Die Minga aus den Anden


Die Minga aus den Anden

Praktiken der Partizipation zur Gemeinschaftsbildung

von Kuymi Thayari Tambaco Díaz und Andrea Sempértegui

In diesem Artikel versuchen die Autorinnen, aus eigener Erfahrung und einer ethnographischen, historischen und theoretischen Perspektive1 am konkreten Beispiel der indigenen Kichwa aus Ecuador über die »Minga« als eine Praxis der ständigen Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung zu reflektieren.

Die Minga ist eine Form der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit, die Gemeinschaftsbeziehungen und territoriale Bindungen fördert und in vielen Orten Lateinamerikas praktiziert wird. Dieses »Gemeinschaft schaffen«, das die Minga charakterisiert, hat unserer Ansicht nach großes Potenzial, um den Begriff der »Partizipation« aus einer Perspektive neu zu denken, die über die sowohl in der liberalen als auch in der radikalen demokratischen Tradition vertretene Perspektive hinausgeht, in der Partizipation auf die formale Praxis der Einbeziehung von Individuen in Entscheidungsprozesse reduziert wird (Habermas 1975; Mouffe 2000). Innerhalb der Minga-Praxis hingegen ist es unmöglich, Partizipation außerhalb von Gemeinschaftsbeziehungen zu denken. Dies macht aus der Minga eine sehr interessante und relevante Alternative für politische Projekte, die darauf abzielen, jenseits des Staates nachhaltige Verbindungen für die Reproduktion des Gemeinsamen zu schaffen.

Im Folgenden wollen wir zunächst darstellen, wie die Minga-Praxis aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa in Ecuador verstanden wird. Anschließend wollen wir zeigen, wie sich diese Praxis in den letzten Jahren verändert hat. Damit wollen wir die Minga als eine lebendige Praxis veranschaulichen, die sich in einer ständigen Transformation befindet und ungeachtet ihres Potentials von kapitalistischen, patriarchalischen und kolonialen Machtlogiken durchdrungen ist. Zum Schluss wollen wir über die Rezeption dieser Praxis innerhalb zeitgenössischer indigener und nicht-indigener politischer Gruppen nachdenken, die die Minga als eine Praxis verstehen, die die Möglichkeit bietet, alternative politische Horizonte der Solidarität, der Demokratie und zum Aufbau von Gemeinschaft zu schaffen.

Die Minga aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa-Gemeinschaften Ecuadors

Die Minga wird in der Anthropologie zumeist entweder als ein System der kooperativen Arbeit in der Andenregion definiert oder als ein Mechanismus zur Unterordnung und Regulierung indigener Gemeinschaften, der sowohl von den Inkas als auch von den spanischen Kolonisatoren und den kreolischen Grundbesitzern genutzt wurde (Faas 2018). In diesem Artikel möchten wir jedoch über diese Praxis aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa-Gemeinschaften von Cotacachi, Cayambe und den Bobonaza- und Curaray-Flussgebieten reflektieren. Damit wollen wir die Funktion der Minga als Schöpferin und Fördererin von Gemeinschaftsbeziehungen und territorialen Bindungen betonen.

Im Gedächtnis der Bewohner*innen sowohl der ecuadorianischen Anden als auch des Amazonas waren Mingas immer im Gemeinschaftsleben präsent. Für eine Einwohnerin von Cotacachi bedeutet das Wort »Minga« in Kichwa „lasst uns zusammenarbeiten, lasst uns mit Emotion und Kraft arbeiten“ (Kichwa-Frau aus einer Gemeinschaft von Cotacachi, Quito, 16.2.2019). Für eine Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet ist die Minga eine „Angewohnheit vieler von uns, die Minga existiert seit der Geburt unserer Vorfahren, seit den »Rucus«2 […], als eine Form der gemeinschaftlichen Arbeit“ (Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet, Quito, 21.2.2019). Der Zweck dieser »gemeinsamen Arbeit« ist vielfältig. Es kann zum Beispiel dazu dienen, ein Haus, eine »Chakra«3 oder einen kommunalen Friedhof aufzubauen. In diesem Sinne muss man zwischen individuellen und kommunalen Mingas unterscheiden: Während erstere für den familiären Gebrauch von den Gastgeber*innen organisiert werden, werden letztere von den »Kurakas« und »Varayus«4 für den gemeinsamen Gebrauch organisiert. An dieser beteiligen sich alle Mitglieder der Gemeinschaft, manchmal sogar Jungen und Mädchen ab zehn Jahren.

Aus einer westlichen Sicht kann man die Minga wegen ihres Nutzens als eine Praxis zur Erleichterung des Familien- und Gemeinschaftslebens verstehen, insbesondere in ländlichen Kontexten oder wo der Staat nicht präsent ist und keine Grundversorgungen leistet. Aus der Sicht der Kichwa wird die Minga jedoch nicht nur zur Erzielung des Familien- oder Gemeinschaftsnutzens praktiziert, sondern ist eine Praxis in sich, die Beziehungen, Gemeinschaft und das Zusammenleben schafft. In diesem Sinne ist es wichtig zu erwähnen, dass die Gegenseitigkeit, die in der Minga-Praxis präsent ist, streng auf dem Kichwa-Gemeinschaftsgefühl und der Gemeinschaftspraxis basiert. Damit ist die Minga, insbesondere im Gebiet des Kichwa-Amazonas, an sich nicht »obligatorisch«, sondern wird als eine grundlegende Praxis des »Gemeinschaftslebens« verstanden (Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet, Quito, 21.2.2019).

Laut der Co-Autorin dieses Artikels, Kuymi Tambaco, spiegelt die Minga auch das Leben und die Verwurzelung in einem bestimmten Gebiet wieder: Da die Minga alle Menschen miteinbezieht, die in einem bestimmten Gebiet leben oder dort Land besitzen, erzeugt diese Praxis auch Verwurzelung und territoriale Positionierung. In anderen Worten: Durch ihre Teilnahme an kommunalen Mingas gewinnen die Einwohner*innen einer bestimmten Gemeinschaft ein Zugehörigkeitsgefühl. Im Fall der Kichwa-Einwohner*innen von Cotacachi erzeugt die Minga eine Verwurzelung und territoriale Positionierung ungeachtet der Unterschiede in Herkunft, Ethnizität, Alter oder Geschlecht.

Transformationen der Minga als lebendige Praxis

Ungeachtet der Relevanz der Minga für das Gemeinschaftsleben und für die territoriale Positionierung hat sich diese alltägliche Praxis im Laufe der Zeit stark verändert. Dies ist ein Zeichen dafür, dass keine Praxis statisch ist und außerhalb von dominanten Logiken der Macht, d.h. kapitalistischen, patriarchalischen und kolonialen Logiken, existieren kann, sondern unsere Körper und Territorien auch heute noch durchdringt.

Im ecuadorianischen Amazonasgebiet wird die Transformation der Minga vor allem am erhöhten Alkoholkonsum nach Abschluss der Gemeinschaftsarbeit wahrgenommen. Die Zunahme des Konsums alkoholischer Getränke, wie Bier oder »Puntas«,5 in Kichwa-Gemeinschaften, bedingt durch den größeren Verkehr von Menschen und Produkten aus den Städten, hat die traditionellen Sozialisierungspraktiken der Minga stark verändert. Wie eine Bewohnerin des Curaray-Flussgebiets uns mitgeteilt hat, lädt der Gastgeber oder die Gastgeberin der Minga nach Abschluss der Gemeinschaftsarbeit normalerweise zum Essen und zum Trinken der »Chicha«6 ein. Heutzutage jedoch „essen [die Teilnehmer*innen] und dann trinken sie Chicha und Alkohol bis zum nächsten Tag! Deswegen kommen wir nicht voran […] Das gefällt mir nicht. […] Wir sind mit der Arbeit um 12 Uhr am Tag fertig und dann sind wir bis 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 oder 8 Uhr [am Trinken], anstatt andere Dinge zu tun, nicht wahr?“ (Kichwa-Frau aus dem Curaray-Flussgebiet, Lorocachi, 10.11.2018)

Diese Kritik an der Zunahme des Alkoholkonsums während der Minga wird von den Bewohner*innen der ecuadorianischen Anden geteilt, insbesondere von den Frauen, die den höheren Alkoholkonsum mit dem Anstieg häuslicher Gewalt gegen Frauen verbinden. In der Provinz von Imbabura ist es üblich, dass alle Teilnehmer*innen der Minga, hauptsächlich Männer‚ »Cucabi«7 und alkoholische Getränke mitbringen. Laut einer Gemeinschaftsvertreterin betrinken sich einige Männer bereits während der Minga und arbeiten nicht gut: „Es wäre gut, wenn sie gut während der Mingas arbeiten und sich nicht betrinken würden. Dennoch ist meistens der Fall, dass einige nicht mal die Hälfte der Minga-Arbeit erreicht haben und schon betrunken sind.“ (Kichwa-Frau aus einer Gemeinschaft von Cotacachi, Cotacachi, 16.2.2019) Außerdem kommen vielen Männer am Tag der Minga nicht nach Hause, weil sie zum Trinken bleiben, und wenn sie nach Hause kommen, schlagen sie ihre Partner*innen.

Eine aktuelle Analyse zur indigenen Bevölkerung aus Pasto an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze zeigt, dass die Minga eine Vielfalt unterschiedlicher Menschen miteinbezieht (López 2018). Im Fall einer Gemeinschaft aus Cotacachi ist diese Vielfalt jedoch auch Quelle von Diskriminierung: Obwohl die Anwesenheit von Frauen und Jugendlichen in der Minga nicht völlig geleugnet wird, neigen vor allem erwachsene Männern dazu, den Frauen mit Verweis auf ihre geringere physische Leistungskraft von der Partizipation an der Minga abzuraten. Dies führt zu einer Aberkennung der Arbeit von Jugendlichen und Frauen. Während den Männern die Ganztagsarbeit anerkannt wird, wird die Ganztagsarbeit von Frauen und Jugendlichen als Halbtagsarbeit gewertet, obwohl sie die gleiche Anzahl von Stunden gearbeitet und die gleiche Tätigkeit ausgeübt haben (Feldforschungsnotizen über eine Gemeinschaftsversammlung, Cotacachi, 16.2.2019).

Im Fall der Sierra wurde die Minga außerdem weitgehend von der institutionalisierten Politik übernommen. Die Praxis wird also nicht mehr nur von den Gemeinschaftsbehörden praktiziert, sondern auch von den Bürgermeister*innen in Großstädten, wie Quito, genutzt, um ihre Entwicklungspolitik zu »vermarkten« (Chumpi 2002, S. 17). Diese institutionelle Vereinnahmung, die meistens von einer multikulturellen Interpretation indigener Praktiken ausgeht, ohne jedoch ihre tieferliegenden Bedeutungen zu respektieren, haben die Minga zweifellos transformiert. In ländlichen Gebieten hat beispielsweise die sichtbarere Präsenz des Staates die Praxis der Minga durchgedrungen und sie stärker von klientelistischen und monetären Logiken abhängig gemacht. Im Fall von Cayambe hat die Verfügbarkeit von Geld den gemeinschaftlichen Sinn dieser Praxis verdrängt und die Teilnahme von Einzelpersonen und Familien an der Minga reduziert. In Cotacachi hingegen haben der staatliche Bau von Straßen und Autobahnen und die Veränderungen beim Bau von Häusern, die heute aus Zement sind, die Minga als notwendige Praxis zur Erleichterung des Gemeinschaftslebens ersetzt beziehungsweise obsolet gemacht.

Vor diesem Hintergrund muss die Minga als eine dynamische, transformierende und rekonfigurierbare Praxis verstanden werden, die auch von der Globalisierung, dem Markt und dem Konsum durchgedrungen wird. In einer Gemeinschaft von Cotacachi schlugen daher einige, vor allem junge, Menschen vor, keine Mingas mehr zu organisieren, da diese Praxis einen Rückschritt bedeute und die Modernisierung und den Fortschritt bremse. Anstatt der Minga fordern sie, dass der Staat in den autonomen Kichwa-Gemeinschaften eine größere Präsenz zeigen sollte oder dass Geld gesammelt werden soll, um qualifizierte Arbeitskräfte für die Arbeiten einzustellen, die bislang durch Mingas und im Kollektiv durchgeführt wurden. Diese Szenarien, die das »Städtische« und die moderne »Entwicklung« als Ideal positionieren, sind Zeugnis der Verinnerlichung von Minderwertigkeitsgefühlen und von einem disqualifizierenden Denken gegenüber dem Ländlichen, dem Indigenen und den Kichwa-Praktiken der Vorfahren.

Die Minga als alternativer Horizont für das Verständnis von Partizipation

Das oben Beschriebene ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie sich die Minga innerhalb der Kichwa-Gemeinschaften verändert hat, sondern auch dafür, wie sie von der nicht-indigenen Welt übernommen wurde. Damit ist die Minga nicht mehr nur eine »Kichwa-­Praxis«. Diese Veränderung der Minga fand in einem Kontext statt, in dem die kulturellen Praktiken der indigenen Gemeinschaften in der Andenregion institutionalisiert wurden (Andolina et al. 2005, S. 136), was jedoch oft das politische Transformationspotenzial dieser Praktiken zunichte gemacht hat. Parallel zu diesem Prozess gibt es dennoch einige politische, sowohl indigene als nicht-indigene, Projekte, die versuchen, die Minga in ihrem gemeinschaftlichsten Sinne zu nutzen, um alternative Horizonte der Demokratie, Solidarität und Reproduktion des Gemeinsamen aufzuzeigen.

Ein Beispiel dafür ist, wie die ecuadorianische indigene Bewegung die Minga nutzt, um ihre Kritik am westlichen Konzept der Demokratie, wie es vom modernen Staat praktiziert wird, zu äußern. Sie kritisieren, dass die vom ecuadorianischen Staat geförderte Praxis der Demokratie keine effektive Partizipation der gesamten Bevölkerung ermöglicht, da dieses Demokratieverständnis immer noch von einem individualisierten und rassistischen Partizipationsverständnis »kolonisiert« ist (Chumpi 2002, S. 15). Dieses Verständnis erkennt nicht an, dass der einzige Weg, sich den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Gesellschaft zu stellen, nur darin bestehen kann, eine gemeinschaftliche Vision von Partizipation zu verfolgen. Dieses weitere und gemeinschaftliche Verständnis der Minga zielt nicht nur auf die Notwendigkeit ab, die Idee der Demokratie epistemisch zu transformieren, sondern appelliert an konkrete Praktiken der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit, die von den indigenen Gemeinschaften praktiziert werden, um ein System der sozialen Partizipation aufzubauen.

Die Minga wurde auch von urbanen politischen Gruppen adoptiert, die in dieser konkreten Praxis der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit eine reale gemeinschaftsbasierte Alternative zum Aufbau von Solidarität gefunden haben. In diesem Fall liegt das politische Potenzial der Minga darin, dass die Praxis nur dann Sinn macht, wenn sie mit dem »Ayllu«8 verbunden ist; d.h. wenn sie aus der Gemeinschaft entsteht und für sie praktiziert wird. Dies ist der Fall beim Antibergbau-Kollektiv »Minka Urbana« in Ecuador, das den Begriff der Minga übernommen hat, um zu unterstreichen, dass stärkere Solidaritätsbeziehungen zwischen den ländlichen und urbanen Gebieten aufgebaut werden müssen. Für dieses Kollektiv liegt der einzige Weg, Mega-Bergbauprojekte in Ecuador zu verhindern, darin, die Solidarität der Stadt mit dem Wunsch der ländlichen, bäuerlichen und indigenen Territorien, in Würde zu leben“ zu verbinden (Minka Urbana 2016).

Diese indigenen und nicht-indigenen Beispiele der Minga-Praxis laden uns dazu ein, über die Partizipation als eine kollektive Praxis neu nachzudenken. Die zugrundeliegende Rolle von Beziehungen und »Gemeinschaft schaffen« in der Minga zeigt uns, dass es keine politische Praxis der effektiven Partizipation geben kann, wenn man nicht auch ein aktiver Teil des Kollektivs ist. Auf diese Weise stellt die Praxis der Minga eine wirkliche dekoloniale Alternative zu üblichen Formen der hegemonial praktizierten Partizipation dar, die nach wie vor diejenigen Menschen und Bevölkerungsgruppen, die historisch als »Andere« konstituiert wurden, von politischen Entscheidungsprozessen und Institutionen ausschließt.

Anmerkungen

1) Für den vorliegenden Artikel haben wir historische und theoretische Forschung zur Minga mit unseren Erfahrungen und ethnographischen Erkenntnissen kombiniert. Die Co-Autorin Kuymi Tambaco, die aus einer Kichwa-Gemeinschaft in Cotacachi stammt, nahm aktiv an der Praxis der Minga und einem alltäglichen Austausch mit ihrer Gemeinschaft teil. Beide Autorinnen reflektieren über diese Praxis aus ihren unterschiedlichen ethnographischen Forschungsprojekten: Kuymi Tambaco führte ethnographische Forschung in Cayambe und Cotacachi durch, Andrea Sempértegui in den Kichwa-Amazonasgebieten an den Flüssen Bobonaza und Curaray.

2) »Rucu« ist ein Kichwa-Begriff, der alt oder uralt bedeutet. Der Begriff »Rucus« wird heute in Kichwa und Spanisch verwendet und bezieht sich auf sehr alte Menschen.

3) »Chakra« ist ein Kichwa-Begriff und bezeichnet eine landwirtschaftliche Anbaufläche.

4) »Kurakas« und »Varayus« sind Autoritätspersonen in Kichwa-Gemeinschaften.

5) »Puntas« ist ein Zuckerrohrschnaps.

6) »Chicha« ist ein Maniokbier.

7) »Cucabi« ist ein Kichwa-Wort für Essen, das von der indigenen Bevölkerung der Provinz Imbabura verwendet wird. Der Cucabi ist jedoch nicht irgendein Lebensmittel, sondern ein Lebensmittel, das aus verschiedenen Andenkörnern und Kohlenhydraten besteht. Jede Person, die zur Minga geht, bringt eigenen Cucabi mit und teilt ihn mit den anderen, wenn die Gemeinschaftsarbeit fertig ist (Lema 2007).

8) »Ayllu« ist ein Kichwa-Begriff für Gemeinschaft und Familie.

Literatur

Andolina, R.; Radcliffe, S.; Laurie, N. (2005): Gobernabilidad e Identidad: Indigenidades Transnacionales en Bolivia. In: Dávalos, P. (Hrsg.): Pueblos Indígenas, Estado y Democracia. Buenos Aires: CLACSO, S. 133-170.

Chumpi, M. (2002): Reflexiones Iniciales sobre la Participación Democrática Ciudadana en los Acontecimientos de Enero de 2002 – Encrucijadas y Ambigüedades. In: La Minga de la Democracia Indígena. Instituto para el Desarrollo Social y de las Investigaciones Científicas (INDESIC), YamaiPacha Especial, S. 13-21.

Faas, A.J. (2017). Reciprocity and Vernacular ­Statecraft – Andean Cooperation in Post-disas­ter Highland Ecuador. The Journal of Latin American and Caribbean Anthropology, Vol. 22, Nr. 3, S. 495-513.

Habermas, J. (1975): Legitimation Crisis. Boston: Beacon Press.

Lema, S. (2007): Tumarina y el Maíz. Quito: Universidad San Francisco de Quito.

Lopez Cortes, O. (2018): Significados y representaciones de la minga para el pueblo indígena Pastos de Colombia. Psicoperspectivas, Vol. 17, Nr. 3, S. 1-13.

Minka Urbana (2016): Únete a la Minka Urbana por Territorios Libres de Minería; facebook.com/MinkaUrbana.

Mouffe, C. (2000): On the Political. New York: Routledge.

Kuymi Thayari Tambaco Díaz (M.A. in Lokaler und Territorialer Entwicklung, FLACSO), indigene Kichwa-Frau aus Cotacachi, Ecuador, studiert zurzeit Geschlechter- und Entwicklungsstudien (Master) an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) in Quito. Kuymi, indigene feministische Aktivistin und Mutter eines jugendlichen Sohnes, ist außerdem Dozentin für Kichwa-Sprache an der San Francisco University in Quito und an der Nationalen Bildungsuniversität. Ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf Geschlecht, Klasse, Ethnizität, indigene Jugendliche und Territorium.
Andrea Sempértegui (M.A. Politische Theorie an der J.W. Goethe Universität in Frankfurt a.M.), Mestiza-Frau aus Ecuador, lebt seit 2009 in Deutschland. Zur Zeit ist sie Doktorandin und Lehrbeauftragte am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-­Liebig-Universität Gießen. Sie ist Mitglied des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) und des Forschungsnetzwerks »Queer Studies, Decolonial Feminisms and Cultural Transformations«. Ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf territoriale Kämpfe, Extraktivismus und populäre feministische Bewegungen in Lateinamerika.

Bewegte Forschung


Bewegte Forschung

Protest zwischen Wissenschaft und Politik

von Janina Rott und Max Schulte

Vom Protest der französischen Gelbwesten über die Besetzung zentraler Plätze im Arabischen Frühling oder bei Occupy bis zum Protest gegen Windkraftanlagen, von Demonstrationen gegen AfD-Veranstaltungen bis zu PEGIDA und dem Protest gegen Flüchtlingsunterkünfte – überall zeigt sich Protest. Die Autor*innen untersuchen Phänomene des Protests und der Protestakteure aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Dabei skizzieren sie zugleich, welches gesellschaftsverändernde, progressive Potential sowohl die Protestbewegungen wie die Bewegungsforschung in sich bergen.

Die Anerkennung von Protest als politisches Handlungsinstrument ist Teil eines längeren Rationalisierungs- und Normalisierungsprozesses (Neidhardt und Rucht 1993). So war es Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, Protest als irrationales Massenphänomen zu charakterisieren (exemplarisch Le Bon 1982): Die Masse sei verführbar und der*die Einzelne verliere in der Masse das Urteilsvermögen. Noch in den 1970er Jahren zählte man Protest zu den unkonventionellen Formen politischer Partizipation (Hoecker 2006, S. 10), zum Teil verbunden mit der Behauptung, es handele sich dabei um weniger legitime Handlungsformen. Am Ende dieses Normalisierungsprozesses wird die Legitimität nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt.

Interessant ist, dass der Begriff des Protests unscharf und wenig konzeptualisiert erscheint. Oft begnügt man sich – wie in der Einleitung zu diesem Artikel – mit Aufzählungen von Protestereignissen und -formen. Die große Bandbreite von Protestformen, -akteuren und -inhalten macht eine gemeinsame Einordnung schwierig, sowohl deskriptiv (welche Phänomene gehören dazu?) als auch normativ (welche Proteste sind legitim?). So treten derartige Fragen beispielsweise bei Protestereignissen, wie dem G20-Gipfel in Hamburg, deutlich zu Tage. Gründe genug, sich dem Phänomen des Protests und der ihn tragenden Akteure eingehender zu widmen. Wir tun dies mit dem Ziel vor Augen, am Ende nicht nur die wissenschaftliche Perspektive auf Protest deutlich gemacht zu haben, sondern das Ineinandergreifen von Wissenschaft und emanzipativem Potential zu skizzieren.

Protest und soziale Bewegungen

Eine grundlegende Definition von Protest verweist auf „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“ (Rucht 2003, S. 23). Zwei Fragen stellen sich im Anschluss: Was unterscheidet Protest mit dieser Definition und mit Blick auf die Phänomene, die wir oben benannt haben, von anderen Formen politischer Partizipation? Und wer sind die nicht-staatlichen Träger?

Wenn wir die Dimensionen politischer Partizipation betrachten (z.B. bei Hoecker 2006, S. 11), dann deckt Protest ein weites Spektrum unverfasster Partizipation ab. Gerade die große Bandbreite unterschiedlicher Aktions- und Organisationsformen zeichnet Protest aus. Die Aktionsformen können auf einem Kontinuum zwischen legal und illegal, zwischen gewaltlos und gewaltsam angesiedelt sein. Der individuelle Einstieg in den Protest ist niedrigschwellig, gleichzeitig aber oft mit hohem – auch körperlichem – Einsatz verbunden. Somit ist Protest in sehr unterschiedlicher Intensität möglich, von der genehmigten Mahnwache bis hin zur Blockade eines Castor-Transports.

Zu den maßgeblichen gesellschaftlichen Protestakteuren gehören die sozialen Bewegungen. Nicht weil sie die einzigen sind, die protestieren, sondern weil für sie Protest die „prägende Bewegungspraxis“ (Roth und Rucht 2008, S. 13) ist. Als »soziale Bewegung« verstehen wir das kollektive soziale Handeln für das gemeinsames Ziel, relevante Strukturen der Gesellschaft bzw. des Staates zu verändern oder zu verteidigen. Dabei muss eine Bewegung keineswegs auf einen Umbruch des gesamten Systems hinarbeiten, stattdessen können auch nur einzelne Elemente betroffen sein.

Um diese Ziele zu erreichen, weisen soziale Bewegungen eine gewisse Dauerhaftigkeit und Kontinuität auf. Sie sind daher permanent darum bemüht, weitere Menschen für die Bewegung zu mobilisieren und auch die bisherigen Mitglieder immer wieder zum aktiven Handeln zu motivieren. Sie müssen, wie es der Begriff schon sagt, ständig »in Bewegung bleiben«. Typisch dafür ist auch das Erzeugen eines starken Wir-Gefühls mittels (politischer) Symbolik, Mode, Umgangsformen, Sprache, Habitus etc. Aber wer engagiert sich in sozialen Bewegungen? Es sind nicht immer die, denen es am schlechtesten geht, die von außen gesehen am meisten Anlass zum Protest haben. Gerade wenn es um Proteste geht, die sich jenseits der sozialen Frage auf postmaterialistische Werte gründen, dann ist Protest oft ein Mittelschichtphänomen (Hellmann 1995, S. 144 ff.).

Des Weiteren zeichnen sich soziale Bewegungen durch eine geringe Rollenspezifikation aus, d.h. es gibt kaum festgeschriebene Rollen und somit auch keine feste Organisation. Auch wenn die verschiedenen Bewegungen durchaus einen unterschiedlichen Organisationsgrad aufweisen, ist dieser im Gegensatz zu formellen Organisationen (z.B. Vereine, Parteien) weitaus instabiler und unverbindlicher. Stattdessen gibt es in sozialen Bewegungen eine Vielfalt an Tendenzen, Organisationen und Aktionsansätzen (vgl. Beyer und Schnabel 2017, S. 13 ff.; Raschke 1991, S. 31 ff.).

Zusammenfassend lassen sich soziale Bewegungen somit als „Phänomene sozialen Handelns [definieren], bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen“ (Beyer und Schnabel 2017, S. 16).

Diese wissenschaftliche Definition grenzt sich sowohl von einem negativen Begriff von sozialen Bewegungen als irrationaler Masse (siehe Le Bon) als auch von einem emphatischen Bewegungsbegriff, der soziale Bewegungen als historische Akteure konzeptioniert, ab. Das öffnet den Blick auch für solche soziale Bewegungen, die nicht den klassischen Beispielen der Neuen Sozialen Bewegungen entsprechen, sondern z.B. einen autoritären Impetus haben.

Mit diesem Bild der Protestakteure und der großen Bedeutung, die der Mobilisierung zugeschrieben wird, stellt sich anschließend die Frage, wie diese Mobilisierung erklärt werden kann.

Antworten der Bewegungsforschung

Wenn wir von schlichten Ansätzen der Massenpsychologie oder der direkten Verbindung von Unzufriedenheit und Protest absehen, haben sich in der Bewegungsforschung in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Erklärungen für die Mobilisierungskraft sozialer Bewegungen herausgebildet.1

Eine ökonomisch geprägte Antwort auf die Frage der Mobilisierung ist – in starker Abgrenzung zur Massenpsychologie – der Ressourcenmobilisierungsansatz (McCarthy und Zald 1977). Hier wird, einfach formuliert, ein Bedingungsverhältnis zwischen den Ressourcen von Bewegungsorganisationen und ihrem Mobilisierungserfolg formuliert. Kurz gesagt: Mehr Ressourcen führen zu größerem Erfolg von Bewegungen. Erst der Zugang zu Ressourcen ermöglicht die Umwandlung von Unzufriedenheit in Mobilisierung. Die deutlichen Anleihen bei ökonomischen Begriffen und der Fokus auf Organisationen haben Kritik am Ressourcenmobilisierungsansatz hervorgerufen, weil wichtige Aspekte, wie die Umwelt der Bewegungen, die konkreten protestierenden Individuen und weniger strukturierte Protestphänomene, nur verkürzt einbezogen werden (Beyer und Schnabel 2017, S. 73 f). Trotz aller Kritik öffnet dieser Ansatz aber den Blick für die Rolle von Organisationen und für soziale Bewegungen als rational handelnde, strategische Akteure.

Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde von unterschiedlichen Wissenschaftler*innen der »Political Opportunity Structures«-Ansatz (della Porta 2013) geprägt, der im Gegensatz zur Theorie der Ressourcenmobilisierung die Rolle der Strukturen betont. Die Vertreter*innen des Ansatzes gehen davon aus, dass die Konfiguration des politischen Systems Protest entweder erschwert oder begünstigt. Dabei ist interessant, dass nicht nur die repressive Haltung eines Staates hemmend auf Protest wirken kann, sondern auch eine große Offenheit der politischen Institutionen. Warum protestieren, wenn die Interessen bereits durch etablierte politische Akteure aufgegriffen werden? Der Effekt struktureller Bedingungen darf dabei aber nicht als determinierend verstanden werden, sondern eben als Gelegenheitsbedingungen, die von sozialen Bewegungen wahrgenommen und genutzt werden müssen. Kritisiert wird an diesem Ansatz, dass hier tendenziell ein kausaler Zusammenhang zwischen Bedingungen und Protest formuliert wird, der sich empirisch nicht zeigen lässt.

Eine dritte Antwort ist Ergebnis eines »cultural turn«, der auch die Bewegungsforschung beeinflusst hat. Hier werden weniger Strukturen oder Ressourcen als vielmehr die kulturelle Bedeutungsarbeit sozialer Bewegungen in den Blick genommen. Mit Rückgriff auf Goffman (1977) formulieren als erste Snow et al. (1986) die Idee, dass der Erfolg sozialer Bewegungen maßgeblich von der strategischen Prägung von Themen und Begriffen (Framing) abhängig ist. Über dieses Framing gelingt es Bewegungen – oder auch nicht –, die Öffentlichkeit und andere Akteure zu mobilisieren. Die Perspektive des Framing öffnet damit den Blick für die besondere Bedeutung medialer Vermittlungsprozesse für soziale Bewegungen. Problematisch ist, dass sich der Framing-Ansatz stark auf Bewegungseliten, denen das strategische Framing zugeschrieben wird, konzentriert und weniger strategisch handelnde Akteure ausblendet (Beyer und Schnabel 2017, S. 186 ff.).

Wie so oft kann keiner der skizzierten Ansätze die Mobilisierung sozialer Bewegungen ganz erklären. Diese Feststellung hat in den letzten Jahrzehnten zu Weiterentwicklungen und Synthesen geführt.

Spannungsfelder der Bewegungsforschung

Neben die theoretischen Erklärungsversuche für das Handeln sozialer Bewegungen tritt eine umfangreiche empirische Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld. Dabei steht die Praxis der Protestforschung angesichts ihres Gegenstands vor methodischen und normativen Spannungsfeldern. Wir gehen davon aus, dass diese von Forschenden der Friedensforschung wiedererkannt werden.

Forschungshindernisse

Aus der Praxis sozialer Bewegungen ergeben sich oft Hindernisse für konkrete Forschungen. Manches Protesthandeln findet versteckt statt, manche Bewegung möchte nicht (kritisch bzw. wissenschaftlich) beobachtet werden, z.T. schlägt Forscher*innen Feindseligkeit entgegen (z.B. PEGIDA). Auch die Auftraggeber*innen können zur Skepsis gegenüber Protestforschung beitragen, wenn z.B. der Verfassungsschutz antifaschistische Bewegungen oder ein Innenministerium Fußball-Ultras untersuchen lässt (vgl. Teune und Ullrich 2018).

„Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“

Die Protestforschung ist, wie im Zitat (Bratanovic 2017) angedeutet, durch eine häufig anzutreffende Affinität der Forscher*innen mit dem Gegenstand geprägt. Viele Forscher*innen verstehen sich selber als Teil von Bewegungen oder grenzen sich – im Fall rechtsextremer Bewegungen – explizit von diesen ab. Dies geht oft über die auch in anderen Disziplinen übliche normative Positionierung der Forschenden hinaus. Die Klärung der Positionierung zwischen Nähe und Distanz zum Gegenstand bedarf daher einer erhöhten Reflexion (Rucht 2014, S. 87 f.), wenn dieses Spannungsfeld produktiv ausgehalten und genutzt werden soll. Die Auseinandersetzungen mit Bewegungen wie PEGIDA oder G20 sind Beispiele dafür, dass Protestforschung immer auch Teil einer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist, in der sich die Forscher*innen positionieren müssen.

Grenzen des legitimen Protests

Aus politischer und wissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage nach Grenzen des Protests. Wann wird Protest nicht mehr als legitim erachtet und als Konsequenz daraus mit öffentlicher Ächtung und staatlicher Repression konfrontiert? Ist ziviler Ungehorsam eine legitime Form des Protests? Es ist wichtig festzuhalten, dass es auf diese Frage keine objektive Antwort gibt, sondern die Frage der Legitimität gesellschaftlich und wissenschaftlich umkämpft ist.

Wozu Protestforschung?

Die Bewegungsforschung zieht ihre Legitimation einerseits aus der wissenschaftlichen Praxis der Ergebnisproduktion. Andererseits versuchen Forschende aber als Konsequenz der eigenen Positionierung auch, bewegungsrelevantes Wissen zu produzieren. Das kann zu einem Konflikt mit dem eigenen Wissenschaftsverständnis führen. Stelle ich meine Nähe zur Bewegung über die Standards wissenschaftlicher Arbeit? Kann ich beide Interessen miteinander in Einklang bringen?

Emanzipatorisches Potential

Für uns steht am Ende dieses kurzen Streifzugs durch Protest und Protestforschung die Frage nach dem gesellschaftsverändernden, progressiven Potential von Bewegungen, aber auch der Bewegungsforschung. Wir sind als Forscher*innen und als Protestierende nicht nur an der Wissensproduktion interessiert, sondern verfolgen auch politische und gesellschaftliche Ziele. Wir gehen davon aus, dass gerade aus den Spannungsfeldern, in denen soziale Bewegungen und Protestforschung stecken, ein emanzipatorisches Potential erwächst, das wir hier andeuten.

Forschung

Die Forschung zu sozialen Bewegungen und Protest hat das Potential, sowohl für die einzelnen Forscher*innen als auch für Bewegungen gewinnbringend zu sein. Die intensive Auseinandersetzung mit Protestierenden, ihren Lebenswelten und politischen Forderungen ermöglicht Forscher*innen neue Zugänge zur eigenen politischen Partizipation und verweist darauf, das Forscher*innen keine objektiven Beobachter*innen sind. Gleichzeitig kann die Forschung zu Protest auch für soziale Bewegungen hilfreich sein. Das Wissen, das über Bewegungen generiert wird, kann für diese einen praktischen Mehrwert haben. So können erforschte Probleme in Zukunft von Bewegungen verbessert und Strategien entwickelt werden. Eine partizipative und aktionsorientierte Forschung ermöglicht die im besten Fall gemeinsame Theorieentwicklung von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen.

Bewegungen

Ohne soziale Bewegungen als historischen Fortschrittsakteur zu verklären, sind sie und ihr Protest doch zentral für die Forderung nach einer besseren Welt. Protest hat einen Mehrwert, der in demokratischen ebenso wie in autokratischen politischen Systemen von großer Relevanz ist. So unterscheidet sich Protest, wie sich gezeigt hat, in seiner Form wesentlich von anderen Formen der Partizipation. Protest ermöglicht es, in Form von spontanem und nicht-institutionellem Handeln gesellschaftlich relevante Themenschwerpunkte zu setzen und den Diskurs zu verändern. Gleichzeitig wird dabei öffentlicher Druck ausgeübt, der die Legitimation staatlichen Handelns in Frage und somit auch auf den Prüfstand stellt, was wesentlich für die Legitimierung demokratischer Systeme ist. Gleichzeitig darf das damit einhergehende Risiko nicht übersehen werden. Protestakteure, die für autoritäre politische Forderungen eintreten, hat es immer gegeben und gibt es auch heute. Wir gehen daher davon aus, dass nicht alle sozialen Bewegungen ein emanzipatorisches Potential haben, es aber ohne soziale Bewegungen keine Emanzipation geben wird.

Anmerkungen

1) Unser Ziel ist hier vor allem eine Darstellung der grundlegenden Ideen und weniger eine Abbildung der Komplexität von Protestforschung. Ein Überblick findet sich z.B. bei Beyer und Schnabel 2017; Buechler 2011.

Literatur

Beyer, H.; Schnabel, A. (2017): Theorien sozialer Bewegungen – eine Einführung. Frankfurt/New York: Campus.

Bratanovic, D. (2017): „Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“ – Gespräch mit Peter Ullrich. Über die Widrigkeiten im Wissenschaftsbetrieb und die Gefahren der Vereinnahmung der eigenen Forschungen durch den Staat. junge Welt, 5.8.2017.

Buechler, S. M. (2011): Understanding social movements – theories from the classical era to the present. Boulder: Paradigm.

della Porta, D.(2013): Political opportunity/pol­itical opportunity structure. In: Snow, D.A. et al. (ed.): The Wiley-Blackwell encyclopedia of social and political movements. Wiley-Blackwell encyclopedias in social science, MA: Wiley, S. 956-961.

Goffmann, E. (1977): Rahmen-Analyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hellmann, K. (1995): Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Hoecker, B. (2006): Politische Partizipation – systematische Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – eine studienorientierte Einführung. Opladen: Barbara Budrich, S. 3-20.

Le Bon, G. (1982): Psychologie der Massen. Stuttgart: Kröner.

McCarthy, J.D.; Zald, M.N. (1977): Resource mobilization and social movements – A partial theory. American Journal of Sociology, Vol. 82, Nr. 6, S. 1212-1241.

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Teune, S.; Ullrich, P. (2018): Protestforschung mit politischem Auftrag? Forschungsjournal soziale Bewegungen. Vol. 31, Nr. 1-2, S. 418-424.

Janina Rott und Max Schulte arbeiten an der Universität Münster und beschäftigen sich u.a. mit sozialen Bewegungen.

»Shrinking Space«


»Shrinking Space«

Einschränkungen der Arbeit in und an Konflikten

von Christine Meissler

Stellen Sie sich vor, das Konto ihrer Einrichtung wird gesperrt und Sie können Ihren Angestellten keinen Lohn mehr zahlen. Die bisherige Genehmigung für ihren Verein wird Ihnen entzogen oder die jährlich erforderliche Verlängerung verweigert. Sie und ihre Familie werden bedroht, Ihr Büro und die dort Mitarbeitenden werden überfallen und ausgeraubt, Ihre Website gesperrt. Sie werden ohne erkennbaren Grund verhaftet und ohne Anklage monatelang festgehalten. Was für uns wie ein Alptraum klingt, ist für immer mehr Nichtregierungsorganisationen seit Jahren Realität.

Repression und Einschränkungen zivilgesellschaftlichen Handelns werden in immer mehr Ländern sichtbar, eindrücklich belegt im jährlich erscheinenden »Atlas der Zivilgesellschaft« anhand von Daten, die CIVICUS, die World Alliance for Citizen Participation, zusammentrug: Zwei Milliarden Menschen leben derzeit in Staaten, in denen zivilgesellschaftliches bzw. bürgerschaftliches Engagement durch staatliche Gewalt vollständig unterbunden wird. Nur vier Prozent der Menschen weltweit genießen uneingeschränkte Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und können ihre Anliegen frei äußern, an Demonstrationen teilnehmen oder eine zivilgesellschaftliche Organisation gründen. CIVICUS teilt die Staaten in fünf Gruppen ein: Länder, in denen der Raum für zivilgesellschaftliches Handeln »offen« ist (45 Staaten, vier Prozent der Weltbevölkerung), »beeinträchtigt« (40 Staaten, 14 Prozent der Weltbevölkerung), »beschränkt« (53 Staaten, 36 Prozent der Weltbevölkerung), »unterdrückt« (35 Staaten, 19 Prozent der Weltbevölkerung) oder »geschlossen« (23 Staaten, 27 Prozent der Weltbevölkerung) (Brot für die Welt 2019).

Einschränkungen erfolgen in vielen Ländern sehr systematisch durch die jeweilige Regierung. Repressive Gesetzgebung und Regulierungen beschränken die Mittel, die Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland empfangen dürfen. Partnerorganisationen von »Brot für die Welt« berichten von Bürokratisierung, Überregulierung und willkürlicher oder missbräuchlicher Auslegung von Verordnungen. Registrierungen werden suspendiert, entzogen oder verweigert. Die Finanzierung aus dem Ausland durch Organisationen wie »Brot für die Welt« wird verzögert oder ganz blockiert. Oft werden zusätzliche Steuern erhoben. Antiterrorismus-, Internet-, und Mediengesetze, aber auch das Strafrecht, beschneiden direkt und indirekt die bürgerlichen und politischen Menschenrechte. Repressive Änderungen des Versammlungs- und Demonstrationsrechts schränken soziale Bewegungen ein.

Gerade in Konfliktgebieten und fragilen Staaten gehen Repression und Einschüchterung auch von nicht-staatlichen Akteuren oder von para-staatlichen Gruppen, die vom Staat geduldet werden, aus. Gezielte Schmierkampagnen in sozialen Medien werden angefacht und verstärkt. Aber auch Printmedien, Radio und Fernsehen bereiten den Weg für Hetze und Hassreden, zeichnen Feindbilder und senken so mitunter die Schwelle zur tätlichen Gewalt, von der meist benachteiligte Minderheiten und Menschenrechtsverteidiger*innen besonders betroffen sind. Sie werden bedroht, verhaftet und ermordet.

Auch in Europa kommt der Trend zum »Shrinking Space«, zum enger werdenden Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft, immer mehr an. Gerade im letzten Jahr zeigten sich auch in Ländern der Europäischen Union und sogar in Deutschland Parallelen und Bezüge zur Situation unserer Partnerorganisationen, die unter »Shrinking Space« leiden. Vor allem in Ungarn, Österreich und Italien hat sich die Lage der Zivilgesellschaft verschlechtert. Besonders das Engagement für Flüchtlinge wird nun auch in der EU einschränkt, kriminalisiert und stigmatisiert. Beleidigende Rhetorik gegen Frauen, Menschen mit Behinderung, Flüchtlinge und Juden spaltet auch unsere Gesellschaft. Wenn beispielsweise das bürgerschaftliche Engagement für Flüchtlinge von Politiker*innen mit Begriffen wie „Anti-Abschiebe-Industrie“ verunglimpft wird, wenn das Recht auf Asyl angegriffen und die Arbeit der zivilen Seenotretter*innen massiv eingeschränkt wird und wenn Vereine, die sich politisch engagieren, ihre Gemeinnützigkeit verlieren und ihre Existenz damit gefährdet wird, dann erinnert das an beginnende Schmähkampagnen gegen Partnerorganisationen im Globalen Süden.

Was ist Zivilgesellschaft?

Als Zivilgesellschaft wird jedes soziale Handeln verstanden, das jenseits von Staat, Wirtschaft und Privatem liegt. Es ist der öffentliche politische Raum, in dem Vereine, Initiativen und gemeinnützige Organisationen aktiv sind. Sie können eine formelle Struktur haben, wie Nichtregierungsorganisationen oder Stiftungen. Sie können aber auch informell konstituiert sein, wie viele soziale Bewegungen. Die Zivilgesellschaft operiert zwar jenseits des Staates, doch kann sie nur existieren, wenn individuelle und kollektive Freiheiten gewahrt sind.

Zivilgesellschaftliche Organisationen können viele konstruktive Rollen in einer Gesellschaft spielen. Demokratische Staaten sind in Bezug auf eine lebendige Demokratie und den Interessensausgleich zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften auf das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure angewiesen. Sie schaffen Räume für Engagement, Zusammenarbeit und Beteiligung, ermöglichen Dialog und Austausch in der Gesellschaft, klären auf und informieren, haben einen Bildungsauftrag, engagieren sich in der Kinder- und Jugendarbeit oder bieten soziale Dienstleistungen an. Zivilgesellschaftliche Akteure setzen häufig soziale, umweltpolitische und menschenrechtliche Agenden in Gang.

Gerade da, wo Staaten ihre Verantwortung für soziale Belange nicht angemessen wahrnehmen und wo systematische Korruption herrscht, kommt der Zivilgesellschaft eine zentrale Kontrollfunktion zu. Zivilgesellschaftliche Akteure und Organisationen dokumentieren Menschenrechtsverletzungen, klagen Transparenz und Rechenschaftspflichten ein und bringen Reformen voran. Ihre unabhängigen Analysen sind häufig nicht nur an die eigene Regierung gerichtet, sondern auch an Gremien der Vereinten Nationen. »Schattenberichte« helfen z.B. einen authentischeren Eindruck von der Situation eines Landes zu gewinnen und Prozesse voranzubringen. Besonders in Ländern des Globalen Südens stellen zivilgesellschaftliche Akteure für Menschen, die benachteiligt sind – Frauen, Kinder, Indigene, sexuelle oder religiöse Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und Migrant*innen – ein wichtiges Sprachrohr und einen Schutzfaktor dar. Hierzu brauchen sie staatlich garantierte Rahmenbedingungen, wie Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit, aber auch Partizipationsmöglichkeiten, wie die Anhörung in Gesetzesverfahren, die Beteiligung von Bürgerinitiativen an Planungsverfahren oder weitgehende Rechte zur Informationsfreiheit.

Was sind die Gründe für »Shrinking Space«?

Von Repression sind in besonderem Maße die Gruppen betroffen, die sich kritisch gegen ungerechte Strukturen, Korruption, den uneingeschränkten Machtausbau und die Selbstbereicherung der Machtinhaber engagieren. Wo Regierungen den Verlust politischer und wirtschaftlicher Macht durch Oppositionsbewegungen befürchten, gehen sie besonders hart gegen die Zivilgesellschaft vor.

Proteste und die Einleitung rechtlicher Schritte durch Nichtregierungsorganisationen gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung – zum Beispiel im Zusammenhang mit großflächigem »Landgrabbing« und Projekten im Energiesektor, an denen auch europäische Unternehmen mitverdienen – werden in Zeiten der ökonomischen Aufholjagd von Schwellenländern als Störung wahrgenommen. Der Wettlauf um begehrte Bodenschätze und fossile Energievorräte verschärft die Lage. Der Verletzung der nationalen Gesetze sowie von Umwelt- und Sozialstandards durch Investoren und Unternehmen folgt die Kriminalisierung oder Diffamierung von Aktivist*innen, die sich gegen die Verstöße engagieren.

Auch der politische Machterhalt spielt eine wichtige Rolle. So beobachten zivilgesellschaftliche Gruppen in autokratischen Systemen, vor allem vor und nach Wahlen, eine Zunahme von Repressionen und systematischen Einschränkungen in Form neuer oder geänderter Gesetze. Beispiele hierfür sind die Reaktionen auf den »Arabischen Frühling« oder auf die Großdemonstrationen gegen Wahlbetrug in Äthiopien 2005 und Russland 2011.

Behinderungen der Arbeit in und mit Konflikten

Die Einschränkungen treffen nicht nur zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre Zielgruppen. Sie schaden massiv der sozialen und nachhaltigen Entwicklung in einem Land und somit der gesamten Bevölkerung.

Die Rolle einer Zivilgesellschaft, die sich an Werten wie Menschenwürde, Minderheitenschutz und Rechtsstaatlichkeit orientiert, für Friedensentwicklung ist unumstritten. Sie wirkt deeskalierend, beugt Gewaltausbrüchen vor und initiiert Versöhnungsprozesse. In Transformationsprozessen, zerfallender Staatlichkeit oder Konfliktsituationen kann sie dazu beitragen, gesellschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten. Wo bewaffnete Akteure das Sagen haben und eine Kultur der Straflosigkeit herrscht, ist es für Aktivist*innen besonders gefährlich, unabhängig zu handeln: 312 Morde in 27 Ländern zählte die Organisation »Frontline Defenders« allein im Jahr 2017. Zwei Drittel der getöteten Aktivist*innen verteidigten die Rechte von Land, Umwelt und indigenen Völkern, fast ausschließlich in Konflikten um Megaprojekte, etwa der Bergbau-, Energie- oder Agrarindustrie. Nur in zwölf Prozent der erfassten Fälle wurden Verdächtige verhaftet (Frontline Defenders 2018).

Auch von den so genannten Antiterrormaßnahmen sind zivilgesellschaftliche Akteure betroffen, die in Konfliktgebieten arbeiten. Dazu trägt ein US-amerikanisches Gesetz bei: Unabhängig von ihrer Nationalität droht Personen in den USA bis zu 15 Jahren Haftstrafe, wenn sie einer Organisation, die als »ausländische Terrororganisation« gelistet ist, »materielle Unterstützung« gewähren. Dieses Gesetz beeinflusste weltweit die nationalen Gesetzgebungen und führte auf der ganzen Welt zu Beschränkungen der humanitären, Friedens- und Menschenrechtsorganisationen. Zu den strafbaren Handlungen zählen explizit nicht nur das Bereitstellen von finanziellen Mitteln oder Eigentum, sondern auch Beratung und Schulungen sowie die Möglichkeit, Treffen zu organisieren oder als Mediator zu fungieren. Damit werden Schwerpunkte der Zivilen Konfliktbearbeitung vor Ort kriminalisiert.

Auch humanitäre Hilfsorganisationen stellen derartige Kontaktverbote vor enorme Herausforderungen. Um Zugang zu einer im Konfliktgebiet notleidenden Bevölkerung zu erhalten, müssen sie mit den unterschiedlichen am Konflikt beteiligten Akteuren verhandeln. Außerdem ist es meist unmöglich zu garantieren, dass prinzipiell kein noch so kleiner Anteil der Hilfe Extremisten erreicht. Den Preis dafür zahlen unzählige Menschen in Not mit ihrem Leben. Es wird z.B. angenommen, dass die Beschränkung durch Antiterrorismusgesetze in den USA und Großbritannien dazu beigetragen hat, dass Menschen während der großen Hungersnot in von der islamistischen Miliz al-Shabaab kontrollierten Regionen in Somalia 2011 nicht versorgt werden konnten. Die Hungersnot führte damals zum Tod von 250.000 Menschen (Burke 2017).

Geber fördern immer weniger Projekte in Gebieten, die von Gruppen kontrolliert werden, die als Terroristen gelistet sind. Organisationen, die in solchen Regionen arbeiten, haben damit immer weniger Zugang zu finanzieller Förderung. Hinzu kommt die Verweigerung von Finanzdienstleistungen für zivilgesellschaftliche Organisationen im Zuge des so genannten »Derisking«: Wegen möglicher hoher Strafen wenden Banken die Regel, ihre Kunden auf Verbindungen zu Terrorismus zu untersuchen, sehr rigide an, lehnen die Bearbeitung »verdächtiger« grenzüberschreitender Überweisungen ab oder weisen einzelne zivilgesellschaftliche Organisationen als Kunden ganz ab. Dieser Mangel an Finanzierungsmöglichkeiten wirkt sich vor allem auf die Nachhaltigkeit zivilgesellschaftlicher Friedensförderung aus (Duke Law und WPP 2017, S. 46 f). Frauenbasisorganisationen sind davon besonders oft betroffen. In einer Umfrage unter Frauenorganisationen, die in Konflikt- oder Postkonfliktgebieten arbeiten, gaben 90 Prozent an, dass Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung negative Auswirkungen auf ihre Friedensarbeit, die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter im Allgemeinen haben (Duke Law und WPP 2017, S. 15).

»Do no harm«-Prüfung als erster Schritt

Diese wohl nicht intendierten Auswirkungen haben eine tragische Ironie: Eine Beteiligung an Friedens-, Wiederaufbau- oder Versöhnungsprozessen, die zur Verhinderung von Extremismus und Gewalteskalation beitragen kann, wird nahezu unmöglich gemacht.

Es bedarf einer Überprüfung, wie sich Antiterrorgesetze, die Reduktion von finanzieller Förderung und die Verweigerung von Finanzdienstleistungen auf zivilgesellschaftliches Engagement auswirken und was die Folgen für Frieden und Entwicklung sind. Erforderlich sind sorgfältige Risikoanalysen und Prüfverfahren und eine klare Orientierung am »Do no harm«-Prinzip. Darüber hinaus müssen Geber dafür sorgen, dass ihre eigenen Verfahren zur Rechenschaftslegung so ausgestaltet werden, dass sie Partner nicht in Gefahr bringen. Und sie müssen alle erdenklichen Spielräume in ihren Regelwerken ausnutzen, um sicherzustellen, dass zivilgesellschaftliche Initiativen die dringend benötigten Finanzmittel auch erhalten.

Literatur

Brot für die Welt (2019): Atlas der Zivilgesellschaft 2019 – Report zur weltweiten Lage. Berlin.

Brot für die Welt (2017): The impact of inter­national counter-terrorism on civil society organizations – Understanding the role of the Financial Action Task Force. Berlin.

CIVICUS (2018): People Power under Attack – A Global Analysis of Threats to Fundamental Freedoms. Johannesburg, South Africa.

Duke Law International Human Rights Clinic; Women Peacemakers Program (2017): Tight­ening the Purse Strings – What Countering Terrorism Financing Costs Gender Equality and Security. Durham, North Carolina/USA.

Frontline Defenders (2018): Annual Report on Human Rights Defenders at Risk in 2017. Blackrock, Ireland.

Burke, J. (2017): Anti-terrorism laws have ‘chilling effect’ on vital aid deliveries to Somalia. Guard­ian, 26. April 2017.

Müller, K.; Schwarz, C. (2018): Fanning the Flames of Hate – Social Media and Hate Crime. Veröffentlicht am 30. November 2018; ssrn.com/abstract=3082972.

Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (ZZE) (2011): Dimensionen von Zivilgesellschaft, 2011, zze-freiburg.de/themen/­zivilgesellschaft.

Christine Meissler ist seit 2013 als Referentin für den Schutz der Zivilgesellschaft bei »Brot für die Welt«. Zuvor beschäftigte sie sich von 2007 bis 2013 als Referentin und Projektleiterin bei FriEnt und InWEnt vor allem mit Friedensentwicklung. Als Mitarbeiterin und Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz war sie von 2003 bis 2006 in Genf, Manila und Addis Abeba tätig. Sie ist Diplom-Politologin und hat einen Master in International Human Rights Law.

Gemeinsam entscheiden


Gemeinsam entscheiden

Perspektiven und Risiken von Partizipation für eine sozial-ökologische Transformation

von Laima Eicke, Maja Hoffmann, Thomas Kopp

Die Lebensweise breiter Bevölkerungsschichten im Globalen Norden ist ursächlich verantwortlich für gravierende globale Probleme, wie die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, Krieg, Gewalt und Vertreibung. Dieser Befund ist Ergebnis des Konzeptes der »imperialen Lebensweise«. Das Konzept der »solidarischen Lebensweise« hingegen wagt den Versuch, eine derart zerstörerische Gesellschaftsorganisation zu überwinden. Doch wer entscheidet darüber, in welcher Gesellschaft wir heute leben und in welcher wir künftig leben wollen? Wer partizipiert an maßgeblichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen und wer nicht?

Die imperiale Lebensweise ist nach Brand und Wissen (2017) eine strukturell, kulturell und individuell tief verankerte gesellschaftliche Organisationsform, die auf der systematischen, exklusiven und unbegrenzten Ausbeutung von Natur und menschlicher Arbeitskraft im globalen Maßstab beruht. Sie beschreibt nicht einen individuell gewählten Lebensstil, sondern ist die bestimmende Lebensform breiter Gesellschaftsschichten, vor allem im Globalen Norden, zunehmend aber auch einer wachsenden Mittelschicht in sich »entwickelnden« Ländern des Globalen Südens. Stabilisiert wird sie durch einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens über ihre Normalität sowie durch Infrastrukturen und Institutionen, die zumindest mittelfristig ein bestimmtes Verhalten vorgeben und ein anderes verunmöglichen.

Mit Krieg und gewaltsamen Konflikten ist die imperiale Lebensweise aufs Engste verknüpft: Die Ausbeutung von Natur und Menschen mittels ungleicher Handelsverträge oder des systematischen Einsatzes von Zwangsmitteln, Gewalt und Militärinterventionen ist seit der Kolonialzeit fester Bestandteil des modernen Gesellschaftsmodells. Heute sind die Methoden nur teilweise subtiler geworden, etwa wenn die Bundeswehr am Horn von Afrika internationale Handelsrouten sichert oder wenn durch die »Strukturanpassungsprogramme« des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ganze Volkswirtschaften umgebaut werden. Auch Konflikte, die mit den alltäglichen Praktiken der imperialen Lebensweise einhergehen, werden billigend in Kauf genommen: Rohstoffkriege im Kongo z.B. werden durch die IT-Nutzung der „transnationalen Verbraucherklasse“ (Sachs und Santarius 2005) genauso verschärft wie Landkonflikte im Amazonas durch Fleischproduktion und -konsum hierzulande (Kopp et al. 2017).

Als Gegenentwurf zu dieser imperialen Lebensweise entwerfen Ambach et al. (2019) mit dem Konzept der »solidarischen Lebensweise« eine gesellschaftliche Organisationsform, in der alle Menschen ihre Bedürfnisse verwirklichen können, ohne dabei auf Kosten anderer oder der Natur zu leben. Stattdessen steht die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Menschen sowie im Verhältnis zur Umwelt im Zentrum. Daraus erwachsen gemeinsame Verantwortung und Sorge füreinander, gemeinsames Entscheiden und Handeln sowie Suffizienz. Der notwendige und angestrebte Übergang von der einen, nicht-nachhaltigen Gesellschaftsform zu einer anderen, nachhaltigen Lebensweise wird häufig als »sozial-ökologische Transformation« bezeichnet.

Dieser Beitrag möchte zunächst skizzieren, welche Formen Partizipation in der imperialen Lebensweise annimmt, und in einem zweiten Schritt diskutieren, inwiefern eine Ausweitung von Partizipation hilfreich für das Ziel einer sozial-ökologischen Transformation hin zu einer künftigen solidarischen und damit friedensfördernden Lebensweise sein könnte.

Eingeschränkte Partizipation in der imperialen Lebensweise

Obwohl die imperiale Lebensweise von breiten Bevölkerungsschichten im Globalen Norden gelebt wird, handelt es sich nicht um eine Gesellschaftsform, über die demokratisch entschieden wurde. Über ihre Konstitution und künftige Entwicklung bestimmen in der Regel nur wenige Menschen (Brand und Wissen 2017, Kopp et al. 2017); die Partizipation an grundlegenden Entscheidungen ist eingeschränkt. Wir verstehen Partizipation in diesem Beitrag als Teilhabe am Gemeinwesen und Mitbestimmung an Entscheidungsprozessen zur Gestaltung des Gemeinwesens. Dies umfasst neben der formalen politischen Sphäre auch Wirtschaftsfragen, also die Grundbedingungen materieller Existenz.

Partizipation in der imperialen Lebensweise ist in erster Linie charakterisiert durch die Vorstellung, gesellschaftliche Teilhabe bedeute primär Teilhabe an materiellem Konsum. In historischer Perspektive ist das verständlich: Die Etablierung der modernen Konsum- und Wachstumsgesellschaft im Fordismus der Nachkriegszeit ermöglichte breiten Massen die Teilhabe am materiellen Wohlstand, verstanden als Zugang zu Arbeitseinkommen und Konsumgütern. Partizipation wird daher oftmals als individuelle Kaufentscheidung verstanden bzw. als die oft behauptete Möglichkeit, durch ethische Konsumentscheidungen an der Ausgestaltung globaler Handelsbedingungen mitwirken zu können. Bürger*innen werden in dieser Lesart auf ihre Rolle als Konsument*innen reduziert, die lediglich aus einem vorgegebenen, hinsichtlich des Herstellungsprozesses intransparenten Angebot auswählen können. Die Rahmenbedingungen der globalen Ökonomie, ihre Funktionsweise, Machtstrukturen und Produktionsprozesse stehen dabei nicht zur Disposition.

Die Bürger*innen einer repräsentativen Demokratie haben zwar weiterreichende Befugnisse: Es können, wenigstens indirekt, soziale und ökologische Produktionsstandards festgelegt werden. Dennoch bleibt der reale Einfluss der Bürger*innen oftmals eingeschränkt: Die maßgeblichen politischen Entscheidungsorgane werden – wenn überhaupt – nur durch sporadisch stattfindende Wahlen besetzt; wirtschaftliche Entscheidungsträger*innen werden zumeist gänzlich undemokratisch bestimmt. Auch demokratisch legitimierte Institutionen entscheiden teilweise gegen den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung über Rahmenbedingungen, wie etwa bei den umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP und CETA (ARD 2016). Die von Entscheidungen unmittelbar Betroffenen werden meist nicht oder nur unzureichend eingebunden, erst recht nicht, wenn man sich die globalen und die Zukunft betreffenden Auswirkungen der imperialen Lebensweise vergegenwärtigt. Erschwerend kommen Demokratiedefizite hinzu in Form der ungebremsten Einflussnahme mächtiger Lobbygruppen auf die Politik (Lange et al. 2017), bis hin zu offener Korruption, wie jüngst der »Diesel-Skandal« erneut zeigte.

Immerhin: Die eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten werden erfreulicherweise häufig genutzt. Allerdings werden deren Grenzen, zum Beispiel vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe, immer deutlicher. Ethische Konsumentscheidungen erscheinen oft wirkungslos, ebenso wie zaghafte Reformen gewählter Entscheider*innen, denen aktuell wöchentliche und weltweite Großdemonstrationen einer jungen Generation mit ihrem Wunsch nach Veränderung gegenüberstehen. Es stehen wichtige Entscheidungen über Weichenstellungen für unsere Zukunft an. Damit stellt sich die Frage, wer in welcher Form an diesen Entscheidungen beteiligt ist.

Voraussetzungen für erweiterte Partizipation schaffen

Demokratie bedeutet Volksherrschaft, und das bedeutet, regelmäßig mitzubestimmen und zugleich Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Diese Aufgabe beschränkt sich nicht darauf, alle paar Jahre ein Kreuzchen zu machen. Vielmehr ist gelebte gesellschaftliche Partizipation ein kontinuierlicher, voraussetzungsvoller Prozess. Ein wichtiger Punkt ist die Offenheit und Transparenz von Entscheidungsorganen – nur dann können aktuelle Entwicklungen mitverfolgt und eigene Ideen eingebracht werden. Doch während die Verhandlungen von Gesetzen im Bundestag öffentlich sind und online per Livestream mitverfolgt werden können, sind drei Viertel der Ausschusssitzungen, in denen die Gesetzestexte erarbeitet werden, geschlossen. Anträge, dies zu ändern, wurden zuletzt 2018 eingereicht, aber bislang abgelehnt (Bündnis 90/Die Grünen 2019).

Eine prominente Idee für mehr Mitbestimmung ist die Integration von Elementen der Direkten Demokratie, wie beispielsweise in der Schweiz. In einzelnen deutschen Bundesländern ist es erlaubt, Volksbegehren zu starten, um wichtige Anliegen auf die Agenda der Politik zu bringen. Erfolgreich wurde z.B. erst kürzlich in Bayern das Volksbegehren für Erhalt und Förderung der Artenvielfalt durchgeführt. Die Organisation Mehr Demokratie e.V. setzt sich seit 30 Jahren für bundesweite, verbindliche Volksbegehren ein.

Direkte Demokratie birgt aber auch Gefahren. Eine politische Stimmung kann innerhalb kurzer Zeit aufgeheizt werden und kippen. Parteien können dies nutzen, um problematische Interessen durchzusetzen; z.B. waren der Brexit oder das Minarettbauverbot in der Schweiz Ergebnis von nationalistischem Populismus. Umso wichtiger ist eine rechtliche Verankerung der Werkzeuge der Direkten Demokratie, damit sie mit den Prinzipien einer solidarischen Lebensweise übereinstimmen. Die »Ewigkeitsklausel«, die bestimmte Teile des Grundgesetzes schützt, ist ein Instrument hierfür.1 Darüber hinaus ist es auch Aufgabe von Bildungseinrichtungen, Menschen darauf vorzubereiten, sich kritisch eine Meinung zu bilden und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.

In der Sphäre der formalisierten Politik sind also verschiedene Formen der Partizipation möglich. Darüber hinaus werden Vorschläge diskutiert, Partizipation grundsätzlicher zu verstehen und ihren Geltungsbereich zu erweitern. Denn während wir in der politischen Sphäre beispielsweise über Möglichkeiten verfügen, relevante Informationen über staatliche Tätigkeiten in Behörden per Informationsfreiheitsgesetz zu erfragen, sind Informationen über Unternehmensaktivitäten und Lieferketten sehr begrenzt zugänglich und Entscheidungsprozesse darüber nur einer sehr begrenzten Zahl Menschen (etwa in Unternehmenszentralen) zugänglich. Zwar gibt es Unternehmensformen wie Genossenschaften oder Kooperativen, in denen betriebliche Entscheidungen, z.B. über Investitionen und Löhne, von allen Mitarbeiter*innen und Anteilseigner*innen demokratisch getroffen werden. Dennoch schließt dies nur teilweise die Menschen ein, die von diesen Entscheidungen am Ende betroffen sind. Auch ermöglicht dies keinerlei Teilhabe an Entscheidungsprozessen über die Ausrichtung des Wirtschaftssystems insgesamt. Für eine sozial-ökologische Transformation ist zudem das Beenden bestimmter Strukturen und Praxen nötig (»Exnovation«) – allerdings ist fraglich, ob sich ein Kohlekonzern selbst unter demokratischer Führung dazu durchringen kann, sämtliche Arbeiter*innen zu entlassen und den Betrieb stillzulegen.

Hier setzt das Konzept der Wirtschaftsdemokratie an. In einem grundsätzlichen Sinne verstanden, meint es Gewaltenteilung zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht sowie das gleiche Recht aller auf Mitbestimmung und -gestaltung in ökonomischen Angelegenheiten, analog zur staatlichen Demokratie (Johanisova und Wolf 2012). Dies würde deutlich erweiterte Mitbestimmung über Zweck, Mittel und Gestaltung von u.a. Arbeit, Produktion, Konsum, Handel, Investitionen oder Geldschöpfung bedeuten – und neue Formen der Entscheidungsfindung und Gewaltenteilung auf verschiedenen Ebenen erfordern. Ansprüche an erweiterte Demokratie in diesem Sinne sind bereits Gegenstand vielfältiger Debatten und Praktiken weltweit, etwa Commons, Energiedemokratie, Landrechte, Wassersouveränität, Sorgeräte und andere Rätesysteme, Ecoswaraj, Parecon, Schulden-Audits, Transition Towns oder Ernährungssouveränität, Letztere z.B. verwirklicht im Prinzip der Solidarischen Landwirtschaft (Hoffmann 2018).

Trotz solcher Beispiele funktionierender Wirtschaftsdemokratie in Teilbereichen und begrenztem Ausmaß gibt es viele offene Fragen zu ihrer möglichen Ausweitung und Ausgestaltung vor dem Hintergrund komplexer, arbeitsteiliger Gesellschaften. Um Wirtschaftsdemokratie sinnvoll zu organisieren, bedürfte es beispielsweise einer De-Globalisierung bzw. dezentralen Regionalisierung der meisten Wirtschaftssektoren. (Globale) Solidarität und Verantwortung oder möglichst hierarchiefreie Strukturen wären hierbei keine Selbstläufer. Auch wäre Versuchen in diese Richtung der Vorwurf der Planwirtschaft und Sowjet­romantik sicher, ebenso der Ineffizienz oder der Sorge, dass nicht alle in allen Dingen mitreden können oder wollen.

Insgesamt beruht die Möglichkeit der demokratischen Teilhabe aller Menschen an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen auf einem System, das den Menschen die Freiheit ermöglicht, sich aktiv einzubringen. Wenn Menschen Tag für Tag acht und mehr Stunden arbeiten müssen, um sich den Alltag leisten zu können, haben sie kaum mehr Zeit und Kraft, um sich politisch oder gesellschaftlich zu engagieren. Daher wären eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung und andere sozialpolitische Maßnahmen zur Absicherung materieller Grundbedürfnisse wichtige Voraussetzungen für eine umfassende Partizipation.

Partizipation für eine sozial-ökologische Transformation

Entscheidende Bereiche, in denen über die Zukunft unserer Gesellschaft entschieden wird, bleiben in der imperialen Lebensweise also demokratischer Mitbestimmung verschlossen. Partizipation im aktuellen institutionellen Rahmen ist nicht ausreichend gewährleistet, um grundlegende Weichenstellungen zur Überwindung der imperialen Lebensweise vorzunehmen. Dabei fehlt es sowohl an effektiven institutionellen Instrumenten zur Partizipation als auch an wichtigen Voraussetzungen, um diese wahrzunehmen, wie z.B. Transparenz und eine Absicherung finanzieller und zeitlicher Ressourcen. Eine Ausweitung bestehender Formen der Partizipation wie auch ihre Ausweitung auf andere Formen und Bereiche (wie z.B. den Wirtschaftsbereich) betrachten wir jedoch als zentral für eine solidarische Lebensweise, trotz der Risiken, die das bergen kann.

Die Rolle von Partizipation als sozial-ökologische Transformationsstrategie selbst bleibt weiterhin offen. Es gibt bereits heute zahlreiche Experimentierräume der Partizipation, etwa in der Solidarischen Landwirtschaft oder in Kommunen, die Finanzentscheidungen in einem Bürger*innenhaushalt aushandeln lassen. Diese Räume können neben einem Lernprozess über Lebens­mittel­anbau oder städtische Verwaltung der Finanzen dazu beitragen, demokratische Praxen zu erlernen. Dies ist insofern sehr wichtig, als Menschen hierzulande in der Regel keinerlei Erfahrung mit Formen direkter Demokratie bzw. Partizipation haben, die über erprobte Instrumente wie Volksentscheide hinaus gehen. So können Menschen Aushandlungsprozesse verschiedener Interessen erproben, um gesellschaftliche Konfliktlösung inklusiv und mit friedlichen Mitteln zu gewährleisten.

Gleichzeitig sind Partizipation Grenzen gesetzt, und sie ist kein Allheilmittel. Oftmals beschränkt sie sich auf eine Auswahl aus vordefinierten Möglichkeiten innerhalb der Grenzen institutioneller Pfadabhängigkeiten. Und selbst wenn es gelingt, diese aufzubrechen, ist Partizipation nicht gefeit gegen Populismus und potenziell rückschrittliche Entwicklungen. Doch besonders die aktuellen Herausforderungen im Klima- und Umweltschutz machen deutlich, dass sich global weite Teile der Bevölkerung – und allen voran eine junge Generation – mit ihrem Wunsch nach einer zukunftsgerichteten, sozial-ökologischen Transformation nicht ausreichend repräsentiert sehen und mehr Mitsprache in Politik und Wirtschaft auf der Straße einfordern.

Anmerkung

1) Artikel 19(2) des Grundgesetzes lautet: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“

Literatur

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Bündnis 90/Die Grünen – Bundestagsfraktion (2019): Ausschüsse sollen öffentlich tagen. 21.1.2019; gruene-bundestag.de.

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Lange, T.; Deckwirth, C.; Sawatzki, A.; Katzemich, N. (2017): Lobbyreport 2017. Köln: LobbyControl – Initiative für Transparenz und Demokratie e.V.

Sachs, W.; Santarius, T. (2005): Fair Future – begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit. München: C.H. Beck.

Maja Hoffmann ist Doktorandin in Nachhaltigkeitswissenschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Laima Eicke forscht am Institute for Advanced Sustainability Studies Potsdam zur globalen Energiewende.
Dr. Thomas Kopp ist Agrarökonom an der Universität Göttingen.

Dieser Beitrag baut auf den Erkenntnissen der Veröffentlichungen Kopp et al. (2017) und Ambach et al. (2019) auf und beinhaltet adaptierte Ausschnitte aus letzterer. Die Erstautorinnenschaft für den Text teilen sich Hoffmann und Eicke.

„Nicht ohne uns!“


„Nicht ohne uns!“

Der partizipative Friedensprozess in Kolumbien

von María Cárdenas

Am 4. September 2012 begannen in Kolumbien die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung unter Juan Manuel Santos und der Guerilla FARC-EP, die 2016 abgeschlossen wurden. In diesen Jahren und bis heute beteiligt(e) sich die Zivilgesellschaft auf vielfältige Weise an der Aushandlung und Umsetzung des Abkommens. Der Artikel zeigt die Etappen der zivilgesellschaftlichen Partizipation auf und beschreibt die Hindernisse, denen die friedensorientierte Zivilgesellschaft dabei begegnet(e), aber auch ihre Erfolge. Eine stärkere Partizipation bietet leider nicht nur das Potential für einen inklusiveren Frieden, sondern öffnet auch denen die Tür, die das verhindern möchten.

Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien kann im Rahmen dieses Artikels nicht näher beleuchtet werden.1 Seine Geschichte reicht bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zurück, und er wandelte sich von einem Parteien- und Landkonflikt zu einem komplexen Konflikt mit zahlreichen bewaffneten Akteuren. Wenngleich der Konflikt vor allem auf dem Land ausgetragen wurde, sind viele der Ursachen im Zentrum des Landes zu verorten: im institutionellen und infrastrukturellen Zentralismus, in der wirtschaftlichen und politischen Kontrolle durch traditionelle Eliten und internationale Interessen sowie in der Abwesenheit des Rechtsstaats und den fehlenden Partizipationsmöglichkeiten für einen Großteil der Bevölkerung – vor allem (aber nicht nur) auf dem Land.

Die Gründung der FARC-EP und der vielen anderen Guerilla in den 1960er und 1970er Jahren sowie der Paramilitärs muss also in diesem Kontext gesehen werden; verschärfend kam der lukrative Drogenanbau und -export hinzu. Die Persistenz der militärischen Gewalt, das Stadt-Land-Gefälle und die politische Polarisierung führten zu einer Spaltung der Gesellschaft in die, die eine militärische Lösung befürworten, und die, die ein Ende der Gewalt nur für möglich hielten, wenn es aus Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien resultiert.

Beide Optionen sind in den letzten siebzig Jahren gescheitert. Ex-Präsident Alvaro Uribe Vélez (2002-2010) setzte die militärische Option gegen die FARC-EP radikal durch, u.a. mit der Konsequenz der 2.248 »Falschen Positiven« – Zivilpersonen, die von der Armee ermordetet wurden, um als Gueriller*s der FARC verkleidet die Statistik über die Aufstandsbekämpfung aufzubessern (Pacheco Jiménez 2018). Aber auch die Friedensverhandlungen und -abkommen der 1980er und 1990er Jahre blieben im Ergebnis hinter den Ansprüchen zurück: So gab es als Resultat eines Friedensprozesses 1991 zwar eine neue Verfassung mit weitreichenden Minderheitenrechten, gleichzeitig wurden viele friedensrelevante Teile dieser neuen Verfassung nie umgesetzt. Ebenso führten die Friedensabkommen weder zu Frieden auf dem Land noch verhinderten sie die kontinuierliche und gezielte Ermordung linker Politiker*innen. So wurde die damals vielversprechende linke Partei Unión Patriótica (UP) in den 1980er und 1990er Jahren durch die Ermordung von zwei Präsidentschaftskandidaten, 13 Parlamentarier*innen, 70 Kongressabgeordneten, elf Bürgermeister*innen und 5.000 Partei-Mitgliedern buchstäblich begraben.

Das Friedensabkommen von 2016

Das 2016 von der FARC-EP und der Regierung unterzeichnete Friedensabkommen umfasste sechs Kapitel, die das Land und das politische System so verändern soll(t)en, dass die Ursachen der bewaffneten und organisierten Gewalt nachhaltig bekämpft werden: 1. integrale Landreform, 2. politische Partizipation, 3. Beendigung des bewaffneten Konflikts, 4. Bekämpfung des illegalen Drogenanbaus, 5. Anerkennung und Rechte der Opfer des Konflikts sowie Aufbau des »Integralen Systems für Wahrheit, Vergangenheitsaufarbeitung, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung« (SIVJRNR)2 und 6. Umsetzung, Verifizierung und Abstimmung. Hiermit ist das Friedensabkommen gleichzeitig eine Revolution und auch wieder nicht: ja, weil es strukturverändernde und umverteilende Maßnahmen vorsieht; nein, da es sich in vielen Punkten lediglich um die Umsetzung der Verfassung von 1991 und die Anwendung bereits erlassener Gesetze handelt bzw. sich an diesen orientiert (wie dem »Gesetz für die Opfer des bewaffneten Konflikts« 1448 von 2011). Darüber hinaus muss das Friedensabkommen auch als Strategie verstanden werden, Investitionssicherheit zu schaffen und einem Verfahren durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) mit seinen deutlich höheren Strafen zuvorzukommen.3

Partizipation im Friedensprozess

Der Rahmen für die Partizipation im kolumbianischen Friedensprozess wird durch die Verfassung von 1991 und verschiedene nationale Gesetze und internationale Abkommen vorgegeben (Brett 2017). Die Partizipation sollte drei Zielen dienen: Erstens ging es einem Großteil der Zivilgesellschaft darum, dass Regierung und FARC-EP ihre historische Schuld ihr gegenüber begleichen und sie als historisch relevante Säule der Friedensförderung anerkennen. Diesem Diskurs stimmten beide Parteien zu, wenngleich es Differenzen hinsichtlich der Frage gab, wer aus dieser Zivilgesellschaft wie beteiligt werden sollte. Zweitens ging es der FARC darum, sich als alternative politische Kraft, die die Interessen der Zivilgesellschaft verteidigt, neu zu etablieren bzw. zu inszenieren. Drittens sollte eine breite Beteiligung die Legitimität des Friedensabkommens in der stark polarisierten Gesellschaft erhöhen und damit seine Umsetzung erleichtern.

Vor diesem Hintergrund gab es während der Friedensverhandlungen folgende Partizipationsmechanismen: Zunächst gab es eine Internetplattform, über die 9.306 Vorschläge zu den sechs Kapiteln der Verhandlungsagenda eingereicht wurden (Brett 2017, S. 12). Außerdem fanden verschiedene nationale und regionale Foren zu vier spezifischen Punkten statt: integrale Agrarreform, politische Partizipation, illegale Drogenökonomie und Anerkennung und Rechte der Opfer des Konflikts (ibid.). Zuletzt bekamen Vertreter*innen spezifischer Opfergruppen die Möglichkeit, in Havanna bei den beiden Parteien vorzusprechen und so das fünfte Kapitel (s.o.) zu beeinflussen.

Hierdurch wurde die vielerorts kritisierte passive Interpretation der »Opferrolle« in eine aktive, gestaltende Rolle umgedeutet und umgewandelt. Die bislang durch die Perspektive der bewaffneten Akteure geprägte Interpretation des Konflikts wurde in Frage gestellt, korrigiert, herausgefordert und angepasst. Die beiden Parteien mussten sich der Diskrepanz zwischen ihren politischen Ambitionen und den realen Auswirkungen ihrer Handlungen stellen. Auf nationaler Ebene war vor allem Letzteres für viele Betroffene ein symbolisch wichtiger Moment der Anerkennung, und auch international erfuhr dieser Schritt großen Zuspruch. Kritik kam hingegen sowohl von der dem Friedensabkommen ablehnend gegenüberstehenden Seite (ibid., S. 13), die vor allem die Einbeziehung des Militärs als Konfliktakteur ablehnte,4 als auch aus der dem Friedensabkommen eigentlich positiv gegenüberstehenden Zivilbevölkerung. Beispielsweise gab es Kritik hinsichtlich der Individualisierung und Entpolitisierung der Opfer und des Unterschlagens struktureller Diskriminierung als Einflussfaktoren auf die Konfliktbetroffenheit, unter der die ethnischen Bevölkerungsgruppen überproportional leiden.5

So kritisierten ethnische Organisationen, dass sie nicht nur als individuelle Opfer (Zwangsrekrutierte, Opfer sexueller Gewalt, Angehörige von Verschwundenen, Minenopfer) angehört werden müssten, sondern auch als Gemeinden, deren kulturelle, soziale, wirtschaftliche, politische und physische Rechte durch den Konflikt eingeschränkt oder untergraben wurden. Neben individuellen Traumata, die sich auf das Gemeindegefüge auswirken, oder den Landminen, die sich auf die Arbeitsleistung und die Handlungsfähigkeit von Gemeinden auswirken, gibt es auch kulturspezifische, kollektive Betroffenheiten durch den bewaffneten Konflikt, zum Beispiel, wenn nomadische Völker ihre traditionellen Wanderrouten aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen einschränken müssen, was sich negativ auf Gesundheit, kulturelle Traditionen, Geburtsraten und Kindersterblichkeit auswirkt (Interview vom 17.3.2018). Oder wenn durch die Ermordung von spirituellen Führungspersonen und kulturell-politischen Autoritäten das kollektive Gedächtnis der Gemeinde vernichtet wird, was sich neben der kollektiven Identität auch auf die medizinische Versorgung und die politische Organisation der Gemeinden auswirkt. Dies spiegelt sich darin wider, dass durch den bewaffneten Konflikt 39 indigene Völker vom Aussterben bedroht sind (CEJIDI 2018).

Aber nicht nur ihre kollektive Betroffenheit müsse anerkannt werden, sondern auch ihr Recht auf eine ethnisch sensible Gestaltung und Umsetzung des Friedensabkommens gemäß ihren Praktiken und Bräuchen (nach ILO-Konvention 169, siehe Comisión Étnica 2016). Zudem befürchteten sie, dass der Friedensvertrag auf dem Rücken der ethnischen Bevölkerung ausgetragen würde (beispielweise durch die integrale Landreform6 oder die Zonen zur Demobilisierung und Wiedereingliederung der FARC-EP).7 Kurz gesagt: Die ethnischen Organisationen forderten, als kollektive Opfer und als Friedenskonstrukteur*innen anerkannt und aktiv am Friedensprozess und seiner Umsetzung beteiligt zu werden.

Dies machte einen Konflikt hinsichtlich der Spielregeln der Partizipation sichtbar, die die staatlichen Verhandlungspartner vorgaben: Sie hatten eine individualistische und liberale Partizipation im Sinn, keine strukturelle. Partizipation ist aber nicht von einer Einladung abhängig, sondern kann auch eingefordert werden. Nach entsprechendem Lobbying bei Schlüsselakteuren (im US-Kongress, bei den Vereinten Nationen und bei der kubanischen Regierung) und inoffiziellen Gesprächen mit den Verhandlungspartner*innen erreichten die Vertreter*innen ethnischer Organisationen kurz vor Unterzeichnung des Friedensabkommens die Aufnahme des ethnischen Kapitels (Kapitel 6.2) (Comisión Étnica 2016).

Als letztes Element der Partizipation an den Friedenverhandlungen muss auch die Abstimmung über das Friedensabkommen genannt werden. Entgegen der FARC-Präferenz einer Kongressabstimmung ließ die Regierung die Gesamtbevölkerung am 2.10.2016 über das Friedensabkommen entscheiden: 37,43 % der Bevölkerung nahmen am Plebiszit teil, 50,21 % stimmten gegen und 49,78 % für die Umsetzung. Nach einigen Anpassungen wurde das Friedenabkommen schließlich doch vom Kongress abgesegnet, und die Implementierungsphase konnte beginnen (Londoño 2018).

Das ethnische Kapitel

Kapitel 6.2 schreibt eine transversale Berücksichtigung ethnischer Belange bei der Umsetzung aller sechs Kapitel des Friedensabkommens vor, vergleichbar mit dem im Friedensabkommen festgehaltenen gendersensiblen Fokus (mehr dazu in Londoño 2018). Darüber hinaus sieht es Schutzmaßnahmen für spezifische Gemeinden vor, beispielsweise die Rückführung vertriebener und vom Aussterben bedrohter Gemeinden, aber auch die staatliche Anerkennung, Legalisierung und Förderung gemeindebasierter Schutzmaßnahmen, wie die »Guardias«. Ebenso wurde in Kapitel 6.2 der Aufbau einer »Hohen Sonderinstanz für ethnische Völker« (IEANPE) vereinbart, die aus Vertreter*innen der ethnischen Organisationen besteht. Diese soll die Kommission zur Überprüfung des Abkommens (CSIVI) beraten und die Implementierung überprüfen. Hiermit existiert auch in der Umsetzung ein Element der kollektiven zivilgesellschaftlichen Partizipation.

Mit Beginn der Implementierung wurden jedoch unterschiedliche Interpretationsrahmen deutlich: Während für die Regierung und die FARC die aktive Partizipation der ethnischen Gemeinden mit der formalen Einbeziehung des ethnischen Kapitels und der Gründung der IEANPE abgeschlossen war, beharrte die IEANPE auf ihrem Mitspracherecht auch bei der ethnisch sensiblen Gestaltung des zentralen Implementierungsplans.8 Schließlich wurden 37 Ziel- und 98 Monitoringindikatoren für das ethnische Kapitel in den Implementierungsplan aufgenommen – ohne jedoch ein Budget hierfür festzulegen. In den verschiedenen Instanzen des SIVJRNR wurde die ethnische Partizipation zunächst durch die Einbindung von ethnischem Personal gesichert und Ende 2018 nach Konsultationen mit indigenen und afrokolumbianischen Organisationen auf nationaler Ebene abgeschlossen (Comisión Étnica 2018, S. 57-58). Hierauf aufbauend werden nun ethnisch sensible und gemeindebasierte Implementierungsstrategien entwickelt.

Nach dem Friedensabkommen

Parallel zu den Erfolgen bei der ethnischen Partizipation in den Postkonfliktinstitutionen dürfen die Rückschritte nicht verschwiegen werden, durch die das Risiko entsteht, ebendiese Inklusion und Teilhabe ad absurdum zu führen. So wurden zwischen 2016 und 2018 bzw. seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 533 soziale Aktivist*innen ermordet (Cumbre Agraria et al. 2018, S. 7). Im Schatten des internationalen Lobs für das Abkommen scheint sich das Phänomen aus den 1980er Jahren zu wiederholen: die Auslöschung oppositioneller Politiker*innen und Aktivist*innen – viele von ihnen Repräsentant*innen ethnischer Gemeinden.9 Die Morde müssen im Kontext von vier Aspekten des Friedensabkommens gesehen werden: 1. der Landreform, die u.a. die Formalisierung von Landtiteln vorsieht, 2. dem Recht auf Rückkehr und Wiedergutmachung für Vertriebene, 3. der historischen Aufklärung, die nur mit Zeug*innen geschehen kann, und 4. den »Entwicklungsprogrammen mit territorialer Perspektive« (PDET), die in Zusammenarbeit mit den Gemeinden geplant werden. Ein weiterer Grund für die Morde sind die Regionalwahlen in diesem Jahr, bei denen viele Aktivist*innen antreten und sich für die Umsetzung des Abkommens und einen realen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandel einsetzen werden, der auch finanzielle und strafrechtliche Folgen für die nationalen Eliten und internationalen Akteure haben könnte, die bislang von der Gewalt und Straflosigkeit profitiert haben.

Mit der Kongress- und Präsidentschaftswahl fand 2018 ein Kurswechsel im Friedensprozess statt: Zwar zogen – bedingt durch Kapitel 2 des Friedensabkommens (politische Partizipation) – nun fünf FARC-Abgeordnete in den Senat ein, allerdings erhielt der Block, der das Friedensabkommen ablehnt, im Senat und Repräsentantenhaus die absolute Mehrheit. Der Wahlsieger, der rechtskonservative Präsident Ivan Duque,10 begann, die Umsetzung des Friedensabkommens durch eine konfrontative Rhetorik und Praxis abzulösen: Das »Ministerium für den Postkonflikt« wurde in »Ministerium für die Stabilisierung« umbenannt und die Übergangsjustiz, die bereits vom Verfassungsgericht geprüft und abgesegnet worden war, wird mit allen Mitteln blockiert. Damit wird das ohnehin labile Friedensabkommen weiter geschwächt.

Hoffnung durch mehr Partizipation?

Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen das Friedensabkommen und seine partizipativen Maßnahmen langfristig auf die Struktur und das politische Klima des Landes haben werden. Die Partizipationsmaßnahmen sind zwar zahlreich und vielseitig, sie bergen aber auch Risiken. So fand durch die Volksabstimmung auch eine Partizipation der Zivilbevölkerung statt, deren moralische Legitimation durchaus fragwürdig ist: Wenn Partizipation als eine (direkte) Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse verstanden wird, wie demokratisch ist es, über Frieden (Leben) und Fortsetzung des Krieges (Tod) abstimmen zu lassen? Die Debatten um ethnische Partizipation und ihre (nur mangelhafte und widerspenstige) Umsetzung machen überdies die Kolonialität sichtbar, die der kolumbianischen Politik und Wirtschaft im Ganzen – und damit auch dem Friedensabkommen, der Geschichtsschreibung und Vergangenheitsaufarbeitung – noch immer innewohnt.11

Auf der anderen Seite haben die Partizipationsmaßnahmen und strukturellen Veränderungen den ethnischen Gemeinden, linken Oppositionellen, Friedensbefürworter*innen sowie Cis-Frauen und LGBTQI*-Personen Wege in die Institutionen und politischen Debatten geöffnet, die sie nun einfordern und wahrnehmen, in denen sie auf Augenhöhe debattieren und sich hör- und sichtbar machen. Dies stellt nicht nur den hegemonialen Diskurs in Frage, sondern auch das nationale Selbstbild, das gerne die Existenz der nicht-weißen, nicht-urbanen und nicht-heteronormativen Sektoren verdrängt.

Dies sind manchmal schwierige, konfliktive Wege, bei denen auch anerkannte, weiße, männliche, akademische, friedenspolitische Intellektuelle damit konfrontiert werden, dass ihre gut gemeinte Wahrheit nicht die einzige ist, sondern sich einfinden muss in einen breiteren Kanon. Es sind aber auch Wege, in denen sich friedenspolitische Sektoren über gruppenspezifische, politische, und räumliche Grenzen hinweg zusammentun und Brücken bauen. Dies zeigt sich in der breiten Mobilisierung in der Minga,12 dem Nationalstreik und der Aktion »Humanitäre Flucht«, die ihre Forderungen nach Einhaltung des Friedensabkommens und dem Ende der Gewalt in die Hauptstadt tragen.

Anmerkungen

1) Für eine Einführung in den bewaffneten Konflikt ab den 1960er Jahren und den Friedensvertrag siehe Schwarz und Huck 2018.

2) Das SIVJRNR besteht aus der Übergangsjustiz (JEP), der Wahrheitskommission für Vergangenheitsaufarbeitung (CEV) und der Einheit für die Suche nach Verschwundenen (UBPD) sowie Mechanismen für die individuelle und kollektive Wiedergutmachung.

3) Kolumbien unterzeichnete 2002 das Rom-Statut des IStGH. Aktuell liegen dem IStGH fünf Fälle zu Kolumbien vor, die angesichts des Inkrafttretens der Übergangsjustiz vorerst suspendiert sind.

4) In der Vergangenheit wurde die Verantwortlichkeit des Militärs für Menschenrechtsverbrechen und die von Dritten (Politiker*innen und Konzerne, wie Coca-Cola, Chiquita etc., als Auftraggeber*innen von paramilitärischer Gewalt) kategorisch ausgeschlossen.

5) Als ethnische Bevölkerung sind 102 indigene Völker (knapp 4 % der Bevölkerung), Afrokolumbianer*innen, Raizal und Palenquero (zwischen 10-20 %) sowie Roma (0,01 %) anerkannt. Die ethnische Bevölkerung, die auf dem Land die Hälfte der Bevölkerung stellt, ist stärker als die nicht-ethnische Bevölkerung vom bewaffneten Konflikt betroffen. So ist die Gefahr für indigene Kinder 674 mal höher, zwangsrekrutiert oder Opfer des Konflikts zu werden (Dulce Romero 2019).

6) Die Landreform sieht neben gemeindebasierten Entwicklungsansätzen auch einen Vormarsch der Agrarindustrie vor. Der Bergbau beeinträchtigt schon jetzt die Gesundheit der afrokolumbianischen und indigenen Bevölkerung, die von den mittlerweile kontaminierten Flüssen leben. Für ethnische Gemeinden sind Bergketten, Lagunen, Flüsse und feuchte Hochlandsteppen überdies spirituelle Orte, die Leben produzieren und daher nicht ausgebeutet werden dürfen. Dadurch gibt es grundsätzliche Interessenkonflikte mit FARC-EP/Regierung und Wirtschaftseliten, die die Natur als ein Produktionsgut sehen, dessen primäre Funktion es ist, die Wirtschaft auf dem Land anzukurbeln.

7) Die Demobilisierungs- und Wiedereingliederungszonen der FARC wurden ohne Zustimmung ethnischer Gemeinden (nach ILO-Konvention 169) auf ethnischen oder angrenzenden Terroritorien angesiedelt. Dies führt(e) vielerorts zu Konflikten, Unsicherheit und steigender Gewalt (Comisión Étnica 2018, S. 47 f.).

8) Die Regierungen sind laut Oberstem Gerichtshof dazu verpflichtet, sich für die Erstellung der nationalen Entwicklungspläne bis zum Jahr 2031 am Implementierungsplan zu orientieren.

9) Allein seit Beginn der Amtszeit des Präsidenten Duque (zwischen August 2018 und Februar 2019) wurden 53 indigene Aktivist*innen ermordet (ONIC 2019, o.S.).

10) Duque ist Zögling des Ex-Präsidenten Alvaro Uribe Vélez, gegen den 2018 28 Strafverfahren am obersten Gerichtshof anhängig waren (RCN Radio 2019).

11) So war beispielsweise nur eine der acht von den Konfliktparteien berufenen Expert*innen zu den Ursachen des Konflikts weiblich, und es gab keine*n ethnische*n Expert*in.

12) Siehe »Die Minga aus den Anden« von Tambaco Díaz und Sempértegui auf S. 17 in diesem Heft.

Literatur

Brett, R. (2017): La Voz de Las Víctimas En Una Negociació – Sistematización de Una Experiencia. Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo – PNUD, S. 120.

Centro por la Justicia y el Derecho Internacional/CEJIDI (2018): Riesgo de extinción de pueblos indígenas de Colombia queda evidenciado ante la CIDH. 11.5.2018; cejil.org/es.

Comisión Étnica (2016): Comunicado 003. Organización Nacional Indígena de Colombia, Comunicados ONIC, 24.8.2016.

Comisión Étnica (2018): 1 Informe de cumplimiento del capítulo étnico en el marco de la implementación del acuerdo final de paz entre el gobierno y las Farc-EP.

Cumbre Agraria; Marcha Patriotica; INDEPAZ (Hrsg) (2018): Todos los nombres, todos los rostros – Informe de derechos humanos sobre la situación de líderes/as y defensores de derechos humanos en los territorios. Separata de actualización. 19.11.2018; onic.org.co.

Dulce Romero, L. (2019): Afros, indígenas y pueblo rom, en la lucha por contar la verdad invisible. El Espectador, 23.2.2019; colombia2020.elespectador.com.

Organización Nacional Indígena de Colombia/ONIC (2019): Todos somos ONIC – Frente a las amenazas, los asesinatos y despojo, la palabra y movilización por la vida. 23.2.2019; onic.org.co.

Londoño, A. (2018): »Gender-Ideologie« in Kolumbien – Oder: Wie man Ängste schürt, um den Frieden zu behindern. W&F 3-2018, S. 21-24.

López Montaño, C. (2019): Asesinatos de líderes sociales: ¿por qué? Las 2 orillas, 19.3.2019; las2orillas.co.

Pacheco Jiménez, S. (2018): La real dimensión de las ejecuciones extrajudiciales en Colombia. El Espectador, 27.7.2018; colombia2020.­elespectador.com/.

RCN Radio (2019): Corte Suprema adelanta 28 procesos contra Álvaro Uribe. 20.2.2018. rcnradio.com.

Redacción Judicial (2019): Exterminio de la UP, crimen de lesa humanidad. El Espectador, 20.10.2014; elespectador.com.

Schwarz, C.; Huck, A. (2018): Kolumbien. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Innerstaatliche Konflikte. Dossier, 27.3.2018; bpb.de.

María Cárdenas, Redaktionsmitglied bei W&F seit 2012, promoviert seit 2017 am Graduate Center for the Study of Culture der Universität Gießen zu Fragen der inter-ethnischen Kooperation und Partizipation im kolumbianischen Friedensprozess und bei seiner Implementierung.

Die These der partizipativen Sättigung

Die These der partizipativen Sättigung

von Klaus Harnack

Das Wort Partizipation ist zurzeit in aller Munde und wird in zahlreichen Wortkonstellationen zur Summe moderner Organisationsformen, sei es bei der partizipativen Demokratie, Führung und Gesellschaft oder bei eher trivialen Dingen, wie der partizipativen Museumsarbeit. Der Mensch soll wieder teilnehmen und nicht passiver Konsument seiner Rechte und Freiheiten sein. Er soll mit seiner Umwelt interagieren, um vom konsumistischen Objekt zum gesellschaftlichen Subjekt zu werden. Der Auftrag scheint klar, der Anspruch ist formuliert, doch die Realität sieht anders aus und die Frage, wie
Partizipation forciert werden kann, bleibt vorerst offen.

Die Realität lehrt uns, dass die bloße Möglichkeit zur Partizipation noch keine hinreichende Bedingung darstellt, dass tatsächlich Partizipation stattfindet. Es scheint eines Impulses zu bedürfen, um den aktiven Partizipationsprozess zu starten. Auch wenn das Wort »aktive Partizipation« auf den ersten Blick ein weiterer weißer Schimmel im Stall der überflüssigen Wörter der Gegenwart zu sein scheint, könnte die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Partizipation zu einer Schlüsselstelle werden, wenn es darum geht, Partizipation zu stärken und zu unterstützen. Aber wie unterscheiden
sich aktive und passive Partizipation?

Ein anschauliches Beispiel für eine passive Partizipation kommt aus der Welt des Theaters. Der reine Akt des Zuschauens wird als passive Partizipation verstanden. Der Zuschauer wird durch sein Betrachten zum Teil einer Situation, bei der er kontinuierlich die eigene Wahrnehmung interpretiert und sie im Laufe des Betrachtens in die eigene Realität einordnet. Es kommt zu einer »monologisierten«, auf die einzelne Person beschränkte Auseinandersetzung mit einem Inhalt und somit zur rudimentärsten Form der Partizipation. Diese Grundform ist für eine gesunde demokratische Kultur nicht weiter
problematisch, solange die aktiven Formen die Überhand behalten. Im Gegensatz zur passiven hat die aktive Partizipation als Mindestanforderung den Dialog, die Auseinandersetzung mit einer weiteren Instanz, das Spiegeln und Reflektieren der eigenen Meinung im Gegenüber und das Abgleichen der jeweils individuell wahrgenommenen Realitäten.

Allerdings scheint es, dass die Gegenwart die passiven Formen begünstigt und ihnen einen ausgezeichneten Nährboden bietet. Zuschauen ist dank moderner Medien immer und überall möglich, ein kurzer Blick auf die Ereignisse und Meinungen des Tages ist schon längst bürgerlche Pflicht. Daraus ergibt sich die These der »partizipativen Sättigung«: Die Fülle dekontextualisierter Informationen, die in kleinen mundgerechten Happen täglich mehrfach serviert werden, führen zur passiven und aktiven Sättigung. Um die Worte von Neil Postman ins 21. Jahrhundert zu holen, amüsieren wir uns nicht zu Tode,
sondern wir partizipieren uns zu Tode. Wir nehmen an allem ständig teil, von den Kriegen, Krisen und Nöten der Welt bis hin zu dem Liebesleben der Stars und Sternchen. Alles wird betrachtet, geliked und im Anschluss monologisiert verdaut.

In Folge dieser partizipativen Sättigung – genährt von der passiven Seite der Medaille – verkümmert die aktive Seite, ohne dass wir es merken. Hier besteht der Unterschied zur These der Politikverdrossenheit und der partizipativen Faulheit. Wir sind nicht faul, sondern gesättigt, es ist keine Eigenschaft, die uns kennzeichnet, sondern lediglich ein temporärer Zustand, der uns partizipatorisch erstarren lässt. Das ist der gute Teil an dem oben Beschriebenen, denn auch wenn man bei einer Sättigung keinen Hunger verspürt, kann der Appetit auf Teilhabe jederzeit wieder angeregt
werden. Ein aktuelles Beispiel für einen gut funktionierenden partizipativen Appetizer sind die »Fridays for Future«-Demonstrationen. Diese partizipatorische Anregung hat viele Zutaten, die den Appetit auf aktive Partizipation anregen. Erstens dienen die Demonstrationen einem Ziel, das nur im Kollektiv erreicht werden kann. Zweitens haben sie einen Rhythmus, der, ähnlich einer zum Tanzen einladenden Musik, die Hemmschwelle zum Mitmachen verkleinert. Des Weiteren haben sie mit Personen wie Xiuhtezcatl Martinez, Felix Finkbeiner und Greta Thunberg bekannte Gesichter, die eine freundliche
Einladung zur Teilhabe aussprechen, und die Bewegung formt eine Gemeinschaft, die notwendige Basis vieler Formen der Teilnahme.

W&F nimmt sich mit dem Schwerpunkt »Partizipation« eines Themas an, das als wichtige Stellschraube für den Frieden angesehen werden muss. Ohne die Teilhabe des Einzelnen können der Aufbau und die Wahrung des Friedens nicht realisiert werden. Deswegen untersuchen wir im Folgenden die Bedeutung von Teilhabeprozessen für den Frieden und beleuchten unterschiedliche Formen der Teilhabe. Des Weiteren fragen wir in dieser Ausgabe, welche Dinge, Personen, Systeme und Gegebenheiten Partizipation ermöglichen und welche anderseits Partizipation erschweren oder gar verhindern. Ich wünsche Ihnen
erst viel Erkenntnis durch die passive Teilhabe an diesem Heft und dann viel Freude an der aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt.

Ihr Klaus Harnack

Space in Peace and Conflict


Space in Peace and Conflict

Zentrumstage am Zentrum für Konfliktforschung, 18.-20. Oktober 2018, Marburg

von Alexandra Engelsdorfer und Nadine Dammaschk

Was ist »Raum«, und welche Räume spielen in Bezug auf Frieden und Konflikt eine Rolle? Während die Bedeutung von »Raum« in Grenzkonflikten offensichtlich ist, scheint die Relevanz von »Raum« in anderen Bereichen der Friedens- und Konfliktforschung auf den ersten Blick weniger deutlich. Während der Zentrums­tage, die alle zwei Jahre am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg stattfinden, zeigten dieses Jahr internationale Wissenschaftler*innen, dass Räume für Frieden eine außergewöhnliche Rolle spielen und als Analysekategorie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Konflikten leisten und dabei neue Perspektiven eröffnen.

Was ist Raum?

Die fächerübergreifende Relevanz des Themas wurde schon in der interdisziplinären Eröffnungsdiskussion mit Benedikt Korf (Universität Zürich, Geographie), Bettina Engels (Freie Universität Berlin, Politikwissenschaft), Ernst Halbmayer (Universität Marburg, Ethnologie) und Melanie Hartmann (Zentrum für Konfliktforschung, Soziologie) herausgearbeitet. Dabei wurden nicht nur die unterschiedlichen fächerspezifischen Zugänge zu Raumkonzepten diskutiert, die von eher physisch-materiellen Räumen in der Geographie und Politikwissenschaft bis zu sozial-kulturellen Räumen in der Ethnologie und Soziologie reichen, sondern auch erste Gemeinsamkeiten herausgestellt: Raum ist mehr als der bloße haptische Raum, der als eine Art Bühne fungiert, auf der sich Handlungen und Konflikte abspielen. Raum ist ein soziales Produkt und als solches auch veränderbar. Einig waren sich die Diskutierenden auch darüber, dass Theorien auf ihre empirische Relevanz hin überprüft werden müssen und umgekehrt. Susanne Buckley-Zistel, geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Konfliktforschung, bezeichnete die interdisziplinäre Qualität von Raum als inspirierendes Moment der Konferenz: „Es wird in allen Präsentationen deutlich, dass wir von unterschiedlichen Disziplinen kommen. Es gibt nicht nur einen Ansatz zu Raum, sondern viele verschiedene Ansätze, die unsere Arbeit auch in Zukunft bereichern werden.“

Die Punkte dieser Eröffnungsdiskussion zogen sich auch wie ein roter Faden durch die acht folgenden Panels zu »Spatializing Memories«, »Contested Spaces«, »Urban Spaces and Places«, »(Un-)Securitizing Space«, »Conceptual Approaches to Space«, »Negotiating Borders«, »Space Making« und »Space and Protest«. Die Bandbreite und Aktualität von Räumen wurde an zahlreichen beeindruckenden Beispielen aus der Praxis und an konzeptionellen Forschungsarbeiten veranschaulicht.

Wie tragen Raumkonzepte zu Konflikten bei? Grenzen, Städte und Proteste

Wie relevant die konzeptuelle Anwendung von Raum für das Verständnis aktueller politischer Prozesse ist, verdeutlichte Sabine Hess, Professorin für Migrationsstudien der Universität Göttingen, anhand des gegenwärtigen Migrationsregimes der Europäischen Union in ihrem Keynote-Beitrag: „Wir sehen überall nicht nur die Rückkehr hoch militarisierter und materialisierter Grenzen, sondern auch von offenkundigen Formen von Menschenrechtsverletzungen.“ Indem diese Grenzregime der EU „die Externalisierung von Migranten und Migrantinnen auf neo-koloniale Weise radikal vorantreiben“, zeigen sie auf, wie dicht Raum, Grenzen, Migration und Konflikt miteinander verwoben sind. Im Panel zu »Urban Spaces and Places« wurde die besondere Qualität von städtischen Räumen herausgestellt, die entweder selbst zum umkämpften Konfliktgegenstand werden oder aber Konfliktverläufe durch ihre räumliche Struktur beeinflussen. So zeigte John Hanna (Universität Delft) am Beispiel der terroristischen Attentate in Paris im November 2015, wie architektonische Verräumlichungen in Städten bestimmte Konfliktnarrative begünstigen, andere wiederum benachteiligen und wie Raum somit den weiteren Umgang mit dem Konflikt bestimmt. Am Beispiel von Amman erörterte Jilian Schwedler (City University New York) im Panel »Space and Protest« die symbolische Bedeutung von Protestorten, während Fabian Frenzel (University of Leicester) die räumlichen Ordnungsmechanismen von Protestcamps beleuchtete. Dimitris Soudias (Universität Marburg) und Burcu Togral Koca (Leibniz Institute for Research on Society and Space) ergänzten das Panel um theoretische Perspektiven auf Protestcamps im Spannungsfeld von strukturalisierender Verräumlichung und anti-struktureller Krisensituation sowie um eine Analyse der Refugee Rights Movements in Berlin.

Wie wird Raum gemacht? Aufarbeitung von Konflikten und deren Erinnerung

Während der Konferenz wurden neben den strukturellen Auswirkungen von Räumen auf Konflikte und Friedensbemühungen auch die Konsequenzen des »spatial turn«, der Betrachtung des Raumes in seiner Formbarkeit und Veränderbarkeit durch Menschen, diskutiert. So zeigte Annika Björkdahl, Professorin für Politikwissenschaft der Lund Universität, in ihrer Keynote, wie Raum als Produkt sozialer Handlungen wichtige Einblicke in das Verständnis von Konflikten und das Entstehen von Frieden gewährt. „Raum“, betonte Björkdahl, „ist politisch und inhärenter Teil von Machtverhältnissen.“ Migrationsbewegungen, Grenzen und Territorien als Faktoren, die eine essentielle Rolle in Frieden und Konflikten einnehmen, wären ohne Konzeptualisierungen von Raum nicht verständlich. Diese Komponente wurde u.a. in den Panels »Spatializing Memories« und »Contested Spaces« deutlich: Im Ersteren zeigten Lia Kent (University of Canberra), Gruia Badescu (University of Oxford), Stefanie Kappler (University of Durham) und Johanna Mannergren Selimovic (University of Stockholm), wie in Osttimor und Bosnien-Herzegowina Räume aufgrund bestimmter politischer Interessen produziert werden, wie in Südafrika Machtpolitiken mithilfe von Denkmälern in Erinnerungspolitiken reproduziert werden, aber auch, wie die Erinnerung an den Krieg in Alltagsgegenständen ihren räumlichen Ausdruck findet. Dass Räume auch umkämpft sind und um ihre Deutungshoheit gerungen wird, veranschaulichte Emily Mannheimer (Erasmus University Rotterdam) am Beispiel des Konflikttourismus in Belfast im Panel »Contested Spaces«.

Fazit

Die Zentrumstage verdeutlichten jenseits der inhaltlichen Diskussionen, wie eine Konferenz Impulse für eine nächste Generation von Wissenschaftler*innen geben kann. Stéphane Voell, Geschäftsführer des Zentrums für Konfliktforschung, beobachtete, wie die unterschiedlichen Präsentationen zum Thema »Raum« studentische Teilnehmende auch im Nachhinein noch beschäftigten und wie die Studierenden sich über die Konferenz hinaus über Raum und seine Bedeutungen austauschten. Sie seien eingeladen, wie alle anderen Teilnehmenden, denen die Konferenz neue Gedankenanstöße gegeben hat, mit an Bord zu kommen, um die Forschung zu Raum weiterzuführen und zu denken.

Alle Vortragenden und Teilnehmenden sowie die Organisationsverantwortlichen und Helfenden trugen dazu bei, die Konferenz zu einem großen Erfolg und inspirierenden Anknüpfungspunkt für die weitere Forschung zu Raum in der Friedens- und Konfliktforschung zu machen. Unterstützt wurde die Konferenz von der Universitätsstiftung Marburg und dem Ursula-Kuhlmann Fonds.

Alexandra Engelsdorfer und Nadine Dammaschk

Innovationen für nachhaltigen globalen Frieden


Innovationen für nachhaltigen globalen Frieden

IPRA General Conference 2018, Ahmedabad/Indien, 24.-28. November 2018

von Klaus Harnack

Der Ort, an dem Mahatma Gandhi eine seiner wesentlichen Wirkungsstätten hatte, wurde vom 24. bis zum 28. November 2019 zum Tagungsort der alle zwei Jahre stattfindenden Generalkonferenz der Internationalen Gesellschaft für Friedensforschung (International Peace Research Association, kurz IPRA). Das Motto dieser Konferenz lautete »Innovation for Sustainable Global Peace«, und dementsprechend standen Fragen nach dem nachhaltigen Umgang mit materiellen und immateriellen Gütern, die den globalen Frieden fördern bzw. sichern, im Vordergrund. Unter diesem Leitmotiv waren Friedensforscher*innen aus allen Teilen der Welt eingeladen, sich auszutauschen, zu vernetzen, ihre jeweiligen Forschungsarbeiten vorzustellen und Beispiele ihrer praktischen Friedensarbeit zu präsentieren. Diesem Aufruf folgten ca. 120 Forscher*innen von allen Kontinenten. Überschattet wurde die Konferenz von der Tatsache, dass vielen Teilnehmer*innen aus einzelnen afrikanischen Ländern sowie Teilnehmer*innen mit pakistanischem Hintergrund von der indischen Einwanderungsbehörde die Einreisegenehmigung verwehrt wurde und sie folglich von der Teilnahme ausgeschlossen waren.

Der aus friedenshistorischer Sicht wichtige Ort Ahmedabad im indischen Bundesstaat Gujarat bot eine passende historische Basis für dieses Treffen und sorgte für eine produktive Atmosphäre. Hier waren die Residenz Gandhis und der Treff- und Austauschpunkt der »Sabarmati Ashram«, von hier ging 1930 der Salzmarsch aus. In dieser Zeit galt Ahmedabad als Zentrum des gewaltlosen Widerstandes gegen die britische Besatzung, außerdem spiegelt sich in dieser Stadt die Vielfältigkeit unser Welt gut wider.

Die IPRA fungiert als Dachverband fünf weiterer Unterorganisationen, die jeweils eigenständig im regelmäßigen Turnus regionalspezifische Treffen und Konferenzen organisieren und durchführen. Die fünf affiliierten Organisationen sind AFPREA – Africa Peace Research and Education Association, APPRA – Asia-Pacific Peace Research Association, CLAIP – Latin America Peace Research Association, EuPRA – European Peace Research Association und PJSA – North America Peace Research Association. Die IPRA bündelt diese Unterverbände und leistet hierbei eine bemerkenswerte Arbeit, leidet aber sichtlich unter finanziellem und personellem Mangel, was sich beispielsweise darin äußert, dass die IPRA zurzeit über kein permanentes Büro verfügt. Dementsprechend waren die Verbesserung der vereins­internen Finanzierung und die strukturelle Neuaufstellung zentrales Anliegen der abschließenden Vereinsversammlung.

Die europäische Sektion war mit nur fünf Teilnehmer*innen die am geringsten vertretene Organisation. Eine stärkere Präsenz europäischer Friedensforscher*innen wäre für die kommende Tagung deshalb sehr wünschenswert. Das Forum Friedenspsychologie war durch Klaus Harnack mit dem Thema »Tools to foster collective decision making« innerhalb der Kommission »Friedensverhandlung, Mediation, Versöhnung und Übergangsjustiz« vertreten.

Strukturell wurden die fünf Konferenztage durch drei unterschiedliche Formate geprägt: einzelne Festreden, gemeinsame Plenarsitzungen und Treffen spezialisierter Kommissionen. Letzteres war mit Abstand das häufigste Format. Hier konnten sich die Forscher*innen zu ihren spezifischen Forschungsfeldern direkt austauschen und vernetzen. Die insgesamt 16 verschiedenen Kommissionen bildeten das Rückgrat des mannigfaltigen Angebotes der Konferenz und decken die gesamte Bandbreite der gegenwärtigen Friedensforschung ab. Die Themen der Kommissionen waren: Friedenskulturen, Kunst und Tourismus / Entwicklung & Frieden / Ökologie, Konfliktrisiken, erzwungene Migration und Frieden / Gender & Frieden / Globale politische Ökonomie / Menschenrechte / Interne Konflikte und Konfliktlösung / Rechte der indigenen Völker / Medienkonflikte und Journalismus / Gewaltlosigkeit und Friedensbewegungen / Friedenserziehung / Friedensverhandlung, Mediation, Versöhnung und Übergangsjustiz / Friedenstheorien und Geschichte / Religion, Spiritualität und Frieden / Sicherheit, Entmilitarisierung und Zivilgesellschaft / Jugend, Sport und Frieden.

Auffällig war die Tatsache, dass keine einzelnen Leuchtturmprojekte die Konferenz dominierten oder besonders hervorstachen. Vielmehr war es die Vielfalt der unterschiedlichen Beiträge, die beeindruckte. Das Spektrum reichte von der Präsentation kleiner Anime-Videos zur Friedenserziehung in Japan über die systematische Dokumentation der Verhandlungsgrundlagen im Friedensprozess in Afghanistan bis hin zur Evaluation von Friedensinterventionen im Versöhnungsprozess in Kolumbien. Diese Breite spiegelte sich allerdings auch in der Qualität der Beiträge wider, die nicht immer den gewohnten Standards entsprachen. Erschwerend hinzu kamen die sehr unterschiedlichen Englischkenntnisse der Teilnehmer*innen und die sehr diversen empirischen und theoretischen Herangehensweisen der einzelnen Disziplinen. Allerdings wurde so auch die Vielfältigkeit der gegenwärtigen Friedensforschung verdeutlicht.

Fazit: Eine Konferenz, die sich deutlich von den klassischen Konferenzformaten unterschied – weniger aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung, sondern aufgrund der unterschiedlichen Kulturen, die diese Konferenz stark prägten und deswegen gegenüber dem sonst dominierenden angloamerikanischen Konferenzformat eine erfrischende Abwechslung boten. Diesbezüglich sind die Konferenzen der IPRA eine echte Empfehlung, wenn man über den eigen disziplinären Tellerrand schauen und seine Arbeit auf einer wahrhaftig internationalen Bühne testen und vorstellen möchte.

Klaus Harnack

Youth for Peace and Security


Youth for Peace and Security

Gemeinsame Konferenz von Studierenden, Marburg, 24.-25. November 2018

von Julia Renner

Junge Menschen unter 30 Jahren stellen die Hälfte der Weltbevölkerung. Zwei Drittel von ihnen leben in von Konflikten betroffenen Gebieten. Junge Menschen werden in Bezug auf Konflikte oftmals entweder zu der Gruppe der Opfer oder der Täter gezählt, wenngleich sie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Frieden und zu Friedensprozessen leisten können. Daher verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Dezember 2015 die Resolution 2250 zu »Jugend, Frieden und Sicherheit«, in der die konstruktive und friedensfördernde Rolle junger Menschen in Konflikten zum ersten Mal anerkannt wurde.

Die erstmalig in Marburg stattgefundene Konferenz »Youth for Peace and Security: Partizipation junger Menschen in Friedensprozessen – ein unterschätzter Beitrag auf dem Weg zu nachhaltigen Frieden?« wurde mit Blick auf diese Fragestellungen von den Fachschaften »Friedens- und Konfliktforschung« und »International Development Studies« mit dem Zentrum für Konfliktforschung der Philipps- Universität Marburg gemeinsam organisiert.

In seiner Keynote präsentierte Ali Altiok, Hauptinitiator der UN Resolution 2250, drei Leitgedanken bzw. Diskussionsstränge, die richtungsweisend für den weiteren Tagungsverlauf werden würden. Im Zentrum stand zunächst die Begriffsdefinition für »junge Menschen«. Er verwies darauf, dass mit diesem Terminus oftmals Menschen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr als Individuen angesprochen werden. Er forderte auf, diese individuellen Personen als Personengruppe aufzufassen und somit als soziale Gruppe zu definieren, die bei Entscheidungen im Politikbereich Frieden- und Sicherheit bislang oft außen vorgelassen werde bzw. nur eine marginalisierte Rolle einnehme. Ebenso müsste anerkannt werden, dass die Personengruppe der »jungen Menschen« eine dynamische ist und somit auch Personen umfasst, die jünger als 20 oder älter als 30 Jahre sind, da die Rolle von jungen Menschen bzw. von Personen immer durch Raum und Zeit beeinflusst wird.

Aus seinem ersten Leitgedanken formulierte er den zweiten Gedanken. Er forderte auf, junge Menschen nicht als homogene Gruppe zu betrachten. Dies ist insbesondere bei der Inklusion junger Menschen in Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen, von lokalen bis internationalen Institutionen, relevant. Besonderes Gewicht gewinnt diese Aussage mit Blick auf den afrikanischen Kontinent. Ali Altiok führte aus, dass noch immer eine zu starke Klassifizierung in zwei Gruppenzugehörigkeiten erfolgt: junge Menschen und »alte« Eliten, insbesondere im Bereich politischer Entscheidungsbeteiligung. Dies hat Implikationen auf die Integration bzw. Nicht-Integration junger Menschen in Friedens- und Sicherheitsprozesse.

Zuletzt verwies er darauf, dass das Thema einer besseren Partizipation junger Menschen im Bereich Frieden und Sicherheit nicht nur empirisch, sondern auch in der Wissenschaft stärker Berücksichtigung finden müsse. Eine Möglichkeit könnte sein, die Rolle von jungen Menschen in Friedensprozessen verstärkt zu untersuchen.

In den beiden Panels wurden vielseitige empirische Fallbeispiele, aber auch aktuelle Implementationsprobleme der Resolution 2250 diskutiert.

Die Beiträge von Ali Altiok und Anika Oettler, Antonia Jordan und Julian Reiter hinsichtlich einer besseren Einbindung von jungen Menschen in Friedensprozesse waren im ersten Panel durch die Vorstellung eines Musikprogrammes in Sri Lanka und einer Fallstudie des kolumbianischen Friedensprozesses äußerst praxisbezogen. Dabei wurde deutlich, dass Finanzierungsprobleme eine nicht zu unterschätzende Hürde zu einer besseren Implementierung und Verbreitung der Resolution 2250 darstellen.

Das zweite Panel (Implications for Peace Practice and Policy) thematisierte die Unterfinanzierung und den strukturellen Aufbau der Vereinten Nationen sowie regionaler Organisationen und schlug eine Brücke zu Implementationsproblemen der Resolution. Die Panellistinnen Ludmila Dias Andrade, Lorena Mohr und Rebecca Hovhannisyan diskutierten Ansätze einer möglichen Veränderung von UN- und EU-Strukturen, damit eine bessere Umsetzung der Resolution ermöglicht wird, aber auch die Stimme junger Menschen in diesen Gremien besser Gehör finden kann.

Die Panels endeten jedoch sehr ergebnisoffen, deshalb wurden kaum konkrete Handlungsmöglichkeiten für eine bessere Umsetzung diskutiert.

Die am ersten Konferenztag angebotenen Workshops zu den Themen »Examples of Youth Peace Activism« und »Shaping the Future of Young People’s Participation in Peacebuilding« setzen sich vielfältig mit dem Konferenzthema auseinander. In den Workshops wurden thematische Verknüpfungen von zivilem Ungehorsam mit verschiedenen Arten von Konsens­entscheidungen hergestellt sowie die Möglichkeit aufgezeigt, in von Konflikten betroffenen Gebieten mit Schauspiel und Theaterperformances Friedensprozesse durch junge Menschen anzuregen. Weitere Workshops beschäftigten sich mit gesellschaftspolitischen Initiativen in und außerhalb Deutschlands, die sich zum Ziel setzen, verschiedene in Konflikt stehende soziale Gruppen zusammenzubringen.

Die Workshops und Panelbeiträge des ersten Konferenztages näherten sich dem Thema aus einer theoretischen Perspektive, und es wurden viele Fragen aufgeworfen. Der Abschlussworkshop, der von der Sprecher*innen-Gruppe des AK »Junge AFK« der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung organisiert worden war, versuchte, die im Laufe der Tagung angesprochenen Themen zu verbinden und konkrete Ziele und Forderungen für eine zukünftig bessere Umsetzung der Resolution zu formulieren.

Aus einem kurzen Brainstorming wurden drei inhaltliche Schwerpunkte festgelegt, um aus ihnen praktische Handlungsempfehlungen abzuleiten: Einerseits wurde sich zum Ziel gesetzt, Wissenschaft und Praxis besser zu vernetzten, andererseits wurde die Frage diskutiert, wie die Resolution 2250 auf internationaler Bühne besser verankert und so eine gezieltere Umsetzung der Resolution erreicht werden kann. Ebenso wurde überlegt, wie die Ziele der Resolution verstanden werden können. Der Abschlussworkshop formulierte für diese drei Fragestellungen konkrete Forderungen: Die Tagungsteilnehmer*innen sprachen sich für öffentliche Podiumsdiskussionen unter Beteiligung von Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Personen des politischen Lebens aus. Um eine bessere Reichweite der Resolution zu erreichen, wurde die Möglichkeit von nationalen Social-Media-Initiativen diskutiert, die helfen sollen, eine staatliche Umsetzung der Resolution zu fördern und damit die Zivilgesellschaft anzuregen, sich für eine stärkere Inkludierung junger Menschen in Politikprozessen einzusetzen.

Die Konferenz »Youth for Peace and Security: Partizipation junger Menschen in Friedensprozessen – ein unterschätzter Beitrag auf dem Weg zu nachhaltigen Frieden?« hat einen wichtigen Beitrag für eine bessere Wahrnehmung der Resolution einerseits und eine bessere Integration von jungen Menschen in Friedensprozessen sowohl im wissenschaftlichen als auch im tagespolitischen Geschehenen anderseits geleistet. Der Teilnehmer*innenkreis der Workshops und Panels spiegelte das Anliegen der Konferenz wider: Vielfalt zu berücksichtigen und jungen Wissenschaftler*innen, aber auch gesellschaftspolitischen Aktivist*innen, einen gemeinsamen Raum zu bieten. So war der Anteil junger Menschen aus dem Globalen Süden und von People of color ausgewogener gegenüber dem Anteil der Teilnehmenden aus dem Globalen Norden. Die Teilnehmer*­innen verließen die Konferenz nicht nur bestärkt darin, der Resolution mehr wissenschaftlichen und politischen Raum zu verschaffen, sondern auch in einer Nachfolgekonferenz im Jahr 2019 erneut über Implementierungsmaßnahmen und eine bessere Verbindung von Wissenschaft und Praxis zu sprechen.

Julia Renner

An allen Fronten – Auf allen Ebenen!


An allen Fronten – Auf allen Ebenen!

22. IMI-Kongress, Tübingen, 7.-9. Dezember 2018

von Jürgen Wagner

Der 22. Kongress der Informationsstelle Militarisierung fand, dieses Jahr etwas später als gewohnt, von 7. bis 9. Dezember 2018, wie immer in Tübingen, statt. Thema war – die Debatte um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO aufgreifend – »Deutschlands Aufrüstung: An allen Fronten – Auf allen Ebenen!«. Zwischen 70 und 140 Personen waren jeweils bei den Vorträgen präsent, insgesamt dürften über 200 Menschen Teile des Kongresses besucht haben. Viele Besucher*innen aus entfernteren Gegenden reisten bereits zur Auftaktveranstaltung am Freitagabend an, die in der Hausbar des Wohnprojekts Schellingstraße – einer ehemaligen Kaserne – stattfand. Dort wurde in einem kurzen Vortrag zu Beispielen der Konversion – also der zivilen Nutzung vormals militärischer Flächen – in die Thematik eingeführt. Anschließend gab es noch eine Art Kneipen-Quiz zu Ritualen bei der Bundeswehr, bei dem v.a. viel gelacht und eines klar wurde: Es gibt Weniges, was die Anwesenden sich vorstellen konnten und gelangweilte Soldat*innen nicht schon durchgeführt und ritualisiert hätten.

Der erste Veranstaltungsblock am Samstag beschäftigte sich mit dem Thema »Deutschland im Rüstungsfieber«. Dabei spielten der steigende Verteidigungshaushalt und die Großprojekte ebenso eine Rolle wie die planerischen Grundlagen der jüngsten Rüstungsbemühungen – »Konzeption« und »Fähigkeitsprofil« der Bundeswehr (siehe dazu Jürgen Wagner, Verschwimmende Grenze, auf S. 30 in dieser W&F-Ausgabe). Anschließend wurde auch auf die Veränderungen in der deutschen Rüstungslandschaft eingegangen. Ausführlich wurden in weiteren Panels die aktuellen Rüstungsvorhaben in den Bereichen Polizei, Informationstechnologie und Atomwaffen behandelt. Die Abendveranstaltung zur »EU auf dem Weg zur Rüstungsunion« wurde kurzfristig in einen von Aktivist*innen und Studierenden angeeigneten Hörsaal verlegt. Der Hörsaal war eine Woche zuvor im Anschluss an eine Demonstration gegen den Forschungscampus »Cyber Valley«, an dem auch die Rüstungsindustrie beteiligt ist, besetzt worden. Zu den Forderungen der Besetzenden gehörte u.a. eine Zivilklausel für die gesamte Stadt.

Der Sonntag stand zunächst ganz im Zeichen der »Gegenkonversion«, also der (Re-) Militarisierung von Flächen. Das Thema wurde zu Beginn anhand der »Militärischen Mobilität« und des geplanten NATO-Logistikkommandos in Ulm behandelt, und es wurde erläutert, wie auf dieser Basis künftig vermehrt Gelder nach militärischen Nützlichkeitserwägungen in Infrastrukturprojekte zur schnellen Verlegefähigkeit, insbesondere nach Osteuropa, gelenkt werden sollen. Im Anschluss ging es konkret um »Die militärische (Rück-) Eroberung der Fläche: (Re-) Aktivierung alter und neuer Liegenschaften«, die aktuell drei verschiedene Formen annimmt: erstens die Inbesitznahme ziviler Flächen durch das Militär, teilweise, um den Verlust von (anderen) Flächen, die einer zivilen Nutzung zugeführt werden sollen, auszugleichen; zweitens die Reaktivierung aufgegebener Flächen, Liegenschaften und Ressourcen; und drittens der Abbruch oder die Verzögerung eines Konversionsprozesses.

Das Abschlusspodium des diesjährigen Kongress fokussierte sich auf aktuellen Widerstand gegen Aufrüstung. Mit dabei waren Aktivist*innen aus Ulm gegen das geplante NATO-Logistikkommando sowie vom bundesweiten Jugendnetzwerk für politische Aktion (JunepA), vom Tübinger Bündnis gegen das »Cyber Valley« und vom Kassler antimilitaristischen Aktionsbündnis »Block War«. Abgesehen von der Darstellung der jeweiligen politischen Auseinandersetzungen und auch Erfolge, ging es darum, zu erörtern, wie die anti-militaristischen Bewegungen gestärkt werden können. Ein Fazit war, dass die Vernetzung mit Bewegungen aus anderen Spektren, wie den Wohnraumbündnissen und Naturschutzverbänden, intensiviert werden könnte.

Jürgen Wagner