabelle 1: Merkmale und Dimensionen der hybriden Kriegsführung (modifiziert nach Caliskan und Cramers 2018)

Alle Formen haben überlappende Aspekte. Der umfassende Ansatz hat als einziger konstruktive Elemente zum Aufbau und zur Stärkung von Governance-Strukturen, während die anderen Konfliktformen auf eine Schwächung des Gegners abzielen. Unter diesen ist die hybride Kriegsführung die inklusiv­ste Form, die den gleichzeitigen Einsatz militärischer und nichtmilitärischer Instrumente durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure einschließt. In der politischen Kriegsführung wird der Einsatz aller nichtmilitärischen Instrumente erwogen, obwohl ggf. auch militärische Instrumente, wie
Spezialkräfte, zum Einsatz kommen können. Irreguläre und unkonventionelle Kriegsführung beinhalten, vergleichbar der hybriden Kriegsführung, eine breite Palette militärischer und nichtmilitärischer Instrumente. Obwohl die subversive Kriegsführung der irregulären und unkonventionellen Kriegsführung ähnelt, sind die verwendeten Mittel stärker eingeschränkt. Propaganda, psychologische Operationen oder Cyber- und Informationskriege haben ebenfalls Gemeinsamkeiten mit hybriden Kriegen, da sie die Wahrnehmung der Bevölkerung beeinflussen oder Information als Kampfmittel nutzen.

Differenzierung verschiedener Formen und Technologien

Das Wort »hybrid« impliziert eine Kombination mehrerer Gegensatzpaare, die eine Differenzierung verschiedener Formen hybrider Kriege ermöglichen.

Regulär vs. irregulär

Die Trennung zwischen staatlichen Kräften als regulär und nichtstaatlichen Akteuren als inhärent irregulär trifft immer weniger zu. Viele Kriege haben reguläre und irreguläre Komponenten, die in verschiedenen Kampfzonen in unterschiedlichen Formationen auftreten. In hybriden Kriegen können die Grenzen zwischen Kombattant*innen und Nicht-Kombattant*innen verschwimmen (z.B. durch den Wechsel von Uniformen oder Hoheitsabzeichen), sodass ihre Unterscheidung schwierig ist und Missverständnisse möglich sind, die Überreaktionen provozieren. Destruktive Fähigkeiten nichtstaatlicher Gruppen lassen
sich durch die Art der Ausrüstung rasch steigern; paramilitärische Kräfte und Milizen erhalten zunehmend Zugang zu Waffenarten, die bislang Staaten vorbehalten waren. Damit können die Anreize für Staaten zunehmen, auf irreguläre Kräfte zurückzugreifen, etwa durch Privatisierung von Sicherheitsdiensten und Ausweitung von Spezialkräften. Je mehr sich die irreguläre Kriegsführung ausbreitet, umso mehr wird sie zur Normalität.

Hightech vs. Lowtech

Auch in hybriden Kriegen hat Technik eine wesentliche Bedeutung, um eigene Interessen durchzusetzen, militärische Macht zu sichern und Schwachstellen des Gegners auszunutzen. Ob dabei Hochtechnologie oder einfache Technik eingesetzt wird, hängt ab von ihrer Verfügbarkeit, den Kosten und der erwarteten Wirkung. Neue Technologien können Kosten senken und die Zielerreichung erleichtern, Informationssysteme die Kontrolle von Staaten ermöglichen oder diese schädigen, soziale Medien gesellschaftliche Systeme und Institutionen beeinflussen. Mit ihrer Hilfe lassen sich Widerstandsbewegungen oder
Terrorismus organisieren, Unsicherheit und Angst verbreiten, strukturelle Schäden oder physische Gewalt ausüben. In hybriden Kriegen können Kombattant*innen zugleich „moderne Kalaschnikow-Sturmgewehre, vormoderne Macheten und postmoderne Mobiltelefone“ einsetzen (Evans 2007). Im Russland-Ukraine-Konflikt ist ein Bündel von Technologien, Waffen und militärischer Ausrüstung zum Einsatz gekommen (Danyk et al. 2019):

  • elektronische Waffensysteme und Gegenmaßnahmen,
  • moderne Informations- und Kommunikationssysteme,
  • innovative Waffensteuerungssysteme und automatisierte Software,
  • integrierte Systeme mit Aufklärungs- und Zerstörungsfunktionen (z.B. unbemannte Flugkörper),
  • informationspsychologische Aktivitäten und Aktionen im Cyberraum,
  • Umweltüberwachung und Weltraumsysteme,
  • nicht-tödliche Waffen.

Um ihre Wirkung zu steigern, können verschiedene dieser Technologien für die Aufklärung und Entscheidungsfindung sowie für den Waffeneinsatz und die Folgenabschätzung in eine hybride Kriegsführungsumgebung integriert werden.

Physisch vs. nichtphysisch

Das breite Spektrum physischer Komponenten umfasst u.a. Land-, See-, Luft- und Weltraumstreitkräfte, Massenvernichtungswaffen, Spezialkräfte, Aufständische oder Terroristen, die illegale Aktivitäten, wie Sabotage, Attentate oder Umweltschäden, ausführen können. Nicht physisch wären diplomatische und politische Aktionen, Informationsoperationen in Cyberräumen und sozialen Medien, Störung kritischer Netzwerk­infrastrukturen, Zwietracht, kriminelle Aktivitäten und Wirtschaftskriegsführung sowie ideologische Einflussnahme und gewaltfreie Unruhen.

»Hard« vs. »soft power«

Neben üblichen militärischen Maßnahmen der »hard power« (z.B. Gewalt) kommen in hybriden Konflikten auch Maßnahmen der »soft power« zum Einsatz, um eine Gesellschaft zu polarisieren, die Denkweisen der Menschen zu beeinflussen, Entscheidungsträger zu manipulieren oder die Infrastruktur zu schwächen. Mögliche Ziele wären die Destabilisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft durch Einsatz sozialer Medien und Nachrichtendienste. Verbündete Parteien, Organisationen und Netzwerke können Frustration und Unzufriedenheit in bestimmten Bevölkerungsgruppen (Minderheiten, Migrant*innen,
diskriminierte und marginalisierte Schichten) streuen. Hierzu gehören auch kriminelle Aktivitäten, die illegale Ressourcen bereitstellen oder die Legitimität von Staaten untergraben.

Hohe vs. niedrige Effektivität

Hybride Kampfmittel zielen auf kritische Elemente eines Systems, um Risse und Schwachstellen zu finden und maximale Wirkung zu erzielen. Da der etablierte Kriegsapparat verschiedene Phasen kennt (Entwicklung, Produktion, Stationierung, Einsatz von Waffensystemen) und viele Elemente umfasst (Waffen, Personal, Informationsflüsse, Netzwerke und Entscheidungsstrukturen), kann der Druck auf die schwächsten Glieder der Kette zu Kipppunkten und Kaskadenprozessen führen, verbunden mit destruktiven und systemischen Veränderungen. In der asymmetrischen Kriegsführung suchen schwächere Kontrahenten mit
begrenzten Mitteln nach kritischen Schwachstellen in Kommunikation, Infrastruktur und Transport bei stärkeren Gegnern, um deren militärische Operationen zu hemmen oder politische Unterstützung durch die Bevölkerung zu untergraben.

Probleme und Grenzen hybrider Kriege

»Hybrider Krieg« ist ein umstrittenes und problematisches Konzept (Schwitanski 2017). Zu den Hauptkritikpunkten gehören Mehrdeutigkeit und konzeptuelle Unschärfen, die zu Unklarheiten und Missverständnissen führen. Nach Auffassung mancher Militärtheoretiker ist der Begriff zu inklusiv, um analytisch sinnvoll zu sein (Gray 2012). Tatsächlich wird inzwischen fast jeder Aspekt der anti-westlichen Kriegsführung als hybrid bezeichnet.

Dass hybride Kriegsführung ein mehrdeutiges Konzept ist, zeigt auch die erwähnten Studie (Caliskan und Cramers 2018), für die in 66 Medienberichten eine Inhaltsanalyse durchgeführt wurde. Die Autoren verwendeten den Begriff nur in 20 der Medienelemente (<30 %) in seiner direkten Bedeutung. In den meisten Fällen (>70 %) meinen die Autor*innen eigentlich ein anderes Konzept, wenn sie von Hybridkrieg sprechen. Die Ergebnisse machen deutlich, dass hybride Kriegsführung von den verschiedenen Interessengruppen in der Sicherheitspolitik nicht klar verstanden wird. Offensichtlich fehlt ein
Konsens über seine Bedeutung. Die Hälfte der Autor*innen (47 %) nennt den Russland-Ukraine-Konflikt als herausragendes und meist einziges Beispiel für hybride Kriegsführung.

Ungeachtet der definitorischen Schwierigkeiten haben hybride Kriege einen realen Kern. Nach Aussagen ihrer Protagonisten verweisen gerade die Vielfalt und Komplexität hybrider Kriege auf die Schwächen des »American way of war«. Ihre Hauptmerkmale – die Konvergenz und Kombination verschiedener Konfliktformen – stellen das konventionelle militärische Denken der USA in Frage und berühren Kerninteressen der westlichen Weltordnung. Verschiedene Krisen werden in den Kontext hybrider Bedrohungen gebracht, so der Nahostkonflikt, der Syrien-Krieg, die Anschläge von IS und Boko Haram, der
Venezuela-Konflikt, der Iran-Konflikt, die Flüchtlingsproblematik, die Sicherheitsrisiken des Klimawandels oder die Ausbreitung des Rechtspopulismus. Mit den vernetzten und entgrenzten Krisen des 21. Jahrhunderts tut sich der aufgeblähte Rüstungsapparat der USA schwer (Scheffran 2015). Ob die intellektuelle Bewältigung und konzeptionelle Anpassung gelingt, ist offen. Auch wenn der Aufstieg hybrider Kriege nicht das Ende konventioneller Kriege bedeutet, macht es die Sicherheitsplanung im 21. Jahrhundert komplizierter und ambivalenter.

Für Hoffman (2007, S. 52) liegt das möglicherweise bedeutendste Merkmal moderner Konflikte in der „Ausnutzung moderner Medien, um breite Massen zu erreichen und sie zu mobilisieren, um die eigene Sache zu unterstützen. Wir müssen lernen, wie wir uns auf diesen wachsenden Teil des Schlachtfeldes einlassen, um gegen die Denkweise unserer Gegner und der Bevölkerung zu manövrieren.“ Er sieht den Westen im Krieg mit einer fundamentalistischen Bewegung, „die sehr moderne und westliche Technologien nutzt, um ein antiwestliches soziales und politisches
System
wiederherzustellen“.

Hybride Kriege werden damit zum Kampfbegriff gegen alle, die sich gegen westliche Kriege und Aufrüstungstendenzen wenden, von unliebsamen Staaten über in Terrorismus involvierte Personen bis zu Friedensaktivist*innen. Tatsächlich wurden viele der Technologien des hybriden Krieges, vom Internet bis zur Drohne, im Westen entwickelt, allen voran in den USA. Daher wirkt es seltsam, die Übernahme dieser Technologien durch andere als Bedrohung zu beklagen. Bemerkenswert ist auch, dass viele der Gründe und Motive für hybride Kriege eine Folge westlicher Politik sind. Hierzu gehören Globalisierung
und Kolonialismus, NATO-Osterweiterung und Raketenabwehr, Ressourcenausbeutung und Militärinterventionen. Somit ähnelt die Bekämpfung selbst geschaffener hybrider Bedrohungen dem Versuch, einer mehrköpfigen Hydra die Köpfe abzuschlagen.

Manche Militärexperten fordern neue und kreative Ansätze, um Implikationen und geeignete Antworten herauszuarbeiten. Für John Arquilla (2007) von der Naval Postgraduate School erfordert der Umgang mit Netzwerken, die auf so viele verschiedene Arten kämpfen können, innovatives Denken auf allen Ebenen, von der Führung und Kontrolle über Streitkräftestrukturen bis zur Aus- und Weiterbildung. Dies klingt nach einer neuen Runde des Wettrüstens der USA gegen die Hydra hybrider Kriegsführung.

Literatur

Arquilla, J. (2007): The end of war as we knew it? Insurgency, counterinsurgency and lessons from the forgotten history of early terror networks. Third World Quartely, Vol. 28, Nr. 2, S. 369-386.

Caliskan, M.; Cramers, P.A. (2018): What Do You Mean by »Hybrid Warfare«? A Content Analysis on the Media Coverage of Hybrid Warfare Concept. Horizons Insights 4/2018, S. 23-35.

Danyk, Y., Maliarchuk, T.; Briggs, C. (2019): Hybrid War – Hightech, Information and Cyber Conflicts. Connections, Vol. 16, Nr. 2, S. 5-24.

Evans, M. (2007): From the Long Peace to the Long War – Armed Conflict and Military Education and Training in the 21st Century. Australian Defence College, Occasional Paper No. 1/2007.

Gray, C.S. (2012): Categorical Confusion? The Strategic Implications of Recognizing Chall­enges Either As Irregular or Traditional. Carlisle, PA: Strategic Studies Institute, U.S. Army War College.

Hagen, R.; Scheffran, J. (2002): Mit Weltraumwaffen gegen Teppichmesser? Das Streben der USA nach Dominanz im All. Wissenschaft und Frieden 1-2002, S. 62-64.

Hoffman, F.G. (2007). Conflict in the 21 st Century – The Rise of Hybrid Wars. Arlington, VA: Potomac Institute for Policy Studies.

International Institute for Strategic Studies/IISS (2015): The Military Balance 2015 – Complex crises call for adaptable and durable capabilities. London: IISS, Vol. 115(1), S. 5-8.

Maas, J. (2017): Hybrid Threat and CSDP. In: J. Rehrl (ed.): Handbook on CSDP – The Common Security and Defence Policy of the European Union. Wien: Federal Ministry of Defence and Sports of the Republic of Austria, S. 125-130.

NATO (2015): NATO Transformation Seminar. In: White Paper. Next Steps in NATO’s Transformation – To the Warsaw Summit and Beyond. Washington.

Neuneck, G.; Scheffran, J. (2000): Die Grenzen technischer Kriegführung. Spektrum der Wissenschaft 1/2000, S. 90-98.

Scheffran, J. (2015): Vom vernetzten Krieg zum vernetzten Frieden – Die Rolle von Wissenschaft und Technik. FIfF-Kommunikation 3/2015, S. 34-38.

Schwitanski, C. (2017) Hybride Bedrohungen – Analysekategorie oder Steigbügelhalter der Militarisierung? IMI-Studie 13/2017.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.

Hybrider Krieg


Hybrider Krieg

Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts

von Ina Kraft

Dieser Beitrag befasst sich mit der Verwendung des Konzepts des hybriden Krieges in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass politische Akteure das noch immer vage Konzept nutzen, um konkrete Vorhaben der Bundeswehr sowie Änderungen in der sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung zu legitimieren.

Hybride Kriegführung steht im Fokus einer Reihe von allgemeinen Abhandlungen sowie konkreten militärtheoretischen Ansätzen in den beiden letzten Jahrzehnten, wie beispielsweise »cyberwar« (Arquilla und Ronfeldt), »new wars« (Kaldor) oder »asymmetric war« (Thornton). In den USA erlangt das Konzept der Hybriden Kriegführung durch die Veröffentlichungen von Frank G. Hoffman ab 2006 Aufmerksamkeit in akademischen und militärstrategischen Fachdebatten (Hoffmann 2007). In der US-amerikanischen Debatte wird »hybrid war« bis 2010 theoretisch als eine neue Art des Krieges und zumeist mit Blick auf Akteure im Nahen und Mittleren Osten (Fälle: Hisbollah, Taliban, islamistischer Terrorismus) thematisiert. Das Konzept beschreibt die Vorgehensweise zumeist nichtstaatlicher militärischer Gruppen, die sich konventioneller und irregulärer Methoden der Operationsführung bedienen, um technologisch übermächtige Gegner zu bekämpfen. Allerdings folgen in den USA zunächst keine weiteren sicherheitspolitischen Konsequenzen aus der Konzeptualisierung.

Nutzbarmachung in der deutschen Debatte

Wird das Hybridkriegskonzept in Deutschland bis 2011 im Vergleich zu den USA kaum rezipiert, erlangt es danach hohe und vor allem auch politische Aufmerksamkeit. Im September 2014 verwendet Bundesverteidigungsministerin von der Leyen den Begriff in einer Plenardebatte im Deutschen Bundestag. Der damalige Bundesaußenminister Steinmeier erwähnt den Terminus in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2015. Sicherheitspolitische Berater*innen benutzen den Begriff ebenso wie Referent*innen im Bundesverteidigungsministerium und Journalist*innen.

Auch in dem im Juli 2016 veröffentlichten »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« ist der Begriff prominent vertreten. Im Vorwort weist die Bundesministerin der Verteidigung auf die hybride Kriegführung als eine der gegenwärtigen Herausforderungen hin, die eine Ausstattung der Bundeswehr mit bestem Material und eine nachhaltige Finanzierung notwendig mache. Dabei tritt eine deutliche Bedeutungsverschiebung zum ursprünglich durch Hoffman formulierten Konzept zutage. Durch die Nennung von Cyberangriffen und Propaganda sowie der verdeckten Beteiligung von Soldat*innen als Merkmal einer hybriden Kriegführung ist das Konzept im deutschen sicherheitspolitischen Verständnis stark auf den Fall Russland/Ukraine zugeschnitten.

Auch in der NATO und in der EU ist das Thema hybride Bedrohungen präsent. Wenige Monate nach den russischen Handlungen in der Ukraine im Juni 2014 erklären die Staats- und Regierungschefs auf dem Treffen des Nordatlantikrats in Wales, sie würden sicherstellen, „dass die NATO in der Lage ist, effektiv den besonderen Herausforderungen einer Bedrohung durch einen Hybridkrieg zu begegnen“. Im Dezember 2015 verabschiedet das Bündnis die »Strategy on NATO‘s role in countering hybrid warfare«. Im April 2016 zieht die EU mit dem »Gemeinsamen Rahmen für die Abwehr hybrider Bedrohungen« nach. Darin wird unter anderem die Einrichtung einer »Hybrid Fusion Cell« im EU Intelligence Analysis Centre beim Europäischen Auswärtigen Dienst vorgeschlagen. Auch in der NATO werden institutionelle Strukturen geschaffen: Im April 2017 legt sie mit der Gründung des European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats institutionelle Strukturen fest.

Politische Funktionen des Konzepts

In der deutschen Debatte sind nicht nur ein deutlicher Zeitverzug in der Adaption des Konzepts sowie eine Bedeutungsverschiebung auszumachen. Es finden sich auch kaum Bezüge zu irregulären Gegner*innen und deren (auch konventionellen) Taktiken, wie sie in der US-amerikanischen Debatte konzipiert werden. Stattdessen bezieht sich der Begriff fast ausschließlich auf die teils irregulären Taktiken des staatlichen Akteurs Russland. So thematisieren die deutschen Beiträge verstärkt Propaganda, die Zerstörung Kritischer Infrastrukturen sowie Handlungen im so genannten Informationsraum als Elemente hybrider Kriegführung. Die verspätete Rezeption und der Bedeutungswandel deuten darauf hin, dass in der deutschen Debatte das US-amerikanische Hybridkriegskonzept benutzt wurde, um den Ereignissen, die sich 2014 in der Ukraine abspielten, einen Namen zu geben. So wird einerseits das Konzept in seiner Bedeutungszuschreibung verändert, andererseits aber das konfliktträchtige Verhalten Russlands zum Beispiel in Syrien nicht mit dem Konzept gefasst.

Diese Nutzung bereits vorhandener Lösungen (hier: das Konzept Hybride Kriegführung) für neu auftretende Probleme (hier: Benennung des Verhaltens Russlands in der Ukraine) ist ein Phänomen, das bei kollektiven Entscheidungen auftritt und bereits in den 1970er Jahren unter dem Schlagwort »garbage can theory« in den Sozialwissenschaften diskutiert wird. Mit Blick auf dessen Konjunktur und Dynamik scheint das 2006 entwickelte Hybridkriegskonzept eine ebensolche Lösung zu sein, die 2014 schließlich ein Problem fand. Im Besonderen erfüllt das Konzept drei Funktionen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs: Komplexitätsreduktion durch Vereinfachung und Interpretation, Generierung von Aufmerksamkeit sowie Inanspruchnahme von Legitimität für eigene Anliegen.

Vereinfachung und Interpretation

Begriffe und Konzepte reduzieren komplexe Realitäten. Das komplexe Verhalten Russlands wird mit dem Begriff »Hybrider Krieg« beschrieben. Das erlaubt eine effektivere sicherheitspolitische Kommunikation, hat aber auch den Effekt, dass der Begriff durch die Diskursteilnehmer*innen bald selbst als Realität begriffen wird. Begriffsbildung und -verwendung ist soziales Handeln, bei dem die Sozialisation der Handelnden ebenso wie ihre Interessen eine entscheidende Rolle spielen. Komplexitätsreduktion ist also kein wertfreies rationales Produkt und hybride Kriegführung daher auch keine bloße wertneutrale Vereinfachung. In seiner inhärenten Interpretation der Realität spiegelt der Begriff bereits die Interessen und die Sozialisation der Teilnehmer*innen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs wider.

Aufmerksamkeit

Die Verwendung des Hybridkriegsbegriffes schafft zudem in einem selbstverstärkenden Prozess Aufmerksamkeit. Je häufiger der Begriff diskutiert wird, umso attraktiver scheint es für Diskursteilnehmer*innen, selbst zu dem Konzept beizutragen. Damit leisten sie der Popularität des Begriffs weiteren Vorschub. Eine Analyse von Artikeln der sicherheitspolitischen Fachzeitschrift »Europäische Sicherheit und Technik« zeigt, dass viele Autoren hybride Kriegführung im ersten Absatz nennen, ohne jedoch im weiteren Verlauf auf den Begriff oder seine Bedeutung einzugehen. Hybride Kriegführung wird hier vergleichbar mit der Nennung von bekannten Persönlichkeiten in Texten (name dropping) verwendet, um Aufmerksamkeit zu generieren und um die Anschlussfähigkeit des Beitrags zum aktuellen Hybridkriegsdiskurs zu signalisieren. Die Kenntnis des Konzepts signalisiert darüber hinaus die Zugehörigkeit des Autors oder der Autorin zum sicherheitspolitischen Expert*innen- und damit auch zum Elitenkreis.

Legitimierung von Vorhaben der Bundeswehr

Die Generierung von Aufmerksamkeit hat zum Ziel, die Diskursteilnehmer*innen für ein Thema zu interessieren. Die Generierung von Legitimität verfolgt darüber hinaus die Absicht, die eigene Position angemessen erscheinen zu lassen. Legitimität soll hier nicht konstitutionell-normativ, sondern vielmehr soziologisch verstanden sein. Aus dieser Perspektive müssen soziale Akteure nicht bloß materielle Ressourcen generieren, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern. Sie müssen gleichsam Erwartungen erfüllen, die von anderen Akteuren an sie herangetragen werden. Denn nur legitim(iert)e Forderungen können zur Mobilisierung institutioneller und budgetärer Ressourcen eingesetzt werden. Beispiele für die Doppelanforderungen von Effizienz und Angemessenheit sind gerade im Kontext der Sicherheitspolitik mannigfaltig – man denke an die taktische Effizienz des Einsatzes von bewaffneten Drohnen auf der einen und dessen rechtliche und ethische Grenzen auf der anderen Seite.

Die Nutzung des Hybridkriegsbegriffs in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte dient aus dieser Perspektive dem Ziel, politische Forderungen zu legitimieren. Der durch Komplexitätsreduzierung und eine hohe Aufmerksamkeit institutionalisierte Mythos der hybriden Kriegführung wirkt dabei auf zwei Arten: Zum einen wird der Begriff des Hybridkriegs genutzt, um eigene Anliegen zu rechtfertigen, die jedoch kaum in den Definitionsrahmen für hybride Kriegführung oder deren Gegenmaßnahmen fallen. So argumentiert zum Beispiel der damalige Amtschef des Amts für Heeresentwicklung mit dem Phänomen der hybriden Bedrohungen, um für eine veränderte Heeresstruktur zu werben (Köpke 2015, S. 28). Über die bloße Nennung hinaus wird hierbei ein begründeter Zusammenhang zwischen Forderung und Hybridkriegskonzept allerdings nicht aufgezeigt. Der Inspekteur der Luftwaffe, General Karl Müllner, argumentiert in ähnlicher Weise für eine Ausstattung der Luftwaffe mit Drohnen (Müllner 2015). Nun ist der Bedarf der Teilstreitkräfte nach mehr Mobilität oder modernem Gerät keine direkte Folge der hybriden Bedrohungen. Dennoch werden sie in der Argumentation genutzt, um den »ewigen« Forderungen der Teilstreitkräfte nach mehr Ressourcen Nachdruck zu verleihen.

Legitimierung erweiterter Einflusssphären

Darüber hinaus dient das Konzept auch als Begründung für mögliche sicherheitspolitische Maßnahmen, die Einflusssphären sicherheitspolitischer Akteure in gesellschaftliche Räume hinein erweitern oder sicherheitspolitische Entscheidungen erleichtern. In der deutschen sicherheitspolitischen Debatte werden mit Blick auf hybride Bedrohungen folgende Maßnahmen diskutiert: erstens, eine stärkere sicherheitspolitische Kooperation und Vernetzung. Diese betrifft einerseits die ressortübergreifende Arbeit auf der nationalen Ebene (Alamir 2015). Andererseits sollen der Informationsaustausch sowie abgestimmte Vorgehensweisen auch zwischen NATO und EU vereinfacht werden (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 69-70). Im Zusammenhang mit dem Hybridkriegskonzept hat, zweitens, der Begriff der gesamtstaatlichen Resilienz als Gegenstrategie ebenfalls Prominenz erlangt (ebenda, S. 49). Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft. Im Weißbuch 2016 erlangt der Begriff eine große Bedeutung für die Abwendung hybrider Bedrohungen: „Erfolgreiche Prävention gegen hybride Gefährdungen erfordert staatliche und gesamtgesellschaftliche Resilienz – und damit umfassende Verteidigungsfähigkeit.“ (ebenda, S. 39) In der sicherheitspolitischen Debatte werden Resilienz-Maßnahmen in den Bereichen Energiesicherheit, Bildung, Handel und Wirtschaft, öffentliche Meinung und Kommunikation diskutiert.

Legitimierung der Änderung politischer Konstanten

Es gibt eine Reihe von Debattenbeiträgen, die die Angemessenheit der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund hybrider Bedrohungen hinterfragen. Da geht es um die Vereinfachung sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, aber auch um die Frage, ob die in Deutschland verfassungsrechtlich verankerte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit aufrechterhalten werden sollte (Deutsche Bundesregierung 2016; Deutscher Bundestag 2016).

Es finden sich in der Debatte auch Hinweise auf mögliche Implikationen hybrider Kriegführung für das internationale Völkerrecht. So heißt es im Weißbuch 2016: „Das Merkmal hybrider Kriegführung, die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden, stellt […] besondere Herausforderungen an die Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO-Vertrags.“ (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 65) Das wurde zuvor bereits im Zusammenhang mit dem vermuteten russischen Cyberangriff auf Estland 2007 diskutiert. Bisher allerdings herrschte unter den NATO-Staaten Zurückhaltung, Cyberangriffe als Angriff im Sinne des Völkerrechts zu werten. Auch auf EU-Ebene wird diskutiert, ob bei einem hybriden Angriff die Solidaritätsklausel nach Art. 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder sogar die Beistandspflicht des Art. 42 des Vertrags über die Europäische Union greife (Europäische Kommission 2016, S. 19).

Resümierend ist festzuhalten, dass im Zusammenhang mit oder mit Verweis auf hybride Bedrohungen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs eine Ausweitung der sicherheitspolitischen Kooperation und Kompetenzen von NATO und EU debattiert wird. Außerdem wird in diesem Kontext die Ausweitung staatlicher Ordnungsfunktionen zur Herstellung einer gesellschaftlichen Resilienz sowie die stärkere Zusammenarbeit staatlicher Institutionen diskutiert. Darüber hinaus werden in der Debatte etablierte rechtliche Charakteristika deutscher Sicherheitspolitik mit einem Fragezeichen versehen: die Regeln sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, die Trennung innerer von äußerer Sicherheit sowie die völkerrechtlichen Bewertungen eines Angriffs. Das Hybridkriegskonzept dient hierbei als Legitimation für die Vorschläge jener Maßnahmen.

Neue Begründungslogik für Verteidigung

Die Verwendung des Hybridkriegskonzepts im sicherheitspolitischen Diskurs dient möglicherweise der Versicherheitlichung gesellschaftlicher Bereiche (Buzan et al. 1998). Die Interpretation, Kommunikation und gesellschaftlich geteilte Wahrnehmung hybrider Bedrohungen als existenzielle Gefährdungen könnte demnach ganz real dazu führen, dass sicherheitspolitischen Akteuren mehr Handlungsmöglichkeiten zugesprochen werden. Ein Konzept entfaltet so reale Wirkung.

Mit Blick auf den strategischen Diskurs kann zudem konstatiert werden, dass die Konzentration auf hybride Kriegführung in der deutschen und trans­atlantischen Verteidigungsplanung einen Wandel in der Begründungslogik verteidigungspolitischer Grundpositionen darstellt. War die Verteidigungsplanung zu Zeiten des Ost-West-Konflikts von einem bedrohungsbasierten Ansatz (threat-based approach) geprägt, wurde dieser mit dem Wegfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes als Gegner von einem fähigkeitsbasierten Ansatz (capabilities-based approach) abgelöst. Dieser richtet Streitkräfte nicht mehr nach einem konkreten Bedrohungssze­nario aus, sondern in Bezug auf die operativen Fähigkeiten, die in zukünftigen Einsätzen am wahrscheinlichsten gebraucht werden.

Mit dem Hybridkriegskonzept tritt nun nach der bedrohungsbasierten und der fähigkeitsbasierten eine phänomenbasierte Begründung für die Verteidigungsplanung auf. Diese fokussiert argumentativ weder auf einen konkreten Gegner noch auf die Wahl der Mittel, sondern auf die Art der Bedrohung, auf das Phänomen.

Dieser Wandel mag verschiedene Gründe haben. Zum einen gilt nach den Erfahrungen der USA und der NATO in den Kriegen im Irak und in Afghanistan der fähigkeitsbasierte Ansatz als gescheitert, da Gegner Wege finden, westlichen Truppen trotz deren überlegener Militärtechnik empfindliche Verluste zuzufügen. Ein weiterer möglicher Grund, gerade in Deutschland, ist die rhetorische Ausweichbewegung, die der Begriff hybride Kriegführung erlaubt: Der Hybridkriegsbegriff ermöglicht es – anders als ein bedrohungsbasierter Ansatz, der Russland direkt nennt –, sicherheitspolitische Maßnahmen gegen befürchtete russische Handlungen zu ergreifen und zugleich Dialog- und Kooperationsbereitschaft zu signalisieren.

Letztlich ist auch denkbar, dass eine phänomenbasierte statt einer konkret bedrohungsbasierten Begründung eine gewollte Ambiguität darstellt, denn trotz seiner beeindruckenden politischen Karriere verbleibt der Begriff des hybri­den Krieges noch immer im Vagen. So antwortet die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag: „Auch wenn die Begriffe »hybride Kriegführung«, »hybride Konflikte« und »hybride Bedrohungen« seit mehreren Jahren Teil des sicherheitspolitischen Diskurses sind, entziehen sich diese Begriffe einfachen und abschließenden Definitionen.“ (Deutscher Bundestag 2016) Diese »semantische Ratlosigkeit« mag im allgemeinen Diskurs, bei dem die Teilnehmer*innen schon wissen werden, was gemeint ist, hinnehmbar sein. Diese Ambiguität, die im Übrigen auch bei dem Begriff der Resilienz zutage tritt, muss vor dem Hintergrund sehr realer sicherheitspolitischer Maßnahmen, die derzeit diskutiert werden, jedoch kritisch betrachtet werden.

Literatur

Alamir, F.M. (2015): »Hybride Kriegführung« – ein möglicher Trigger für Vernetzungsfortschritte? Ethik und Militär – Kontroversen der Militärethik & Sicherheitskultur 2/2015, S. 3-7.

Buzan, B.; Waever, O.; de Wilde, J. (1998): Secur­ity – A new framework for analysis. Boulder, London: Lynne Rienner.

Deutsche Bundesregierung (2016): Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Bonn, Berlin: BMVg.

Deutscher Bundestag (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Einsatzmöglichkeiten von Militär und Geheimdiensten gegen sogenannte hybride Bedrohungen. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8631 vom 1.6.2016.

Europäische Kommission (2016): Gemeinsamer Rahmen für die Abwehr Hybrider Bedrohungen. Europäische Kommission, Drucksache Join(2016) 18 vom 6.4.2016.

Hoffman, F. G. (2007): Conflict in the 21st century – The rise of hybrid wars. Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Köpke, W. (2015): Heeresentwicklung – Ganzheitlich, systembasiert und zukunftsorientiert. Europäische Sicherheit und Technik 4/2015, S. 26-30.

Müllner, K. (2015): Luftwaffe – auf klarem Kurs. Europäische Sicherheit und Technik 6/2015, S. 32-36.

Ina Kraft ist Wissenschaftlerin am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wieder.

Bei diesem Text handelt sich um eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung des folgenden Beitrags: Kraft, Ina (2018): Hybrider Krieg – Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Vol. 11, Nr. 3, S. 305-23.