Komponierbare Friedensproblematik?


Komponierbare Friedensproblematik?

von Dieter Senghaas

Der nachfolgende Beitrag zeigt auf, inwiefern Musik als Reflexion internationaler Beziehungen fungiert. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der »Friedensproblematik«. Damit erfasst der Text einen thematischen Aspekt, der in den Paradigmen der Internationalen Beziehungen bisher überraschend wenig Aufmerksamkeit erfährt. Dieter Senghaas zeigt auf, welches Potential dabei klassischer Musik zuteil wird. Im friedenspolitischen Sinne kann klassische Musik vor Krieg warnen, aber auch Frieden erfahrbar gestalten.

Wer sich mit den internationalen Beziehungen beschäftigt, sieht sich einem breiten Spektrum politischer Konstellationen gegenüber: einerseits militant hochgerüsteten konfrontativen Machtlagen bzw. offenen Kriegssituationen, andererseits vielfältigen friedvoll-kooperativen Beziehungen. Erinnert sei an den Ost-West-Konflikt und demgegenüber an die einigermaßen zivilisierte Kooperation im Raum der nord- und der westeuro­päischen Staaten nach 1950/60. Bei Konstellationen zwischen den Endpunkten des Spektrums stellt sich immer die Frage, ob sich im konkreten Fall eine leidlich kooperative Konstellation herausbilden wird (Nordkorea-Südkorea?, USA-China?) oder eine sich militarisierend-kriegsgeneigte (Iran-Israel?, Indien-Pakistan?).

Historiker*innen, Philosoph*innen, Sozialwissenschaftler*inn und insbesondere Friedensforscher*innen beschäftigen sich mit diesen unterschiedlich gelagerten Konstellationen und den entsprechenden Friedensproblematiken in den internationalen Beziehungen. Erstaunlicherweise finden sich, insbesondere in der klassischen Musik, Kompositionen, die ausschnitthaft Problemlagen des genannten Spektrums musikalisch bearbeiten. Die Angebote sind vielfältig und eben nicht nur auf Frieden im engeren Sinne des Begriffes ausgerichtet, sondern auf die Friedensproblematik in aller Breite, wie sie in den internationalen Beziehungen zu beobachten ist.

Betrachten wir das Spektrum der Werk­angebote. Es gibt nur wenige Werke, in denen sich Vorahnungen über eine sich abzeichnende Katastrophe, den drohenden Krieg, andeuten. Der Krieg selbst ist natürlich vielfach Gegenstand von Kompositionen geworden: manchmal in unbeschwertem Sinne, früher oft in militaristischer Absicht, aber heute vor allem in Werken, die den Willen zum Frieden aktivieren wollen. Die Fürbitte um den Frieden und die Erwartung des Friedens im Krieg sind häufig Gegenstand von Kompositionen, auch der Dank für den wiedergewonnenen Frieden, allerdings in früheren Kompositionen nicht selten als Dank für gewonnene Siege. Im 20. Jahrhundert standen Kompositionen im Vordergrund, die sich durch einen Trauer- und Klagegestus auszeichnen. Der Krieg erscheint darin als menschenverachtend und inhuman. In dieser Zeit waren auch Anti-Kompositionen, also vor allem antimilitaristische Musik, die sich schon im 17. Jahrhundert im zeitlichen Umkreis des Dreißigjährigen Krieges auffinden lässt, besonders eindrucksvoll, ebenso Musik gegen Gewalt, Repression, Tyrannis, Not und Rassismus. Mit der positiven, konstruktiven oder gar affirmativen Darstellung des Friedens im engeren Sinne des Begriffes taten sich und tun sich Komponist*innen schwer, früher nicht anders als heute. Dieser Sachverhalt ist kein anderer als in Geistes- und Sozialwissenschaften, einschließlich der Friedensforschung.

Komponist*innen haben sich mit diesen friedenspolitischen Konstellationen auseinandergesetzt, und natürlich wollten sie dabei in aller Regel nicht nur ihre kompositorisch-ästhetischen Fähigkeiten dokumentieren, sondern vor allem warnend in den Gang der Geschichte eingreifen. Ob das gelungen ist, lässt sich nur im Einzelfall überprüfen. Aber unbezweifelbar sind Kompositionen der genannten Art auch friedenspädagogisch hilfreich, wenn sie nicht nur als Musikwerke gehört und betrachtet werden, sondern im Kontext breiter friedenspolitischer Fragestellungen dazu beitragen, das Sensorium für Friedensproblematiken zu schärfen. Olivier Messiaen, der französische Komponist, plädierte einmal dafür, nicht nur »Finsternismusik« zu komponieren, sondern »Farbenmusik«, die sich vermitteln würde wie sonnenbeschienen-vielfarbige Fenster in mittelalterlichen Kathedralen! Um das Sensorium für die Friedensproblematiken in den internationalen Beziehungen wachzurufen, sind jedoch beide Varianten von Kompositionen erforderlich, wie eindrucksvoll durch Beiträge in der neuzeitlichen Kompositionsgeschichte dokumentiert.

Literatur

Hanheide, S. (2007): Pace -Musik zwischen Krieg und Frieden. Kassel: Bärenreiter.

Lück, H.; Senghaas, D. (Hrsg.) (2005): Vom hörbaren Frieden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Lück, H.; Senghaas, D. (Hrsg.) (2010): Den Frieden komponieren? Mainz: Schott Music.

Senghaas, D (2001): Klänge des Friedens – Ein Hörbericht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Senghaas, D. (2013): Frieden hören – Musik, Klang und Töne in der Friedenspädagogik. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.

Dieter Senghaas ist emeritierter Professor für Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung an der Universität Bremen (1978-2005).

Sanktionen

Sanktionen

Ein friedenspolitisches Instrument?

von Christine Schweitzer und Helmut Lohrer

Sanktionen, also nichtmilitärische Strafmaßnahmen, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, immer häufiger aber auch einzelne Staaten oder Staatenbündnisse gegen andere Staaten verhängen, sind auch in der Friedensbewegung wieder stärker in der Diskussion. Unilaterale Sanktionen, etwa das US-Embargo gegen Kuba oder die Sanktionen des Westens gegen Russland nach der Krim-Annexion, werden in der Friedensbewegung einhellig abgelehnt. Keine Zustimmung finden aber auch dem Völkerrecht entsprechende Sanktionen, wie die gegen den Irak Saddam Husseins, unter denen die
Zivilbevölkerung massiv litt. Dennoch bleibt die Frage, ob aus dieser Kritik eine generelle Ablehnung jedweder Form von Sanktionen abgeleitet werden muss oder ob Sanktionen aus friedenspolitischer Sicht unter bestimmten Voraussetzungen doch eine Option sein können.

Unter bestimmten Voraussetzungen eine Option

von Christine Schweitzer

Internationale Sanktionen sind zwischen zivilen, gewaltfreien Mitteln der Konfliktbearbeitung und militärischen Maßnahmen einzuordnen. Sie sind Zwangsmaßnahmen, die in der Regel mit nichtmilitärischen Mitteln implementiert werden und ohne direkte militärische Gewalt auskommen, wobei es Ausnahmen gibt, bei denen Embargos mit militärischen Mitteln durchgesetzt wurden. Ein Beispiel dafür war das Waffenembargo gegen Jugoslawien bis zum Abschluss des Abkommen von Dayton 1995, bei dem die Westeuropäische Union (WEU) und die NATO das Mittelmeer bzw. zeitweilig den
Luftraum über Bosnien überwachten.

In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass Sanktionen nicht grundsätzlich als Instrument der Friedenspolitik ausgeschlossen werden sollten. Insbesondere Waffenembargos, aber auch andere Sanktionen, können sinnvoll sein, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Bei den meisten der heute praktizierten Sanktionen muss allerdings festgestellt werden, dass sie eher konfliktverschärfend denn ein Beitrag zur Konfliktlösung sind.

Sanktionen – negative und positive, mit dem bildlichen Ausdruck »Zuckerbrot und Peitsche« gut beschrieben – sind in der Politik ein gebräuchliches Mittel, um ein anderes Land zu einem gewünschten bzw. zur Unterlassung von nicht-gewünschtem Verhalten zu bewegen. Bei den Vereinten Nationen gelten sie als zulässige Zwangsmaßnahme zur Durchsetzung völkerrechtlich bindender Abmachungen und zur Abwehr von Verstößen gegen das Völkerrecht (UN Charta Kapitel VII, Artikel 41). Zurzeit bestehen Sanktionsregime des UN-Sicherheitsrats gegen 14 Staaten und Entitäten (UNSC o.J.). Aber nicht
nur die Vereinten Nationen greifen zu diesem Mittel, die Europäische Union beispielsweise hat eigene Sanktionen gegen 33 Staaten und Entitäten verhängt (Estonian Presidency o.J.). Die USA praktizieren außerdem einseitige Sanktionen gegen etliche weitere Länder, zum Beispiel gegen den Iran und Kuba. Auch wenn es stimmt, dass zumeist die Weltmächte Sanktionen gegen Länder mit weniger Macht verhängen, so trifft dies nicht in jedem Falle zu. Zum Beispiel verhängte Griechenland wegen des Namensstreits Sanktionen gegen die frühere jugoslawische Republik Mazedonien (heute: Nordmazedonien).

Sanktionen können unterschiedliche Maßnahmen umfassen. Besonders hervorzuheben sind Waffenembargos, Handelseinschränkungen für Im- und Exporte bestimmter oder aller Waren generell, Sperren von Fördermitteln (z.B. Mittel der Entwicklungszusammenarbeit von Deutschland für Brasilien wegen der Urwaldzerstörung), Einschränkungen des Reiseverkehrs (z.B. der USA gegenüber Kuba), Ausschluss von internationalen Veranstaltungen und internationalen politischen Gruppen (z.B. der Ausschluss von Russland aus der G8 wegen seiner Einmischung in der Ukraine), diplomatische Maßnahmen (z.B. Abzug von
Botschaftern) und natürlich auch Strafverfolgung durch internationale Gerichte (Internationaler Strafgerichtshof). Im Rahmen so genannter «smarter Sanktionen« sind desweiteren Reisebeschränkungen und das Sperren von Auslandskonten bestimmter ausgewählter Politiker*innen oder Organisationen zu nennen.

Sanktionen hat es gewiss schon immer gegeben, seit es eine internationale Staatenwelt gibt. In jüngerer Zeit waren sie besonders in den 1990er Jahren ein sehr beliebtes Mittel. Weltweit wurden damals mehr als 50 neue uni- und multilaterale Sanktionen gegen einzelne Länder verhängt. Dies waren umfassende Sanktionen, die auf die gesamte Wirtschaft des Ziellandes zielten. Ihre Effektivität war sehr gering, sie verursachten aber enorme Kosten für die Zielländer und verschlechterten die humanitäre Situation der Bevölkerung gravierend (oft auch in den Nachbarländern). Ein besonders drastisches
Beispiel war der Irak unter Saddam Hussein, der von den Vereinten Nationen in den 1990er Jahren mit umfassenden Sanktionen belegt wurde. Als bekannt wurde, dass nach offiziellen Angaben der Vereinten Nationen in dieser Zeit infolge der ökonomischen Sanktionen mindestens 500.000 Kinder starben (Holmes 2010), veränderte sich die Sanktionspraxis. Die Vereinten Nationen gingen ebenso wie die EU zu »smarten« Sanktionen über. Diese sollen sich direkt gegen die Regierenden des sanktionierten Landes wenden (z.B. Waffenembargos, Reisebeschränkungen, Einfrieren von Konten, Flug- und
Transportbeschränkungen) und die Bevölkerung möglichst von den Folgen aussparen. Letzteres gelingt allerdings nur sehr unvollkommen, wie in diesen Tagen anhand der Auswirkungen der Sanktionen gegen den Iran beobachtet werden kann (Pany 2019). Trotz der Bemühungen, die Zivilbevölkerung von den Folgen zu verschonen, gehen dort z.B. die Medikamente aus.

Es sind aber nicht nur Staaten in diesem Feld aktiv. Auch zivilgesellschaftliche Verbände und Organisationen praktizieren Sanktionen. So kann z.B. das Startverbot für russische Sportler*innen bei den Olympischen Spielen wegen des Dopingskandals, verhängt vom Internationalen Olympischen Komitee, als Sanktion angesehen werden, da es über die Bestrafung konkreter, als Täter*innen überführter Personen hinausging.

Der Friedensbewegung näher sind sicher die bekannten Beispiele des Boykotts von Waren aus Südafrika während des Apartheidregimes (Wellmer 2005), die mit der Forderung nach staatlichen Sanktionen einhergingen, die BDS-Kampagne, die zum Boykott von in den palästinensischen Gebieten von israelischen Firmen produzierten Waren und zu staatlichen Sanktionen gegen Israel aufruft (BDS-Kampagne 2005), und die vielfältigen Forderungen nach einem Stopp von Rüstungsexporten in bestimmte Staaten (Aktion Aufschrei 2019). Gerade Waffenembargos sind aus friedenspolitischer Sicht immer als sinnvoll zu
erachten – allerdings gehören Waffenproduktion und -export eigentlich grundsätzlich verboten. Auch andere Formen internationaler Sanktionen werden immer wieder gefordert, in den letzten Jahren z.B. gegen die Türkei wegen des Kriegs in der Osttürkei.

Auf der anderen Seite haben sich Friedensorganisationen sehr kritisch gegenüber Sanktionsregimes gegen bestimmte Länder verhalten. Heute gibt es vor allem Forderungen in Bezug auf die Lockerung oder Aufhebung von Sanktionen gegen Russland und den Iran und viel generelle Kritik gegen die unilaterale Sanktionspolitik der USA (z.B. gegen Kuba).

Die kritische Sicht auf Sanktionen hat viel mit den allgemeinen Einwänden gegen dieses Instrument zu tun:

  • Wirkungslosigkeit: Ein Vorwurf, der in der Wissenschaft allerdings umstritten ist. Ein Teil der Untersuchungen über Sanktionen billigen ihnen zumindest unter bestimmten Umständen eine gewisse Wirksamkeit zu (Werthes 2019).
  • Effekt des »rally around the flag«: Sanktionen führen zur Stärkung autoritärer Regierungen, da die Demütigung der Regierung als Demütigung des ganzen Volkes empfunden wird (Lohmann 2015).
  • Sanktionen verhindern oftmals den Dialog und erschweren dadurch die Zivile Konfliktbearbeitung; dies ist aufgrund des zuvor genannten Effekts der Fall und wenn eine Sanktion darin besteht, ein Land aus bestimmten Gesprächskontexten auszuschließen (G8, Europarat usw.), auch wenn Politiker*innen behaupten, Sanktionen und Dialog würden sich nicht ausschließen (Fischer und Kluge 2018).
  • Sofern die Staatengemeinschaft uneins ist, werden internationale Spannungen durch Sanktionen eher verschärft. Die derzeitige Krise um den Iran zeigt dies deutlich.
  • Sanktionen können leicht umgangen werden (das gilt besonders für Waffen­embargos).
  • Sanktionen ermutigen überdies den Aufbau von Eigenkapazitäten der betroffenen Länder und laufen dadurch mittelfristig ins Leere (Lohmann 2015).
  • Sanktionen treffen die Zivilbevölkerung, deren Leiden am Beispiels Irak deutlich wurden und auch durch »smarte Sanktionen« nicht völlig vermieden werden (Pany 2019).
  • Auch der Wirtschaft eines sanktions­verhängenden Staates wird Schaden zugefügt. Ein aktuelles Beispiel ist der Streit zwischen den USA und Deutschland um die russische Erdgaspipeline. Da Deutschland die Pipeline braucht und auf dieses Geschäft nicht verzichten will, lehnt die Bundesregierung es ab, sich den US-Strafmaßnahmen anzuschließen (ZEIT ONLINE 2018).
  • Oft fehlen konkrete Analysen und die Definition von Zielen, sondern Sanktionen werden verhängt, um Missbilligung auszudrücken oder der Öffentlichkeit zu zeigen, dass »man etwas tut« (Fehl 2012).
  • Waffenembargos können einer Seite einen kriegsentscheidenden Vorteil verschaffen, falls sie gegen alle Seiten verhängt werden. (Dieser Vorwurf wurde in der Zeit des Bosnienkriegs 1992-1995 erhoben, als Bosnien, das immer noch als Teil Jugoslawiens angesehen wurde, ebenfalls unter das Waffenembargo fiel und deshalb militärisch den serbischen Truppen unterlegen war, die Zugriff auf die Ausrüstung der Volksarmee hatten.)
  • Es scheint viel leichter, Sanktionen zu verhängen, als sie wieder aufzuheben.

Abschließend möchte ich einige Kriterien vorschlagen, die zur Bewertung von Sanktionen als Mittel der Friedenspolitik angewendet werden könnten:

  • Die Vereinten Nationen sollten der einzige Akteur sein, der Sanktionen verhängen darf.
  • Es darf nicht zu »Kollateralschäden« für die Zivilbevölkerung des betroffenen Landes kommen.
  • Es bedarf der Formulierung einer klaren »Theorie des Wandels«, d.h. einer Analyse, was die Sanktionen bewirken können.
  • Es bedarf zudem einer klar formulierte »exit strategy«, d.h. der Klarheit darüber, wann und wie die Sanktionen auch wieder aufgehoben werden sollen.
  • Es muss für beide Seiten ein gesichtswahrender Ausstieg aus der Krisensituation möglich sein.
  • Es muss vorab geklärt werden, ob positive Sanktionen ebenso zum gewünschten Ergebnis führen würden.
  • Es dürfen keine Maßnahmen ergriffen werden, die ein schleichendes Abrutschen in eine Militärintervention befürchten lassen.
  • Die Maßnahmen dürfen den Dialog nicht verhindern oder erschweren. Der Dialog muss bei Konflikten intensiviert, nicht gestoppt werden. Wichtig ist z.B., die diplomatischen Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Über Sanktionen, die im Gegensatz zu der Mehrzahl der derzeit praktizierten diese Kriterien erfüllen, lohnt es sich für die Friedensbewegung nachzudenken. Das gilt besonders für Waffenembargos.

Literatur

Aktion Aufschrei (2019): Deutsche Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Stand 18.9.2019; aufschrei-waffenhandel.de.

BDS-Kampagne (2005): Der Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS. 9.7.2005; bds-kampagne.de.

Estonian Presidency of the EU (ohne Datum): EU Sanctions Map; sanctionsmap.eu.

Fehl, C. (2012): Sanctions, Trials and Peace – ­Promises and Pitfalls of Responsibility to Protect Civilian Dimension. In: Fiott, D; Zuber, R.; Koops, J. (eds.): Operationalizing the Responsibility to Protect – A Contribution to the Third Pillar Approach. Brüssel: Madariaga – College of Europe Foundation u.a., S. 95-103.

Fischer, S.; Kluge, J. (2018): Wirtschaftssanktionen wirken. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6.5.2018, S. 24.

Holmes, M. (2010): Der vergessene Krieg gegen Iraks Zivilbevölkerung. Welt online, 22.9.2010.

Lohmann, S. (2015): Sanktionen? Psychische Hygiene – In westlichen Demokratien sind internationale Sanktionen längst Zweck statt Mittel. JPG Journal, 6.1.2015.

Pany, T. (2019): Iran – Der Effekt der Sanktionen? Telepolis, 25.6.2019; heise.de.

United Nations Security Council/UNSC (o.J.): Sanctions. Nach dortigen Angaben sind aktuell Somalia, ISIS, Irak, Demokratische Republik Kongo, Sudan, Libanon, Nordkorea, Libyen, Taliban, Guinea-Bissau, Zentralafrika, Jemen, Südsudan und Mali mit Sanktionen des UN-­Sicherheitsrates belegt; un.org/securitycouncil/sanctions/information.

Wellmer, B. (2005): Friedensarbeit in Afrika – Die Deutsche Anti-Apartheidbewegung. Friedensforum 7-2005.

Werthes, S. (2019): Die Sanktionspolitik der Vereinten Nationen. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V.

ZEIT ONLINE (2018): USA wollen Pipeline Nord Stream 2 stoppen. 13.11.2018.

Dr. Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung e.V.

Kein Instrument der Friedenspolitik

von Helmut Lohrer

Nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen kann der Sicherheitsrat feststellen, dass der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit bedroht ist, und – nur unter dieser Voraussetzung – Maßnahmen beschließen, um den Weltfrieden oder die internationale Sicherheit wieder herzustellen. Zuvor sollen die betreffenden Parteien aufgefordert werden, ihr den Weltfrieden bedrohendes Verhalten einzustellen; dann erst können »Maßnahmen« beschlossen werden, wie die Unterbrechung von Wirtschaftsbeziehungen, des Verkehrs und der Kommunikation.

Im Prinzip würde man gerne sagen, dass da eine legitime Autorität am Werk ist, die im Interesse aller Menschen nur und genau dann eingreift, wenn es im allgemeinen und zwingenden Interesse ist, weil eben der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit gefährdet sind. Aber: Neben der UN-Charta gibt es das Völkergewohnheitsrecht, und in der Praxis gibt es vor allem die Gewohnheit.

Sanktionen werden auch im Sicherheitsrat immer dann verhängt, wenn jemand sie einfordert und zumindest unter den fünf Vetomächten ein Konsens besteht. Nach Gewohnheit hält man sich nicht immer an den Buchstaben des Kapitel VII. Genau da besteht das Problem: In der Praxis sind es alleine die Mächtigen, die ihre Interessen mit Macht vertreten. Und zunehmend häufiger als durch den Sicherheitsrat werden Sanktionen inzwischen von Einzelstaaten oder Bündnissen gegen andere Staaten verhängt, um ihre Interessen durchzusetzen und das Verhalten dieser Staaten in ihrem Sinne zu beeinflussen. An
strenge Vorbedingungen, wie sie in der UN-Charta für den Sicherheitsrat formuliert sind, fühlen sie sich dabei nicht gebunden.

Schon 2003 hatte Madeleine Albright, Außenministerin der USA unter Bill Clinton, das in ihrer Autobiographie sehr treffend formuliert, und Angela Merkel wiederholte es im darauffolgenden Jahr auf der so genannten Sicherheitskonferenz in München genau so: „Die zentrale außenpolitische Zielsetzung lautet, Politik und Handeln anderer Nationen so zu beeinflussen, dass damit den Interessen und Werten der eigenen Nation gedient ist. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen von freundlichen Worten bis zu Marschflugkörpern.“ (Merkel 2004) Mich hat das damals so
beeindruckt, dass ich mir das ausgedruckt und eingerahmt habe; das hängt heute noch in meinem Büro. Zu diesen Instrumenten gehören offenbar auch Sanktionen, aber das ist eine ganz andere Zweckbestimmung als in der UN-Charta vorgesehen.

Von freundlichen Worten bis zu Marsch­flugkörpern“. Es gibt eine Stufenleiter der Einflussnahme – oder besser der Durchsetzung von Interessen. Den Eliten, die das System beherrschen, geht es darum, Märkte zu erschließen, sie offen zu halten, Rohstoffe zu möglichst niedrigen Preisen zu beschaffen, damit die Konjunktur nicht ins Stottern gerät. Und es geht ihnen darum, die bestehenden Machtverhältnisse nicht infrage zu stellen. Wenn jemand ausschert, dann wird er sanktioniert.

Den Bürger*innen wird gesagt, dass es um den Frieden geht, um die Menschenrechte und um Demokratie. Diese Geschichte wird meistens so gut erzählt, dass sie geglaubt wird. Walter Lippmann beschrieb in seinem Werk »Public Opin­ion« (1922/2018; dt. »Die öffentliche Meinung«) vor fast hundert Jahren in den USA sehr genau, wie das geht.

Es wird also mit Sanktionen gedroht, wenn ein Land sich den Interessen der Mächtigen widersetzt. Und nochmal, genau hier liegt eine sehr wichtige Beobachtung: Sanktionen werden immer vom Starken gegen den Schwachen ausgesprochen, ganz im Sinne von Albright und Merkel. Man stelle sich einfach mal vor: Die Regierung von Mexiko ist über den Umgang mit den Menschen, die über die Grenze in die USA wollen, erzürnt und sagt, damit wird die internationale Sicherheit bedroht. Wir verhängen unsererseits nun Sanktionen gegen die USA. Das ist so absurd, dass es schon fast als Witz durchgehen würde.

Sanktionen sind kein symmetrisch angelegtes Instrument, und sie eignen sich sehr gut dazu, die Interessen der Mächtigen durchzusetzen.

Leider geht das noch weiter, und es ist wie beim Krieg: Der durch Sanktionen angerichtete wirtschaftliche und humanitäre Schaden ist häufig kein unerwünschter Kollateralschaden, sondern Teil des Konzepts. Ich kann das hier nicht weiter ausführen, aber in Naomi Kleins »Die Schock-Strategie« (2007) kann man das wunderbar nachlesen.

Wenn jetzt Joshua Wong von der Hongkonger Partei Demosisto von uns fordert, dass wir keine Wasserwerfer mehr nach Hongkong liefern sollen, ruft er dann nach einer Wirtschaftssanktion? Wasserwerfer aus Deutschland werden nämlich dort gegen die Demonstrant*innen eingesetzt. Die Forderung, keine Wasserwerfer an autoritäre Regierungen zu verkaufen, ist aus meiner Sicht keine Forderung nach einer Sanktion, schon gar nicht im Sinne des Völkerrechts. Hier ist es wie beim Waffenhandel, und Wasserwerfer sind Waffen: Wer Waffen verkauft, macht sich mitverantwortlich für das, was damit angerichtet
wird. Er wird zum Komplizen derjenigen, die sie einsetzen.

Der Jemen wird derzeit kurz und klein bombardiert. Die Bomben stammen teilweise aus der Produktion der Firma Rheinmetall, die von der Fabrik in Sardinien direkt nach Saudi-Arabien und an die Vereinigten Arabischen Emirate geliefert werden (Friedrichs 2016). Auch andere Waffen – Boote, ganze Gewehr- und Mörserfabriken – werden nach Saudi-Arabien geliefert (ebenda). Aber erst als vor fast einem Jahr der saudische Journalist Jamal Khashoggi in Istanbul von saudischen Agenten ermordet wurde, hieß es am 19.11.2018 auf tagesschau.de: „Regierung verhängt Sanktionen gegen
Saudis. Wegen der Tötung des Journalisten Khashoggi
will die Bundesregierung alle Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien stoppen. Das soll auch für genehmigte Ausfuhren gelten. Gegen 18 Saudis wurden Einreisesperren verhängt.“ (tagesschau.de 2018)

Man sieht hier, wie der Einsatz von »Sanktionen« nicht dem Frieden dient. Erst als ein für eine westliche Zeitung arbeitender Journalist ermordet wurde, wurden die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien vorübergehend ausgesetzt – nicht wegen des Krieges.

Waffen sind nach meiner Überzeugung kein legitimes Handelsgut. Diese Auffassung vertrete ich auch im Rahmen der internationalen Kampagne »Global Net – Stop the Arms Trade« (gn-stat.org). Aus dieser Position heraus ist es logisch und legitim, die Einstellung von Waffenlieferungen nicht als Sanktion, also als Strafmaßnahme zu verstehen. Sonst würden wir mit unserer Forderung, den Waffenhandel einzustellen, ja in allen zwischenstaatlichen Verhältnissen für eine grundsätzliche Sanktionierung plädieren. Es geht hier vielmehr um die Beendigung der Komplizenschaft.

Was ist nun aber mit der klassischen Form von Sanktionen, wie sie beispielsweise gegen Irak verhängt wurden, gegen Nordkorea, gegen Syrien? Ist es da nicht geboten, vor dem Einsatz von Waffen hier mit wirtschaftlichen Maßnahmen Druck zu machen, um die Menschenrechte und die Demokratie zu verteidigen?

Ganz pragmatisch gesehen sollte längst klar sein, dass das nicht funktioniert. Wer unter den Sanktionen zu leiden hat, ist in aller Regel die Zivilbevölkerung. Es ist in kaum einem Fall gelungen, eine Regierung damit ins Wanken zu bringen oder auch nur dazu zu bewegen, ihr Verhalten zu ändern (Lohmann 2018). Im Gegenteil, die Repression nimmt unter dem Druck der Sanktion zu. Der Elite schadet die Sanktion am wenigsten, und die Kluft zwischen ihr und der leidenden Bevölkerung vergrößert sich (IPPNW 2018).

So wie im Irak in den 1990er Jahren fehlen heute in Syrien Medikamente. Medizinische Geräte, Busse, Generatoren und Pumpen können nicht repariert werden, weil die Ersatzteile unter das Embargo fallen. Hilfsorganisationen haben größte Mühe, ihre Arbeit zu tun, weil die Gelder für ihre Angestellten nicht überwiesen werden können. Die Folgen für die Bevölkerung sind verheerend, wobei es schwierig ist, die Auswirkungen der Sanktionen von denen der Krise zu trennen. Die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (­IPPNW) haben kürzlich den »UN-­Sonderberichterstatter
zu den negativen Auswirkungen von Sanktionen«, Idriss Jazairy, nach Deutschland eingeladen, der uns sehr eindrücklich davon berichtete (­IPPNW 2018).

Obwohl bekannt ist, dass unter Sanktionen eher die Versorgung der Bevölkerung zusammenbricht als dass das proklamierte Ziel erreicht wird, werden trotzdem Sanktionen verhängt, und zwar mehr denn je: In den letzten zehn Jahren wurden über 150 Mal UN-Sanktionen verhängt. Die USA haben allein in den letzten vier Jahren über 2.000 Maßnahmen verhängt; die EU verhängt Sanktionen gegen derzeit 30 Länder (Goldmann 2019).

Der US-amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas, der im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates die Folgen der US-Sanktionen gegen Venezuela untersuchte, sagte: „Eine Sache müssen wir alle verstehen: Heutige Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden sind vergleichbar mit mittelalterlichen Belagerungen von Städten mit der Absicht, sie zur Kapitula­tion zu zwingen.“ (ebenda)

Mit der Regierung Assad in Syrien wurden über viele Jahre gute Geschäfte gemacht. Ihr Verhalten in Bezug auf die Menschenrechtslage war damals nicht besser als heute. Noch 2007 sind Beamte des Bundesnachrichtendienstes (BND) nach Damaskus gereist, um an einem Verhör teilzunehmen, das, wie es in dem Bericht hieß, unter „landesüblichen Umständen“ durchgeführt wurde. Da war das OK. 2005 erregte sich der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der Debatte über die Beteiligung des BND an Folterungen darüber, dass die Forderung aufgestellt würde, die Geheimdienste „dürften nur
mit den
Staaten kooperieren, die denselben Status von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben wie wir“, weil sich dann die geheimdienstliche Zusammenarbeit auf „eine Hand voll“ Länder reduzieren würde (Hofmann 2005).

Bashar al-Assad war damals in unserer Presse noch Präsident und nicht »Machthaber«, und Syrien hatte eine »Regierung« und kein Regime, wie man heute fast ausschließlich liest. Dann befand man, dass Assad kein guter Diktator mehr ist, sondern ein böser. Wie zuvor im Fall anderer Länder wurde beschlossen, dass die gewählte Regierung Assad gestürzt werden soll und ein »Regime Change« zu erfolgen hat. Ich will an dieser Stelle nicht so tun, als sei das nicht eine extrem komplexe Situation. Die IPPNW veröffentlichten im Dezember 2018 einen umfangreichen Beitrag zu dieser Debatte, in dem wir uns
damit auseinandersetzen (Fischer et al. 2018). Aber: Die Sanktionen, die insbesondere die westlichen Staaten gegen Syrien verhängten, und dazu gehört auch die diplomatische Isolation, verfolgen, genauso wie die kriegerischen Maßnahmen, dieses Ziel des »Regime Change«. Die diplomatische Isolation, man könnte es auch Ächtung nennen, fördert die Polarisierung und verhindert jeden friedenspolitischen Dialog. Und ich fürchte, genau das ist auch gewollt.

Sanktionen sind, das wird hier deutlich, ein kriegerischer Akt. Sie sind Krieg mit wirtschaftlichen Mitteln. Sie dienen nicht der Durchsetzung von Frieden und Menschenrechten, sondern von Interessen der Mächtigen. Krieg ist kein Mittel der Politik, und Sanktionen sind es auch nicht, zumindest nicht einer Friedenspolitik, die den Namen verdient.

Literatur

Fischer, A. et al. (2018): Der Syrienkrieg – Dimensionen, Hintergründe, Perspektiven. IPPNW Akzente, Dezember 2018; ippnw.de.

Friedrichs, H. (2016): Rheinmetall – Boom mit Bomben. ZEIT ONLINE, 27.10.2016.

Goldmann, F. (2019): Sanktionen – Kollektivstrafen gegen die Schwächsten. neues deutschland, 11.9.2019.

Hofmann, G. (2005): Eine Frage der Moral. ZEIT ONLINE, 15.12.2005.

IPPNW (20018): Erklärung von Idriss Jazairy, Sonderberichterstatter zu den negativen Auswirkungen einerseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte. Podiumsdiskussion und Pressekonferenz, 29.5.2018; ippnw.de.

Klein, N. (2007; 6. Auflage 2016): Die Schock-­Strategie. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Lippmann, W. (2018, Erstausgabe 1922): Die öffentliche Meinung – Wie sie entsteht und manipuliert wird. Frankfurt am Main: Westend.

Lohmann, S. (2018): Sanktionen in den internationalen Beziehungen – Werdegang, Wirkung, Wirksamkeit und Wissensstand. Aus Politik und Zeitgeschichte/APuZ Nr. 36-37/2018.

Merkel, A.: (2004): Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 7.2.2004. Dokumentiert unter dem Titel „Auslandseinsätze der Bundeswehr werden zunehmen“ auf der Archiv-Website der AG Friedensforschung; ag-friedensforschung.de.

tagesschau.de (2018): Fall Kashoggi – Regierung verhängt Sanktionen gegen Saudis. 19.11.2018.

Dr. med. Helmut Lohrer ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Villingen-Schwenningen und International Councillor der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW).

Zivilklausel in NRW und überall


Zivilklausel in NRW und überall

von Senta Pineau

Die kürzliche Streichung der Zivilklausel aus dem Hochschulgesetz in Nordrhein-Westfalen und die Kampagne für deren Erhalt fallen zusammen mit dem zehnjährigen Jubiläum der Entstehung der so genannten Zivilklauselbewegung. Zeit für eine politische Bestandsaufnahme.

Wir schreiben das Jahr 2008. Milliarden Euro werden aus dem Stegreif zur Rettung von Banken verpulvert, während zuvor massiv Sozialabbau betrieben wurde. Die Unveränderbarkeit einer unerfreulichen Gesellschaft steht massiv in Frage.

In dieser Zeit kommt auf Einladung des Verteidigungsministeriums und der Commerzbank der »Celler Trialog« zusammen; es trifft sich die Crème de la Crème aus Wirtschaft, Bundeswehr und Politik. Die Teilnehmer*innen eint unter anderem das Ziel, „das Verständnis für die Auslandseinsätze der Bundeswehr verbreitern zu können“, die „Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit“ voranzutreiben sowie gemeinsam darauf hinzuwirken, „dass der sicherheitspolitische Dialog auch in Forschung und Lehre, insbesondere an unseren Hochschulen, gestärkt wird“ (Celler Trialog 2008). Kurzum: In Celle soll der in der Bevölkerung verbreiteten Ablehnung militärischer Einsätze entgegengewirkt werden.

Auch die neoliberale Hochschulpolitik stößt zu dieser Zeit an Grenzen. Die Ökonomisierung von Bildung und Wissenschaft und das menschen- und wissenschaftsfeindliche Leitbild der »unternehmerischen Hochschule« geben 2009 Anlass für den bundesweiten Bildungsstreik. Der steigende Druck auf die Hochschulen und ihre Mitglieder, verwertungskonform zu studieren und zu forschen – im Zweifel für den Krieg –, führt zu einer Renaissance der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Zielen von Bildung und Wissenschaft. In Karlsruhe kommt es zu einer studentischen Abstimmung für die Ausweitung der Zivilklausel des ehemaligen Kernforschungszentrums auf die gesamte Uni. Es folgen weitere Abstimmungen, u.a. in Köln und Frankfurt. Dies ist der Beginn der »Zivilklauselbewegung«.

Krise heißt Entscheidung: für den Frieden

An der Uni Köln konstituierte sich 2010 der »Arbeitskreis Zivilklausel«. Es war gerade gelungen, in NRW die Gebührenfreiheit des Studiums zurückzuerkämpfen. Die Auseinandersetzung der Aktiven mit dem Sozialpakt der Vereinten Nationen, der die Gebührenfreiheit des Studiums politisch begründet, hatte dafür große Bedeutung. Darin heißt es, „dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss“ und „dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss“ (UN-Sozialpakt 1966, Artikel 13).

Der Anspruch, Wissenschaft und Bildung sollten dazu beitragen, als mündige Persönlichkeit Bedeutung zu erlangen für die Schaffung einer menschlichen, friedlichen Welt, war persönlich und politisch überzeugend und in Köln Grundlage für nachhaltiges Engagement.

Die Zivilklauselbewegung hing über die Jahre an der Arbeit eines kleinen Kreises von Aktiven. Umso bemerkenswerter ist, wie gut es ihr gelungen ist, politische Maßstäbe zu setzen. Hatten sich im Jahr 2009 zwölf Hochschulen einer friedlichen Wissenschaft verpflichtet, sind es mittlerweile über 60 (zivilklausel.de 2019).

In NRW wurde 2014 die Festschreibung der friedlichen Ausrichtung der Wissenschaft im Hochschulgesetz erkämpft: „Die Hochschulen entwickeln ihren Beitrag zu einer nachhaltigen, friedlichen und demokratischen Welt. Sie sind friedlichen Zielen verpflichtet und kommen ihrer besonderen Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung nach innen und außen nach. Das Nähere zur Umsetzung dieses Auftrags regelt die Grundordnung.“ (HZG NRW 2014) Alle staatlichen Hochschulen in NRW verpflichteten sich im Zuge dessen zu diesen Entwicklungsaufgaben.

Militärisch-industrieller Komplex ist »not amused«

Winter 2014: Gerhard Elsbacher vom Konzern MBDA Missile Systems beklagt auf einer Konferenz zur »Angewandte[n] Forschung für Verteidigung und Sicherheit«, die Geschäftsbedingungen hätten sich durch die Ausgrenzung militärischer Forschung an manchen Hochschulen aufgrund der Erfolge der Zivilklauselbewegung verschlechtert (Borchers 2014). Im Jahr 2016 beschließt das Bundeskabinett das »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland«. Darin steht: „Die Bundesregierung wird daher insbesondere mit den Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln treten.“ (Bundesregierung 2016)

Frühjahr 2017: Vor dem Hintergrund wachsender Kritik an den Aufrüstungsplänen der NATO sowie sich zuspitzender Konflikte um den Ausstieg aus der Braunkohle am Hambacher Forst kündigt die frisch gewählte CDU/FDP-Landesregierung von NRW an, sie wolle die Friedensklausel aus dem NRW-Hochschulgesetz streichen.

Die Zivilklausel wirkt

Auf eine Große Anfrage der Grünen im NRW-Landtag im Jahr 2018 wurden vier rüstungsrelevante Projekte gemeldet, die an Hochschulen in NRW nicht durchgeführt oder abgebrochen wurden (Landtag NRW 2018), weil Hochschulmitglieder durch die Zivilklausel ermutigt wurden, »Nein!« zu sagen. Darunter war eine Machbarkeitsstudie an der RWTH Aachen zum Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, unter Beteiligung des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Die RWTH äußerte sich wie folgt zu dem Projekt: „Rückblickend war es ein Fehler seitens des Auftragnehmers, überhaupt ein Ergebnis zur Verfügung zu stellen. Die RWTH fühlt sich nicht nur im Sinne der Gesetzgebung der friedlichen Forschung verpflichtet und betreibt keine Rüstungsforschung. Das betont die Hochschule mit aller Deutlichkeit. Entsprechend wurde der Auftrag auch vor Abschluss beendet.“ (RWTH Aachen 2017)

Daran wird deutlich: Zivilklauseln sind eine Ermutigung für Hochschulmitglieder, ihre Arbeit am Allgemeinwohl auszurichten und dafür politische Konfliktfähigkeit zu entwickeln.

Politische Offensive aus der Abwehr

Der abwegige Versuch von CDU/FDP, wachsende Ansprüche an eine demokratische, friedliche und nachhaltige Gestaltung der Welt technokratisch zu »streichen«, haben die Kölner Aktiven als Chance bewertet, den Spieß politisch umzudrehen und

  • durch Aufklärung neue öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen für die Aktualität und Notwendigkeit einer Wissenschaft, die zur Verwirklichung einer friedlichen, nachhaltigen und demokratischen Welt beiträgt,
  • die erkämpfte und viel zu wenig bekannte Zivilklausel im Hochschulgesetz und an allen Hochschulen in NRW hochschulintern und öffentlich bekannter zu machen,
  • die interessengeleitete Politik von Schwarz-Gelb zu entlarven und
  • die politischen Ambitionen und das Selbstbewusstsein der gesellschaftlichen Gegenkräfte zu stärken.

Der erste Schritt dahin war die Veranstaltungsreihe »Die Hochschule zwischen Aufklärung und Profitinteressen – Verantworung der Wissenschaft für Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit« an der Uni Köln im Wintersemester 2018, mit Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Gewerkschaft, der Friedensbewegung und der Umweltbewegung. Ihr folgte die Broschüre »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der Zivilklausel in NRW« (Uni-Aktionsbündnis Köln et al. 2019), die mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren große Verbreitung fand. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Volker Pispers, Dogan Akhanli, Vertreter*innen der DFG-VK, der GEW, der türkischen Akademiker für den Frieden, von Ende Gelände sowie der evangelischen Kirche kommen darin zu Wort und begründen, warum sie die Beibehaltung der Zivilklausel für gesellschaftlich erforderlich halten.

Mit der darauf folgenden Unterschriftenkampagne »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Die Zivilklausel in NRW erhalten!« konnten die Aufklärungs- und Protestaktivitäten weiter entfaltet werden. Mehr als 90 Persönlichkeiten und Organisationen der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, aus Gewerkschaft und Kultur sowie 60 Wissenschaftler*innen aus NRW forderten als Erstunterzeichner*innen die Beibehaltung der Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. Innerhalb von zwei Monaten schlossen sich ihnen 11.000 Menschen an und stellten sich gemeinsam den politischen Herausforderungen der Zeit: „Wie gelingt es, dass kein Mensch mehr an Hunger sterben muss und Solidarität und demokratische Teilhabe gesellschaftlich umfassend verwirklicht werden? Was sind Ursachen für Krieg und Gewalt und was Voraussetzungen für ein gleichberechtigtes, friedliches Zusammenleben? Wie kann die globale Aufrüstung gestoppt, wie zivile Konfliktlösung und das Völkerrecht gestärkt werden? Welche ökonomischen Interessen stehen einer nachhaltigen Entwicklung entgegen, wie können natürliche Ressourcen geschont und produktiv gemacht statt verschwendet werden? Die gesellschaftliche Beantwortung dieser Fragen duldet keinen Aufschub, die Wissenschaft spielt hierfür eine zentrale Rolle.“ (Zivilklausel erhalten 2019)

Am 11. Juli 2019 beschloss die schwarz-gelbe Landesregierung das neue Hochschulgesetz. Darin enthalten: die Option für die Hochschulen in NRW, die Zivilklauseln aus ihren Grundordnungen zu streichen. In den Zentralen von CDU, FDP und Rheinmetall in Düsseldorf werden allerdings nicht die Korken geknallt haben, denn dieser Beschluss ist nicht mehr als ein Pyrrhussieg.

Eine zivile Entwicklung ist Angelegenheit aller

Mit der Kampagne für die Beibehaltung der Zivilklausel ist es gelungen, die Kritik an Rüstungsforschung sowie das Engagement für allgemeinwohlorientierte Hochschulen und friedensstiftende Wissenschaften politisch erheblich zu dynamisieren. Das Bündnis aus studentischer Bewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Gewerkschaften und kritischen Wissenschaftler*innen konnte ausgebaut werden, weil das Anliegen einer prinzipiellen gesellschaftlichen Veränderung leitend und somit verbindend war. So wurde der Angriff der Landesregierung auf kritische Wissenschaften und damit auf eine progressive Entwicklung der Welt mit erweiterten Ambitionen auf gesellschaftliche Veränderung und Solidarität auch über die Hochschulgrenzen hinaus beantwortet. Überdies wurde durch die Kampagne eine breite überregionale Berichterstattung zur NRW-Zivilklausel angestoßen. Die neuen Enthüllungen von SPIEGEL ONLINE machen am Beispiel der Forschung an deutschen Hochschulen für das US-Verteidigungsministerium die Tragweite der Versuche deutlich, die Wissenschaft für das weltweite Wettrüsten zu vereinnahmen (Himmelrath und Dambeck 2019).

Wie gegenwärtig das Erfordernis von Friedens- statt Kriegsforschung ist, wird auch an einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates deutlich, der sich diesen Sommer nachdrücklich für eine Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung ausgesprochen hat (Wissenschaftsrat 2019).

Die Hegemonieverschiebung in den Hochschulen selbst ist auch beachtlich. Zum Beispiel hat der Senat der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften die NRW-Unterschriftenkampagne unterstützt und alle Hochschulmitglieder angeschrieben, damit sie es ihm gleich tun. Dadurch bekommen die Kämpfe für eine Zivilklausel für den Hamburger Hafen und im dortigen Landeshochschulgesetz ebenfalls Aufwind. In Berlin und Sachsen-Anhalt werden aktuell die Hochschulgesetze novelliert, die Einführung einer Zivilklausel nach NRW-Vorbild steht dort auf der Tagesordnung.

In NRW haben sich mittlerweile alle Universitäten zu den Zivilklauseln in ihren jeweiligen Grundordnungen bekannt. An vielen Orten ist die Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft neu aufgelebt. So gibt es an der TH Köln inzwischen eine Initiative für die Einführung einer umfassenderen Zivilklausel. In Bochum und Wuppertal wird beraten, die Zivilklausel mit einer Ethikkommission zu flankieren.

Die Zivilklausel ist zwar aus dem NRW-Hochschulgesetz gestrichen, Schwarz-Gelb hat damit den Kampf für demokratische, zivile und nachhaltige Forschung und Lehre aber lediglich in die einzelnen Hochschulen verlegt und trägt so ungewollt zu einer weiteren Politisierung bei. Dies ist angesichts der zusätzlichen Milliarden für Rüstungsforschung, die durch die anhaltende Militarisierung der Europäischen Union und das NATO-Aufrüstungsziel von 2 % locken, auch dringend erforderlich.

Geschichte wird gemacht

An jeder Stelle der Aufrüstungs- und Kriegskette kann diese gebrochen werden. Bei Google protestierten letztes Jahr mehrere tausend Mitarbeiter*innen dagegen, dem US-Militär zuzuarbeiten. In den letzten Monaten stellten sich Hafenarbeiter*innen in Italien, Spanien und Frankreich gegen den Transport von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien. In Hamburg ist ein Volksentscheid für die Einführung einer Zivilklausel für den Hafen in Planung.

Das Engagement für die Zivilisierung menschlicher Arbeit trifft ein gesellschaftliches Erfordernis, das sich immer mehr Menschen zu eigen machen. Und tatsächlich brauchen wir Zivilklauseln nicht nur für Hochschulen, sondern ebenso für Häfen, Banken und Betriebe. Das restaurative Gebot der Zeit nach 1989, man solle »der Politik« das Politikmachen überlassen und das Leben auf den eigenen privaten Nahraum reduzieren, verliert zunehmend an einschüchternder Kraft. Hier zeigt sich ein gesellschaftlicher Umbruch, den jeder befeuern kann.

Literatur

Borchers, D. (2014): IT-Wehrforschung in Deutschland – Den Standort erhalten. heise online, 6. Februar 2014.

Die Bundesregierung (2016): Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Verabschiedet am 21.12.2016.

Celler Trialog (2008): Celler Appell. Abrufbar auf bundeswehr.de.

Generalversammlung der Vereinten Nationen (1966): Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt). Verabschiedet am 16. Dezember 1966.

Himmelrath, A.; Dambeck, H. (2019): Millionen vom Pentagon für deutsche Unis. SPIEGEL ONLINE, 22.6.2019.

HZG NRW 2014 – Hochschulzukunftsgesetz Nordrhein-Westfalen. Vom Landtag beschlossen am 16.9.2014.

Initiative Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel (2019): Liste aktueller Zivilklauseln. zivilklausel.de.

Landtag Nordrhein-Westfalen (2018): Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 5 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Drucksache 17/2612 vom 13.9.2018.

RWTH Aachen University (2017): Statement der RWTH Aachen zur Machbarkeitsstudie für ein Werk in Karasu, Türkei. Pressemitteilung vom 4.9.2017.

Uni-Aktionsbündnis Köln, Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, GEW Studis NRW (2019): Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der ­Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. März 2019; uni-aktionsbuendnis.uni-koeln.de.

Wissenschaftsrat (2019): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung. Drs. 7827-19 vom 12.7.2019.

Zivilklausel erhalten (2019): Die Zivilklausel in NRW erhalten! weact.campact.de, 15.5.2019.

Senta Pineau ist aktiv im Uni-Aktionsbündnis Köln, Mitgründerin des dortigen Arbeitskreises Zivilklausel und war von 2016 bis 2019 studentische Vertreterin im Senat der Universität. Sie ist Mitglied bei ver.di und in der SPD.

Schreckensbilder für den Frieden?

Schreckensbilder für den Frieden?

Zur Rolle gewaltvoller Bilder in Geschichte und Gegenwart

von Michaela Zöhrer

Rechtfertigt die Realität von Gräuel und Leid das Zeigen und Betrachten gewaltvoller Bilder? Die Zurschaustellung von Schreckens- und Elendsbildern gewinnt ihre Legitimität, wenn überhaupt, oft erst daraus, dass sie im Namen des Friedens, der Gerechtigkeit oder Menschlichkeit erfolgt. Denn es gibt Vorbehalte, dass insbesondere drastische, grausame Bilder von den Betrachtenden als unzumutbar erlebt und den dargestellten Menschen mit ihren jeweiligen Erfahrungen nicht gerecht werden, sie vielmehr zu Objekten degradieren. Was also spricht für, was gegen ein Zeigen gewaltvoller
Bilder? Und wie verhält es sich mit Bildern, die vermeintlich Harmloses ausstellen und doch Gewalt antun und bezeugen? Anhand konkreter Beispiele setzt sich der Beitrag mit hoffnungsfrohen bis kritischen Wirkmächtigkeitszuschreibungen an Bilder auseinander, welche die Praxis der Zurschaustellung in Geschichte und Gegenwart begleiten.

Friedensbilder, verstanden als Bilder für den Frieden, sind oftmals Bilder von Leiden und Gräuel, die auf bestehende Missstände aufmerksam machen, die anklagen, um Veränderungen anzumahnen. So ist es bereits seit mehreren Jahrhunderten üblich, Bilder des Krieges ebenso wie des Hungers, der Verstümmelung und Vernichtung sowie der Verelendung anzufertigen und zu verbreiten – und das eben nicht ausschließlich zu Propagandazwecken im Kontext andauernder Konflikte und Herrschaftsbeziehungen. Verfolgt wird über das Zeigen von Schreckens- und Elendsbildern
oftmals das Ziel, Mitglieder entscheidungsbefugter Gruppen sowie die Öffentlichkeit zu informieren und zu bewegen – sowohl »innerlich« als auch zum Handeln. Begegnet werden soll so aktuellen Missständen, und/oder es geht um die Schaffung einer friedfertigen (Erinnerungs-) Kultur.

Es ist kein Zufall, dass nach Möglichkeit Bilder gezeigt werden, wenn es darum geht, Menschen zu bewegen. Zu beobachten ist ein bis heute beinahe ungebrochener Glaube an die Macht der Bilder, nicht zuletzt von Fotografien, ganz nach dem Motto »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte«.

Bilder als Gegenwaffe

Im Jahr 1926 vermerkte Kurt Tucholsky in »Die Weltbühne«: „Es gibt kein kriminalistisches Werk, keine Publikation, die etwas Ähnliches an Grausamkeit, an letzter Wahrhaftigkeit, an Belehrung böte. […] Geschriebene Bücher schaffen es nicht. Kein Wortkünstler, und sei er der größte, kann der Waffe des Bildes gleichkommen.“ (Friedrich 2015, S. LXXIV) Tucholsky schrieb dies mit Blick auf das bis heute populäre Fotobuch »Krieg dem Kriege« (Erstausgabe 1924) von Ernst Friedrich. Friedrich, der pazifistische, anti-nationalistische, anarchistische und
kapitalismuskritische Ideen verfolgte, bemühte sich um die Verbreitung des Pazifismus, mindestens aber der Kriegsdienstverweigerung. Seine Kritik an einem zu Unrecht glorifizierten Militarismus suchte er über die visuelle Konfrontation des Publikums mit den Schrecken und Opfern des Krieges zu erreichen. Es war ihm ein Anliegen, Männer (und ihre Ehefrauen) darauf zu stoßen, dass sie Bauernopfer und Spielfiguren mächtiger Instanzen sind, die sich selbst die Finger nicht dreckig machen.

Tucholsky preist nicht nur die große Macht der Bilder, die er als „Gegenwaffe“ begreift (Friedrich 2015, S. LXXV). Zugleich deutet er Friedrichs Vorstoß als eine propagandistische Gegenwehr gegen die Zensur machthabender Eliten, denen er ein Interesse bescheinigt, die Gräuel des Krieges zu verbergen: „Das böse Gewissen, mit dem die Offiziere und Nationalisten aller Art verhindern und natürlich verhindern müssen, daß das wahre Gesicht des Krieges bekannt werde, zeigt, was sie von solchen Veröffentlichungen zu befürchten haben. (Tucholsky in
Friedrich 2015, S. LXXIV)

Tatsächlich hebt sich »Krieg dem Kriege« gegenüber zeitgenössischen Publikationen, welche ihrerseits die Schrecken des Krieges zu Aufklärungszwecken vorführten, aufgrund der abgedruckten Fotos entstellter Gesichter ab, der so genannten »gueules cassées« (zerschlagenen Fressen). Gezeigt werden zwei Dutzend Porträts von Soldaten, deren Gesichter an der Front zerfetzt wurden, von jenen „Menschen ohne Gesicht“, die zur gleichen Zeit von der restlichen Zivilbevölkerung abgeschnitten in Spezialkliniken einquartiert waren, „weil ihr Anblick nicht aushaltbar war und ist“ (Krumeich in
Friedrich 2015, S. XXX).

Auch heute kann es im Interesse machthabender Instanzen liegen, dass keine Bilder gewaltvoller Realitäten existieren, vorliegende Bilder gar nicht erst den Weg in die Öffentlichkeit finden, Gezeigtes als Fälschung und/oder Zeigende als Lügner*innen diskreditiert werden.

»War Porn«!?

Bilder, vor allem Fotografien, sind in der Lage, ein breites Spektrum an positiven wie negativen Gefühlen hervorzurufen. Das Auslösen von Gefühlen, wie Mitleid oder Empörung, gilt gemeinhin als erster Schritt, um ein Umdenken und Handeln einzuläuten. Zugleich wird aber auch angenommen, dass wir mit der Zeit und über eine andauernde Konfrontation mit den immer gleichen Schreckens- und Elendsbildern abstumpfen (Mitgefühlsmüdigkeit) – als medienkonsumierende Individuen wie auch als Gesellschaft. Kritisch hinterfragt wird zudem, ob bestimmte, grausame Bilder nicht sogar vorrangig unsere
Sensations- und Schaulust befriedigen (Voyeurismus).

Entsprechende Vorbehalte werden heute zur Rechtfertigung des eigenen Nichthandelns herangezogen (Cohen 2001). Ferner stärken sie Positionen, die sich gegen das Zeigen von Schreckens- und Elendsbildern aussprechen.

Kritik an der Zurschaustellung von Gräuel und Leid wird immer häufiger unter Rückgriff auf den provokanten, reißerischen Anglizismus »Porn« formuliert. Christoph Bangert problematisiert entsprechende Sicht- und Zugangsweisen mit seinem Fotobuch »War Porn«, in dem Kriegsfotografien abgedruckt sind, deren Veröffentlichung renommierte Zeitungen mitunter aufgrund ethischer Bedenken abgelehnt hatten. Es sind ähnlich drastische, verstörende Bilder dabei wie in »Krieg dem Kriege«. Dennoch ist die angepeilte Provokation in diesem Fall eine andere: Bangert stellt weniger die wirkmächtigen,
habitualisierten Vorstellungen und Einstellungen von Menschen gegenüber dem Krieg infrage, als jene gegenüber Kriegsbildern. Dem Fotojournalisten geht es um eine Problematisierung dessen, was hier und jetzt als zeigbar gilt. Wie viele andere vor ihm, die sich für das Zeigen auch grausamer Bilder ausgesprochen haben, hinterfragt Bangert Entscheidungen, Bilder nicht zu zeigen (etwa weil diese vorgeblich »War Porn« seien), letztlich mit Verweis auf die grausamen Realitäten jenseits der Bilder: Wie können wir es ablehnen eine schiere Repräsentation – ein Bild –
eines entsetzlichen Ereignisses zur Kenntnis zu
nehmen, während andere Personen gezwungen sind, dieses schreckliche Ereignis zu durchleben?“ (Bangert 2014, S. 5) (Zu »War Porn« von Bangert siehe auch Koltermann 2014.)

Und doch steht die Frage im Raum, inwieweit Bilder den dargestellten Menschen und ihren Erfahrungen gerecht werden können. Neben möglichen (befürchteten) Betrachtenden-Reaktionen werden insbesondere Gefahren einer Dehumanisierung, Objektivierung und Ausbeutung der gezeigten Personen aufgeführt, um das Nicht-Zeigen bestimmter Bilder zu begründen oder deren Zurschaustellung zu verurteilen.

Humanitäre Bilderwelten

Bilder können uns für ferne Wirklichkeiten interessieren, die sich jenseits unserer sinnlichen Reichweite, unserer sozialen Nahkreise und Lebenswelten und letztlich jenseits unserer wahrgenommenen Einflusssphären abspielen. Bilder, vor allem Fotografien, dienen einerseits als Beweise: »etwas ist passiert«; andererseits wird ihnen zugetraut, nicht nur geographische, sondern soziale Distanzen zu überbrücken. So wird mitunter davon ausgegangen, dass Bilder uns eine Identifikation mit uns unbekannten Anderen ermöglichen, auch mit jenen, mit denen wir keine partikularen sozialen Bindungen,
jedoch unsere universale Menschlichkeit und Verletzlichkeit teilen. So bedienten sich bereits humanitäre Reformprojekte und soziale Bewegungen des späten 18. und 19. Jahrhunderts schriftlicher und visueller Zeugnisse von Gräuel, Leiden und Verwundbarkeit (Laqueur 2009).

Betrachtet man das historische Beispiel des Abolitionismus, zeigt sich, dass zuerst der verbreiteten rassistischen Vorstellung entgegengewirkt werden musste, Afrikaner*innen würden Schmerzen – gemäß der behaupteten Hierarchie der »Rassen« – nicht wie andere Menschen fühlen: „Die Schilderung der Schmerzen eines Sklaven war ein Beleg für die Ähnlichkeit des menschlichen Körpers über rassische Grenzen hinweg. (Clark 2007, S. 71) Wichtiges Beispiel für Bilder, die den Kampf gegen die Sklaverei maßgeblich stützten, sind die in den 1860er Jahren
verbreiteten Darstellungen jenes Mannes, der als »Gordon aus Mississippi« bekannt wurde, eigentlich aber wohl Peter hieß und von einer Baumwollplantage aus Louisiana geflohen war (Abruzzo 2011, S. 201). Im Rahmen der Anti-Sklaverei-Bewegung wurden Bilder des von Narben gezeichneten Rückens des vormals versklavten Peter verbreitet, mit deren Hilfe die Grausamkeit der Sklavenhalter*innen nach Jahrzehnten des Berichtens endlich gezeigt und dergestalt belegt werden konnte: Die Fotografie »The Scourged Back« (Der gepeitschte Rücken) wurde als »Carte de Visite« verteilt und diente zudem als
Vorlage für einen im Juli 1863 in der Zeitung »Harper’s Weekly« abgedruckten Stich.

Die große Ausstrahlungskraft der Bilder, die den Blick auf körperliche Versehrtheit richten, lenkte trotz aller unter Abolitionist*innen geäußerten Vorbehalte die Aufmerksamkeit auf die grausame Behandlung versklavter Menschen. Argumente, die auf Menschenrechte, Gleichheit sowie das Unrecht zielten, Menschen als Eigentum zu betrachten und zu behandeln, rückten in der Folge in den Hintergrund (Abruzzo 2011, S. 205). Entsprechend waren Peter als Person und seine Erfahrungen kaum von Belang, sondern lediglich sein von Narben gezeichneter Rücken als Verkörperung eines übergreifenden Leidens. Er
wurde ähnlich wie viele heutzutage von Not und Gewalt betroffene Menschen im Zuge visueller Repräsentationspraxis zu einem objektivierten Beweis von Grausamkeit, zum vorgeführten Prototyp des hilfsbedürftigen Opfers, zu einem generischen, letztlich auf seine Körperlichkeit reduzierten Emblem.

Zur Gewaltsamkeit vermeintlich harmloser Bilder

Doch Bilder müssen keine Gräueltaten oder Elendsszenarien zeigen, um gewaltsam zu sein bzw. zu wirken. Oftmals sind es die Entstehungs- und Zurschaustellungskontexte der Bilder, die von Gewalt durchzogen sind. Beispiele hierfür finden sich unter anderem in visuellen Repräsentationen, die im Kontext »Kolonialismus« standen und stehen. Bilder stehen stets in sozialen Rahmen, die sie selbst mit aufzuspannen helfen. Es sind sprachliche, materielle, institutionelle, historische und/oder diskursive Rahmungen, welche die uns möglichen Lesarten maßgeblich informieren, wenn auch nicht festlegen.

Bilder werden nicht zuletzt von denjenigen, die sie zeigen, in spezifische Kontexte gestellt. Auf der Homepage des Projekts »Kolonialismus im Kasten« ist ein wenige Jahre altes Foto zu sehen, das die Vitrine zur Kolonialgeschichte des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin zeigt (Abb. 1). »Kolonialismus im Kasten« stellt einen alternativen, von postkolonialen Ansätzen informierten Audio-Guide zur Dauerausstellung des DHM zur Verfügung und ist damit ein Beispiel jener vielfältigen Initiativen, die die koloniale Vergangenheit und Verantwortung Deutschlands aufs Tapet bringen.

In der Mitte der gezeigten Vitrine hängt ein Plakat aus dem Jahr 1913, das eine Völkerschau bewirbt. Das Plakat titelt »Passage Panoptikum. 50 wilde Kongoweiber. Männer und Kinder in ihrem aufgebauten Kongodorfe. Ohne extra Entrée«. Die Macher*innen von »Kolonialismus im Kasten« halten zum Zeigen des benannten Plakats im Rahmen der DHM-Ausstellung Folgendes fest: „Auch hier stellt sich die Frage, ob – und wenn ja, wie – ein Museum ein Objekt präsentieren sollte, das so offensiv rassistische und sexistische Botschaften vermittelt. Der Begleittext erwähnt
zwar die Zurschaustellung von Menschen
als ‚exotische Sehenswürdigkeiten‘ oder zu ‚propagandistischen Zwecken‘, doch über diese Menschen, ihren Alltag und ihre Geschichten erfahren wir nichts […]. Die Platzierung des Plakats als auffälliger Blickfang im Zentrum der Vitrine trägt nicht dazu bei, den kolonialen Blick zu brechen – im Gegenteil, es scheint, als sollte das Plakat abermals den Zweck erfüllen Publikum anzulocken, nur diesmal eben Museums- statt Panoptikumsbesucher*innen. (Kolonialismus im Kasten o.J.)

Das erneute, weitgehend unkritische Zeigen historischer Bilder, die ursprünglich im Kontext »Kolonialismus« standen, sowie allgemeiner die Reproduktion jener Weltenbilder, die einen kolonialen Blick formieren, stören jedenfalls den sozialen Frieden, insofern sie Eurozentrismus, Paternalismus und (Alltags-) Rassismus befördern. Vielerlei gegenwärtige Kritiken am Zeigen gewaltvoller Bilder sind nicht als Aufforderung zur Zensur zu begreifen. Ausgesprochen wird sich nicht pauschal gegen jedwede (Wieder-) Ausstellung entsprechender Bilder. Gefordert wird jedoch, deren Zurschaustellung vorrangig
als problematisch und rechenschaftspflichtig anzusehen (und damit möglichst zu vermeiden). Wenn man sich dennoch für das Zeigen entscheidet, sollte das Gezeigte jedenfalls in einen Kontext gestellt werden, der nicht nur historisch rahmt, sondern auch unreflektierte Sehgewohnheiten irritiert und problematisiert. Damit einhergehen sollte nach Möglichkeit ein Angebot neuer Sicht- und Zugangsweisen.

Literatur

Abruzzo, M. (2011): Polemical Pain – Slavery, Cruelty, and the Rise of Humanitarianism. Baltimore: Johns Hopkins UP.

Bangert, Ch. (2014): War Porn. Heidelberg: Kehrer Verlag.

Clark, E.B. (2007): „Die heiligen Rechte der Schwachen“ – Schmerz, Mitgefühl und die Kultur individueller Rechte in Antebellum Amerika. In: van der Walt, S.; Menke, Ch. (Hrsg.): Die Unversehrtheit des Körpers. Frankfurt a. M.: Campus, S. 57-86.

Cohen, S. (2001): States of Denial – Knowing about Atrocities and Suffering. Cambridge: Wiley.

Friedrich, E. (2015, Erstausgabe 1924): Krieg dem Kriege. Neu herausgegeben vom Anti-Kriegs-Museum Berlin. Mit einer Einführung von Gerd Krumeich. Berlin: Ch. Links Verlag.

Kolonialismus im Kasten (o.J.): Kolonialismus im Kasten revisited. Online unter kolonialismusimkasten.de/kik-revisited/.

Koltermann, F. (2014): Bilderkrieger im »War Porn?«? W&F 4-2014, S. 44-45.

Laqueur, Th.W. (2009): Mourning, Pity, and the Work of Narrative in the Making of »Humanity«. In: Wilson, R.A.; Brown, R.D. (eds.): Humanitarianism and Suffering – The Mobilization of Empathy. Cambridge: Cambridge University Press, S. 31-57.

Michaela Zöhrer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg.

Konflikttextilien

Konflikttextilien

Analytischer, ästhetischer und politischer Stoff für Friedensforschung und -arbeit

von Christine Andrä und Berit Bliesemann de Guevara

Von textilen Wandbildern aus Zeiten der chilenischen Militärdiktatur bis hin zu bestickten Taschentüchern zum Gedenken an die Opfer des aktuellen Drogenkrieges in Mexiko: Textile Handarbeiten, die sich mit Krieg, Gewalt und Frieden auseinandersetzen, finden sich in unterschiedlichen Weltregionen und historischen Kontexten. Der folgende Beitrag stellt einige dieser Konflikttextilien vor, macht Vorschläge zu ihrer Nutzung in Friedensforschung und Friedensarbeit und diskutiert ihr emanzipatorisches Potenzial.

Textile Formen des Protests und der Friedensarbeit sind heute so aktuell wie eh und je. Schon in den 1970er und 1980er Jahren dokumentierten Chilen*innen ihren entbehrungsreichen Alltag, die Gräueltaten des Pinochet-Regimes und ihren Widerstand dagegen in »Arpilleras« genannten textilen Wandbildern (Adams 2013), während in Großbritannien aufwändig genähte Transparente die Proteste der Frauen des Greenham Common Women’s Peace Camp begleiteten (Parker 2010). Heute nutzen Aktivist*innen in Katalonien Wandbilder im Arpillera-Stil, um Europas Umgang mit Geflüchteten
an den europäischen Außengrenzen anzuprangern. Frauengruppen in Simbabwe arbeiten mit Textilien vergangene Konflikterfahrungen und deren bis heute spürbare Nachwirkungen auf. Künstler*innen nutzen das Textile für ausdrucksstarke Werke, in denen sie auf persönliche Weise über Gewaltkonflikte reflektieren. Soziale Bewegungen in Mexiko besticken weiße Taschentücher, um gegen die im so genannten Drogenkrieg gängige Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens zu protestieren, und Menschen weltweit greifen diese Idee auf, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen.

In diesem Beitrag plädieren wir vor dem Hintergrund der „ästhetischen Wende“ (Bleiker 2017) in den Internationalen Beziehungen und der zunehmenden Beliebtheit interpretativer Methoden in der Friedensforschung (Fujii 2017) dafür, mit Konflikttextilien neue Wege der Datengenerierung und -analyse zu beschreiten, die zugleich einen Beitrag zur praktischen Friedensarbeit leisten. Dabei stützen wir uns auf Erfahrungen als Ko-Organisatorinnen und Ko-Kuratorinnen einer Konflikttextilien-Ausstellung1 und auf erste Ergebnisse unseres aktuellen
Forschungsprojekts zu textiler Biographiearbeit mit ehemaligen Kombattant*innen in Kolumbien.2 Anhand des Beispiels der Arpillera »La Cueca Sola« schlagen wir einerseits vor, Konflikttextilien als dokumentarische, visuelle und materielle Primärquellen von Konfliktwissen zu begreifen. Andererseits diskutieren wir in Bezug auf das Kolumbienprojekt, wie die Fertigung von Konflikttextilien als partizipative Methode zur Erforschung komplexer Kriegs- und Gewalterfahrungen und als Friedensarbeit genutzt werden kann.

Konflikttextilien als Primärquellen

Die Arpillera »La Cueca Sola« (Abb. 1) zeigt eine Gruppe Frauen in weißen Blusen und schwarzen Röcken, die – erkennbar am Taschentuch, das die Tänzerin in der erhobenen Hand hält – den chilenischen Nationaltanz Cueca aufführen. Eigentlich ist die Cueca ein Paartanz, doch hier bewegt sich eine Frau allein zur Gitarrenmusik. »La Cueca Sola« dokumentiert eine kreative Form des Protests gegen die Diktatur Pinochets (1973-1990): Die Cueca Sola tanzten Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Töchter verschwundener Männer allein an öffentlichen Orten, ein Foto des Vermissten am Revers,
um auf die Grausamkeiten des Regimes aufmerksam zu machen. Zugleich stellen auch die Arpilleras selbst eine kreative Protestform dar. Weltweit existieren Dutzende Versionen von »La Cueca Sola«. Die auf S. 7 abgebildete wurde von Violeta Morales in Chile gefertigt, dann von Takahashi Masa’aki, Professor in lateinamerikanischer Geschichte und Mitglied der japanischen Solidaritätsbewegung mit Chile, erworben und gelangte als Schenkung zuerst an das Oshima-Hakko-Museum (Japan) und schließlich in die Conflict Textiles Collection (Nordirland).

Der Lebensweg von »La Cueca Sola« verweist auf die unterschiedlichen Funktionen, die Konflikttextilien erfüllen können: Sie dokumentieren Gewalt, erinnern an ihre Opfer, drücken Solidarität aus, verschaffen finanzielle Unterstützung; durch sie wird Wissen in Museen öffentlich zugängig und in Sammlungen archiviert. Um das von ihnen verkörperte Wissen für die Friedensforschung nutzbar zu machen, können Konflikttextilien als Primärquellen auf drei analytischen Ebenen erschlossen werden.

Erstens stellen Konflikttextilien historische Sachquellen dar, deren Bedeutung und Glaubwürdigkeit quellenkritisch untersucht werden können. Wovon berichtet die Konflikttextilie? Wann, wo, von wem, an wen gerichtet, in welchem Kontext, mit welcher Absicht und in welchem zeitlichen und räumlichen Abstand zu den in ihr dokumentierten Ereignissen wurde sie angefertigt? »La Cueca Sola«, deren Geschichte gut dokumentiert ist, berichtet von den Erfahrungen ihrer Schöpferin. Nachdem ihr Bruder Newton im August 1974 vom Pinochet-Regime festgenommen worden war, machte Violeta Morales die Suche nach
ihm und den Protest gegen das Regime zu ihrer Lebensaufgabe: Sie engagierte sich in Menschenrechtsinitiativen, als Arpillerista und ab 1978 auch in einer Folklore-Tanzgruppe von Angehörigen der Opfer der Diktatur. Als sie 1989 kurz vor dem Ende der Diktatur »La Cueca Sola« nähte, blickte Morales auf anderthalb Jahrzehnte des Aktivismus zurück und richtete zugleich den Blick nach vorn: „Ich hoffe, dass die Arpilleras anderen Generationen, nicht nur in Chile, sondern in der ganzen Welt, als Zeugnis dienen werden, damit andere mehr lernen können, als wir zu lernen
vermochten
. (in Agosín 2008, S. 93) Als historische Quelle von dokumentarischem Wert bietet diese Arpillera ein retrospektives Fenster auf den alltäglichen zivilen Widerstand gegen die chilenische Diktatur.

Zweitens können Konflikttextilien als visuelle Quellen analysiert werden. Was bildet eine Textilie ab? Wie bringen ihr Bildaufbau, ihre Farbgebung und ihre Symbolik ihr politisches Anliegen zum Ausdruck? Eine visuelle Analyse hilft, den ersten Eindruck zu hinterfragen, den viele Betrachter*innen von Arpilleras haben: dass es sich bei ihnen um farbenprächtige, aber letztlich unpolitische, ästhetisch schlichte Artefakte handelt. »La Cueca Sola« erzielt ihre visuelle Wirkmacht durch Komposition, Farben und Symbolik. Die Perspektivgebung scheint den Betrachter*innen einen Platz im Zuschauerraum
des Theaters zuzuweisen, in dem die Solo-Cueca im Mai 1978 uraufgeführt wurde. Die schwarz-weiße Kleidung der vor kräftig pinkem und violettem Hintergrund tanzenden Frauen bricht subversiv die traditionelle Form der Cueca, die normalerweise von bunt gekleideten Paaren getanzt wird und die unterschiedlichen Emotionen und Phasen einer Liebesbeziehung symbolisiert, was das Fehlen der Männer besonders unterstreicht.

Drittens stellen Konflikttextilien materielle Quellen dar, die ein auf Sinneseindrücken basierendes und durch unterschiedliche soziale Kontexte geprägtes Konfliktwissen in sich tragen. Aus welchen Materialien und mit welchen Methoden wurde eine Textilie kreiert? Wurden die Materialien gekauft oder recycelt? Was sagt uns dies über ihr Anliegen und ihren Entstehungskontext? Wie verändert sich die Bedeutung, wenn eine Textilie ins Ausland verkauft oder in eine Sammlung aufgenommen wird? Bei »La Cueca Sola« fällt hier zunächst der gehäkelte Rahmen auf, der sie als »textiles Gemälde«
kennzeichnet, sowie die Applikationstechnik, die als einfaches Nähverfahren von vielen Arpilleristas genutzt wurde. Als Materialien für Arpilleras dienten oft abgelegte Kleidungsstücke – weil Stoffe Mangelware waren, aber auch, weil die Arpilleristas so mittels persönlicher Gegenstände von ihren Erfahrungen erzählen konnten. Die Erfahrungen des Verlusts direkter Angehöriger und der unterschiedlichen Formen kreativen Protests waren für Morales mit widerstreitenden Gefühlen verbunden, wie sie auch in »La Cueca Sola« zum Ausdruck kommen: „Wir wollten nicht nur sticken und unsere
Trauer hinausweinen, sondern wir wollten unsere Protestbotschaft auch [
fröhlich] singend verbreiten. (in Agosín 2008, S. 88) Die buchstäbliche Weltreise, welche »La Cueca Sola« seit 1989 unternommen hat, zeugt von der wichtigen Rolle, die internationale Solidarität für Friedensarbeit damals wie heute spielt, und davon, wie Konflikttextilien etwa im Rahmen von Ausstellungen einen neuen Abschnitt ihres soziales »Lebens« beginnen, der weit über ihren ursprünglichen Entstehungskontext hinausreichen kann.

Konflikttextilien als kreative Forschungsmethode

Konflikttextilien sind auch als eine Methode für die Forschungspraxis nutzbar, die zugleich praktisch zur Friedensarbeit beitragen kann. In unserem Forschungsprojekt zum Versöhnungsprozess in Kolumbien betreiben wir narrative und textile Biographiearbeit mit ehemaligen Kombattant*innen der FARC-Guerilla (Abb. 2), um ihre Perspektiven auf den Konflikt und den Friedensprozess zu ergründen und sie durch Ausstellungen der im Projekt entstehenden Textilien mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft ins Gespräch zu bringen (Bliesemann de Guevara und Arias Lopez 2019). Unsere Forschung zeigt zum
einen auf, wie strukturelle und physische Gewalt­erfahrungen im ländlichen Kolumbien Entscheidungen zum Eintritt in die Guerilla beeinflussten. Zum anderen legt sie die vielschichtigen Biographien der demobilisierten Kämpfer*innen offen, die neben dem Leben in der FARC etwa auch Familien- und Geschlechterrollen und persönliche und kollektive Wünsche und Hoffnungen umfassen, und ermöglicht so die Erzählung von nicht immer nahtlos zusammenpassenden politischen, praktischen und emotionalen Dimensionen der Lebensläufe unserer Teilnehmer*innen.

Nadelarbeit ist dabei eine zentrale Methode: Unsere Teilnehmer*innen sind eingeladen, ihre Erfahrungen und Botschaften in Form einer Seite eines »textilen Buches« zu nähen oder zu sticken. Dieses »textile Erzählen« ist für unsere Forschungsmethode auch insofern bedeutsam, als die manuelle, repetitive, kollektive und über einen längeren Zeitraum erfolgende Handarbeit eine Atmosphäre der Öffnung und des Austauschs über schwierige Themen befördert und in einem durch harte Arbeit geprägten Alltag Raum und Zeit für persönliche Reflexion schafft.

Die entstehenden textilen Bücher dienen nicht nur der Datengenerierung: Als Wanderausstellung bringen sie die Erfahrungen der ehemaligen FARC-Mitglieder anderen Gesellschaftsgruppen näher und nuancieren so die in den Medien und der Politik dominanten Narrative, welche die ehemaligen Kämpfer*innen weiterhin vornehmlich als Feind*innen und Terrorist*innen bezeichnen. In unserer Arbeit mit Frauen in einem armen Stadtteil Medellíns hat dieser textile Dialog bereits zu einem Umdenken über den bis dato kritisch beäugten Friedensprozess geführt: Die Frauengruppe arbeitet an einem textilen
»Wörterbuch der Versöhnung«, in dem sie ihre neu gewonnen Erkenntnisse über die Komplexität des kolumbianischen Konflikts reflektieren. So wird Friedensforschung mit Konflikttextilien zur praktischen Friedensarbeit.

Ästhetik, Politik und Emanzipation

„Bei ästhetischer Politik“, so Roland Bleiker (2017, S. 261), „[…] handelt es sich um die Fähigkeit, Abstand zu gewinnen, zu reflektieren, politische Konflikte […] auf neue Weise zu sehen, zu hören und zu spüren. Eine so verstandene Politik kann neue Denk- und Handlungsräume und Adressat*innenkreise erschließen. Konflikttextilien können eine zentrale Rolle dabei spielen, politische Konflikte auf neue Weise wahrnehmbar zu machen, und so ein emanzipatorisches Potenzial entfalten. Bleiker stützt sich auf die Theorie Jacques Rancières (2006), für den
sich Politik und Ästhetik wechselseitig implizieren. Unter Ästhetik versteht Rancière die sozial und politisch konstituierte »Aufteilung des Sinnlichen« – des Sichtbaren und Nicht-Sichtbaren, Hörbaren und Nicht-Hörbaren, Spürbaren und Nicht-Spürbaren – und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Unmöglichkeiten politischer Teilhabe. Hingegen besteht Politik für ihn aus der Konfrontation der gegebenen Aufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren und der Möglichkeiten zur Teilhabe mit einer alternativen Ordnung.

Folgt man diesem Verständnis von Ästhetik und Politik, so sind Konflikttextilien gerade insofern politisch, als sie gegebene gesellschaftliche Aufteilungen des sinnlich Wahrnehmbaren und der politischen Teilhabe infrage stellen und zu verändern suchen. Das emanzipatorische Potenzial von Konflikttextilien liegt dabei einerseits darin begründet, dass sie marginalisierten Stimmen – seien es Frauen aus den Slums Santiago de Chiles oder ehemalige FARC-Rebell*innen im ländlichen Kolumbien – Gehör verschaffen und jene sehr persönlichen Erfahrungen sichtbar machen, die in den Medien
zugunsten eines Fokus auf »high politics« sonst wenig Beachtung finden. Andererseits bieten Konflikttextilien gerade durch ihre visuellen und materiellen Aspekte eine Möglichkeit, sich der gelebten Komplexität von Krieg und Gewalt anzunähern, die Grenzen des sinnlich Erfahrbaren zu verschieben und damit das für Friedensprozesse wichtige Verstehen anderer Positionen und Erfahrungen zu ermöglichen.

Anmerkungen

1) »Stitched Voices/Lleisiau wedi eu Pwytho«, Aberystwyth Arts Centre in Aberystwyth, Wales/Vereinigtes Königsreich, 25.3.-13.5.2017.

2) Internationales Forschungsprojekt »(Des)tejiendo miradas sobre los sujetos en proceso de reconciliación en Colombia/(Un)Stitching the subjects of Colombia’s reconciliation process«, gemeinschaftlich gefördert durch Colciencias, Kolumbien (Projektreferenz FP44842-282-2018) und Newton Fund/AHRC, Großbritannien (Projektreferenz AH/R01373X/1), getragen von der Universität von Antioquia, der Universität Aberystwyth und dem Verein der Opfer und Überlebenden Nordost-Antioquias (­ASOVISNA).

Literatur

Adams, J. (2013): Art Against Dictatorship. Austin: University of Texas Press.

Agosín, M. (2008): Tapestries of Hope, Threads of Love. Lanham: Rowman & Littlefield.

Bleiker, R. (2017): In Search of Thinking Space – Reflections on the Aesthetic Turn in International Political Theory. Millennium, Vol. 45, Nr. 2, S. 258-264.

Bliesemann de Guevara, B.; Arias Lopez, B. (2019): Biographiearbeit und Textilkunst am Beispiel des kolumbianischen Friedensprozesses. In: Franger, G. (Hrsg.): Alltag, Erinnerung, Kunst, Aktion. Nürnberg: Frauen in der Einen Welt, S. 50-53.

Conflict Textiles Collection; cain.ulster.ac.uk/conflicttextiles/.

Fujii, L. (2017): Interviewing in Social Science Research. New York: Routledge.

Parker, R. (2010): The Subversive Stitch. London: I.B. Tauris.

Rancière, J. (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin: b-books.

Stitched Voices Blog; stitchedvoices.wordpress.com/.

Dr. Christine Andrä ist Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »(Un)Stitching the subjects of Colombia’s reconciliation process« am Department für Internationale Politik der Universität Aberystwyth in Wales.
Dr. Berit Bliesemann de Guevara ist Forscherin und Dozentin am Department für Internationale Politik der Universität Aberystwyth in Wales.

Festung Europa?

Festung Europa?

51. Kolloquium der AFK, 7.-9- März 2019, Erfurt

von Daniel Beck und Alexandra Engelsdorfer

Das 51. AFK-Kolloquium fand vom 7. bis zum 9. März 2019 unter dem Titel »Von der Friedensmacht zur Festung Europa?« im Augustinerkloster in Erfurt statt. Schwerpunktthema bildete das veränderte Verständnis inneren und äußeren Friedens in Bezug auf Europa. Die AFK-Vorsitzende Bettina Engels und Uwe Trittmann von der Evangelischen Akademie Villigst gingen zu Beginn auf die große Resonanz ein, auf die das Thema des Kolloquiums gestoßen war.

Das Tagungsthema kann grob in die Blöcke Selbstverständnis der EU, Konflikte im Inneren und die EU als Akteur auf internationaler Ebene gegliedert werden und wurde von folgenden Leitfragen strukturiert:

  • Ist Europa noch eine normative Friedensmacht? War die EU jemals eine wirkliche Friedensmacht?
  • Inwieweit helfen Theorien der Friedens- und Konfliktforschung, die gegenwärtige Situation in Europa zu verstehen?
  • Was bedeutet die wachsende militärische Zusammenarbeit der EU in einer »Europäischen Verteidigungsunion«?
  • Wie unterdrücken autokratische Regierungen lokale Bevölkerungen und wie kann Europa sich dagegen positionieren?

Oliver Richmond (University of Manchester) eröffnete die Tagung mit einem Keynote-Vortrag zur Zukunft von Peacebuilding als internationales Friedenskonsolidierungskonzept. In einer genealogischen Beschreibung der Peacebuilding-Architektur zeichnete er sechs aufeinander aufbauende Ebenen nach. Dabei zeigte er eine Komplexitätszunahme bezüglich der Aufgaben und der Ausdifferenzierung von Peacebuilding auf, die zu einem Legitimitätsproblem für Peacebuilding und zu einer wachsenden Instabilität des internationalen politischen Systems geführt habe. Für die Zukunft der internationalen
Friedenskonsolidierung prognostizierte Oliver Richmond zwei mögliche Szenarien: entweder eine Rückbesinnung auf das kritische und emanzipatorische Potential von Peacebuilding, orientiert an einer Ausweitung von Menschenrechten, oder aber den Kollaps des UN-basierten Systems Peacebuilding an sich.

Das Kolloquium widmete sich auch dem Weltfrauentag am 8. März mit einigen Programmpunkten. Gabriele Wilde, u.a. Leiterin des Zentrums für Europäische Geschlechterstudien (ZEUGS), trug zu diesem Anlass eine theoretische Betrachtung vor und erläuterte, wie das Autoritäre auf die Zerstörung von Pluralität, Differenz und Vielfalt in den Gesellschaften ausgerichtet ist und damit die Grundlagen für demokratische Geschlechterverhältnisse auflöst. Wilde entwickelte die These, dass es sich beim autoritären Populismus um eine diskursive Praxis handelt, die in ihrer sexistisch und rassistisch
unterlegten, exkludierenden Form in zentralen Bereichen der Gesellschaft wirkt und wesentliche demokratische Grundlagen untergräbt.

Panels

Im Panel zum Thema Militärunion wurde die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) der EU-Mitgliedsstaaten in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorgestellt. Faktisch stelle die PESCO eine von Deutschland und Frankreich dominierte Reorganisation der EU-Militärpolitik dar, die mit einer Aufstockung der Verteidigungshaushalte der teilnehmenden Staaten sowie letztlich einer Förderung der EU-Rüstungsindustrie und der Rüstungsexporte einher gehe, so die Referent*innen.

Auch ein weiteres zentrales Element der aktuellen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde erläutert: der Europäische Verteidigungsfonds, der die Fragmentierung des europäischen Rüstungsmarktes überwinden soll. Der Fonds stellt Gelder für die europäische Rüstungsproduktion bereit und gilt somit als ein weiteres militärpolitisches Element zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben.

Zudem wurde der Nexus von Sicherheit, Migration und Entwicklung in der EU-Politik thematisiert. Nichtregierungsorganisationen und kirchliche Hilfswerke kritisieren, dass »Sicherheit« immer stärker zulasten ziviler Krisenprävention und Entwicklungspolitik gehe. Die Vermischung von Finanzierungsinstrumenten und die damit verbundene Zweckentfremdung von ursprünglich für Entwicklungspolitik ausgewiesenen Mitteln für militärische und polizeiliche Maßnahmen wurde beanstandet.

Besonders kritisiert wurde der Ausbau der europäischen Rüstungsproduktion, ebenso die mangelnde demokratische Kontrolle und Einflussnahme auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Ein Panel zu den EU-Afrika-Beziehungen verdeutlichte, dass die EU ihre Partner nicht nach der Größe der Organisation wählt, sondern verstärkt auch Kooperationen mit kleineren Organisationen eingeht, mit denen sich die eigenen Interessen zielgerichteter umsetzen lassen. Insgesamt sei zunehmend eine Verquickung von Ausgaben für Entwicklungs- und Sicherheitspolitik zu beobachten, was im Sinne einer Politikkohärenz problematisch sei, so die Referenten. Daraus wurden zwei Schlüsse gezogen: Es gibt eine Zunahme an Pluralität und Heterogenität der Akteursgruppen und es findet eine stärkere
Militarisierung der Außenpolitik statt.

Zudem gab es Panels zu Themen, die über das Tagungsthema hinausreichten. Dazu zählten zum Beispiel Narrative in Konflikten oder Konfliktakteure und die Rolle von Popkultur und (Selbst-) Inszenierung.

Roundtable

Ein Roundtable beschäftigte sich mit konzeptionellen Fragen in Bezug auf die EU. Darin wurde das spezifische Wirken der EU als Zivilmacht durch die institutionelle Gestalt der EU thematisiert. Insbesondere seit dem Vertrag von Maastricht habe die Bürokratie innerhalb der EU immer größeren Einfluss bekommen, und die EU sei zunehmend als internationaler Akteur aufgetreten. Da an der Spitze der EU Kollektivgremien die Entscheidungsgewalt hätten, würden stets Kompromisse benötigt, um agieren zu können. Es wurde geschildert, dass ein genereller Krisendiskurs über die EU zu beobachten sei, und es
wurde für eine Abkehr vom starren Akteursbegriff argumentiert, da die EU in sehr verschiedenen Politikfeldern aktiv sei und sich in jedem Feld anders verhalte. Die EU müsse Ian Manners folgend als »normative Macht« gesehen werden, daher solle bei der Beobachtung ihrer Aktivitäten ein stärkerer Fokus auf Sprache und Diskurse gelegt werden, so eine Referentin. Aus deklaratorischer Sicht wurde die EU als Friedensmacht gesehen. Bei der Unterstützung schwacher Demokratien und durch die Osterweiterung konnten Erfolge erreicht werden, welche jedoch in der Vergangenheit liegen. Aktuell gebe es eher
ambivalente Wirkungen der EU. Die EU fokussiere sich zunehmend auf technische Kooperationen anstatt auf Demokratieforderungen.

Die Diskussion zeigte, dass eine europäische Armee bei ungelösten inneren Streitigkeiten nicht handlungsfähig sein kann.

Rajewsky-Preis

In diesem Jahr wurden zwei Forscher*innen mit dem Christiane-Rajewsky-Preis ausgezeichnet. Elisabeth Bunselmeyer erhielt den Preis für ihre Dissertation »Trust Repaired? The Impact of the Truth and Reconciliation Commission and the Reparation Program on Social Cohesion in Post-Conflict Communities of Peru«. Zweiter Preisträger ist Robin Markwica, Universität Oxford, für seine Schrift »Emotional Choices: How the Logic of Affect Shapes Coercive Diplomacy«.

Daniel Beck und Alexandra Engelsdorfer

Debating Postcolonialism

Debating Postcolonialism

Workshop des AK Theorie der AFK, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 1.-2.2.2019

von Hartwig Hummel, Lotta Mayer und Frank A. Stengel

Was können de- und postkoloniale Perspektiven zur Friedens- und Konfliktforschung (FKF) beitragen? Was bedeutet de- und postkoloniale Kritik für bestehende Ansätze und zentrale Analysebegriffe der FKF?

Mit diesen Fragen beschäftigte sich aus der Perspektive der deutschsprachigen, in der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) organisierten FKF der zweitägige Workshop des AK Theorie der AFK, der am 1. und 2. Februar 2019 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattfand und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert wurde. Der Ausgangspunkt des Workshops »Debating Postcolonialism – Eine kritische Auseinandersetzung mit postkolonialen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung« war die Beobachtung, dass die international in sehr vielen
Disziplinen sehr lebhafte Debatte um de- und postkoloniale Perspektiven in der deutschsprachigen FKF – im Unterschied zur englischsprachigen – wenig rezipiert wird. Zwar fanden die genannten Ansätze mittlerweile in Form von Publikationen Eingang in die deutschsprachige FKF (vgl. etwa den von Cordula Dittmer 2018 herausgegebenen ZeFKo-Sonderband »Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung«), doch ihre Rezeption ist nach wie vor sehr begrenzt. Erstens ist die Anzahl von de- und postkolonialen Beiträgen bislang noch sehr überschaubar; zweitens
ist zu beobachten, dass eine systematische – ob nun affirmative oder kritische – inhaltliche Auseinandersetzung mit solchen Perspektiven bisher, wenn überhaupt, in nur sehr geringem Maß stattfindet.

Dies ist insofern überraschend, als de- und postkoloniale Perspektiven zum einen mit ihrer Kritik an der Fortschreibung kolonialer Hierarchien zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“ (Stuart Hall) durch westliche »Friedens-« und »Entwicklungs-« Politik – einschließlich ihrer teilweise sehr gewalt­reichen Folgen, welche ihre Bezeichnung konterkarieren – einen zentralen Analysegegenstand der FKF ins Visier nehmen. Mehr noch: Teils stellen die genannten Politikbereiche auch ein Betätigungsfeld der FKF dar, insofern diese sich auch als praktische Wissenschaft
versteht. Gerade vor diesem Hintergrund wäre zum anderen zu erwarten, dass die FKF (und zwar auch die deutsche) darüber diskutiert, ob die von Vertreter*innen post- und dekolonialer Ansätze konstatierte Verstrickung akademischer Wissensproduktion in die Reproduktion von Eurozentrismus und Kolonialität auch in der FKF vorzufinden bzw. in manche ihrer zentralen Begriffe eingeschrieben ist. Dies wäre umso mehr zu erwarten, als die FKF, wie Christoph Weller argumentiert, eine „reflexive Wissenschaft“ ist, d.h. eine Wissenschaft, die kritisch ihre eigene Wissensproduktion hinterfragt.
Jedoch finden diese Auseinandersetzungen, soweit wir das überblicken, bislang allenfalls sehr randständig statt.

Vor diesem Hintergrund war es das Ziel des Workshops, Vertreter*innen de- und postkolonialer Ansätze mit Friedensforscher*innen zusammenzubringen, die sich bislang nicht oder nicht primär mit solchen Ansätzen befasst haben, um die theorieübergreifende Debatte über de- und postkoloniale Perspektiven voranzutreiben – aber nicht über die Köpfe von deren Vertreter*innen hinweg, sondern im Dialog mit ihnen. Gemeinsam sollte der Beitrag de- und postkolonialer Ansätze zur FKF, aber auch deren Grenzen, ausgelotet werden. Nachfolgend fassen wir zentrale Diskussionspunkte, Schlussfolgerungen
und offene Fragen zusammen, die unserer Ansicht nach von übergreifendem Interesse für die FKF sind.

Zentrale Diskussionspunkte waren (1) die Frage nach dem Verhältnis von kritischen und postkolonialen Ansätzen in der FKF, (2) die Vor- und Nachteile eines um den Begriff der »epistemischen Gewalt« erweiterten Gewaltbegriffs, womit auch die Frage nach der Möglichkeit gewaltfreier Wissenschaft überhaupt angesprochen war, und (3) die wiederum damit verbundene Frage der Bewertung von westlicher Moderne und Rationalität überhaupt.

Kritische und postkoloniale Ansätze in der FKF

Da die meisten, wenn nicht sogar alle, Workshop-Teilnehmer*innen sich explizit selbst als Vertreter*innen einer kritischen FKF verstanden, waren die miteinander verbundenen Fragen, worin post- und dekoloniale Ansätze mit anderen kritischen Ansätzen übereinstimmen, wo zentrale Unterschiede liegen und was erstere entsprechend einer kritischen FKF noch hinzufügen, von wesentlichem Interesse. Übereinstimmung bestand dahingehend, dass die FKF in zwei Dimensionen kritisch sein müsse: zu den sozial hergestellten Gegebenheiten, die sie in ihrem Feld vorfindet (also zum empirischen Gegenstand), als
auch zu sich selbst. In beiden Dimensionen, auch hier waren die Diskutierenden sich einig, leisten post- und dekoloniale Ansätze einen wichtigen Beitrag.

Besonders lebhaft entwickelte sich die Debatte im Hinblick auf die spezifischen forschungsethischen Folgerungen, die sich aus einer post- bzw. dekolonialen Sichtweise ergeben. Konsensuell war die Forderung, vorab das persönliche Erkenntnisinteresse und den eigenen Standpunkt zu reflektieren und nicht bloß den jeweiligen Fall weiterhin aus einer distanzierten Perspektive zu analysieren. Kontrovers diskutiert wurde dagegen der Versuch, sich vermeintlich authentischer, vorkolonialer Begriffe und Bewertungen zu bedienen. Allerdings verwiesen die anwesenden Vertreter*innen postkolonialer
Perspektiven darauf, dass auch die Orientierung an universalistischen, global geltenden Werten, wie z.B. den Menschenrechten, angesichts von deren Entstehungszusammenhang in der mit dem Kolonialismus eng verwobenen westlichen Aufklärung keinesfalls unproblematisch sei.

Michaela Zöhrer wies in ihrem Papier einige Punkte zurück, die sehr häufig aus der Perspektive anderer kritischer Ansätze an postkolonialen Studien vorgebracht werden (insbesondere den einer Ausblendung materieller Ungleichheiten durch einen bloßen Fokus auf symbolische Ungleichheit). Auf der anderen Seite warf Hartwig Hummel die grundsätzliche Frage nach dem Standpunkt postkolonialer Kritik auf: Wo verorteten sich denn de- und postkoloniale Ansätze selbst in der Wissenschaft, wenn sie doch gleichzeitig behaupteten, dass die Wissenschaft als Teil der Moderne durch und durch kolonial
durchdrungen sei?

Die Diskussion nach dem Standpunkt de- und postkolonialer Ansätze führte zum grundlegenden epistemologischen bzw. metaethischen Problem aller »kritischen« (auch z.B. feministischen oder kapitalismuskritischen) Ansätze, nämlich der Frage, inwieweit Wissenschaftler*innen es vermögen, einen Diskurs kritisch zu reflektieren und ihm widersprechende Positionen zu formulieren, wenn sie doch im Foucault’schen Sinne durch ihn erst objektiviert (zu Subjekten gemacht) werden. Denn bei aller Heterogenität teilen kritische Ansätze ja die Annahme, dass es eben keinen Archimedischen Punkt außerhalb von
Gesellschaft gibt, von dem aus letztere objektiv beobachtet werden könnte.

Epistemische Gewalt: Kann Wissenschaft gewaltfrei sein?

Ein weiterer Gegenstand intensiver Diskussion war der Begriff der »epistemischen Gewalt« in Claudia Brunners Beitrag. Brunner versteht darunter den „Beitrag zu gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, der im Wissen selbst, in seiner Genese, Ausformung, Organisation und Wirkmächtigkeit angelegt ist“ (Brunner 2015: Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie. In: Friedensforschung in Österreich, hrsg. von Wintersteiner und Wolf; S. 39). Diese Debatte verweist zunächst auf die (für die FKF nicht ganz neue) Frage der
Vor- und Nachteile einer Erweiterung des Gewaltbegriffs. Einerseits geht es dabei um das Bemühen, die Rolle von Wissen bzw. Diskursen, Kultur usw. beim Entstehen und dem Fortbestand von physischer Gewalt ernst zu nehmen; andererseits führt dies zum Problem der Unterscheidbarkeit von angrenzenden Phänomenen, wie sozialer Ungleichheit, und zur Sorge, ob eine Erweiterung des Gewaltbegriffs möglicherweise auch für Delegitimierungsstrategien genutzt werden könnte, wie in der Diskussion insbesondere Klaus Ebeling hervorhob. Allerdings gingen Brunners Beitrag und die an ihn anschließende Diskussion
in mehreren zentralen Aspekten über die in der FKF etablierten erweiterten Gewaltbegriffe hinaus. Erstens kritisierte Brunner Johan Galtungs Konzept der kulturellen Gewalt als ein Beispiel für Eurozentrismus. Zweitens wurde heftig diskutiert, inwieweit Galtung vorgeworfen werden könne, selbst Wissen unsichtbar gemacht zu haben, indem er zwar de- und postkoloniale Argumente aufgenommen habe, dies allerdings nur in relativ holzschnittartiger Weise und ohne die Quellen derart zu nennen, dass die Herkunft der Argumente nachvollzogen werden könne. Drittens stellte Brunner die grundsätzlichere
Frage, inwieweit epistemische Gewalt überhaupt jemals vollkommen vermieden werden könne und, damit verbunden, ob gewaltfreie Wissenschaft überhaupt möglich sei. In seinem Kommentar bezweifelte Christoph Weller jedoch, dass die Dekonstruktion wissenschaftlicher Autorität durch die Offenlegung impliziter Annahmen und inhärenter Widersprüche – ein zentraler Anspruch vieler »kritischer« Analysen – aus methodologischer Sicht überhaupt möglich sei und wenn doch, ob diese automatisch zu einer Reduktion epistemischer Gewalt führe.

Die hier aufgeworfene Frage der (Mit-) Verantwortung von Wissenschaft zog sich als eine zentrale Diskussionslinie durch die gesamte Tagung. Alke Jenss und Ruth Streicher erinnerten an die Verquickung der Entstehungsprozesse von moderner Wissenschaft, Kolonialismus und Kapitalismus. Ebenso wurde darauf verwiesen, dass Wissenschaft dazu genutzt wurde und wird, andere Wissensformen und -bestände insbesondere in den Ländern des Globalen Südens zu delegitimieren. Während in diesem Punkt weitgehend Einigkeit unter den Tagungsteilnehmer*innen bestand, blieb jedoch die Frage nach den Konsequenzen
einer inhärenten Gewaltsamkeit von Wissenschaft für den von ihr erhobenen Wahrheitsanspruch und für ihr emanzipatorisches Potential offen. Soll Wissenschaft ihren Wahrheitsanspruch – der, hier bestand Einigkeit, nur kontingenterweise auch eingelöst werden kann – aufgeben? Oder ist der Wahrheitsanspruch im Gegenteil konstitutiv auch für die Möglichkeit von Emanzipation im Sinne der Überwindung bestehender Abhängigkeiten und Machtungleichgewichte und als solcher gerade auch in emanzipatorischer Absicht aufrechtzuerhalten, trotz aller Uneinlösbarkeit und aller Ambivalenz infolge der
Instrumentalisierbarkeit von Wissenschaft und ihrer Ergebnisse? Hier wurden sehr unterschiedliche wissenschaftstheoretische Positionen erkennbar, die eine vertiefende Diskussion lohnen würden.

Zur Bewertung der Moderne

In einem engen Zusammenhang mit dieser wissenschaftstheoretischen Frage stand die noch grundlegendere Auseinandersetzung über die Definition und Bewertung moderner Rationalität. Hier wurden sehr grundlegende Differenzen zwischen einigen der Tagungsteilnehmer*innen sichtbar – wobei, dies soll hier ausdrücklich betont werden, die Trennlinie keinesfalls einfach zwischen Vertreter*innen postkolonialer Ansätze und »dem Rest« verlief. Die zentrale und in sehr unterschiedlicher Weise beantwortete Frage lautete letztlich – in Anlehnung an Jürgen Habermas reformuliert –, ob die
westliche Rationalität mit der instrumentellen Rationalität, die konstitutiv für Kapitalismus und Kolonialismus war, zusammenfalle oder ob dies nicht der Fall sei, weil auch noch andere Formen der Rationalität bestünden. Klaus Ebeling argumentierte, dass die westliche Moderne nicht nur von einem Zugewinn an Verfügungswissen getragen sei, sondern auch von einem Zugewinn an Reflexionswissen. Der Zugewinn an Reflexionswissen, von dem die moderne Wissenschaft ein Teil sei, bedeute auch ein Potential für Emanzipation.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Auseinandersetzung mit de- und postkolonialen Perspektiven von den Teilnehmenden als notwendig und gleichzeitig nutzbringend für die eigene Arbeit gesehen wurde – insbesondere hinsichtlich der Sensibilisierung für Selbstreflektion, die zwar in der FKF durchaus thematisiert wird, aber nicht notwendig in Forschung und Lehre ausreichend Beachtung findet. Gleichzeitig muss ebenso festgehalten werden, dass der Workshop mehr Fragen, auch sehr grundlegender wissenschafts- und gesellschaftstheoretischer Art, aufgeworfen als beantwortet hat. Er kann
nur Anfangspunkt eines ungleich breiteren Verständigungsprozesses innerhalb der FKF sein, den es noch anzustoßen gilt. Denn auch wenn durchaus kontrovers über einzelne Aspekte diskutiert wurde, bestand grundsätzliche Einigkeit darin, dass die FKF gut daran täte, de- und postkoloniale Argumente ernst zu nehmen. Insbesondere die Kritik des Eurozentrismus und der nachdrückliche Hinweis auf eine mögliche unbeabsichtigte Fortschreibung von Kolonialität auch in Forschung und Lehre sind für eine FKF wichtig, die sich dem Ideal der Gewaltfreiheit verschrieben hat, denn eine unzureichende Reflexion
birgt letztlich das Risiko, dass die FKF durch die unbeabsichtigte Legitimierung gewaltsamer Verhältnisse ihre eigenen Bemühungen untergräbt.

Hartwig Hummel, Lotta Mayer und Frank A. Stengel

Sackgassen in Venezuela


Sackgassen in Venezuela

von Stefan Peters

Venezuela ist Schauplatz politischen Scheiterns. Die aktuelle Regierung hat das Land in die schwerste wirtschaftliche und soziale Krise seiner Geschichte manövriert und greift auf autoritäre Maßnahmen des Machterhalts zurück. Die Opposi­tion konnte trotz massiver interna­tionaler Unterstützung aus der Krise kein Kapital schlagen. Damit haben sich auch die Außenpolitiker*innen und eine Reihe politischer Analyti­ker*innen dies- und jenseits des Atlantiks verspekuliert. Die deutsche Außenpolitik hat sich im Fahrwasser der USA und verschiedener konservativer Regierungen aus Lateinamerika gar ins diplomatische Abseits manövriert. Kurz: Venezuela ist ein Land der Sackgassen. Für politische Lösungen braucht es nun mutige politische Entscheidungen sowie die Rückkehr zu Sachthemen.

Die Bolivarische Revolution in Venezuela1 ist gescheitert, und seit Jahren übt sich die Regierung von Maduro vor allem in den Disziplinen Krisenmanagement und Machterhalt. Alle sozio-ökonomischen Makrodaten sind drastisch abgestürzt. Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Nach langem Schweigen publizierte die venezolanischen Zentralbank auf Druck des Internationalen Währungsfonds vor kurzem erneut statistische Daten. Das Bruttoinlandsprodukt ist demnach zwischen Ende 2014 und dem dritten Quartal 2018 um etwa 55 % geschrumpft und die Inflation außer Kontrolle geraten (Banco Central 2019). Nicht-offizielle Studien malen ein noch dunkleres Bild und verweisen vor allem auf die rasant steigenden Armutszahlen. Demnach leben – angesichts dramatisch gesunkener Reallöhne – mittlerweile fast 90 % der Venezolaner*innen in Armut. Diese Daten sind der statistische Ausdruck einer dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Situation. Die Produktion im Land liegt am Boden, und die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, alltäglichen Konsumgütern und vor allem Medikamenten kann bei Weitem nicht sichergestellt werden. Auch die Versorgung mit Wasser und Strom ist äußerst prekär. Kurz: Die Bolivarische Revolution gleicht einem Scherbenhaufen. Wie konnte es dazu kommen?

Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution

Noch vor wenigen Jahren löste die Bolivarische Revolution in Venezuela Hoffnungsstürme innerhalb der internationalen Linken aus. Unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez (1999-2013) fand in dem südamerikanischen Land ein beachtlicher Politikwandel statt. Im Kontext einer schweren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise, die das Land in den 1980er und 1990er Jahren erlebte, distanzierte sich Chávez vom Neoliberalismus und wies dem Staat erneut eine stärkere Rolle in der Wirtschaft zu. Weiterhin stellte er die soziale Frage in den Mittelpunkt und versprach die Situation der benachteiligten Bevölkerung zu verbessern sowie die schreienden Ungleichheiten zu reduzieren. Zudem wurde die vormals elitenzentrierte Demokratie runderneuert und es wurden innovative politische Partizipationsmöglichkeiten eingeführt. Auf der internationalen Ebene wurde Venezuela bald zum Aushängeschild der lateinamerikanischen Linkswende. Chávez spielte geschickt auf der Klaviatur lateinamerikanischer Solidarität, kooperierte verstärkt mit Kuba sowie bald mit anderen linksgerichteten Regierungen Lateinamerikas und würzte seine Politik mit einer starken Prise Antiimperialismus, ohne dabei die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA in Frage zu stellen.

Die Richtungsverschiebung hatte politische Konflikte mit den traditionellen Eliten zur Folge. Der Konflikt eskalierte jedoch erst, als Präsident Chávez seine Erdölpolitik änderte und sich die Kontrolle über die Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PdVSA sicherte. Als Reaktion kam es im April 2002 zu einem Putschversuch sowie nach dessen Scheitern zu einem wirtschaftlich desaströsen Streik der Erdölindustrie. Chávez gewann den Machtkampf und überstand im Jahr 2004 auch ein Abwahlreferendum. Im Anschluss begann das kurze »Goldene Zeitalter« des Chavismus. Im Kontext steigender Erdölpreise auf dem Weltmarkt erzielte Venezuela hohe Wachstumsraten. Die vollen Staatskassen wurden unter anderem für den Ausbau sozialpolitischer Maßnahmen genutzt und ermöglichten beachtliche soziale Entwicklungserfolge. Dies wurde ergänzt von der Förderung vormals unbekannter Formen der politischen Beteiligung insbesondere der sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Chávez gab der Bevölkerung damit nicht nur Brot, sondern auch eine Stimme, und sicherte sich so Unterstützung und Loyalität (Burchardt 2016).

Der Fokus auf die erfolgreiche sozialpolitische Bilanz sowie die Wachstumszahlen versperrte jedoch vielen den Blick auf die Leerstellen der chavistischen Politik. Insbesondere konnte auch der Chavismus nicht mit der jahrzehntelangen Erdölabhängigkeit des Landes brechen. Im Ergebnis hat sich die Erdölabhängigkeit Venezuelas während der Bolivarischen Revolution sogar nochmals gesteigert. Die Rohstoffexporte machen mittlerweile etwa 98 % der Gesamtausfuhren des Landes aus. Dies war gerade in Zeiten des jüngsten Erdölbooms angesichts hoher Preise für das Hauptexportprodukt verschmerzbar, schließlich waren die sprudelnden Erdöleinnahmen der Treibstoff der Erfolge des Chavismus. So wurde der Import von Konsumgütern über die Vergabe von verbilligten Dollars massiv subventioniert. Dies ermöglichte während des Booms auch Venezolaner*innen aus bescheidenen Verhältnissen den wachsenden Konsum von Importartikeln und ließ die Sektkorken in den Konzernzentralen einer Reihe von multinationalen Unternehmen in der Automobil-, Pharma- oder Kosmetikbranche sowie von Fluglinien knallen (Peters 2019, S. 143).

Doch spätestens mit dem Einbruch der Rohstoffpreise zeigten sich die Fallstricke der Ausrichtung auf das extrak­tivistische Entwicklungsmodell. Die einseitige Abhängigkeit vom Erdölexport sowie spiegelbildlich die extreme Abhängigkeit vom Import von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Konsumgütern wurde zum entwicklungspolitischen Bumerang und ließ das Land fast unweigerlich in eine schwere Krise stürzen. Doch der Preisverfall ist nicht der einzige Grund für die chavistische Bruchlandung. Ein zentraler Faktor ist zudem der massive Rückgang der Fördermengen. Weltweit werden zwar die größten Erdölreserven verzeichnet, das venezolanische Fördervolumen ist aber stark rückläufig und erreicht aktuell nur etwa 25 % der Vergleichszahlen aus der Zeit zwischen 2004 und 2015. Niedrige Preise und stark rückläufige Exportmengen haben die Staatskassen austrocknen, die Wirtschaft erlahmen und die soziale Situation explodieren lassen (Peters 2019).

Die Regierung von Maduro relativiert die Krise und erklärt die Probleme mit Verweis auf einen anhaltenden »Wirtschaftskrieg« sowie die aggressive Politik der USA und ihrer Verbündeten im In- und Ausland gegen die Bolivarische Revolution. Auf diese Weise vermeidet sie zugleich die schmerzhafte Entzauberung der revolutionären Ikone Hugo Chávez. Um Missverständnissen vorzubeugen: Zweifellos verschärfen die Sanktionen die aktuelle Notlage, sie sind jedoch nicht ursächlich für die Krise. Diese ist vielmehr hausgemacht, und ihre Ursprünge reichen in die Regierungszeit von Hugo Chávez zurück. Fehlgeschlagene wirtschaftliche Diversifizierungsinitiativen und die praktische Förderung des Importsektors gegenüber dem Aufbau von Produktionskapazitäten haben den Aufbau eines alternativen wirtschaftlichen Standbeins unterminiert. Zudem beschränkte sich die Regierung vor allem auf die Verteilung der Rohstoffeinnahmen und leitete einen größeren Teil der wachsenden Erdöleinnahmen an die sozial benachteiligte Bevölkerung auf dem Land und in den urbanen Armutsvierteln weiter. Strukturreformen zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums blieben jedoch aus. So stand etwa eine Steuerreform mit dem Ziel einer stärkeren Besteuerung von Kapital, Vermögen und hohen Einkommen nicht auf der politischen Agenda. Nach dem Einbruch der Erdöleinnahmen trockneten die Staatskassen schnell aus, und es fehlt zudem an den notwendigen Devisen zur Einfuhr von Nahrungsmitteln, Konsumgütern, Hygieneartikeln und Medikamenten. Hieraus folgt zwangsläufig eine Versorgungskrise.

Aktuell sucht die Regierung von Maduro händeringend nach neuen Investitionen und preist dafür die reichhaltigen Rohstoffvorkommen (Gold, Kupfer, Diamanten, Koltan, Eisen etc.) internationalen Investoren zu Schleuderpreisen an – mit überschaubarem Erfolg. Zur Sicherung ihrer Macht greift die Regierung zudem zu offen autoritären Maßnahmen. Eigene Ansprüche an eine Vertiefung der Demokratie wurden längst auf dem Altar des Machterhalts geopfert, die von der Opposition dominierte Nationalversammlung wurde entmachtet, und mittlerweile gehört auch politisch motivierte Repression zum Repertoire der Regierung. Kritik aus den eigenen Reihen wird entweder ignoriert oder an den Rand gedrängt, und gleichzeitig hat sich die Regierung immer stärker den Militärs zugewandt.

Venezolanische Sackgassen

Die Politik der venezolanischen Regierung hat progressive Ansprüche längst über Bord geworfen, und der Machterhalt ist zum Selbstzweck geworden. Dabei zeigt sich, dass der einstige Busfahrer Nicolás Maduro entgegen der vorherrschenden Meinung ein begabter Politiker ist, der sich trotz einer heftigen Krise, massiven internationalen Drucks und einer aggressiven Opposition als Präsident behauptet und weiterhin von einer relevanten Minderheit der Venezolaner*innen unterstützt wird. Doch Lösungen für die strukturelle Krise hat Maduro nicht anzubieten. Auswege aus der Sackgasse können nur ohne den Präsidenten und die chavistische Führungsriege erfolgen und brauchen den Druck der Basis. Sollte es Maduro um die ursprünglichen Zielsetzungen der Bolivarischen Revolution – wirtschaftliche Diversifizierung, Reduzierung sozialer Ungleichheiten, politische Partizipation und Korruptionsbekämpfung – gehen, müsste er den Weg für die Suche nach progressiven politischen Alternativen öffnen und den eigenen Machtanspruch aufgeben.

Maduros stärkster Trumpf im venezolanischen Machtpoker ist jedoch seit jeher die Schwäche der Opposition. Dies sollte sich auch in der politischen Krise zu Beginn des Jahres 2019 bestätigen. Juan Guaidó gelang mit seiner Ausrufung zum selbsternannter Interimspräsidenten am symbolträchtigen 23. Januar2 des Jahres 2019 zweifellos ein politischer Coup. Guaidó brachte Maduro dank der massiven Unterstützung der USA, verschiedener konservativer Regierungen Lateinamerikas und vieler europäischer Staaten ins Taumeln. Doch Maduro fiel nicht. Zwar gelang es Guaidó innerhalb kürzester Zeit, vom unbekannten Jung­star zum Oppositionsführer aufzusteigen und große Massendemonstrationen anzuführen. Doch seine politische Basis blieb beschränkt. Insbesondere erhielt Guaidó jenseits der Oppositionshochburgen in den Mittel- und Oberschichtsvierteln nicht die erhoffte massive politische Unterstützung. Guaidó deutete die Ablehnung und Enttäuschung von der Politik Maduros als Unterstützung seiner Person fehl und versuchte bald, den bröckelnden Rückhalt durch immer weitere Eskalationen zu kompensieren. Dies ­gipfelte am 30.4.2019 in einem dilettantischen Putschversuch gegen die Regierung von Maduro. Damit stellten Guaidó und der radikale Teil der Opposition zugleich ihr instrumentelles Verhältnis zur Demokratie unter Beweis. Dass Guaidó dennoch von der Regierung nicht inhaftiert wurde, stellt sich zunehmend als gekonnter Schachzug des Präsidenten heraus: Nach seinem schnellen Aufstieg verlor Guaidó rasch an politischem Gewicht, taugt aber immer noch zur fortwährenden Spaltung der Opposition.

Abgesehen von den notorischen internen Machtkämpfen hat die Opposition jenseits des Regierungswechsels auch programmatisch wenig anzubieten. In vielerlei Hinsicht wird der Chavismus von der Opposition weiterhin als ein Unfall der Geschichte wahrgenommen, und dies wird mit dem Wunsch verbunden, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und eine aktualisierte Variante der IV. Republik (1958-1998) zu schaffen. Breite Teile der Opposition übersehen, dass der Chavismus eine Zeitenwende für die venezolanische Politik darstellt und die soziale Basis des Chavismus auch in der Zukunft ein wichtiger politischer Faktor im Land sein wird. Zu Beginn des Jahres 2019 wurde mit dem »Plan País« von Guaidó zwar ein Programm für den »Tag danach« vorgelegt. Dieser ist jedoch wenig konkret und beinhaltet jenseits von Worthülsen aus der Feder politischer Kommunikationsagenturen vor allem die Hoffnung auf internationale Unterstützung und Investitionen, die Förderung von Privatisierungen sowie das Festhalten am Entwicklungsmodell Erdölexport. An diesem Punkt sind sich die sonst verfeindeten Regierungs- und Oppositionspolitiker*innen einig: Die Zukunft des Landes bleibt eng verbunden mit der Ausbeutung und dem Export von Rohstoffen. Gerade hiermit ist jedoch eine Reihe der strukturellen Probleme des Landes verbunden.

Die deutsche Außenpolitik in der Sackgasse

Auch die deutsche Außenpolitik befindet sich in Venezuela in einer Sackgasse. Schon wenige Tage nachdem sich Guaidó zum Interimspräsidenten Venezuelas ausgerufen hatte, wurde er von der deutschen Bundesregierung als Präsident des Landes anerkannt und bald von der deutschen Botschaft in Venezuela hofiert. Die offensichtliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes quittierte die Regierung von Maduro mit der Ausweisung des deutschen Botschafters, der erst Ende Juni nach Caracas zurückkehren konnte. Die Bundesrepublik hat sich mit der Positionierung für Guaidó im venezolanischen Machtkampf nicht nur offensichtlich verspekuliert. Sie hat sich zudem ins politische Abseits manövriert und ohne Not diplomatische Handlungsspielräume aus der Hand gegeben.

Die Anerkennung Guaidós durch die Bundesrepublik hat jedoch weiterreichende Folgen, da sie nicht nur nach Meinung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags völkerrechtlich mindestens fragwürdig ist und zudem eine Abkehr von der Praxis deutscher Außenpolitik darstellt, Staaten und nicht Regierungen oder Präsidenten anzuerkennen (Wissenschaftliche Dienste 2019; Telser 2019). Diese Kehrtwende ist auch aus politischer Sicht problematisch. Außenminister Heiko Maas sprach sich in seiner Amtszeit immer wieder deutlich für diplomatische Lösungen und die Bedeutung der Achtung des internationalen Rechts aus. Anlässlich seiner Lateinamerikareise im April 2019 schrieb er in einem Gastkommentar für den Tagesspiegel: „In einer Welt, in der das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts ersetzt, können wir nur verlieren.“ (Maas 2019) Zumindest in Lateinamerika wurde diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der deutschen Politik sehr deutlich wahrgenommen. Die Positionierung in Venezuela gefährdet so die Glaubwürdigkeit einer (völker-) rechtsbasierten deutschen Außenpolitik.

Lösungsansätze

Der venezolanische Machtkampf wird auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Im Fokus stehen die Namen und Köpfe an der Spitze, während Sachthemen zur Lösung der tiefen Krise im Land kaum Beachtung finden. Doch gerade die Fokussierung auf einzelne Personen behindert den Weg zu politischen Alternativen für die kurzfristige Krisenbearbeitung sowie eine mittel- und langfristige Strategie zur Überwindung der hartnäckigen Probleme des Landes. Maduro und Guaidó sind hier jeweils eher Teil des Problems denn der Lösung. Es muss deshalb darum gehen, gesprächsbereite Kräfte auf beiden Seiten einzubinden und auf der Basis von Sachthemen die zentralen Fragen für die Zukunft des Landes ergebnisoffen zu diskutieren.

An Themen mangelt es nicht: Es geht um die Gründe für die fatale Reduzierung der Fördermengen, aber eben auch um die Entwicklung von gangbaren Alternativen jenseits der Rohstoffförderung. Im sozialen Bereich muss kurzfristig die Armut reduziert, aber mittel- und langfristig die soziale Ungleichheit abgebaut werden. Zudem gilt es, stärkere Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung jenseits klientelistischer Vereinnahmungen zu schaffen, den Einfluss des Militärs auf Wirtschaft und Politik zu reduzieren sowie Maßnahmen zur gewaltfreien Konfliktlösung zu stärken. Doch es kann hier nicht darum gehen, eine Agenda vom Schreibtisch aus zu entwerfen. Im Gegenteil: Die Themen müssen vor allem aus der venezolanischen Bevölkerung kommen. Die deutsche Außenpolitik könnte solche Prozesse der Versachlichung der Debatte unterstützen. Eine Voraussetzung hierfür ist jedoch ein diplomatischer Kurs, der nicht auf die Unterstützung fragwürdiger Einzelner, sondern auf den Dialog mit vielen setzt.

Anmerkungen

1) Der Begriff der Bolivarischen Revolution bezieht sich auf den politischen Prozess unter den Präsidenten Hugo Chávez (1999-2013) und Nicolás Maduro (2013 bis heute). Der Begriff nimmt das Erbe des venezolanischen Nationalhelden Simón Bolívar auf und wurde von Chávez eingeführt, um den Bruch mit der vorherigen IV. Republik auszudrücken. Am Beginn der Bolivarischen Revolution wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und verabschiedet. Für eine umfassende Analyse der Bolivarischen Revolution siehe Peters (2019).

2) Am 23.1.1958 wurde die Diktatur von Marcos Pérez Jiménez gestürzt und damit der Weg für die venezolanische Demokratie und die IV. Republik (1958-1998) geebnet. Der 23. Januar ist auch Namensgeber für eine bekanntes Armenviertel in Caracas (23 de enero), in dem der Chavismus tief verankert ist.

Literatur

Banco Central de Venuela (2019): Producto Interno Bruto; bcv.org.ve/estadisticas/producto-interno-bruto.

Burchardt, H.-J. (2016): Zeitenwende? Lateinamerikas neue Krisen und Chancen. Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2016, S. 4-9.

Maas, H. (2019): „Für uns steht viel auf dem Spiel“ – Heiko Maas plädiert für eine neue trans­atlantische Allianz. Tagesspiegel, 29.4.2019.

Peters, S. (2019): Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela – Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Telser, D. (2019): „Anerkennung hat keine Wirkung“ – Interview mit Kai Ambos. tagesschau.de, 13.2.2019.

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2019): Sachstand – Zur Anerkennung ausländischer Staatsoberhäupter. Dokument WD 2 – 3000 – 014/19, 7.2.2019.

Prof. Dr. Stefan Peters ist Politikwissenschaftler und Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und wissenschaftlicher Direktor des Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ) in Bogotá.

Volksrepublik China


Volksrepublik China

Zivilisationsanspruch und Wahrnehmung hybrider Bedrohung

von Doris Vogl

China wird zunehmend mit hybrider Kriegsführung im Hochtechnologie-Bereich in Zusammenhang gebracht; die Position Pekings bleibt jedoch zumeist unterbelichtet. Im Sinne eines ausgewogenen Diskurses sollen daher im Folgenden grundlegende chinesische Begrifflichkeiten und Sichtweisen zum Thema Sicherheitspolitik näher untersucht werden.

Zunächst eine Vorbemerkung zum Begriff »Hybride Kriegsführung«. Dazu ein kurzer Rückblick auf die 1980er Jahre, als in der Politikwissenschaft der Begriff »Kriegsführung mit niedriger Intensität« (low intensity warfare) äußerst kontrovers diskutiert wurde. Der damalige US-amerikanische Referenzrahmen für »low intensity warfare« beinhaltete nicht-gewaltsame Mittel zu Zwecken von Information und Desinformation oder gesellschaftlicher Destabilisierung ebenso wie das außenpolitische Instrument des massivem wirtschaftlichen Drucks (Embargo, Strafzölle etc.) (vgl. Klare und Kornbluh 1987). Das Low-intensity-Konzept der Reagan-Ära leitete sich seinerseits aus dem Konzept »Counterinsurgency« ab, das auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges nach der Kubanischen Revolution 1959 aufkam.

Die Jahrzehnte davor war im sicherheitspolitischen Kontext der Begriff »Interventionismus« weit verbreitet. Auch in diesem Kontext spielten Operationen und Täuschungsmanöver auf der medialen oder psychologischen Ebene eine wesentliche Rolle. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Diskurs über »Hybride Kriegsführung« ein Phänomen betrifft, welches im Lauf der Jahrzehnte bereits mehrere Begrifflichkeiten durchlaufen hat. Die strategische Ausrichtung ist dabei dieselbe geblieben, der Instrumentenkoffer weist allerdings einen zeitgemäßen technologischen Wandel auf.

Die chinesische Sichtweise

Aus der Sicht Pekings weisen alle oben genannten Begrifflichkeiten eine grundlegende und für die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) wesentliche Gemeinsamkeit auf: Sie sind westlichen Ursprungs und folgen westlichen Narrativen.1 Dieser Umstand ist Grund genug für chinesische akademische Zirkel, um dem gegenwärtigen globalen Diskurs des jüngsten Begriffs »Hybride Kriegsführung« möglichst wenig Folge zu leisten. Dies heißt jedoch nicht, dass das Thema in chinesischen Publikationen oder Diskussionsforen ausgeklammert bleibt: Hybride Bedrohungsszenarien werden eingehend in diversen Medien diskutiert, jedoch weitgehend unter Anwendung anders lautender – von chinesischer Seite bevorzugter – Begrifflichkeiten. Diese Vorgangsweise folgt einer umfassenden strategischen Linie, die Peking keineswegs verborgen hält: Diskursen, die als hegemonistisch wahrgenommen werden, sollte argumentativ entgegengesteuert werden, ohne die entsprechenden international gängigen Schlüsselbegriffe anzuwenden.

Die eigentliche Zielsetzung besteht darin, in diverse globale Diskurse auch die chinesische Sichtweise – ergo chinesische Narrative – einzuweben. Im Idealfall gelingt es Peking, ein genuin chinesisches Narrativ zu schaffen, wie etwa die »Belt & Road Initiative«, die »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit«. Diese Strategie der internationalen Verbreitung eigenständiger chinesischer Narrative mit entsprechenden Begrifflichkeiten wird insbesondere seit der Ära Xi Jinping konsequent verfolgt; der sicherheitspolitische Bereich spielt hier selbstverständlich eine besonders sensible Rolle.

In diesem Kontext sei auf einen Bestseller hingewiesen, der im Jahr 2011 – noch vor dem Amtsantritt von Präsident Xi – unerwartet große Popularität auf dem heimischen chinesischen Buchmarkt erreichte. In seinem Buch »The China Wave – Rise of a Civilizational State« (Zhongguo Zhenzhan; englische Ausgabe 2012) setzt sich Prof. Zhang Weiwei mit der Frage auseinander, welchen Beitrag China in globalen politischen Diskursen leisten könnte, und schlägt Konzepte aus der klassischen und jüngeren chinesischen Ideengeschichte vor.2 Im Vordergrund der Diskussion steht hier die Frage der chinesischen Zivilisation: Im Gegensatz zu einem Nationalstaat – so Prof. Zhang Weiwei – hat China nicht nur sein Staatsterritorium oder ein politisches System zu verteidigen, sondern eine einzigartige Zivilisation, welche sich seit dem vorchristlichen Römischen Imperium weiterentwickelt hat. Besonders aufschlussreich sind seine Empfehlungen zur selektiven Annahme westlicher politischer Werte und Modelle:

„Was China angeht, sollte es all die Vorstellungen, Konzepte und Standards, die durch den Westen geformt oder definiert wurden, wie Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, das Mehrparteiensystem, Autokratie, die Marktwirtschaft, die Rolle des Staates, Zivilgesellschaft, in der Öffentlichkeit stehende Intellektuelle, das Bruttoinlandsprodukt, den Gini-Koeffizient und den Human Development Index, unter Berücksichtigung Chinas eigener Vorstellungen kritisch betrachten. China sollte nutzen, was immer an ihnen richtig ist, und verwerfen, was immer an ihnen falsch ist, und sie bereichern und neu definieren, wenn es nötig ist, und in diesem Prozess Chinas eigene Diskurse und Standards schaffen.“ (Zhang 2012, S. 137)

Bei genauerem Hinsehen enthalten diese Empfehlungen genau jenen springenden Punkt, welcher in der Diskussion zu Hybrider Kriegsführung zum Tragen kommt. Prof. Wang spricht von „bereichern“, in weiterer Folge von „neu definieren“ westlicher Standards und Konzepte. In letzter Konsequenz wird allerdings die Schaffung genuin chinesischer Diskurse angeraten. In unserer heutigen Zeit benötigt diese Zielsetzung auf analoger wie auch virtueller Ebene entsprechende mediale und soziale Netzwerke quer über den Globus. Mittlerweile ist es nicht mehr zu übersehen, dass China eben diese Zielsetzung mit Konsequenz und Nachdruck verfolgt. Die internationale Gemeinschaft nimmt dieses Bestreben als »hybride Bedrohung« – oder, um mit einem älteren Begriff zu hantieren, als »insurgency« – wahr. Tatsächlich ist die ideologisch-politische Realität der Volksrepublik nicht mit westlichen demokratischen Mehrparteien-Systemen kompatibel und wird logischerweise als rivalisierendes System eingestuft.

Die chinesischen Begriffe

Etwa um die Zeit, als das Thema »Hybride Kriegsführung« infolge der völkerrechtswidrigen Annektierung der Halbinsel Krim durch Russland im Publikationsbereich seinen Hype erlebte, veröffentlichte der Chinesische Staatsrat eine Neuversion der nationalen Sicherheitsstrategie unter dem Titel »China‘s Military Strategy« (State Council 2015). In diesem Weißbuch scheint das Wort »hybrid« nicht auf, jedoch werden die Begriffe »Informationisierung« sowie »informationalisierte Kriegsführung« wiederholt verwendet:

„Der Weltraum und der Cyberspace wurden zu neuen Kommandohöhen im strategischen Wettbewerb zwischen allen Parteien. Die Form von Krieg beschleunigt die Evolution hin zur Informationisierung. […] Die zuvor genannten revolutionären Veränderungen der Militärtechnologien und der Form von Krieg hatten nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die internationale politische und militärische Landschaft, sondern stellten die militärische Sicherheit Chinas vor neue und ernste Herausforderungen.“ (State Council 2015, Chapter 1)

„Die chinesischen Streitkräfte werden Waffen und Ausrüstung schneller auf den neuen Stand bringen und an der Entwicklung eines Waffen- und Ausrüstungssystems arbeiten, das wirksam auf informationisierte Kriegsführung reagieren und helfen kann, die Missionen und Aufgaben zu erfüllen.“ (State Council 2015, Chapter 4)

Besonders augenfällig ist, dass auch der Begriff »Digitalisierung« nicht verwendet wird. Die Sphäre des Internet wird jedoch als neues Bedrohungsszenario für die nationale Sicherheit der Volksrepublik angeführt. In diesem Zusammenhang wird auch darauf verwiesen, dass China eines der Hauptziele für Hacker-Attacken sei:

„Der Cyberspace wurde zu einem neuen Pfeiler der ökonomischen und sozialen Entwicklung und zu einer neuen Domäne der nationalen Sicherheit. Während der internationale strategische Wettbewerb im Cyberspace immer schärfer tobt, sind einige Staaten dabei, ihre militärischen Cyberkräfte zu entwickeln. Als eines der größten Opfer von Hackerangriffen ist China mit schwerwiegenden Sicherheitsbedrohungen seiner digitalen Infrastruktur konfrontiert.“ (State Council 2015, Chapter 4).

Im regionalen Strategie-Weißbuch »China‘s Policies on Asia-Pacific Security Cooperation« vom Januar 2017 werden nachdrücklich die Bemühungen Chinas dargelegt, auf UN-Ebene internationale Richtlinien für digitalisierte Kommunikation zu initiieren. Derartige Richtlinien sollten gemäß Pekings Ansicht sowohl ethische Maßstäbe als auch politische Parameter, wie Nicht-Diskriminierung, beinhalten. Dabei wird die aktive Rolle Pekings bei der Forderung nach einem »zivilisiert« geführten Internet mit international gültigem Regelwerk in diversen UN-Gremien sowie im Rahmen des jährlichen Internet Governance Forum hervorgehoben (Ministry of Foreign Affairs, Chapter 4).

Die westliche Sichtweise

Die Einflusssphäre des Internet – Cyberattacken und Nachrichtenzensur inbegriffen – nimmt eine zunehmend gewichtige Rolle bei der Thematik hybrider Bedrohungen ein. Entsprechend betrachten Menschenrechtsorganisationen oder politische Institutionen, wie das Europäische Parlament, die gegenwärtige chinesische Einflussnahme im Cyberspace keineswegs als zivilisationsförderlich. In einem Bericht von »Reporter ohne Grenzen« (2018) findet sich zu der jährlich unter chinesischem Vorsitz in Zhejiang (Wuzhen) abgehaltenen »World Internet Conference« folgender Kommentar:

„Die »World Internet Conference« lädt die internationale Gemeinschaft ein, sich dem Aufbau »einer gemeinsamen Zukunft im Cyberspace« anzuschließen. Unter dem Vorwand, sich für gute Praktiken im Internet einzusetzen, nutzt China diese Konferenzen, um seine Zensur- und Überwachungspraktiken zu exportieren.“ (Reporters without Borders 2018, S. 8)

Die Aufweichung nationaler Grundrechte und universeller Menschenrechte durch Zensur und digitale Observierungstechnologien mit Unterstützung Pekings außerhalb Chinas Grenzen wird zunehmend als bedrohliche hybride Praktik eingestuft. Es ist davon auszugehen, dass es in diesem thematischen Bereich zu keiner Kompromissfindung kommen wird. Allzusehr weicht die chinesische, hausgemachte Definition von Menschenrechten (»Menschenrechte chinesischer Prägung«) von der UN-Menschenrechtscharta ab.

Der lange Schatten des Krim-Szenarios

Immer häufiger findet sich in China-Analysen die Frage, ob in einem etwaigen Konfliktszenario mit verdeckt kämpfenden chinesischen Einheiten auf fremdem Territorium gerechnet werden kann. Als Referenzrahmen dient der Einsatz russischer Spezialeinheiten ohne Hoheitszeichen auf der Halbinsel Krim im Frühjahr 2014. Bei derartigen Überlegungen bleibt jedoch ein Punkt zumeist unbeachtet: Es war für ein russisches Einsatzkommando durchaus problemlos, sich in Zivil (oder auch grün gekleidet) unter Menschen mit ähnlichem äußeren Erscheinungsbild zu mischen. Doch wie sollte eine verdeckte chinesische Spezialeinheit etwa in Afrika, Europa oder Südasien unerkannt bleiben? Selbst ohne jegliches Hoheitsabzeichen würde die chinesische Nationalität von der lokalen Bevölkerung sehr rasch erkannt werden. Geht es jedoch um den Einsatz uniformierter Spezialkräfte der Volksbefreiungsarmee in Übersee, so bewegen wir uns bereits auf dem Terrain konventioneller Kriegsführung, ergo abseits hybrider Kampftaktiken. Wesentlich realistischer als hybride Bedrohung erscheint hier die verdeckte Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI). Dazu zählen etwa im Zivilbereich eingesetzte Drohnen mit Observierungsauftrag und beschränkter Entscheidungskompetenz. Auch wird von chinesischer Seite mit durchaus transparent gehaltener wissenschaftlicher Ambition daran gearbeitet, chinesische BeiDou-Navigationssatelliten mit KI-Technologie zu vernetzen. Dies würde zum Beispiel eine wesentlich raschere Auswertung von Personenerkennungsdaten durch Künstliche Intelligenz ermöglichen.

Das chinesische Selbstverständnis

China sieht sich als Nation des Friedens und beteiligt sich seit einigen Jahren mit großem Engagement an UN-Friedensmissionen. Selbst eingefleischte US-amerikanische China-Kritiker*innen müssen eingestehen, dass die chinesische Volksbefreiungsarmee (VBA) während der letzten 40 Jahre kaum Kampferfahrungen außerhalb der eigenen Grenzen sammeln konnte. Die letzte grenzüberschreitende Großoffensive (chinesische Diktion: Selbstverteidigungs- und Gegenangriffskampf an der chinesisch-vietnamesischen Grenze; vietnamesische Diktion: Krieg gegen den chinesischen Expansionismus) fand im Frühjahr 1979 statt, dauerte fünf Wochen und endete mit einem Rückzug der VBA. Die Jahrzehnte danach wurde zwar innerhalb der VR China mehrmals das Kriegsrecht verhängt (Lhasa: April 1989-Mai 1990, 2008; Beijing: Mai 1989-Januar 1990), die Konfrontation mit Vietnam auf dem Festland (1988) und zur See (2014) erreichte jedoch nur ein sehr eingeschränktes Ausmaß. Die maritimen Streitigkeiten der Volksrepublik mit den Philippinen (Höhepunkt: 2011-2014) um einige Spratly-Inseln sowie die kurzfristige Konfrontation mit indischen Grenzeinheiten in Ladakh (April-Mai 2013) erregten zwar erhebliches mediales Aufsehen, es waren allerdings auf keiner Seite Tote zu beklagen.

Betrachten wir also das chinesische Selbstverständnis als friedliebende Nation, so spricht die Faktenlage der letzten Jahrzehnte deutlich mehr für diese Einschätzung als dagegen. Wo liegt nun das Problem? Die eigentliche Problematik scheint in der unseligen Verflechtung von zwei völlig unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen zu liegen: Zum einen entsteht vor uns das dystopische Bild einer »unsichtbaren« – nicht fassbaren – Kriegstaktik, die sämtliche unserer Lebensbereiche auch in Friedenszeiten durchdringen kann; zum anderen beunruhigt der Unsicherheitsfaktor einer neuen Weltmacht, die demokratische Regelwerke nach westlichem Muster in Zweifel zieht.

Anmerkungen

1) Der Diskurs zu Hybrider Kriegsführung wurde zunächst vom US-amerikanischen Autor Frank G. Hoffman initiiert und fand in Europa ein lebhaftes Echo sowie rasche Ausbreitung.

2) Zhang Weiwei schlägt in Kapitel 5.3, »The Rise of a New Political Discourse«, folgende Konzepte vor: Shishi qiushi (Seeking Truth from Facts); Minsheng weida (Primacy of People’s Livelihood); Zhengti siwei (Holistic Thinking); Zhengfu shi biyaodeshan (Government is a Necessary Virtue); Liangzheng shanzhi (Good Governance); Minxin xiangbei and xuanxian renneng (Winning the Hearts and Minds of the People and Meritocracy); Jianshou bingxu (Selective Learning and Adaptation); Hexie zhongdao (Harmony and Moderation).

Literatur

Klare, T.; Kornbluh, P. (1987): Low Intensity Warfare – Counterinsurgency, Proinsurgency, and Antiterrorism in the Eighties. New York: Pantheon; ein Beitrag dieses Sammelbandes findet sich auf thirdworldtraveler.com.

Ministry of Foreign Affairs of the PRC (2017): China’s Policies on Asia-Pacific Security Cooperation. 11.1.2017; fmprc.gov.cn/mfa_eng/.

Reporters without Borders (2018): China´s Pursuit of a New World Media Order. Paris.

The State Council Information Office of the People’s Republic of China (2015): China’s Military Strategy. 26 May 2015; eng.mod.gov.cn/.

Zhang, W. (2012): The China Wave – Rise of a Civilizational State. Singapur: World Century Publishing.

Mag. Dr. Doris Vogl (Sinologie und Politikwissenschaft) ist externe Lektorin an der Universität Salzburg und assoziierte Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind China, Human Security in Krisengebieten, EU-Sicherheitspolitik.

»Hybride« Konflikte im Völkerrecht


»Hybride« Konflikte im Völkerrecht

von Michael Bothe

»Hybrid« ist eine gern gebrauchte Bezeichnung für einen Gegenstand oder eine Situation, die sich der Einordnung in eine einzelne Kategorie entzieht. Ein hybrides Automobil wird weder allein durch einen Verbrennungsmotor noch durch einen Elektromotor angetrieben, sondern je nachdem durch den einen oder den anderen Antrieb. Der Begriff des hybriden Konflikts wirft im Hinblick auf die völkerrechtliche Regelung ein grundlegendes Problem auf: Wenn das Recht auf Dichotomien aufbaut, unterschiedliche Regeln für die Situation A und die Situation B aufstellt, so muss eine »hybride« Situation Schwierigkeiten bereiten. Die internationalen Beziehungen sind in ihrer aktuellen Unübersichtlichkeit geradezu gekennzeichnet durch hybride Situationen. Das gilt insbesondere für die völkerrechtlichen Regeln für die Ausübung organisierter Gewalt.

Der Beginn der modernen Völkerrechtswissenschaft ist bei dem klassischen Werk von Hugo Grotius anzusetzen: »De iure belli ac pacis«, das Recht in Krieg und Frieden. Der Titel beschreibt eine klassische Dichotomie: Es gibt zwei unterschiedliche Rechtsbereiche, nämlich einmal das Recht, das die friedlichen Beziehungen zwischen Staaten regelt, zum andern das Kriegsrecht, das die Beziehungen der Staaten im Falle eines Krieges zum Gegenstand hat. Das führte natürlich zu der Frage der Unterscheidung zwischen der einen und der anderen Situation, zur Diskussion darüber, was eigentlich völkerrechtlich »Krieg« ist, bzw. zu einer Debatte über den »Kriegsbegriff«. Aus heutiger Sicht war das eine der unsinnigsten Streitigkeiten der Völkerrechtsgeschichte. Während der allgemeine Sprachgebrauch gerne noch nach der Unterscheidung zwischen Krieg und Nichtkrieg sucht, etwa in Bezug auf die Situation in Syrien, hat das moderne Völkerrecht an die Stelle des Kriegsbegriffs den des »bewaffneten Konflikts« gesetzt. Dieser Begriff soll die Unterscheidung, die von der immer noch gegebenen Dichotomie erfordert wird, vom Ballast unnötiger juristischer Spitzfindigkeiten befreien und näher an die Fakten bringen. Die neuere Formulierung der Dichotomie »bewaffneter Konflikt – alle anderen Beziehungen« (Bothe 2019, Rdn. 62; Crawford 2015, Rdn. 2; Kotzsch 1956) hat die praktische Bestimmung des anwendbaren Rechts sachgerechter gemacht. Aber die Dichotomie, die unterschiedliche Regelungskomplexe für die eine oder andere Situation erfordert, bleibt bestehen.

Die folgenden Zeilen haben zum Ziel, die völkerrechtliche Regelung einiger Situationen organisierter Gewalt­ausübung zu beleuchten, in denen etablierte rechtliche Dichotomien problematisch geworden sind. Für sie hat sich die Bezeichnung »hybride Konflikte« eingebürgert (Milanovic 2019, S. 33 ff.; Kahn 2019, S. 191 ff.; War Report 2018, S. 20 ff.).

Internationale oder nicht-internationale bewaffnete Konflikte

Eine fundamentale Dichotomie des Konfliktrechts ist die Unterscheidung zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten, da für beide Kategorien von Konflikten unterschiedliche Regelwerke gelten. Der Krieg der frühen Neuzeit war eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten. Bewaffnete Konflikte im Innern eines Staates waren vom Völkerrecht nicht geregelt. Es stellte sich aber heraus, dass die Regelungs- und vor allem Schutzfunktion des Kriegsvölkerrechts auch bei solchen inneren Konflikten gefragt war. So entwickelte sich ein besonderes Recht nicht-internationaler Konflikte, das die Souveränität der Staaten stärker berücksichtigt als das Recht des internationalen Konflikts und dessen Schutzniveau, dementsprechend niedriger (Bothe 2019, Rdn. 121).

Wesentliche Schritte der Entwicklung des Vertragsrechts waren der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Konventionen von 1949 (eine Art Mini-Konvention zum Schutz der Opfer nicht-internationaler Konflikte) und das Zusatzprotokoll II zu diesen Konventionen aus dem Jahr 1977. Seitdem lässt sich feststellen, dass sich das Recht des nicht-internationalen Konflikts gewohnheitsrechtlich sehr stark dem Recht der internationalen Konflikte angenähert hat. Es hat also eine Annäherung des Schutzniveaus stattgefunden (ICRC 2005, Bd. I, S. XXIX), und die Relevanz der Dichotomie ist geringer geworden. Sie bleibt aber bestehen, denn eine wesentliche Unterscheidung bleibt: Im internationalen Konflikt genießen die Angehörigen der Streitkräfte im Falle ihrer Gefangennahme den besonders geregelten Status eines Kriegsgefangenen. Das bedeutet nicht nur eine menschenwürdige Behandlung, sondern es verbietet auch eine Bestrafung dieser Personen für eine Teilnahme an den Kampfhandlungen, soweit sich diese im Rahmen des Kriegsrechts gehalten haben. Eine solche Teilnahme ist rechtmäßig: Soldaten sind keine Mörder!

Strafrechtlich ist das ein völkerrechtlich vorgegebener Rechtfertigungsgrund, das so genannte »combatant privilege« (Bothe 2019, Randnotiz 67). Für die Kämpfer und Kämpferinnen im nicht-internationalen Konflikt gibt es das nicht. Darum ist die Unterscheidung zwischen internationalem und nicht-internationalem Konflikt von zentraler Bedeutung für die Behandlung von Gefangenen. Allerdings gilt auch im nicht-internationalen Konflikt der gezielte Angriff auf die Kämpfer der anderen Seite als erlaubt (im Gegensatz zu Angriffen auf die Zivilbevölkerung), wenngleich die Tötung nicht durch das »combatant privilege« gedeckt ist. Das ist ein gewisser Wertungswiderspruch. Dennoch: Die Rechtslage ist so.

Die Einordnung bestimmter Konflikte in die eine oder andere Kategorie bereitet Probleme, und damit ist man bei der Frage hybrider Konflikte. Es sind insbesondere drei Konstellationen, in denen die Dichotomie unsicher wird: erstens der Streit um den Status einer Konfliktpartei, zweitens der nicht-internationale Konflikt mit ausländischer Beteiligung, eine sehr häufige Konstellation, und drittens ein grenzüberschreitender Angriff nicht-staatlicher Kämpfer.

Es gibt immer wieder bewaffnete Konflikte, bei denen eine oder mehrere Parteien von der jeweils anderen Seite nicht als Staat anerkannt sind. Sollte ein bewaffneter Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Taiwan ausbrechen, so wäre Taiwan jedenfalls aus der Sicht der Volksrepublik China eine abtrünnige Provinz, deren Streitkräfte also »Verräter« und als solche zu bestrafen. Sieht man Taiwan hingegen als einen Staat an, so genießen seine Streitkräfte das »combatant privilege«. Ein hybrider Konflikt wäre dies insofern, als die Parteien über ihren jeweiligen Status und damit über die Anwendung relevanter Rechtsnormen uneins sind. Völkerrechtlich wird diese Problematik mit der Konstruktion eines »De-facto-Regimes« aufgefangen, das zum Zwecke der Anwendung bestimmter Rechtsnormen einem Staat gleich zu achten ist (Frowein 2013, Rdn. 3). Ein solches wäre Taiwan jedenfalls.

Eine weitere und häufige Konstellation ist, dass auswärtige Staaten in unterschiedlicher Weise in einen Konflikt eingreifen („internationalisierter nicht-internationaler Konflikt“, Bothe 2019, Rdn. 127 ff.). Wenn ausländische Streitkräfte auf der Seite von Aufständischen gegen die Streitkräfte der etablierten Regierung kämpfen, entsteht ein internationaler Konflikt. Besonders problematisch ist diese Konstellation, wenn das Eingreifen der ausländischen Macht nicht offen erfolgt und nicht zugegeben wird, wie im Fall des Konflikts in der Ost-Ukraine. Der Konflikt zwischen der ukrainischen Regierung und den aufständischen Entitäten Donezk und Luhansk ist am ehesten dahingehend zu qualifizieren, dass es ein nicht-internationaler ist. Das russische Eingreifen stellt wohl eine rechtswidrige Intervention in die inneren Angelegenheiten der Ukraine dar, macht aber die Russische Föderation noch nicht zur Konfliktpartei.

Für den umgekehrten Fall, dass ausländische Streitkräfte auf der Seite der etablierten Regierung gegen Aufständische kämpfen, bestehen theoretisch drei Möglichkeiten: 1. der ganze Konflikt wird international; 2. der ganze Konflikt wird immer noch als nicht international angesehen; 3. der Konflikt teilt sich in einen internationalen (Beziehung zwischen ausländischem Intervenienten und Aufständischen) und einen nicht-internationalen (Beziehung zwischen etablierter Regierung und Aufständischen). Völkervertraglich ist eine solche Situation in den oben genannten Verträgen nicht geregelt; die gewohnheitsrechtsbildende internationale Praxis geht dahin, den ganzen Konflikt, d.h. auch die Beziehung zwischen dem ausländischen Intervenienten und dem lokalen nicht-staatlichen Akteur (den »Aufständischen«), als nicht international zu qualifizieren. Der U.S. Supreme Court entschied dies für das Verhältnis zwischen US-Truppen und Taliban in Afghanistan und erklärte den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen für anwendbar.1 Dies ist nunmehr auch die Auffassung der Bundesrepublik zur Lage in Afghanistan.2 Das bedeutet u.a., dass deutsche oder US-Streitkräfte gefangene nicht-staatliche Kämpfer den afghanischen Behörden zum Zwecke der Strafverfolgung überlassen dürfen, da diese Kämpfer nicht das »combatant privilege« genießen. Ob das aus praktischen Gründen unterbleibt, ist eine andere Frage.

Eine damit verwandte Konstellation ist die, dass nicht-staatliche Kämpfer vom Ausland aus die Regierung eines anderen Staates bekämpfen. Dabei entsteht zunächst auf dem Gebiet des bekämpften Staates ein nicht internationaler Konflikt. Wenn jedoch die nicht-staatlichen Kämpfer von einem ausländischen Staat, sei es der Nachbarstaat oder ein dritter Staat, in einer Weise kontrolliert werden, dass die von den nicht-staatlichen Akteuren ausgeübte Gewalt diesem ausländischen Staat zuzurechnen ist, so entsteht ein internationaler Konflikt zwischen dem letzteren und dem ersteren Staat. Der Grad von Kontrolle, der diese rechtliche Bewertung auslöst, ist in der Praxis und auch in der internationalen Rechtsprechung streitig.

Bewaffnete Konflikte oder sonstige Formen organisierter Gewalt

Die Anwendung des Rechts des nicht-internationalen Konflikts setzt voraus, dass eben ein solcher bewaffneter Konflikt vorliegt, d.h. Kampfhandlungen eines gewissen Ausmaßes, an denen Kämpfer oder Kämpferinnen beteiligt sind, die zu einer Partei gehören, die einen gewissen institutionellen Organisationsgrad aufweist. „Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen“ (Art. 1 Abs. 2 Genfer Zusatzprotokoll II) sind keine bewaffneten Konflikte. Die Feststellung dieser Schwelle zwischen einfacher Gewalt und Kampfhandlungen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bereitet erhebliche Schwierigkeiten.

Den Regeln des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts, mit der Folge, dass die Bekämpfung von Kämpfern der anderen Seite zulässig ist, unterliegen nur solche Handlungen, die einen Zusammenhang (nexus) mit dem Konflikt haben. Zwei Beispiele mögen die Problematik verdeutlichen: Bei der Besetzung eines Musical-Theaters in Moskau 2002 durch tschetschenische Rebellen setzten die russischen Streitkräfte einen chemischen Kampfstoff ein, um die Besetzer zu überwältigen. War dies eine Kampfhandlung im Rahmen des vorliegenden nicht-internationalen Konflikts in und um Tschetschenien, so war es der Einsatz einer chemischen Waffe, völkerrechtlich als solcher verboten. Verneint man diesen Nexus, so war es der Einsatz physischer Gewalt im Rahmen der Sicherung der Ordnung, was ganz anderen, insbesondere menschenrechtlichen, völkerrechtlichen Regeln unterliegt. Zum Zweiten: Als dem Generalbundesanwalt eine Strafanzeige wegen eines US-Drohnen­einsatzes in Pakistan vorlag, bei dem ein deutscher Staatsangehöriger getötet worden war, der als Al-Qaeda-Kämpfer galt (»Mir-Ali-Fall«), prüfte er gleichfalls diesen Konflikt-Nexus.3 Er stellte fest, dass der Einsatz im Rahmen zweier verbundener nicht-internationaler Konflikte in Afghanistan und Pakistan geschah, an denen die USA als Partei beteiligt waren und die deshalb nach dem Recht des nicht-internationalen Konflikts zu beurteilen waren. Danach war es eine erlaubte Kampfhandlung. Man kann diese Konstruktion kritisieren – sie ist jedenfalls in sich konsequent und sozusagen systemimmanent, weil sie die Dichotomie zwischen dem Recht des bewaffneten Konflikts und Situationen, die nicht bewaffneter Konflikt sind (Geiß 2009, 127 ff.), aufrechterhält. Sie erlaubte es dem Generalbundesanwalt, die Tötungshandlung als im Rahmen eines bewaffneten Konflikts erlaubt anzusehen, ohne auf andere, völlig unvertretbare Thesen zur Rechtfertigung im Kampf gegen den Terrorismus einzugehen, von denen sogleich noch zu reden ist.

Terrorismus

Die Art und Weise, wie von manchen Staaten, nicht nur den USA, die pauschale Rechtfertigung von Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus vertreten wird, läuft auf eine grenzenlose Lizenz zum Töten hinaus. Die immer wieder aus den USA zu hörende These geht dahin, dass sich die USA in einem internationalen Konflikt mit »dem Terrorismus« befinden, in dem das Töten der gegnerischen Kämpfer, wo immer man sie antrifft, erlaubt ist. Das soll gezielte Tötungen und insbesondere Drohneneinsätze überall auf der Welt rechtfertigen.

Diese These setzte sich in der internationalen Gemeinschaft aber nicht durch. Sie fand hinreichenden Widerspruch, sodass ein Wandel des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts, der durch diese Praxis wohl angestrebt wurde, nicht festzustellen ist (Bothe 2019, Rdn. 128). »Der Terrorismus« ist keine Organisation, die als Konfliktpartei rechtlich taugen würde. Gezielte Tötungen und Drohneneinsätze sind allenfalls dann völkerrechtlich zulässig, wenn sie als Kampfhandlungen gegen Kämpfer oder Kämpferinnen in einem wirklich bestehenden bewaffneten Konflikt charakterisiert werden können, wie das der Generalbundesanwalt im Mir-Ali-Fall vorgeführt hat. Gezielte Tötungen ohne diesen Konflikt-Nexus bedürften einmal der Zustimmung durch den Staat, auf dessen Gebiet sie stattfinden, zum anderen müssten sie den menschenrechtlichen Maßstäben für zulässige Formen der physischen Gewalt im Rahmen der polizeilichen Verbrechensbekämpfung entsprechen. Hinsichtlich beider Voraussetzungen bestehen angesichts der über viele Jahre geübten amerikanischen Praxis ganz erhebliche Bedenken. Hier gilt es, die besagte Dichotomie zwischen bewaffnetem Konflikt und einer Situation, die keinen solchen Konflikt darstellt, aufrecht zu erhalten. Der Kampf gegen den Terrorismus ist keine generelle »license to kill«.

»Drogenkrieg«

Eine ähnliche Problematik stellt sich bei der Bekämpfung des Drogenhandels. Auch wenn die Organisationen des illegalen Drogenhandels insbesondere in Mexiko Methoden anwenden, die in dem Ausmaß der Gewalt einem bewaffneten Konflikt gleichkommen, so bleiben diese Organisationen doch Verbrecherbanden, die eben nicht als vom Völkerrecht zu adressierende Konfliktparteien angesehen werden können. Auch hier gibt es also keine »license to kill« nach dem Recht des bewaffneten Konflikts. Die daraus folgenden menschenrechtlichen Grenzen staatlicher Gegengewalt können hier nicht im Einzelnen ausgelotet werden.

Neue Formen der Schädigung: analog oder digital

Eine weitere, früher kaum problematisierte Dichotomie spielt heute im Recht bewaffneter Konflikte eine große Rolle, nämlich die zwischen kriegerischen Schädigungshandlungen (insbesondere Tötung und Verwundung von Menschen, Schädigung und Zerstörung von Sachgütern), die das humanitäre Völkerrecht eingehend regelt, und anderen konfliktbezogenen Handlungen einer Konfliktpartei (z.B. die Anlage einer Festung), die keiner solchen Regelung unterliegen. Erstere Schädigungshandlungen definiert das Genfer Zusatzprotokoll I von 1977 als »Angriff«. Durch den Einsatz von Computern in bewaffneten Konflikten (Cyberwar) ist diese Dichotomie fraglich geworden (Bothe 2019, Rdn. 76). Im Cyberwar werden von Computern Signale oder Schadsoftware elektronisch an andere Computer, die sich im Bereich einer Konfliktpartei befinden, übermittelt. Die militärische Wirksamkeit dieses Vorgangs beruht auf der Tatsache, dass die angegriffenen Computer wesentliche Funktionen der Infrastruktur einer Konfliktpartei steuern. Wird z.B. durch die Übermittlung von Schadsoftware die elektronische Steuerung eines Elektrizitätswerkes außer Funktion gesetzt, dann ist die Wirkung zumindest vorübergehend genauso, als sei das Werk durch einen Bombenangriff zerstört: Es wird lebenswichtiger Strom nicht mehr geliefert. Es gibt also im Cyberwar eine neue Art von Schädigungshandlungen, bedingt durch eine neue Art von Verwundbarkeit. Aber nicht jede Übermittlung von Schadsoftware ist in besagtem Sinne ein »Angriff«. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Wirkung dieser Übermittlung der Schädigung mittels kinetischer oder Wärmeenergie gleichwertig ist (Tallinn Manual 2.0, S. 415 ff.). Mit diesem Abstellen auf den »equivalent effect« wird die traditionelle und sinnvolle Dichotomie zwischen Angriff und anderen militärischen Handlungen aufrechterhalten.

Das wesentliche und eigentlich neue Problem des Cyberwar liegt in der mangelnden Identifizierbarkeit und Lokalisierbarkeit der Schädiger. Die Urheber der Schadsoftware sind möglicherweise unbekannte Privatpersonen, die irgendwo in einem privaten Anwesen arbeiten. Für solche Schädigungshandlungen bedarf es nur eines Computers mit Internetanschluss. Das Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts, adressiert aber nur Staaten (und andere Völkerrechtssubjekte) sowie Personen, die als Organe dieser Rechtssubjekte handeln oder deren Handlungen aus besonderen Gründen diesen Rechtssubjekten zuzurechnen ist. Aktionen des Cyberwar, die von Staatsorganen, etwa Geheimdiensten, durchgeführt werden, unterliegen völkerrechtlichen Regeln wie oben erläutert. Hinsichtlich unbekannter nicht-staatlicher Schädiger hat das Völkerrecht noch keine klaren Regeln bereit. Es ist insbesondere an staatliche Kontrollpflichten zu denken, die mit der gebotenen Sorgfalt (due diligence) zu erfüllen wären (Tallinn Manual 2.0, S. 30 ff., S. 80). Sie werden vertraglich oder in der gewohnheitsrechtbildenden Praxis zu entwickeln sein.

Hybride Konfliktsituationen als Herausforderung für das Völkerrecht

Es wurde gezeigt, dass in heutigen Situationen der Ausübung organisierter Gewalt traditionelle Dichotomien, die die Anwendung bestimmter Rechtsmassen bestimmen, schwieriger anzuwenden sind. Dieser Befund wird mit dem Ausdruck »hybrider Konflikt« beschrieben. Es wurde des Weiteren gezeigt, dass es rechtliche Argumentationslinien gibt, die sinnvolle Unterscheidungen auch in solchen Situationen erlauben. Die Betonung liegt auf »sinnvoll«. Diese regulatorischen Dichotomien sollen sicherstellen, dass faktisch unterschiedliche Situationen jeweils einem sachgerechten Regelungsregime unterworfen sind. Sachgerechte Regelungen sind nicht ohne sachgerechte Differenzierungen zu haben. Deshalb bezeichnet der Begriff des »hybriden Konflikts« nicht einen neuen Regelungsbereich, eine neue Rechtsmasse zur Regelung dieses besonderen, neuen Konflikttypus, sondern die Notwendigkeit, die Definitionen vorhandener Kategorien zu überdenken und gegebenenfalls Unterscheidungsmerkmale oder inhaltliche Regelungen zu prüfen oder zu korrigieren. Nur so kann und muss das Völkerrecht seine Funktion, organisierte Gewalt in Schranken zu halten, mit Aussicht auf Erfolg erfüllen.

Anmerkungen

1) Urteil des U.S. Supreme Court, Hamdan v. Rumsfeld, 29.6.2006, 548 U.S. 557 (2006).

2) Bundesminister Westerwelle vor dem Deutschen Bundestag zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. 10.2.2010; auswaertiges-amt.de.

3) Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Betr: Drohneneinsatz vom 4. Oktober 2010 in Mir Ali/Pakistan – Verfügung des Generalbundesanwalts vom 20. Juni 2013 – 3 BJs 7/12-4. 23.7.2013; generalbundesanwalt.de.

Literatur

Bellal, A. (ed.) (2019): The War Report – Armed Conflicts in 2018: Geneva: Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights.

Bothe, M. (2019, 8. Aufl): Friedenssicherung und Kriegsrecht. In: Vitzthum, W. Graf; Proelß, A. (Hrsg.): Völkerrecht. Berlin: DeGruyter.

Crawford, E. (2015): Armed conflict, international. In: Wolfrum, R. (ed.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law.

Frowein, J.A. (2015): De Facto Regime. In: Wolfrum, R. (ed.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law.

Geiß, R. (2009): Armed violence in fragile States – low intensity conflict, spillover conflict, and sporadic law enforcement operations by third States. International Review of the Red Cross, Vol. 91, Nr. 873, S. 127 ff.

ICRC (ed.) (2005): Customary International Humanitarian Law. Edited by Henckaerts, J.-M.; Doswald-Beck, L. Cambridge: Cam­bridge University Press.

Kahn, J.: Hybrid conflict and prisoners of war – the case of the Ukraine. In: Ford, C.M.; Williams, W.S. (eds.): Complex Battlespaces. Oxford: Oxford University Press.

Milanovic, M. (2019): Accounting for the complexity of the law applicable to modern armed conflicts, In: Ford, C.M.; Williams, W.S. (eds.): Complex Battlespaces. Oxford: Oxford University Press.

Tallinn Manual 2.0 on the International Law Applicable to Cyber Operations. Prepared by the International Group of Experts at the Invitation of the NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence; edited by Schmitt, M.N. Cambridge: Cambridge University Press.

Michael Bothe, Dr. iur., Prof. emeritus für öffentliches Recht, J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main.