Der Raum dazwischen


Der Raum dazwischen

Hybrider Krieg und die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges«

von Bernhard Koch

Die Ethik hat – ähnlich wie die Alltagssprache – lange Zeit Krieg und Frieden wie kontradiktorische Gegenteile behandelt: Entweder ist Krieg, oder es ist Frieden. Beides hat seine eigenen Regeln. Nun stellen wir aber gerade durch die »hybride« Kriegsführung fest, dass sich bereits sozialwissenschaftlich keine richtige Grenze zwischen Krieg und Frieden mehr ausmachen lässt. Ein »Hybrider Krieg« ist (noch) kein »voll ausgeprägter« Krieg, aber eben auch kein Frieden. Er liegt dazwischen: Tertium datur, es gibt ein Drittes. Kann eine Ethik, die auf die Unterscheidbarkeit dieser beiden Zustände setzt, überhaupt noch anwendbar sein (vgl. Koch 2017)?

Nein, sagt die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges«. Ihre Vertreter*innen wollen die These der normativen Trennung von Krieg und Frieden revidieren.1 Wenn wir über ethische Legitimation im Rahmen kriegerischer Gewalt sprechen, dann müssen wir dies – so ihre Annahme – auf einer Grundlage tun, wie sie auch für legitime Gewalt in einem friedlichen Umfeld gegeben ist. Eine Ethik von Kriegsführung kann auf keiner anderen normativen Quelle fußen als jede andere Ethik legitimer Gewaltanwendung. Diese Quelle findet die revisionistische Theorie in der Rechtfertigung verteidigender Gewalt: Nur wo die grundsätzliche Immunität einer Person übertreten und dadurch diese Person in ihren Rechten verletzt wird, ist Gewalt zur Abwehr des Angriffs erlaubt. Aber diese verteidigende Gegengewalt unterliegt selbst strengen Bedingungen. Im »verantwortungsbasierten Ansatz verteidigender Gewalt« (responsibility account of permissible defense) von Jeff McMahan (2011a, S. 392), dem wichtigsten Denker dieser Richtung, dürfen nur jene »Bedrohenden« Gegengewalt erfahren, die eine moralische Verantwortung für die relevante Bedrohung tragen. Solche Personen sind je nach Grad ihrer Verantwortung »haftbar« (d. h. legitim angreifbar; orig. »liable«) für ein bestimmtes Ausmaß von Verteidigung. So können entschuldigende Gründe, wie (unverschuldete) Unwissenheit oder der Umstand, dass man unter Druck gesetzt wurde, die Haftbarkeit merklich senken und dadurch auch das Maß erlaubter verteidigender Gegengewalt.

Moralische Verantwortlichkeit ist aber nicht die einzige Größe, die den Umfang der Haftbarkeit bestimmt. Hinzu kommen Faktoren wie das Ausmaß der Bedrohung oder die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Abwehrmaßnahme überhaupt erfolgreich sein kann (McMahan 2011b, S. 548). Wenn eine gewaltsame Handlung zur Bedrohungsabwehr nichts beitragen kann, ist sie nicht erlaubt, selbst wenn andere Faktoren eine Haftbarkeit begründen würden.

Wenn eine Person mutwillig und aggressiv eine andere Person in ungerechtfertigter Weise bedroht, ohne äußere Zwänge, bei klarem Bewusstsein, ist sie für die Bedrohung in anderer Weise verantwortlich als eine Person, die zwar auch illegitim bedroht, aber sich über diesen Umstand nicht im Klaren ist oder die von anderen dazu gezwungen wurde. Aus dieser veränderten Art der Verantwortlichkeit folgt eine veränderte Angreifbarkeit. Die intuitive Plausibilität dieses Ansatzes zeigt sich darin, dass es uns Unbehagen bereitet, wenn Kindersoldat*innen gleichermaßen massiv angegriffen werden wie erwachsene Kämpfer*innen.

Dieser Ansatz stellt immerhin einen grundsätzlichen Maßstab für kollektive Gewaltakte (worunter auch politische Gewalt und Krieg fällt) bereit, auch wenn er das Phänomen etwas einengt. Die Frage nach der Legitimation von kollektiver Gewalt wird in diesem »methodischen Individualismus« zurückgeführt auf die Frage nach der Legitimation individueller Gewalt; die Eigendynamik von Gruppen findet keine Berücksichtigung. (Menschen-) Rechte folgen nicht aus dieser Ethik, sondern sind ihre Voraussetzung. Vor allem ein Schritt ist bedeutsam: Das Haftbarkeitskonzept verlegt das Fundament dessen, was an verteidigender Gewalthandlung erlaubt ist, weg von den eigenen Sicherheitsbedürfnissen hin zu einer Eigenschaft des Gegners. Nicht die Frage, wieviel Gewalt ich benötige, um mich selber zu schützen, ist der erste Anker für das Gewaltmaß, sondern die Frage, wieviel Gewalt ich dem Gegner angesichts seines moralisch zu beurteilenden Zustands zumuten darf. Wenn ich in Rechnung stelle, dass auch der Gegner glaubt – und sei es irrtümlich –, er würde sich mit seinen Gewalthandlungen lediglich verteidigen, muss ich ihm diesen Irrtum unter Umständen entschuldigend anrechnen. Freilich unterliegt auch er einer solchen Pflicht, die moralische Situation seines Gegners in den Blick zu nehmen und sich ihr entsprechend zu mäßigen. Konsequent durchgedacht, beinhaltet also dieser ethische Ansatz ein beträchtliches Gewalt deeskalierendes Potential.

Akteur*innen in einem »hybriden« Konflikt sollten sich also fragen, ob sie überhaupt versuchen, die Sichtweise ihres Gegners adäquat in den Blick zu nehmen. Möglicherweise gibt es dort Sicherheits- und Identitätsbedürfnisse, denen man grundsätzlich Rechnung tragen muss. Freilich entbindet dies den Gegner nicht seinerseits von der Pflicht, vertrauensbildend zu agieren und zu reflektieren.

Im Folgenden sollen kurz – und unvermeidlich auch verkürzt – drei Felder die Anwendung dieser ethischen Überlegungen in praktischen Kontexten exemplifizieren: Waffenlieferungen, militärische Robotik und Kulturgüterschutz.

Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung?

Der verantwortungsbasierte Ansatz der verteidigenden Gewalt unterscheidet grundsätzlich nicht danach, wer die verteidigende Gewalt vornimmt. Es kommt nicht darauf an, ob es das bedrohte Opfer selbst ist, das abwehrend handelt, oder ein Dritter, der dem Opfer zu Hilfe eilt. Ausschlaggebend ist einzig die Haftbarkeit des*der Bedrohenden selbst, die die Grenzen der verteidigenden Gewalt festlegt, und zwar sowohl in einem Akt der Selbstverteidigung (Notwehr) wie in einem Akt der Fremdverteidigung (Nothilfe).

Nun könnte man denken, dass es aus diesem Grund auch gleichgültig ist, ob eine Person A dem bedrohten Menschen B Waffen zu dessen Selbstverteidigung bereitstellt oder ob A selbst die Waffen nutzt, um in Fremdverteidigung der bedrohten Person zu helfen. Wenn wir beispielsweise überlegen, ob Waffenlieferungen an die vom IS bedrohten Jesiden erlaubt oder gar geboten waren oder ob wir nicht besser selbst mit unseren eigenen Streitkräften hätten intervenieren sollen, bietet uns der verantwortungsbasierte Ansatz erst einmal wenig Hilfestellung. Häufig wird daher ein zusätzliches Prinzip herangezogen: Wenn die bedrohte Person die Verteidigung selbst übernehmen kann, dann soll sie dies auch tun. Dritte Personen sind lediglich aufgefordert, sie dazu zu ermächtigen. Die bedrohte Person bleibt dann nicht zu Dankbarkeit oder Abhängigkeit schaffenden Haltungen verpflichtet.

Das ist nachvollziehbar, aber vielleicht zu kurz gegriffen: Verteidigende Gewalt erfolgt ja in einem Rechtsrahmen, ohne den nicht einmal das Selbstverteidigungsrecht als solches begründet wäre. In einem Rechtsrahmen sollte aber die Rechtswahrung immer zunächst bei den dafür bestellten Rechtswahrern liegen. Daher kann man argumentieren, eine autorisierte Verteidigung der Rechte angegriffener Personen sei der Selbstermächtigung dieser Personen grundsätzlich vorzuziehen.2 Das Argument spräche also eher für die (z.B. durch die Vereinten Nationen mandatierte) Intervention als für das Liefern von Waffen. Dazu kommen wichtige konsequentialistische Überlegungen, wie die Möglichkeit der Proliferation der Waffen nach dem Konflikt oder ein mögliches Eskalationspotential (vgl. zur Debatte Pattison 2015). Andererseits ist es im internationalen System leider noch so, dass rechtswahrende Soldat*innen, wenn sie von einzelnen Staaten bereitgestellt werden, auch als Exponenten der Interessen ihrer Staaten wahrgenommen werden – zuweilen zurecht, was natürlich den Erfolg eines militärischen Einsatzes torpedieren kann.

Bewaffnete Drohnen und autonome Waffensysteme

Da die »revisionistische Theorie« von individueller Haftbarkeit ausgeht, fordert sie uns auf, das militärische Handeln immer wieder in legitimatorischer Hinsicht an die betroffenen Individuen zurückzubinden. In solchen Überlegungen zeigt sich die Tragik des Einsatzes militärischer Gewalt ganz besonders,3 denn häufig sind Menschen von der Gewalt betroffen, die nichts dazu getan haben, dass es zu den Bedrohungen kam, und es sind sogar Menschen von ihr betroffen, die viel oder alles dafür getan haben, dass es zu den Bedrohungen nicht kommt, und die nun dennoch in Gefahr sind. Dadurch werden im Krieg manche Menschen zu Tätern von Unrecht, obwohl sie gerade Unrecht verhindern und recht handeln wollen.

Weil es diese Tragik gibt, suchen wir Erlösung in der Technik. Die Hoffnun­gen, die Politik und Militär in bewaffnete ferngesteuerte Waffensysteme stecken, zeugen davon.4 Ferngesteuerte militärische Robotik (z.B. bewaffnete Drohnen) versprechen Sicherheit für die eigenen Streitkräfte, die ja dem Idealbild nach nur in gerechtfertigter Selbst- und Fremdverteidigung handeln, und gleichzeitig auch größere Sicherheit für jene Personen, die – obwohl ohne Haftbarkeit – bei den überkommenen militärischen Mitteln von der Gewalt betroffen wären, vor allem Zivilist*innen (Koch und Rinke 2018). Durch diese technischen Mittel sollen nur noch die wirklich haftbaren Personen die Folgen ihres bedrohenden Handelns zu spüren bekommen, was insbesondere bei komplexen Gemengelagen, wie den so genannten hybriden Kriegen, verheißungsvoll klingt.

Dabei wird aber ausgerechnet durch die gegebene Distanz die Legitimationsgrundlage für Gewalt immer schwammiger. Verteidigende letale Gewalt kann bestenfalls legitim sein, wenn eine unmittelbare Bedrohung für das Leben einer anderen Person oder anderer Personen vorliegt. Oft ist es aber die Drohne selbst, die durch ihre Aufklärungsfähigkeit dazu beiträgt, dass es zu dieser unmittelbaren Bedrohung nicht kommen muss, weil sie beispielsweise Rückzugsoptionen schafft. Zugestanden: Es sind Szenarien denkbar, in denen eine Person andere Personen mit unmittelbarer illegitimer tödlicher Gewalt bedroht, bei denen es naheliegt, dass eher der*die Bedrohende durch verteidigende tödliche Gewalt sein Leben verlieren sollte als die Opfer der Bedrohung. Alleine dadurch aber, dass die vom Militär genutzten Drohnen immer ein Gewaltausmaß schaffen, das für individuell austarierte Gewalt viel zu groß ist, ist die Konstruktion solcher Fälle reichlich hypothetisch. In gewisser Weise schaffen bewaffnete Drohnen ihren bevorzugten Handlungstyp selbst, nämlich die »targeted killings«,5 denn – salopp gesprochen – für jemanden, der einen Hammer hat, sehen viele Probleme wie ein Nagel aus.

Vor allem muss die Frage gestellt werden, welche Befriedungsfähigkeit im Einsatz roher Technik liegt oder ob diese nicht letztlich als Exekutionsinstrument einer dominanten Macht verstanden wird. Da die derzeitigen Drohnensysteme offenkundig nur den Auftakt zu wesentlich »autonomeren« Waffensystemen darstellen, werden sich künftig auch Fragen nach unkalkulierten und unkalkulierbaren Risiken beim Einsatz »autonomer« Technik sowie Probleme der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit stellen. Es deutet nichts darauf hin, dass sich mit diesen Systemen hybride Bedrohungen wirklich beseitigen und, mehr noch, Regionen hybrider Bedrohungen befrieden ließen.

Kulturgüterschutz in bewaffneten Konflikten

Dass in den gewaltsamen Auseinandersetzungen der letzten Jahre Kulturgüter zum Ziel von mutwilligen Angriffen wurden – also ihre Zerstörung oder Beschädigung nicht nur wie im Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger billigend in Kauf genommen wurde –, zeigt eine verschärfte Dimension dieser »hybriden« Kriegsführung an, denn mit dem Kulturgut werden zwar Menschen häufig nicht direkt in ihrer physischen Existenz getroffen, sollen aber indirekt in ihrer Identität geschädigt werden.

Damit ein Kulturgut im Modell der »revisionistischen Theorie des gerechten Krieges« überhaupt zum Gegenstand legitimer verteidigender Gewalt werden kann, muss sich sein Wert in irgendeiner Weise als bezogen auf das Leben von natürlichen Personen ausdrücken lassen. Es ist offenkundig, dass der militärische Schutz für ein Elektrizitätswerk ethisch erlaubt sein kann, wenn dessen Zerstörung das Leben von Menschen gefährden würde. Bei Kulturgütern hingegen muss zur Begründung ein sehr viel weitergehendes Konzept gelingenden menschlichen Lebens in Anschlag gebracht werden. Dort, wo Kulturgüter zu einem »reichhaltigeren« sozialen und damit individuellen Leben beitragen, kann man ihren Schutz immerhin als Schutz dieses »reichhaltigen« sozialen oder individuellen Lebens verstehen. So können religiöse Bauten für die Mitglieder dieser Gemeinschaft zu einer Fülle beitragen, ohne die sie ihr Leben als »unvollständig« oder »leer« empfinden würden.

Was aber ist mit solchen kulturellen Objekten, die nicht mehr einfachhin in einer identitätsstiftenden Beziehung zu einer lebendigen Gemeinde von kulturell verbundenen Menschen stehen, wie z. B. die 2001 zerstörten Buddhas von Bamyan? Mir scheint, wir müssen den Schutz von Kulturgütern als kosmopolitische Aufgabe begreifen und auch das gefährdete Objekt in seiner Bezogenheit auf die Menschheitsgeschichte als solche sehen (Koch 2016). Dies setzt die Bereitschaft voraus, etwas, was in einer partikularen Kultur besonderen Wert hat, auch als für die Weltgemeinschaft wertvoll anzuerkennen, weil man eben auch die andere partikulare Kultur als wertvoll bejaht. Nun mag man einwenden, dass gerade diese Anerkennungsforderung einer partikularen Kultur zugehört – nennen wir sie die »aufklärerisch-westliche« – und man von denen, die diesen Anspruch nicht teilen, den Schutz solcher Objekte nicht erwarten, ja nicht einmal einfordern könne. Das befreit aber nicht von der Verpflichtung, seinen eigenen Maßstäben treu zu bleiben. Manchmal bleiben eben nur noch unilaterale Kriterien und Wertbindungen.

Fazit

Die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges« setzt normativ um, was empirisch schon ansatzweise der Fall ist: Sie unterscheidet nicht grundsätzlich zwischen »zivil« und »militärisch«, zwischen »innerer« und »äußerer« Bedrohung oder zwischen »Krieg« und »Frieden«. Unterschiede sind eine Sache des Grades, nicht der Schwellen. Insofern stellt der »Revisionismus« in der Tat ein normatives Modell vor, das Gewalt auf allen Stufen der Eskalation binden und einhegen kann. Darin liegt die Stärke des Ansatzes. Seine Schwäche liegt vielleicht darin, dass er dem Menschen als bedeutungs- und wertsetzendes, als geschichtliches sowie als friedenssehnsüchtiges Wesen nicht ganz gerecht wird. Auch die Maßstäbe legitimer Angreifbarkeit (liability) beruhen auf werthaften Vorentscheidungen, die so oder anders getroffen werden können. Frieden im Sinne einer völligen Abwesenheit von Gewalt gibt es (zumindest in der geschichtlichen »civitas terrena«, dem irdischen Staat) nicht. Wichtig ist ein nüchterner und sachlicher Blick auf den Menschen und die realen Umstände, auch wenn es um eine normative Einschätzung der neuen Gewaltformen – seien sie asymmetrisch, terroristisch, hybrid oder dergleichen mehr – geht. Nüchterne Blicke relativieren Bedrohungen und eigene Ansprüche und verhindern so in guten Fällen Gewaltspiralen und Eskalationstendenzen.

Anmerkungen

1) Der Auftakt machte Jeff McMahans programmatischer Aufsatz McMahan 2004.

2) In innerstaatlichen Rechtsräumen würden wir es jedenfalls kaum akzeptieren, dass die Polizei, anstatt einzugreifen, bedrohten Personen Waffen zur Selbstverteidigung zur Verfügung stellt.

3) Tragik ist es ja nicht, zum Opfer eines Unglücks oder ungerechter Gewalt zu werden. Tragik ist es, im Streben nach Recht zum Täter ungerechter Gewalt zu werden oder werden zu müssen.

4) Zur Debatte um bewaffnete Drohnen vgl. Koch 2015 und Koch 2019.

5) Zum Begriff des »targeted killing« vgl. Melzer 2008, S. 3 f. Siehe zu diesem Thema auch Alston 2011.

Literatur

Alston, P. (2011): Dokumentation – Gezielte Tötungen. W&F 1-2011, S. 17-21 (Auszüge der »Studie über gezielte Tötungen« des Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen für den Menschrechtsrat der Vereinten Nationen).

Koch, B. (2015): Bewaffnete Drohnen und andere militärische Robotik – Ethische Betrachtungen. In: Gramm, C.; Weingärtner, D. (Hrsg.): Moderne Waffentechnologie – Hält das Recht Schritt? Baden-Baden: Nomos, S. 32-56.

Koch, B. (2016): Es geht nicht nur um Steine – Ist militärischer Schutz von Kulturgütern erlaubt oder gar geboten? Herder Korrespondenz, Vol. 70, Nr. 11, S. 38-41.

Koch, B. (2017): Diskussionen zum Kombattantenstatus in asymmetrischen Konflikten. In: Werkner, I.-J.; Ebeling, K. (Hrsg.): Handbuch Friedensethik. Wiesbaden: Springer VS, S. 843-854.

Koch, B. (2019): Die ethische Debatte um den Einsatz von ferngesteuerten und autonomen Waffensystemen. In: Werkner, I.-J.; Hofheinz, M. (Hrsg.): Unbemannte Waffen und ihre ethische Legitimierung. Wiesbaden: Springer VS, S. 15-46.

Koch, B.; Rinke, B.-W. (2018): Der militärische Einsatz bewaffneter Drohnen – Zwischen Schutz für Soldaten und gezieltem Töten. TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, Vol 27, Nr. 3, S. 38-44

McMahan, J. (2004): The Ethics of Killing in War. Ethics, Vol. 114, Nr. 4, S. 693-733.

McMahan, J. (2011a): Self-Defense Against Morally Innocent Threats. In: Robinson, P.H.; Garvey, S.; Kessler Ferzan, K. (eds.): Criminal Law Conversations. Oxford: OUP, S. 385-394.

McMahan, J. (2011b): Who is Morally Liable to be Killed in War? Analysis, Vol 71, Nr. 3, S. 544-559.

Melzer, N. (2008): Targeted Killing in International Law. Oxford: OUP.

Pattison, J. (2015): The Ethics of Arming Rebels. Ethics & International Affairs, Vol. 29, Nr. 4, S. 455-471.

Dr. Bernhard Koch ist stellvertretender Direktor des Hamburger Instituts für Theologie und Frieden und Lehrbeauftragter für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Hybride Kriegführung


Hybride Kriegführung

Die Diffusion eines Begriffs

von Wolfgang Schreiber

»Hybride Kriegführung« (hybrid warfare) ist kein theoretisch feststehender Begriff, sondern vielmehr eine Wortschöpfung, die in den letzten Jahren zur Beschreibung sehr unterschiedlicher Kriegsphänomene genutzt wurde. Dennoch lassen sich Merkmale der hybriden Kriegführung herausfiltern. Die Bandbreite lässt sich anhand historischer und aktueller Beispiele veranschaulichen.

Erstmalig explizit genutzt wurde »Hybride Kriegführung« 2002 in einer Arbeit über den Krieg in Tschetschenien (Nemeth 2002).1 Dabei stellte Nemeth fest, dass die Rebellen sowohl moderne Technologie als auch moderne Mobilisierungsmethoden (ebd., S. 29) und – je nach Lage – konventionelle oder Guerilla-Taktiken einsetzten (ebd., S. 61). Durch eine Analyse des Libanonkrieges von 2006, die für die Kriegführung der Hisbollah gegen Israel ähnliches herausstellte (Hoffman 2007), fand der Begriff weitere Verbreitung. Eine hybride Kriegführung wurde also zunächst nichtstaatlichen Akteuren zugeschrieben, von denen man eine Kombination aus konventionellen und Guerilla-Taktiken so nicht erwartet hatte, sodass eine neue Begrifflichkeit notwendig erschien.2

Eine Erweiterung erfuhr der Begriff spätestens 2010, als innerhalb der NATO von »hybriden Bedrohungen« gesprochen wurde (Asmussen et al. 2015, S. 10, 123). Damit gemeint war die Einbeziehung nicht originär militärischer Bedrohungen, wie Gewalt durch Nachrichtendienste, Cybergewalt, privatisierte Gewalt, diplomatische Macht, realwirtschaftliche Macht, finanzwirtschaftliche Macht, wissenschaftliche und technologische Macht, Medienmacht (Dengg und Schurian 2015, S. 60-63). Durch die Kombination dieser und ggf. militärischer Mittel ergeben sich logischerweise ganz unterschiedliche hybride Bedrohungsszenarien.

Die Sinnhaftigkeit des Begriffs wurde gleich aus mehreren Richtungen kritisiert. Einerseits führten Kritiker für die Kombination verschiedener militärischer Taktiken durch Kriegsakteure eine ganze Reihe von Beispielen an, die nahelegen, dass diese Art der Kriegführung auch historisch gesehen eher die Regel als die Ausnahme war (Murray und Mansoor 2012). Wird andererseits die Mischung von militärischen und nicht-militärischen Elementen als wesentliches Charakteristikum hybrider Kriegführung betont, so erscheint der Begriff noch weniger sinnvoll. Kriegführende Parteien bedienten sich zur Unterstützung ihrer Kriegführung immer auch nicht-militärischer Mittel: Diplomatie soll z.B. verhindern, dass der Gegner Bündnispartner findet; Wirtschaftssanktionen bis hin zu Blockaden sollen dessen Versorgung infrage stellen; Propaganda soll die Unterstützung der eigenen Bevölkerung sicherstellen und die des Gegners untergraben usw. Das Führen eines Krieges ist damit grundsätzlich hybrid (Schmid 2016, S. 119).

Für die Diskussion über hybride Kriegführung kommt dabei aus den Bedrohungsszenarien der Einzelkomponente des Cyberangriffs eine besondere Bedeutung zu. 2007 wurden estnische Einrichtungen Ziel eines Cyberangriffs (Asmussen et al. 2015, S. 6); 2010 waren vor allem Computer im Iran betroffen vom Computerwurm Stuxnet (Dengg und Schurian 2015, S. 27). In beiden Fällen konnte über die Urheber der Cyberattacken nur spekuliert werden: 2007 wurden russische Urheber vermutet; 2010 richtete sich der Verdacht gegen die USA und Israel. Bei Cyberangriffen geht es jedoch zumeist weniger um Angriffe mit Zerstörungspotenzial als um Spionage. Zu nennen ist hier vor allem das weltweite Überwachungsprogramm der US-amerikanischen National Security Agency (NSA), die auch vor dem Abhören befreundeter Staats- und Regierungschefs nicht haltmachte. Ein weiteres Beispiel ist die Veröffentlichung des Mailverkehrs der Demokratischen Partei in den USA, die die Einflussnahme der Parteispitze zugunsten Hillary Clintons und gegen Bernie Sanders im Nominierungswahlkampf vor der Präsidentschaftswahl 2016 deutlich machte. Im Fall der NSA blieben diese Aktivitäten bis zur Veröffentlichung durch Edward Snowden unbekannt; im zweiten Fall wird über Urheber in Russland spekuliert.

Diffusion des Begriffs

Wird in der aktuellen Diskussion von hybrider Kriegführung gesprochen, ist damit vor allem das russische Vorgehen in der Ukraine gemeint (Bilban et al. 2019, S. 22-25; Ehrhart 2014). Dabei werden folgende Hauptmerkmale der russischen Kriegführung genannt, welche die Bezeichnung »hybrid« rechtfertigen sollen: Da die russische Seite behauptet, die Rebellen lediglich zu unterstützen, bleibt im Unklaren, wer der treibende Akteur ist. Direkte russische Interventionen werden, so bei der Besetzung der Krim, allenfalls im Nachhinein zugegeben. Somit weist bereits die im engeren Sinne militärische Komponente einen hybriden Charakter auf. Diese Unklarheit über das militärische Agieren wird von einer Informationspolitik begleitet, die einerseits auf klassische Medien, wie den Fernsehsender RT, zurückgreift, andererseits auch auf sozialen Medien beruht, wo Urheberschaft und Einflussnahme staatlicher Stellen bewusst im Unklaren bleiben.

Die Möglichkeit, eine Verantwortung für bestimmte Aktionen oder sogar eine Kriegsbeteiligung mit einiger Plausibilität abstreiten zu können (Erhart 2016, S. 99; Schmid 2016, S. 115), wird hier zu einem Hauptmerkmal dieser Art der Kriegführung. Dies wird unterstützt durch die Verbreitung von Informationen und Desinformationen im Internet, die es erschweren, Fakten, Wahrnehmungen und Unwahrheiten voneinander zu unterscheiden, weil sich für jede Sichtweise vielfältige »Belege« finden lassen. Sofern eine Kriegsbeteiligung insgesamt bestritten wird, bedeutet dies eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden (Koch 2016, S. 110).

Mit diesen Zuordnungen hat sich der Begriff »hybrider Krieg« von den ersten, eingangs beschriebenen Definitionsversuchen doch ein Stück weit entfernt. Nicht die Vermischung regulärer und irregulärer Kriegführung macht hier den eigentlichen Charakter des Hybriden aus, sondern ein Vorgehen, dass die Zuschreibung einzelner Gewalthandlungen und Beiträge zur Kriegführung eher im Unklaren lässt. Statt von hybrider ließe sich treffender von verdeckter Kriegführung sprechen. Dabei kann der Grad der Verdeckung unterschiedlich sein: Es kann jegliche Beteiligung entweder verschwiegen oder geleugnet werden. Durch das Handeln mehrerer Akteure – meist eines staatlichen und mindestens eines nichtstaatlichen – wird es schwierig, die jeweils maßgebliche Kraft zu identifizieren. Oder es kommt zum Einsatz von Truppen, der Begriff »Krieg« wird für diese Einsätze aber trotz der Verwicklung in Kampfhandlungen vermieden. Auch dadurch entsteht eine Grauzone zwischen Krieg und Frieden, wie sie für die hybride Kriegführung konstatiert wird.

Dieses Vorgehen ist allerdings nicht neu. Immer wieder gab es Interventionen, in denen eine Kriegsbeteiligung nicht offen stattfand. So unterstützten US-amerikanische Kampfflugzeuge 1954 in Guatemala und 1958 in Indonesien aufständische Truppen. Am zwischenstaatlichen Koreakrieg beteiligte sich die Sowjetunion auf Seiten Nordkoreas mit Kampfflugzeugen, die von chinesischen Stützpunkten aus eingesetzt wurden. Offiziell beteiligte sich Moskau nicht an diesem Krieg. Auch in jüngerer Zeit wurden Einsätze, wie der durch französische und britische Spezialkräfte zugunsten der libyschen Opposition 2011, nicht von vornherein offengelegt (Ehrhart 2014).

Für eine besondere Art der verdeckten Intervention steht der Einsatz von Söldnern. In Guatemala 1954 und Kuba 1961 wurden Exilkräfte bei ihren Umsturzversuchen jeweils durch Söldner unterstützt, die mit der CIA in Verbindung standen. In afrikanischen Konflikten stieß man häufig auf den Söldner Bob Denard, der bis in die 1980er Jahre mehr oder weniger offen französische Interessen vertrat. Zu überlegen ist auch, wie die Aktivitäten privater Sicherheitsfirmen, z.B. im Irakkrieg, hier zugeordnet werden können.

Eine weitere Art verdeckter Kriegsbeteiligung ist die vorgeblich neutrale Intervention zur Beendigung eines Krieges. Die USA bedienten sich dieses Szenarios 1965 in der Dominikanischen Republik und agierten dabei formal als Teil der durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) entsandten Truppen. Mitte der 1990er Jahre wurde die von der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS entsandte Eingreiftruppe ein Akteur im Bürgerkrieg in Liberia, als sie unter nigerianischer Führung vor allem gegen die Rebellen unter Charles Taylor vorging. Auch Russland engagierte sich in mehreren derartigen Interventionstruppen. Zur Überwachung von Waffenstillständen wurden Einheiten unter dem Dach der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in verschiedene Nachfolgestaaten der Sowjet­union entsandt, u.a. nach Moldawien und Georgien. De facto unterstützten diese von Russland dominierten Truppen jedoch jeweils eine der Konfliktparteien. 2008 führte dies im Falle der Region Südossetien zum offenen Krieg zwischen Georgien und Russland.

Weiterhin gibt es zahlreiche Beispiel innerstaatlicher Kriege, in denen die staatliche Seite mehr oder weniger eng mit nichtstaatlichen Akteuren zusammenarbeitet. In diesen Fällen können insbesondere Kriegsverbrechen und grobe Menschenrechtsverstöße vom Staat geleugnet bzw. ihrem nicht immer kontrollierbaren Verbündeten zugeschrieben werden. Bekannte Beispiele hierfür sind die paramilitärischen »Selbstverteidigungsgruppen«, die in Kolumbien bei der Bekämpfung der verschiedenen linksgerichteten Rebellengruppen mitwirkten, sowie die so genannten Dschandschawid-Milizen, die im sudanesischen Darfurkrieg zum Einsatz kamen.

Eine letzte Form verdeckter Kriegführung ist die Beteiligung an Kriegen, die von den betreffenden Staaten nicht als Krieg deklariert werden. Zu erinnern ist hier an die Debatte in Deutschland, ob die Bundeswehr in Afghanistan an einem Krieg beteiligt ist. Dabei wurde offiziell lange die Interpretation als Nachkriegs- und Stabilisierungsmission im Rahmen der ISAF aufrechterhalten, obwohl nach der Reorganisation der Taliban bereits ab 2003 wieder ein offener Krieg zu beobachten war. Es handelt sich aber nicht nur um ein deutsches Phänomen: Als der französische Präsident nach den IS-Anschlägen in Paris am 13.11.2015 diese als »Kriegserklärung« bezeichnete, stellte sich durchaus die Frage, wie die in den Monaten zuvor im Irak und Syrien geführten französischen Luftangriffe gegen den IS im offiziellen Sprachgebrauch bezeichnet wurden.

Fazit: ein unklarer Begriff für vielfältige Phänomen

So vielfältig die Bedrohungsszenarien hybrider Kriegführung, so vielfältig sind die Phänomene, die als hybride Kriege bezeichnet werden können. Die Mischung konventioneller und unkonventioneller Arten der Kriegführung dürfte historischen Untersuchungen zufolge wohl eher die Regel als die Ausnahme im Kriegsgeschehen darstellen. Auch die Mischung des Einsatzes von militärischen und zivilen Mitteln, wie Diplomatie, Propaganda/Information/Desinformation, Spionage oder Wirtschaftssanktionen, kennzeichnen eher Kriege im Allgemeinen als hybride Kriege im Besonderen. Ob die Nutzung des Internets oder des Cyberraums einen neuen Kriegsbegriff erforderlich macht, kann an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise diskutiert werden, zumal auch der Begriff des Cyberwar eher umstritten ist (Rid 2018). Auch die Verdeckung von Verantwortlichkeiten im Kriegsgeschehen – bis hin zur Infragestellung des Kriegszustandes selbst – sind weder neue Phänomene noch wird durch sie ein neuer Begriff zu begründen sein.

Anmerkungen

1) Nemeth nimmt dabei aber an keiner Stelle in Anspruch, diesen Begriff erfunden zu haben. Er ordnet ihn in eine seit den 1980er Jahren geführte Debatte um die Kriegführung der 4. Generation (Fourth Generation Warfare) innerhalb des US-Militärs ein (S. 3) und bezeichnet hybride Kriegführung ohne weitere Erläuterung als zeitgenössische Form der Guerilla-Kriegführung (S. 29).

2) Im Gegensatz zu Nemeth war Hoffman bestrebt, hybride Kriegführung in Abgrenzung von anderen militärischen Begrifflichkeiten, wie Forth Generation Warfare, als eigenständiges Konzept zu definieren (Hoffman 2007, S. 18-23).

Literatur:

Asmussen, J.; Hansen, S.; Meiser, J. (2015): Hybride Kriegsführung – eine neue Herausforderung? Kiel: Universität Kiel, Institut für Sicherheitspolitik, Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 43.

Bilban, C.; Grininger, H.; Steppan, C. (2019): Gerasimov – Ikone einer tief verwurzelten Denktradition. In: Bilban, C.; Grininger, H. (Hrsg.): Mythos »Gerasimov-Doktrin« – Ansichten des russischen Militärs oder Grundlage hybrider Kriegsführung? Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 15-55.

Dengg, A.; Schurian, M. (2015): Zum Begriff der Hybriden Bedrohungen. In: dies. (Hrsg.): Vernetzte Unsicherheit – Hybride Bedrohungen im 21. Jahrhundert. Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 23-75.

Erhart, H.-G. (2014): Russlands unkonventioneller Krieg in der Ukraine – Zum Wandel kollektiver Gewalt. Aus Politik und Zeitgeschichte, 11.11.2014.

Erhart, H.-G. (2016): Postmoderne Kriegführung – In der Grauzone zwischen Begrenzung und Entgrenzung kollektiver Gewalt. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 97-103.

Hoffman, F.G. (2007): Conflict in the 21st Century – The Rise of Hybrid Wars, Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Koch, B. (2016): Tertium datur – Neue Konfliktformen wie sogenannte »hybride Kriege« bringen alte Legitimationsmuster unter Druck. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 109-113.

Murray, W.; Mansoor, P.R. (2012) (eds.): Hybrid Warfare – Fighting Complex Opponents from the Ancient World to the Present. Cambridge: Cambridge University Press.

Nemeth, W.J. (2002): Future War and Chechnya – A Case for Hybrid Warfare. Monterey: Naval Postgraduate School.

Rid, Thomas (2018): Mythos Cyberwar – Über digitale Spionage, Sabotage und andere Gefahren. Hamburg: Edition Koerber.

Schmid, J. (2016): Hybride Kriegführung und das »Center of Gravity« der Entscheidung. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 114-120.

Wassermann, F. (2016): Chimäre statt Chamäleon – Probleme der begrifflichen Zähmung des hybriden Krieges. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 104-108

Wolfgang Schreiber, geb. 1961, ist Dipl.-Mathematiker, Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.

Formen hybrider Kriege

Formen hybrider Kriege

Zwischen Ambivalenz und Komplexität

von Jürgen Scheffran

Die USA und ihre Verbündeten streben mit ständig neuen Rüstungsanstrengungen die Aufrechterhaltung ihrer militärischen Dominanz an. Gleichzeitig werden weltweit in den Grauzonen zwischen Krieg und Frieden »hybride Bedrohungen« ausgemacht, die diese Überlegenheit herausfordern und als Rechtfertigung für neue Militärstrategien dienen. Bei der hybriden Kriegsführung geht es um eine Kombination diffuser Konfliktformen und -technologien, die zu komplexen Konfliktdynamiken führen, alle Bereiche der Gesellschaft umfassen und die zugrundeliegenden Problemursachen verstärken. Dabei
ist der Begriff selbst so verschwommen und ambivalent wie sein Gegenstand.

Kriege haben sich immer gewandelt und den jeweiligen Bedingungen und Machtverhältnissen angepasst. Einst dominante Konfliktformen wurden durch neue abgelöst, oftmals verbunden mit einem Wechsel der Hegemonialmacht. Die nach dem Ende des Kalten Krieges verbliebene Supermacht USA war und ist bestrebt, ihre Dominanz im Hochtechnologiesektor in noch deutlichere militärische Überlegenheit zu verwandeln. Trotz erdrückender und weiter steigender Rüstungsausgaben stößt dies jedoch an Grenzen. Während herkömmliche Kriege zunehmend schwerer zu begründen und zu führen
sind, wurden die Grenzen technischer Kriege in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder deutlich (Neuneck und Scheffran 2000). Trotz militärischer Überlegenheit, die bis in den Weltraum reicht, war das mächtigste Land schlecht gerüstet gegen ein mit Teppichmessern und Zivilflugzeugen agierendes Terrornetzwerk (Hagen und Scheffran 2002).

Der Begriff »hybride Kriege«

Solche Erfahrungen bildeten die Grundlage für die seit 2005 aufkommende Debatte über hybride Bedrohungen und Kriege, die auf aktuelle Trends der Kriegsführung und damit verbundene sicherheitspolitische Defizite in den USA und im Westen verwies. Bei hybriden Kriegen geht es um Mischformen und Grauzonen von militärischen und nicht-militärischen, regulären und irregulären, symmetrischen und asymme­trischen Konfliktmitteln, die offen oder verdeckt zum Einsatz kommen.

Der Sicherheitsanalytiker Hoffmann (2007) machte den Begriff populär, indem er neue Bedrohungen und Herausforderer beschrieb, die die militärische Stärke der USA in Frage stellten. Er definierte hybride Bedrohungen als „verschiedene Arten der Kriegsführung, einschließlich konventioneller Fähigkeiten, irregulärer Taktiken und Formationen, terroristischer Handlungen, einschließlich wahlloser Gewalt und Zwangsmaßnahmen, sowie krimineller Unordnung“ (Hoffman 2007). Hybride Kriege werden durch eine Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure durchgeführt, die im
gleichen Kampfraum synergistisch zusammenwirken, um einen möglichst hohen Effekt zu erzielen. Dabei können verschiedene Kampfmittel zugleich eingesetzt werden, von klassischen Militäreinsätzen und wirtschaftlichem Druck über Computerangriffe bis hin zu Propaganda in den Medien und in sozialen Netzwerken, mit dem Ziel, Schaden anzurichten, Gesellschaften zu destabilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Der Begriff wurde offiziell in die strategischen Kerndokumente der NATO, der EU und nationaler Regierungen aufgenommen. Die NATO kam 2015 zu dem Schluss, dass „hybride Kriegsführung und ihre unterstützenden Taktiken breite, komplexe, adaptive, opportunistische und häufig integrierte Kombinationen von konventionellen und nicht konventionellen Methoden umfassen können. Diese Aktivitäten können offen oder verdeckt sein und militärische, paramilitärische, organisierte kriminelle Netzwerke und zivile Akteure aus allen Machtbereichen einbeziehen.“ (NATO
2015) Die EU definiert ­hybride Bedrohungen im weitesten Sinne als „Mischung aus erzwungenen und subversiven Aktivitäten-, konventionellen und nichtkonventionellen Methoden (d.h. diplomatische, militärische, wirtschaftliche, technologische), die von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren koordiniert eingesetzt werden können, um bestimmte Ziele zu erreichen und gleichzeitig unter der Schwelle der formell erklärten Kriegsführung zu bleiben“ (Maas 2017).

Ging es bei Hofmanns Definition zunächst um militärische Fragen und die Konvergenz verschiedener Kriegsformen, so wurde der Schwerpunkt in diesen Verlautbarungen auf andere Aspekte gelegt. Die Weitung des Begriffs auf nichtmilitärische Faktoren, wie Informationskrieg, Propaganda, Cybersicherheit, subversive und andere nicht unmittelbar physisch wirkende Mittel, erfolgte unter dem Eindruck der russischen Annexion der Krim und dem Konflikt in der Ukraine, was als „neue Art der Kriegsführung“ bezeichnet wurde. Vorgeworfen wurde Russland der Einsatz von militärischen
und nichtmilitärischen Instrumenten in einer integrierten Kampagne,
die darauf abzielt, Überraschungen zu erzielen, die Initiative zu ergreifen und sowohl psychologische als auch physische Vorteile zu erzielen unter Einsatz diplomatischer Mittel, durch ausgefeilte und schnelle Informations-, elektronische und Cyber-Operationen; verdeckte und gelegentlich offenkundige Militär- und Geheimdienstaktionen; und wirtschaftlichen Druck.“ (IISS 2015)

Konfliktformen

Vieles am Konzept der hybriden Kriegsführung ist nicht neu und wurde in verwandten Formen des Konfliktaustrags auch zuvor schon eingesetzt, wie eine Untersuchung von Caliskan und Cramers (2018) deutlich macht.

1. Politische Kriegsführung: Betrifft den Einsatz nationaler Mittel zur Erreichung nationaler Ziele in Friedenszeiten und kurz vor einem Krieg. Es geht um diplomatische, informationelle, militärische und wirtschaftliche Machtmittel, u.a. auch zur Bereitstellung bedingter militärischer Hilfe.

2. Irregulärer Krieg: Ist der gewaltsame Kampf zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren um Legitimität und Einfluss. Bevorzugt werden indirekte, asymmetrische und verdeckte Ansätze zur strategischen Kontrolle (z.B. Innenverteidigung, Aufstandsbekämpfung, Stabilitätsoperationen), die konventionelle und unkonventionelle militärische Fähigkeiten nutzen, um Macht, Einfluss und Willen eines Gegners zu untergraben.

3. Unkonventionelle Kriegsführung: Umfasst ein breites Spektrum militärischer und paramilitärischer Operationen, einschließlich Guerillakrieg, Subversion, Sabotage und Geheimdienstaktionen. Diese können von einheimischen oder Ersatzkräften durchgeführt und extern organisiert, ausgebildet, ausgerüstet, unterstützt und geleitet werden. Beispiele sind Widerstände, Aufstände oder Terroraktionen gegen eine Regierung oder Besatzungsmacht.

4. Subversive Kriegsführung: Untergräbt die militärische, wirtschaftliche, psychologische oder politische Stärke oder Moral eines Regimes durch Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen, die den gewaltsamen Sturz einer amtierenden Regierung befürworten. Hierzu gehören offene Handlungen und verdeckte Operationen.

5. Informationskrieg: Ist der inte­grierte Einsatz von informationsbezogenen Fähigkeiten (bis hin zu Fake News, Spionage oder Information als Waffe) in Konflikten und Militäroperationen, um die eigene Entscheidungsfindung zu schützen und zu unterstützen oder die von Gegnern zu stören, zu korrumpieren und zu usurpieren.

6. Cyberkrieg: Umfasst technische Mittel, um Computer und Cybersysteme im Rahmen eines breiteren Kriegskonzepts zu stören und zu deaktivieren. Cyberangriffe auf sensible Daten und Komponenten können als Kräftevervielfacher dienen, um relative Vorteile zu erreichen.

7. Propaganda: Ist Kommunikation zur Unterstützung bestimmter Interessen, um Meinungen, Emotionen, Einstellungen oder das Verhalten einer Gruppe eines Landes bewusst und gezielt zu beeinflussen, unter Einsatz systematischer Überzeugungstechniken bis hin zur Desinformation.

8. Psychologische Operationen: Betreffen die Übermittlung und Verbreitung selektiver Informationen für ein ausländisches Publikum zur Beeinflussung und Verstärkung seiner Emotionen, Motive, Argumente und Verhaltensweisen gegenüber Regierungen, Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen.

9. Umfassender Konfliktansatz: Verbindet politische, zivile und militärische Instrumente zur Bewältigung komplexer Krisensituationen und Sicherheitsrisiken, einschließlich Terrorismus, Völkermord, Verbreitung von Waffen und gefährlichem Material. Fachwissen und Ressourcen fließen in Partnerschaften zwischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, unter Einbeziehung internationaler Akteure in Sicherheits-, Gover­nance- und Entwicklungsstrukturen.

Die folgende Tabelle vergleicht die oben genannten Begriffe anhand herausragender Merkmale und Dimensionen der Kriegsführung (Caliskan und Cramers 2018).

  Ziel Militärische Mittel Nicht-militärische Mittel Akteure
Aufbau Schwächung oder Zer­störung Konven­tionelle Kräfte Irreguläre Kräfte Diplo­matisch Ökonomisch Informa­tionell Staat Nicht-Staat
Politische Kriegsführung   +   begrenzt + + + + +
Irregulärer Krieg   + begrenzt + + + +   +
Unkonventionelle Kriegsführung   + begrenzt + + begrenzt +   +
Subversive Kriegsführung   +   begrenzt + begrenzt +   +
Informations­krieg   +         + + +
Propaganda   +         + + +
Psychologische Operationen   +         + + +
Umfassender Konflikt­ansatz +   + + + + + + +
Hybrider Krieg   + + + + + + + +

Tabelle 1: Merkmale und Dimensionen der hybriden Kriegsführung (modifiziert nach Caliskan und Cramers 2018)

Alle Formen haben überlappende Aspekte. Der umfassende Ansatz hat als einziger konstruktive Elemente zum Aufbau und zur Stärkung von Governance-Strukturen, während die anderen Konfliktformen auf eine Schwächung des Gegners abzielen. Unter diesen ist die hybride Kriegsführung die inklusiv­ste Form, die den gleichzeitigen Einsatz militärischer und nichtmilitärischer Instrumente durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure einschließt. In der politischen Kriegsführung wird der Einsatz aller nichtmilitärischen Instrumente erwogen, obwohl ggf. auch militärische Instrumente, wie
Spezialkräfte, zum Einsatz kommen können. Irreguläre und unkonventionelle Kriegsführung beinhalten, vergleichbar der hybriden Kriegsführung, eine breite Palette militärischer und nichtmilitärischer Instrumente. Obwohl die subversive Kriegsführung der irregulären und unkonventionellen Kriegsführung ähnelt, sind die verwendeten Mittel stärker eingeschränkt. Propaganda, psychologische Operationen oder Cyber- und Informationskriege haben ebenfalls Gemeinsamkeiten mit hybriden Kriegen, da sie die Wahrnehmung der Bevölkerung beeinflussen oder Information als Kampfmittel nutzen.

Differenzierung verschiedener Formen und Technologien

Das Wort »hybrid« impliziert eine Kombination mehrerer Gegensatzpaare, die eine Differenzierung verschiedener Formen hybrider Kriege ermöglichen.

Regulär vs. irregulär

Die Trennung zwischen staatlichen Kräften als regulär und nichtstaatlichen Akteuren als inhärent irregulär trifft immer weniger zu. Viele Kriege haben reguläre und irreguläre Komponenten, die in verschiedenen Kampfzonen in unterschiedlichen Formationen auftreten. In hybriden Kriegen können die Grenzen zwischen Kombattant*innen und Nicht-Kombattant*innen verschwimmen (z.B. durch den Wechsel von Uniformen oder Hoheitsabzeichen), sodass ihre Unterscheidung schwierig ist und Missverständnisse möglich sind, die Überreaktionen provozieren. Destruktive Fähigkeiten nichtstaatlicher Gruppen lassen
sich durch die Art der Ausrüstung rasch steigern; paramilitärische Kräfte und Milizen erhalten zunehmend Zugang zu Waffenarten, die bislang Staaten vorbehalten waren. Damit können die Anreize für Staaten zunehmen, auf irreguläre Kräfte zurückzugreifen, etwa durch Privatisierung von Sicherheitsdiensten und Ausweitung von Spezialkräften. Je mehr sich die irreguläre Kriegsführung ausbreitet, umso mehr wird sie zur Normalität.

Hightech vs. Lowtech

Auch in hybriden Kriegen hat Technik eine wesentliche Bedeutung, um eigene Interessen durchzusetzen, militärische Macht zu sichern und Schwachstellen des Gegners auszunutzen. Ob dabei Hochtechnologie oder einfache Technik eingesetzt wird, hängt ab von ihrer Verfügbarkeit, den Kosten und der erwarteten Wirkung. Neue Technologien können Kosten senken und die Zielerreichung erleichtern, Informationssysteme die Kontrolle von Staaten ermöglichen oder diese schädigen, soziale Medien gesellschaftliche Systeme und Institutionen beeinflussen. Mit ihrer Hilfe lassen sich Widerstandsbewegungen oder
Terrorismus organisieren, Unsicherheit und Angst verbreiten, strukturelle Schäden oder physische Gewalt ausüben. In hybriden Kriegen können Kombattant*innen zugleich „moderne Kalaschnikow-Sturmgewehre, vormoderne Macheten und postmoderne Mobiltelefone“ einsetzen (Evans 2007). Im Russland-Ukraine-Konflikt ist ein Bündel von Technologien, Waffen und militärischer Ausrüstung zum Einsatz gekommen (Danyk et al. 2019):

  • elektronische Waffensysteme und Gegenmaßnahmen,
  • moderne Informations- und Kommunikationssysteme,
  • innovative Waffensteuerungssysteme und automatisierte Software,
  • integrierte Systeme mit Aufklärungs- und Zerstörungsfunktionen (z.B. unbemannte Flugkörper),
  • informationspsychologische Aktivitäten und Aktionen im Cyberraum,
  • Umweltüberwachung und Weltraumsysteme,
  • nicht-tödliche Waffen.

Um ihre Wirkung zu steigern, können verschiedene dieser Technologien für die Aufklärung und Entscheidungsfindung sowie für den Waffeneinsatz und die Folgenabschätzung in eine hybride Kriegsführungsumgebung integriert werden.

Physisch vs. nichtphysisch

Das breite Spektrum physischer Komponenten umfasst u.a. Land-, See-, Luft- und Weltraumstreitkräfte, Massenvernichtungswaffen, Spezialkräfte, Aufständische oder Terroristen, die illegale Aktivitäten, wie Sabotage, Attentate oder Umweltschäden, ausführen können. Nicht physisch wären diplomatische und politische Aktionen, Informationsoperationen in Cyberräumen und sozialen Medien, Störung kritischer Netzwerk­infrastrukturen, Zwietracht, kriminelle Aktivitäten und Wirtschaftskriegsführung sowie ideologische Einflussnahme und gewaltfreie Unruhen.

»Hard« vs. »soft power«

Neben üblichen militärischen Maßnahmen der »hard power« (z.B. Gewalt) kommen in hybriden Konflikten auch Maßnahmen der »soft power« zum Einsatz, um eine Gesellschaft zu polarisieren, die Denkweisen der Menschen zu beeinflussen, Entscheidungsträger zu manipulieren oder die Infrastruktur zu schwächen. Mögliche Ziele wären die Destabilisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft durch Einsatz sozialer Medien und Nachrichtendienste. Verbündete Parteien, Organisationen und Netzwerke können Frustration und Unzufriedenheit in bestimmten Bevölkerungsgruppen (Minderheiten, Migrant*innen,
diskriminierte und marginalisierte Schichten) streuen. Hierzu gehören auch kriminelle Aktivitäten, die illegale Ressourcen bereitstellen oder die Legitimität von Staaten untergraben.

Hohe vs. niedrige Effektivität

Hybride Kampfmittel zielen auf kritische Elemente eines Systems, um Risse und Schwachstellen zu finden und maximale Wirkung zu erzielen. Da der etablierte Kriegsapparat verschiedene Phasen kennt (Entwicklung, Produktion, Stationierung, Einsatz von Waffensystemen) und viele Elemente umfasst (Waffen, Personal, Informationsflüsse, Netzwerke und Entscheidungsstrukturen), kann der Druck auf die schwächsten Glieder der Kette zu Kipppunkten und Kaskadenprozessen führen, verbunden mit destruktiven und systemischen Veränderungen. In der asymmetrischen Kriegsführung suchen schwächere Kontrahenten mit
begrenzten Mitteln nach kritischen Schwachstellen in Kommunikation, Infrastruktur und Transport bei stärkeren Gegnern, um deren militärische Operationen zu hemmen oder politische Unterstützung durch die Bevölkerung zu untergraben.

Probleme und Grenzen hybrider Kriege

»Hybrider Krieg« ist ein umstrittenes und problematisches Konzept (Schwitanski 2017). Zu den Hauptkritikpunkten gehören Mehrdeutigkeit und konzeptuelle Unschärfen, die zu Unklarheiten und Missverständnissen führen. Nach Auffassung mancher Militärtheoretiker ist der Begriff zu inklusiv, um analytisch sinnvoll zu sein (Gray 2012). Tatsächlich wird inzwischen fast jeder Aspekt der anti-westlichen Kriegsführung als hybrid bezeichnet.

Dass hybride Kriegsführung ein mehrdeutiges Konzept ist, zeigt auch die erwähnten Studie (Caliskan und Cramers 2018), für die in 66 Medienberichten eine Inhaltsanalyse durchgeführt wurde. Die Autoren verwendeten den Begriff nur in 20 der Medienelemente (<30 %) in seiner direkten Bedeutung. In den meisten Fällen (>70 %) meinen die Autor*innen eigentlich ein anderes Konzept, wenn sie von Hybridkrieg sprechen. Die Ergebnisse machen deutlich, dass hybride Kriegsführung von den verschiedenen Interessengruppen in der Sicherheitspolitik nicht klar verstanden wird. Offensichtlich fehlt ein
Konsens über seine Bedeutung. Die Hälfte der Autor*innen (47 %) nennt den Russland-Ukraine-Konflikt als herausragendes und meist einziges Beispiel für hybride Kriegsführung.

Ungeachtet der definitorischen Schwierigkeiten haben hybride Kriege einen realen Kern. Nach Aussagen ihrer Protagonisten verweisen gerade die Vielfalt und Komplexität hybrider Kriege auf die Schwächen des »American way of war«. Ihre Hauptmerkmale – die Konvergenz und Kombination verschiedener Konfliktformen – stellen das konventionelle militärische Denken der USA in Frage und berühren Kerninteressen der westlichen Weltordnung. Verschiedene Krisen werden in den Kontext hybrider Bedrohungen gebracht, so der Nahostkonflikt, der Syrien-Krieg, die Anschläge von IS und Boko Haram, der
Venezuela-Konflikt, der Iran-Konflikt, die Flüchtlingsproblematik, die Sicherheitsrisiken des Klimawandels oder die Ausbreitung des Rechtspopulismus. Mit den vernetzten und entgrenzten Krisen des 21. Jahrhunderts tut sich der aufgeblähte Rüstungsapparat der USA schwer (Scheffran 2015). Ob die intellektuelle Bewältigung und konzeptionelle Anpassung gelingt, ist offen. Auch wenn der Aufstieg hybrider Kriege nicht das Ende konventioneller Kriege bedeutet, macht es die Sicherheitsplanung im 21. Jahrhundert komplizierter und ambivalenter.

Für Hoffman (2007, S. 52) liegt das möglicherweise bedeutendste Merkmal moderner Konflikte in der „Ausnutzung moderner Medien, um breite Massen zu erreichen und sie zu mobilisieren, um die eigene Sache zu unterstützen. Wir müssen lernen, wie wir uns auf diesen wachsenden Teil des Schlachtfeldes einlassen, um gegen die Denkweise unserer Gegner und der Bevölkerung zu manövrieren.“ Er sieht den Westen im Krieg mit einer fundamentalistischen Bewegung, „die sehr moderne und westliche Technologien nutzt, um ein antiwestliches soziales und politisches
System
wiederherzustellen“.

Hybride Kriege werden damit zum Kampfbegriff gegen alle, die sich gegen westliche Kriege und Aufrüstungstendenzen wenden, von unliebsamen Staaten über in Terrorismus involvierte Personen bis zu Friedensaktivist*innen. Tatsächlich wurden viele der Technologien des hybriden Krieges, vom Internet bis zur Drohne, im Westen entwickelt, allen voran in den USA. Daher wirkt es seltsam, die Übernahme dieser Technologien durch andere als Bedrohung zu beklagen. Bemerkenswert ist auch, dass viele der Gründe und Motive für hybride Kriege eine Folge westlicher Politik sind. Hierzu gehören Globalisierung
und Kolonialismus, NATO-Osterweiterung und Raketenabwehr, Ressourcenausbeutung und Militärinterventionen. Somit ähnelt die Bekämpfung selbst geschaffener hybrider Bedrohungen dem Versuch, einer mehrköpfigen Hydra die Köpfe abzuschlagen.

Manche Militärexperten fordern neue und kreative Ansätze, um Implikationen und geeignete Antworten herauszuarbeiten. Für John Arquilla (2007) von der Naval Postgraduate School erfordert der Umgang mit Netzwerken, die auf so viele verschiedene Arten kämpfen können, innovatives Denken auf allen Ebenen, von der Führung und Kontrolle über Streitkräftestrukturen bis zur Aus- und Weiterbildung. Dies klingt nach einer neuen Runde des Wettrüstens der USA gegen die Hydra hybrider Kriegsführung.

Literatur

Arquilla, J. (2007): The end of war as we knew it? Insurgency, counterinsurgency and lessons from the forgotten history of early terror networks. Third World Quartely, Vol. 28, Nr. 2, S. 369-386.

Caliskan, M.; Cramers, P.A. (2018): What Do You Mean by »Hybrid Warfare«? A Content Analysis on the Media Coverage of Hybrid Warfare Concept. Horizons Insights 4/2018, S. 23-35.

Danyk, Y., Maliarchuk, T.; Briggs, C. (2019): Hybrid War – Hightech, Information and Cyber Conflicts. Connections, Vol. 16, Nr. 2, S. 5-24.

Evans, M. (2007): From the Long Peace to the Long War – Armed Conflict and Military Education and Training in the 21st Century. Australian Defence College, Occasional Paper No. 1/2007.

Gray, C.S. (2012): Categorical Confusion? The Strategic Implications of Recognizing Chall­enges Either As Irregular or Traditional. Carlisle, PA: Strategic Studies Institute, U.S. Army War College.

Hagen, R.; Scheffran, J. (2002): Mit Weltraumwaffen gegen Teppichmesser? Das Streben der USA nach Dominanz im All. Wissenschaft und Frieden 1-2002, S. 62-64.

Hoffman, F.G. (2007). Conflict in the 21 st Century – The Rise of Hybrid Wars. Arlington, VA: Potomac Institute for Policy Studies.

International Institute for Strategic Studies/IISS (2015): The Military Balance 2015 – Complex crises call for adaptable and durable capabilities. London: IISS, Vol. 115(1), S. 5-8.

Maas, J. (2017): Hybrid Threat and CSDP. In: J. Rehrl (ed.): Handbook on CSDP – The Common Security and Defence Policy of the European Union. Wien: Federal Ministry of Defence and Sports of the Republic of Austria, S. 125-130.

NATO (2015): NATO Transformation Seminar. In: White Paper. Next Steps in NATO’s Transformation – To the Warsaw Summit and Beyond. Washington.

Neuneck, G.; Scheffran, J. (2000): Die Grenzen technischer Kriegführung. Spektrum der Wissenschaft 1/2000, S. 90-98.

Scheffran, J. (2015): Vom vernetzten Krieg zum vernetzten Frieden – Die Rolle von Wissenschaft und Technik. FIfF-Kommunikation 3/2015, S. 34-38.

Schwitanski, C. (2017) Hybride Bedrohungen – Analysekategorie oder Steigbügelhalter der Militarisierung? IMI-Studie 13/2017.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.

Hybrider Krieg


Hybrider Krieg

Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts

von Ina Kraft

Dieser Beitrag befasst sich mit der Verwendung des Konzepts des hybriden Krieges in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass politische Akteure das noch immer vage Konzept nutzen, um konkrete Vorhaben der Bundeswehr sowie Änderungen in der sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung zu legitimieren.

Hybride Kriegführung steht im Fokus einer Reihe von allgemeinen Abhandlungen sowie konkreten militärtheoretischen Ansätzen in den beiden letzten Jahrzehnten, wie beispielsweise »cyberwar« (Arquilla und Ronfeldt), »new wars« (Kaldor) oder »asymmetric war« (Thornton). In den USA erlangt das Konzept der Hybriden Kriegführung durch die Veröffentlichungen von Frank G. Hoffman ab 2006 Aufmerksamkeit in akademischen und militärstrategischen Fachdebatten (Hoffmann 2007). In der US-amerikanischen Debatte wird »hybrid war« bis 2010 theoretisch als eine neue Art des Krieges und zumeist mit Blick auf Akteure im Nahen und Mittleren Osten (Fälle: Hisbollah, Taliban, islamistischer Terrorismus) thematisiert. Das Konzept beschreibt die Vorgehensweise zumeist nichtstaatlicher militärischer Gruppen, die sich konventioneller und irregulärer Methoden der Operationsführung bedienen, um technologisch übermächtige Gegner zu bekämpfen. Allerdings folgen in den USA zunächst keine weiteren sicherheitspolitischen Konsequenzen aus der Konzeptualisierung.

Nutzbarmachung in der deutschen Debatte

Wird das Hybridkriegskonzept in Deutschland bis 2011 im Vergleich zu den USA kaum rezipiert, erlangt es danach hohe und vor allem auch politische Aufmerksamkeit. Im September 2014 verwendet Bundesverteidigungsministerin von der Leyen den Begriff in einer Plenardebatte im Deutschen Bundestag. Der damalige Bundesaußenminister Steinmeier erwähnt den Terminus in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2015. Sicherheitspolitische Berater*innen benutzen den Begriff ebenso wie Referent*innen im Bundesverteidigungsministerium und Journalist*innen.

Auch in dem im Juli 2016 veröffentlichten »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« ist der Begriff prominent vertreten. Im Vorwort weist die Bundesministerin der Verteidigung auf die hybride Kriegführung als eine der gegenwärtigen Herausforderungen hin, die eine Ausstattung der Bundeswehr mit bestem Material und eine nachhaltige Finanzierung notwendig mache. Dabei tritt eine deutliche Bedeutungsverschiebung zum ursprünglich durch Hoffman formulierten Konzept zutage. Durch die Nennung von Cyberangriffen und Propaganda sowie der verdeckten Beteiligung von Soldat*innen als Merkmal einer hybriden Kriegführung ist das Konzept im deutschen sicherheitspolitischen Verständnis stark auf den Fall Russland/Ukraine zugeschnitten.

Auch in der NATO und in der EU ist das Thema hybride Bedrohungen präsent. Wenige Monate nach den russischen Handlungen in der Ukraine im Juni 2014 erklären die Staats- und Regierungschefs auf dem Treffen des Nordatlantikrats in Wales, sie würden sicherstellen, „dass die NATO in der Lage ist, effektiv den besonderen Herausforderungen einer Bedrohung durch einen Hybridkrieg zu begegnen“. Im Dezember 2015 verabschiedet das Bündnis die »Strategy on NATO‘s role in countering hybrid warfare«. Im April 2016 zieht die EU mit dem »Gemeinsamen Rahmen für die Abwehr hybrider Bedrohungen« nach. Darin wird unter anderem die Einrichtung einer »Hybrid Fusion Cell« im EU Intelligence Analysis Centre beim Europäischen Auswärtigen Dienst vorgeschlagen. Auch in der NATO werden institutionelle Strukturen geschaffen: Im April 2017 legt sie mit der Gründung des European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats institutionelle Strukturen fest.

Politische Funktionen des Konzepts

In der deutschen Debatte sind nicht nur ein deutlicher Zeitverzug in der Adaption des Konzepts sowie eine Bedeutungsverschiebung auszumachen. Es finden sich auch kaum Bezüge zu irregulären Gegner*innen und deren (auch konventionellen) Taktiken, wie sie in der US-amerikanischen Debatte konzipiert werden. Stattdessen bezieht sich der Begriff fast ausschließlich auf die teils irregulären Taktiken des staatlichen Akteurs Russland. So thematisieren die deutschen Beiträge verstärkt Propaganda, die Zerstörung Kritischer Infrastrukturen sowie Handlungen im so genannten Informationsraum als Elemente hybrider Kriegführung. Die verspätete Rezeption und der Bedeutungswandel deuten darauf hin, dass in der deutschen Debatte das US-amerikanische Hybridkriegskonzept benutzt wurde, um den Ereignissen, die sich 2014 in der Ukraine abspielten, einen Namen zu geben. So wird einerseits das Konzept in seiner Bedeutungszuschreibung verändert, andererseits aber das konfliktträchtige Verhalten Russlands zum Beispiel in Syrien nicht mit dem Konzept gefasst.

Diese Nutzung bereits vorhandener Lösungen (hier: das Konzept Hybride Kriegführung) für neu auftretende Probleme (hier: Benennung des Verhaltens Russlands in der Ukraine) ist ein Phänomen, das bei kollektiven Entscheidungen auftritt und bereits in den 1970er Jahren unter dem Schlagwort »garbage can theory« in den Sozialwissenschaften diskutiert wird. Mit Blick auf dessen Konjunktur und Dynamik scheint das 2006 entwickelte Hybridkriegskonzept eine ebensolche Lösung zu sein, die 2014 schließlich ein Problem fand. Im Besonderen erfüllt das Konzept drei Funktionen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs: Komplexitätsreduktion durch Vereinfachung und Interpretation, Generierung von Aufmerksamkeit sowie Inanspruchnahme von Legitimität für eigene Anliegen.

Vereinfachung und Interpretation

Begriffe und Konzepte reduzieren komplexe Realitäten. Das komplexe Verhalten Russlands wird mit dem Begriff »Hybrider Krieg« beschrieben. Das erlaubt eine effektivere sicherheitspolitische Kommunikation, hat aber auch den Effekt, dass der Begriff durch die Diskursteilnehmer*innen bald selbst als Realität begriffen wird. Begriffsbildung und -verwendung ist soziales Handeln, bei dem die Sozialisation der Handelnden ebenso wie ihre Interessen eine entscheidende Rolle spielen. Komplexitätsreduktion ist also kein wertfreies rationales Produkt und hybride Kriegführung daher auch keine bloße wertneutrale Vereinfachung. In seiner inhärenten Interpretation der Realität spiegelt der Begriff bereits die Interessen und die Sozialisation der Teilnehmer*innen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs wider.

Aufmerksamkeit

Die Verwendung des Hybridkriegsbegriffes schafft zudem in einem selbstverstärkenden Prozess Aufmerksamkeit. Je häufiger der Begriff diskutiert wird, umso attraktiver scheint es für Diskursteilnehmer*innen, selbst zu dem Konzept beizutragen. Damit leisten sie der Popularität des Begriffs weiteren Vorschub. Eine Analyse von Artikeln der sicherheitspolitischen Fachzeitschrift »Europäische Sicherheit und Technik« zeigt, dass viele Autoren hybride Kriegführung im ersten Absatz nennen, ohne jedoch im weiteren Verlauf auf den Begriff oder seine Bedeutung einzugehen. Hybride Kriegführung wird hier vergleichbar mit der Nennung von bekannten Persönlichkeiten in Texten (name dropping) verwendet, um Aufmerksamkeit zu generieren und um die Anschlussfähigkeit des Beitrags zum aktuellen Hybridkriegsdiskurs zu signalisieren. Die Kenntnis des Konzepts signalisiert darüber hinaus die Zugehörigkeit des Autors oder der Autorin zum sicherheitspolitischen Expert*innen- und damit auch zum Elitenkreis.

Legitimierung von Vorhaben der Bundeswehr

Die Generierung von Aufmerksamkeit hat zum Ziel, die Diskursteilnehmer*innen für ein Thema zu interessieren. Die Generierung von Legitimität verfolgt darüber hinaus die Absicht, die eigene Position angemessen erscheinen zu lassen. Legitimität soll hier nicht konstitutionell-normativ, sondern vielmehr soziologisch verstanden sein. Aus dieser Perspektive müssen soziale Akteure nicht bloß materielle Ressourcen generieren, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern. Sie müssen gleichsam Erwartungen erfüllen, die von anderen Akteuren an sie herangetragen werden. Denn nur legitim(iert)e Forderungen können zur Mobilisierung institutioneller und budgetärer Ressourcen eingesetzt werden. Beispiele für die Doppelanforderungen von Effizienz und Angemessenheit sind gerade im Kontext der Sicherheitspolitik mannigfaltig – man denke an die taktische Effizienz des Einsatzes von bewaffneten Drohnen auf der einen und dessen rechtliche und ethische Grenzen auf der anderen Seite.

Die Nutzung des Hybridkriegsbegriffs in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte dient aus dieser Perspektive dem Ziel, politische Forderungen zu legitimieren. Der durch Komplexitätsreduzierung und eine hohe Aufmerksamkeit institutionalisierte Mythos der hybriden Kriegführung wirkt dabei auf zwei Arten: Zum einen wird der Begriff des Hybridkriegs genutzt, um eigene Anliegen zu rechtfertigen, die jedoch kaum in den Definitionsrahmen für hybride Kriegführung oder deren Gegenmaßnahmen fallen. So argumentiert zum Beispiel der damalige Amtschef des Amts für Heeresentwicklung mit dem Phänomen der hybriden Bedrohungen, um für eine veränderte Heeresstruktur zu werben (Köpke 2015, S. 28). Über die bloße Nennung hinaus wird hierbei ein begründeter Zusammenhang zwischen Forderung und Hybridkriegskonzept allerdings nicht aufgezeigt. Der Inspekteur der Luftwaffe, General Karl Müllner, argumentiert in ähnlicher Weise für eine Ausstattung der Luftwaffe mit Drohnen (Müllner 2015). Nun ist der Bedarf der Teilstreitkräfte nach mehr Mobilität oder modernem Gerät keine direkte Folge der hybriden Bedrohungen. Dennoch werden sie in der Argumentation genutzt, um den »ewigen« Forderungen der Teilstreitkräfte nach mehr Ressourcen Nachdruck zu verleihen.

Legitimierung erweiterter Einflusssphären

Darüber hinaus dient das Konzept auch als Begründung für mögliche sicherheitspolitische Maßnahmen, die Einflusssphären sicherheitspolitischer Akteure in gesellschaftliche Räume hinein erweitern oder sicherheitspolitische Entscheidungen erleichtern. In der deutschen sicherheitspolitischen Debatte werden mit Blick auf hybride Bedrohungen folgende Maßnahmen diskutiert: erstens, eine stärkere sicherheitspolitische Kooperation und Vernetzung. Diese betrifft einerseits die ressortübergreifende Arbeit auf der nationalen Ebene (Alamir 2015). Andererseits sollen der Informationsaustausch sowie abgestimmte Vorgehensweisen auch zwischen NATO und EU vereinfacht werden (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 69-70). Im Zusammenhang mit dem Hybridkriegskonzept hat, zweitens, der Begriff der gesamtstaatlichen Resilienz als Gegenstrategie ebenfalls Prominenz erlangt (ebenda, S. 49). Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft. Im Weißbuch 2016 erlangt der Begriff eine große Bedeutung für die Abwendung hybrider Bedrohungen: „Erfolgreiche Prävention gegen hybride Gefährdungen erfordert staatliche und gesamtgesellschaftliche Resilienz – und damit umfassende Verteidigungsfähigkeit.“ (ebenda, S. 39) In der sicherheitspolitischen Debatte werden Resilienz-Maßnahmen in den Bereichen Energiesicherheit, Bildung, Handel und Wirtschaft, öffentliche Meinung und Kommunikation diskutiert.

Legitimierung der Änderung politischer Konstanten

Es gibt eine Reihe von Debattenbeiträgen, die die Angemessenheit der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund hybrider Bedrohungen hinterfragen. Da geht es um die Vereinfachung sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, aber auch um die Frage, ob die in Deutschland verfassungsrechtlich verankerte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit aufrechterhalten werden sollte (Deutsche Bundesregierung 2016; Deutscher Bundestag 2016).

Es finden sich in der Debatte auch Hinweise auf mögliche Implikationen hybrider Kriegführung für das internationale Völkerrecht. So heißt es im Weißbuch 2016: „Das Merkmal hybrider Kriegführung, die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden, stellt […] besondere Herausforderungen an die Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO-Vertrags.“ (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 65) Das wurde zuvor bereits im Zusammenhang mit dem vermuteten russischen Cyberangriff auf Estland 2007 diskutiert. Bisher allerdings herrschte unter den NATO-Staaten Zurückhaltung, Cyberangriffe als Angriff im Sinne des Völkerrechts zu werten. Auch auf EU-Ebene wird diskutiert, ob bei einem hybriden Angriff die Solidaritätsklausel nach Art. 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder sogar die Beistandspflicht des Art. 42 des Vertrags über die Europäische Union greife (Europäische Kommission 2016, S. 19).

Resümierend ist festzuhalten, dass im Zusammenhang mit oder mit Verweis auf hybride Bedrohungen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs eine Ausweitung der sicherheitspolitischen Kooperation und Kompetenzen von NATO und EU debattiert wird. Außerdem wird in diesem Kontext die Ausweitung staatlicher Ordnungsfunktionen zur Herstellung einer gesellschaftlichen Resilienz sowie die stärkere Zusammenarbeit staatlicher Institutionen diskutiert. Darüber hinaus werden in der Debatte etablierte rechtliche Charakteristika deutscher Sicherheitspolitik mit einem Fragezeichen versehen: die Regeln sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, die Trennung innerer von äußerer Sicherheit sowie die völkerrechtlichen Bewertungen eines Angriffs. Das Hybridkriegskonzept dient hierbei als Legitimation für die Vorschläge jener Maßnahmen.

Neue Begründungslogik für Verteidigung

Die Verwendung des Hybridkriegskonzepts im sicherheitspolitischen Diskurs dient möglicherweise der Versicherheitlichung gesellschaftlicher Bereiche (Buzan et al. 1998). Die Interpretation, Kommunikation und gesellschaftlich geteilte Wahrnehmung hybrider Bedrohungen als existenzielle Gefährdungen könnte demnach ganz real dazu führen, dass sicherheitspolitischen Akteuren mehr Handlungsmöglichkeiten zugesprochen werden. Ein Konzept entfaltet so reale Wirkung.

Mit Blick auf den strategischen Diskurs kann zudem konstatiert werden, dass die Konzentration auf hybride Kriegführung in der deutschen und trans­atlantischen Verteidigungsplanung einen Wandel in der Begründungslogik verteidigungspolitischer Grundpositionen darstellt. War die Verteidigungsplanung zu Zeiten des Ost-West-Konflikts von einem bedrohungsbasierten Ansatz (threat-based approach) geprägt, wurde dieser mit dem Wegfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes als Gegner von einem fähigkeitsbasierten Ansatz (capabilities-based approach) abgelöst. Dieser richtet Streitkräfte nicht mehr nach einem konkreten Bedrohungssze­nario aus, sondern in Bezug auf die operativen Fähigkeiten, die in zukünftigen Einsätzen am wahrscheinlichsten gebraucht werden.

Mit dem Hybridkriegskonzept tritt nun nach der bedrohungsbasierten und der fähigkeitsbasierten eine phänomenbasierte Begründung für die Verteidigungsplanung auf. Diese fokussiert argumentativ weder auf einen konkreten Gegner noch auf die Wahl der Mittel, sondern auf die Art der Bedrohung, auf das Phänomen.

Dieser Wandel mag verschiedene Gründe haben. Zum einen gilt nach den Erfahrungen der USA und der NATO in den Kriegen im Irak und in Afghanistan der fähigkeitsbasierte Ansatz als gescheitert, da Gegner Wege finden, westlichen Truppen trotz deren überlegener Militärtechnik empfindliche Verluste zuzufügen. Ein weiterer möglicher Grund, gerade in Deutschland, ist die rhetorische Ausweichbewegung, die der Begriff hybride Kriegführung erlaubt: Der Hybridkriegsbegriff ermöglicht es – anders als ein bedrohungsbasierter Ansatz, der Russland direkt nennt –, sicherheitspolitische Maßnahmen gegen befürchtete russische Handlungen zu ergreifen und zugleich Dialog- und Kooperationsbereitschaft zu signalisieren.

Letztlich ist auch denkbar, dass eine phänomenbasierte statt einer konkret bedrohungsbasierten Begründung eine gewollte Ambiguität darstellt, denn trotz seiner beeindruckenden politischen Karriere verbleibt der Begriff des hybri­den Krieges noch immer im Vagen. So antwortet die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag: „Auch wenn die Begriffe »hybride Kriegführung«, »hybride Konflikte« und »hybride Bedrohungen« seit mehreren Jahren Teil des sicherheitspolitischen Diskurses sind, entziehen sich diese Begriffe einfachen und abschließenden Definitionen.“ (Deutscher Bundestag 2016) Diese »semantische Ratlosigkeit« mag im allgemeinen Diskurs, bei dem die Teilnehmer*innen schon wissen werden, was gemeint ist, hinnehmbar sein. Diese Ambiguität, die im Übrigen auch bei dem Begriff der Resilienz zutage tritt, muss vor dem Hintergrund sehr realer sicherheitspolitischer Maßnahmen, die derzeit diskutiert werden, jedoch kritisch betrachtet werden.

Literatur

Alamir, F.M. (2015): »Hybride Kriegführung« – ein möglicher Trigger für Vernetzungsfortschritte? Ethik und Militär – Kontroversen der Militärethik & Sicherheitskultur 2/2015, S. 3-7.

Buzan, B.; Waever, O.; de Wilde, J. (1998): Secur­ity – A new framework for analysis. Boulder, London: Lynne Rienner.

Deutsche Bundesregierung (2016): Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Bonn, Berlin: BMVg.

Deutscher Bundestag (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Einsatzmöglichkeiten von Militär und Geheimdiensten gegen sogenannte hybride Bedrohungen. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8631 vom 1.6.2016.

Europäische Kommission (2016): Gemeinsamer Rahmen für die Abwehr Hybrider Bedrohungen. Europäische Kommission, Drucksache Join(2016) 18 vom 6.4.2016.

Hoffman, F. G. (2007): Conflict in the 21st century – The rise of hybrid wars. Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Köpke, W. (2015): Heeresentwicklung – Ganzheitlich, systembasiert und zukunftsorientiert. Europäische Sicherheit und Technik 4/2015, S. 26-30.

Müllner, K. (2015): Luftwaffe – auf klarem Kurs. Europäische Sicherheit und Technik 6/2015, S. 32-36.

Ina Kraft ist Wissenschaftlerin am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wieder.

Bei diesem Text handelt sich um eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung des folgenden Beitrags: Kraft, Ina (2018): Hybrider Krieg – Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Vol. 11, Nr. 3, S. 305-23.

Russlands »hybride Kriegführung«


Russlands »hybride Kriegführung«

von Hans-Georg Ehrhart

Vor einigen Jahren fand der Begriff »hybride Kriegführung« Eingang in den sicherheitspolitischen Diskurs. Anlässe waren die Annexion der Krim durch Russland 2014 und der verdeckte Krieg in der Ukraine. Das russische Vorgehen wurde mit verschiedenen Begriffen zu erfassen versucht. Es war die Rede von nichtlinearer, begrenzter, unkonventioneller, irregulärer, verdeckter, postmoderner oder eben hybrider Kriegführung. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass der Krieg, so Carl von Clausewitz, ein „wahres Chamäleon“ ist, das seine Erscheinungsform je nach Umgebung ändert (Clausewitz 1973, S. 212). Ein anderer liegt darin, dass es in der Kriegsforschung bis heute keine klare und allgemein akzeptierte Definition oder Typologie des Krieges gibt. Letztlich kommt es darauf an, was man unter Krieg versteht, und dieses Phänomen dann auch so zu nennen, ist eine äußerst politische Entscheidung.

Krieg im 21. Jahrhundert scheint andere Ausdrucksformen anzunehmen, als es das klassisch-binäre Verständnis seit der Herausbildung der europäischen Staatenwelt suggeriert. Demzufolge handelt es sich bei Krieg um eine zwischenstaatliche, mit regulären Armeen nach bestimmten Regeln auf dem Schlachtfeld geführte Auseinandersetzung (Ehrhart 2017). Doch lag dieser Sichtweise immer eine eurozentrische und staatsfixierte Sicht zugrunde. Zudem galt sie nur für einen relativ kurzen historischen Zeitraum und das auch nur eingeschränkt, weil auch in dieser Zeit hybride Mittel und Taktiken eingesetzt wurden. Darum ist Murray und Mansor zuzustimmen, wenn sie betonen, dass hybride Kriegführung – verstanden als Kombination von konventioneller und unkonventioneller bzw. regulärer und irregulärer Kriegführung – nichts Neues ist (Murray und Mansoor 2012, S. 2).

Gleichwohl wurde die russische Kriegführung in der Ukraine zunächst als etwas völlig Neues beschrieben, als Invasion, als feindliches Eindringen oder als Aggression (Ehrhart 2014, S. 26), bis sich in der NATO und in der EU schließlich die Begriffe »hybride Kriegführung« und »hybride Bedrohungen« durchsetzten. Auf dem Gipfel von Wales beschrieb die NATO hybride Kriegführung als „eine große Bandbreite an offenen und verdeckten militärischen, paramilitärischen und zivilen Maßnahmen“, die auf hochabgestimmte Weise eingesetzt werden“ (NATO 2014, Ziffer 13). Während in diesem weiten Verständnis die konventionelle Kriegführung noch mit aufgeführt wird, wurden später auch einzelne Aktivitäten, wie informationelle Beeinflussung und subversive Handlungen, als hybride Kriegführung bezeichnet. Damit wird der Begriff nicht nur noch unschärfer, sondern auch problematisch, weil er die rhetorische Kriegsschwelle senkt.

Der Begriff hat nicht nur, wie Ina Kraft treffend feststellt, die Funktion der Vereinfachung, der Generierung von Aufmerksamkeit und von Legitimität (Bilban und Griniger 2019a, S. 335; Artikel von Ina Kraft auf Seite 13 in diesem Heft), sondern auch der geistigen Mobilmachung und der politischen Konfrontation. Ihm liegt angeblich eine »Doktrin« zugrunde, die den Namen des russischen Generalstabschefs Valery Gerasimov trägt. Diese Zuordnung geht auf eine Rede im Jahr 2013 zurück, in der Gerasimov die westlichen Kriseninterventionen und die darin erkennbaren spezifischen Formen der Auseinandersetzung analysiert, nämlich politische Ziele mit minimalem bewaffnetem Aufwand zu erreichen, vor allem mit „Zersetzung [des gegnerischen] militärischen und wirtschaftlichen Potenzials, informationell-psychologischer Einflussnahme, aktiver Unterstützung der inneren Opposition und der Anwendung von Partisanen- und subversiven Methoden […]“ (Gerasimov, zitiert in Bilban und Griniger 2019b, S. 275 f.). Gerasimov selbst hat den Begriff der hybriden Kriegführung erstmals 2016 benutzt und das zugrundeliegende Konzept als westlich bezeichnet. Gleichwohl entspricht das russische Vorgehen gegen die Ukraine seiner Beschreibung, wie das folgende Kapitel zeigt.

Russlands Praxis hybrider Kriegführung in der Ukraine1

Die beiden Tschetschenienkriege von 1994 bis 1996 und von 1999 bis 2009 zeigten, dass Russlands Streitkräfte strukturell, technologisch, doktrinär und politisch-strategisch nicht mehr auf moderne Aufstandsbekämpfung eingestellt waren. Der Georgienkrieg 2008 schrieb zwar die im zweiten Tschetschenienkrieg begonnene taktisch-operative und politische Lernkurve fort, indem es gelang, die georgischen Soldaten rasch aus Südossetien und Abchasien zu vertreiben und die eigenen Truppen nach wenigen Tagen zurückzuziehen. Zudem wurde die militärische Operation durch intensive Informationsoperationen und Cyberattacken begleitet. Doch offenbarte dieser Konflikt auch militärische Schwächen, etwa in den Bereichen Führung, Informationstechnologien und Präzisionswaffen. Die Annexion der Krim 2014 zeigte verbesserte Führungsfähigkeiten und modernere Ausrüstung, etwa neue Kommunikationsmittel auf der Basis des russischen Navigationssystems Glonass und moderne Helme mit eingebautem Multifunktionsgerät. Das Vorgehen in der Ukraine seit 2014 demonstriert wiederum, dass Moskau seine Kriegführung durch direkte, wenn auch verdeckte bzw. abstreitbare, konventionelle Eingriffe unterstützen kann, wenn die Lage es erfordert.

Insgesamt nutzt(e) Russland die gesamte Bandbreite der Methoden hy­brider Kriegführung. Die Annexion der Krim wurde durch ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver eingeleitet, bei dem ohne vorherige Ankündigung große Teile der Armee in Alarmbereitschaft versetzt wurden und mehr als 150.000 Soldat*innen eine Militärübung abhielten. Während westliche Beobachter gebannt auf den westlichen und den zentralen Wehrbezirk schauten, verstärkte Moskau die in Sewastopol stationierten 10.000 Soldaten bis Ende März um weitere 22.000, darunter Spezialkräfte der Geheimdienste und des neu gegründeten Streitkräftekommandos für Sonderoperationen. Maskierte, aber diszipliniert und bestimmt auftretende Männer im Kampfanzug ohne Hoheitsabzeichen – die so genannten »grünen Männchen« – waren immer dann präsent, wenn lokale prorussische Kräfte Gebäude des ukrainischen Staates besetzten. Die propagan­distische Begleitmusik spielte das Lied von der autonomen Volksbewegung, die den Anschluss an Russland wolle, um der faschistischen Bedrohung aus Kiew zu entgehen. Das alternative Narrativ wurde unterstützt durch die Ausschaltung kritischer Medien und Cyberangriffe auf ukrainische Internet- und Telefonverbindungen. Den vermeintlich legalisierenden Schlusspunkt setzten ein kurzfristig durchgeführtes Referendum und der formale Beitritt der Krim zu Russland am 18. März 2014.

In der Ost- und Südostukraine gestaltete sich das Vorgehen Russlands ähnlich. Im Unterschied zur Annexion der Krim eskalierte der Konflikt hier jedoch zum konventionellen Krieg. Die »grünen Männchen« agierten im Zusammenspiel mit lokalen bewaffneten Aufständischen hauptsächlich in den Gebietskörperschaften Donezk und Luhansk, wobei dieses Mal auch russische Soldaten und Kämpfer aus dem Kaukasus mitwirkten. Laut russischen Darstellungen handelt es sich ausschließlich um Freiwillige, die für die Selbstbestimmung der Russen kämpfen. Begleitet wurde das Vorgehen durch Cyberattacken auf ukrainische Regierungsorganisationen.

Zwar erhalten die Separatisten von Russland Führungsunterstützung und Ausrüstung, allerdings hat Moskau die beiden von ihnen deklarierten autonomen Volksrepubliken bislang nicht anerkannt. Nachdem die Aufständischen unter militärischen Druck der Ukraine geraten waren, antwortete Moskau mit grenznahen Militärmanövern, um eine Drohkulisse aufzubauen, vermehrten Waffenlieferungen, um die Separatisten zu stärken, mit unilateraler humanitärer Hilfe, um Pluspunkte an der heimischen Propagandafront einzufahren, und mit der Eröffnung einer weiteren Front im Südosten der Ukraine, um die Separatisten im Osten zu entlasten. Trotz des am 5. September 2014 in Minsk unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unterzeichneten Waffenstillstandabkommens zwischen der ukrainischen Regierung und den Separatisten flammten die Kämpfe immer wieder auf. Auch nach der Präzisierung und Bekräftigung des Minsker Abkommens durch die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine im Februar 2015 (Minsk II) simmert der Krieg weiter. Er forderte bislang fast 13.000 Menschenleben.

Während die eingesetzten Waffen auf einen klassischen konventionellen Krieg hindeuten, zeigen die eingesetzten Kräfte und die russische Interpretation des Konflikts, die dem Prinzip der plausiblen Abstreitbarkeit folgt, dass es sich auch um eine Form des unkonventionellen Krieges handelt. Seinen hybriden Charakter erhält er durch das koordinierte Zusammenwirken konventioneller und unkonventioneller, symmetrischer und asymmetrischer sowie militärischer und ziviler Mittel und Methoden.

Warum führt Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg?

Kriegführung dient in der Regel einem politisch-strategischen Ziel. Das gewaltsame Vorgehen wird gewählt, weil dieses Ziel als gefährdet angesehen und die eigene Handlung als Erfolg versprechend eingeschätzt wird. Im Falle des Gewaltkonflikts in der Ukraine verfolgt Russland völlig unterschiedliche politisch-strategische Vorstellungen von denen des Westens. Moskau denkt vor allem in der Logik des politischen Realismus, der auf Kategorien wie Macht, Einfluss und Gleichgewicht setzt. Zudem geht es ihm um seine Lesart von internationalen Normen. Drittens handelt es aus pragmatischen Erwägungen asymmetrisch.

Russland will die Ukraine so weit wie möglich im eigenen Einflussbereich halten und ihre Annäherung an die NATO verhindern. Die NATO-Erweiterung und die Verlagerung militärischer Infra­struktur an die Grenzen Russlands beschreibt es in seiner Militärstrategie als „wichtigste militärische Bedrohung von außen“ (The Military Doctrine of the Russian Federation 2014, Abs. 12a). Zudem will Moskau die am 1. Januar 2015 gegründete Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) ausbauen, die ohne Kiew signifikant weniger Gewicht hätte. Auch wenn die Mitgliedschaft Kiews in der EAWU momentan illusorisch ist, will Russland doch seinen Einfluss über den Osten des Landes wahren, bis sich die Lage in der ganzen Ukraine langfristig zu seinen Gunsten ändert. Bis dahin unterstützt es die Bildung eines quasistaatlichen Gebildes, ohne jedoch die formale Teilung der Ukraine voranzutreiben.

Russland geht es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um seine Stellung in der Welt und um seine nationale Sicherheit (»Russia’s National Security Strategy to 2020« von 2009). Sein Ringen um Status und vor allem sein Widerstand gegen eine von den USA dominierte Weltordnung findet durchaus die Unterstützung anderer Staaten. In Europa sollten aus russischer Sicht zwei Zentren zu einer multipolaren Welt beitragen: die Europäische Union und eine von Russland geführte EAWU, einschließlich der Ukraine, Moldaus und Georgiens. Überwölbt würde das Ganze durch eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur. Der zweite Aspekt, die nationale Sicherheit, erfordert nach russischem geopolitischem Denken die Einbindung des »nahen Auslands«, weil sie ein Mindestmaß an strategischer Tiefe gewährleistet und aufgrund der jahrzehntelangen ökonomischen und ethnischen Verflechtung notwendig erscheint. Russland hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es die Nichtbeachtung seiner Sicherheitsinteressen nicht hinnehmen wird. Die Reaktion im Georgienkonflikt war eine eindeutige Warnung. Man mag diese Haltung als altes Denken abtun, sie leitet aber das Handeln der russischen Führung.

Der russische Legitimationsdiskurs beschränkt sich aber nicht allein auf die genannten Argumente der realistischen Denkschule. Er greift auch auf russisch-konnotierte liberale Begründungen zurück, wenn er den Schutz der Menschen auf der Krim und in der Ostukraine sowie deren Recht auf Selbstbestimmung und kulturelle Identität anführt. Gleiches gilt für das Bedauern, dass das Völkerrecht nicht mehr greife und die von der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten sprachlichen, historischen und kulturellen Rechte der Russen in der Ukraine bedroht seien (President of Russia 2014). Das zweifelhafte Recht, russische Bürger auch außerhalb des Staatsgebietes militärisch zu schützen, deklariert Moskau schlicht für völkerrechtskonform. Die Kernbotschaft lautet: Russlands Handeln ist legal und legitim. Alle Rechtfertigungen dienen wohl auch dazu, die russische Bevölkerung um Präsident Putin zu scharen und dadurch in Kombination mit autoritären Maßnahmen, wie der Unterdrückung unabhängiger Medien, das politische System zu stabilisieren.

Schließlich versucht Russland mit Hilfe hybrider Kriegführung, aus einer Lage relativer Schwäche maximalen Vorteil zu ziehen. Die konventionelle Überlegenheit der USA und der NATO ist unstrittig. Allerdings hat Russland durch seine Nähe zur Ukraine einen geografischen Vorteil, der ihm die regionale Eskalationsdominanz ermöglicht. Es könnte schneller konventionelle Kräfte in der Region konzentrieren und nachführen, sollte die Lage es erfordern. Zudem ist es durch taktische Nuklearwaffen abgesichert. Da die Vermeidung eines Kriegs mit den USA aber höchste Priorität hat und Russland seine eigenen Kosten möglichst geringhalten will, wählt es eine asymmetrische Vorgehensweise. Offiziell ist Russland in der Ukraine noch nicht einmal Kriegspartei. Es agiert in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden, gibt zugleich den Vermittler, modernisiert seine Streitkräfte und passt das Zusammenspiel seiner zivil-militärischen Fähigkeiten den Bedingungen und Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts an.

Schlussfolgerung

Russlands hybrider Krieg in der Ukraine ist eine Mischung aus unkonventioneller und konventioneller Kriegführung. Sie ist nicht grundsätzlich neu und wird auch von anderen Akteuren angewendet. Aber sie ist, wie jeder Krieg, in der konkreten Umsetzung anders. Die klassische Form des unkonventionellen Krieges wurde gewahrt, indem man verdeckt nicht- staatliche Akteure unterstützte. Andererseits verändert sie sich und geht in eine hybride, konventionelle und unkonventionelle Aktionen mischende, Form über. Zu dieser Form des Krieges im 21. Jahrhundert gehören offene und verdeckte Informationsoperationen, nicht eindeutig zuzuordnende Cyber­attacken, die Nutzung irregulärer und regulärer Kräfte, die wachsende Relevanz zivil-militärischer Vernetzung und die Nutzung von Hochtechnologie.

In einer Zeit, in der zwischenstaatliche Kriege glücklicherweise rar geworden sind, besteht die Gefahr, dass hybride Kriegführung in der Grauzone zu einem bevorzugten Mittel wird. Dies mag zwar angesichts der Alternative eines umfassenden Krieges als geringeres Übel erscheinen, ist aber gleichwohl gefährlich, weil immer die Gefahr einer beabsichtigten oder unbeabsichtigten Eskalation besteht.

Anmerkung

1) Dieses Kapitel greift auf meinen Beitrag »Unkonventioneller und hybrider Krieg in der Ukraine – zum Formenwandel des Krieges als Herausforderung für Politik und Wissenschaft«, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 9/2016, zurück.

Literatur

Bilban C.; Griniger, H. (2019a): Die Regionalstudien im Vergleich, in: Dies. (Hrsg.) (2019): Mythos »Gerasimov-Doktrin«, Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 325-341.

Bilban C.; Griniger, H. (2019b): Was bleibt von der »Gerasimov-Doktrin«? In: dies. (Hrsg.) (2019): Mythos »Gerasimov-Doktrin«. Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 263-301.

Clausewitz, C. v. (1973; Erstausgabe 1832-34): Vom Kriege. Bonn: Dümmler.

Ehrhart, H.-G. (2014): Russlands unkonventioneller Krieg in der Ukraine. Aus Politik und Zeitgeschichte 47-48/2014, S. 26-32.

Ehrhart, H.-G. (2017) (Hrsg.): Krieg im 21. Jahrhundert – Konzepte, Akteure, Herausforderungen. Baden-Baden: Nomos.

Murray W.; Mansoor P.R. (2012): Hybrid Warfare. Cambridge: Cambridge University Press.

North Atlantic Treaty Organization/NATO 2014: Gipfelerklärung von Wales – Treffen des Nordatlantikrates auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Wales. 5. September 2014; nato.diplo.de.

President of Russia (2014): Events – Conference of Russian ambassadors and permanent representatives. 1. Juli 2014; eng.kremlin.ru. ?

Russia’s National Security Strategy to 2020; 12. Mai 2009. Inoffizielle englische Übersetzung auf rustrans.wikidot.com/russia- s- national- ­security-strategy-to-2020.

The Military Doctrine of the Russian Federation – Approved by President of the Russian Federation; 25.12.2014. Inoffizielle englische Übersetzung auf de.scribd.com/doc/251695098/Russia-s-2014-Military-Doctrine.

Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Senior ­Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Europäische Friedensvisionen retten


Europäische Friedensvisionen retten

Jahrestagung der Plattform ZKB, 29.-31. März 2029, Bad Boll

von Melanie Bleil

Nur wenige Monate vor der Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 beschäftigte sich am letzten Märzwochenende die Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung mit den Friedensvisionen der europäischen Zivilgesellschaften. Zusammen mit Gästen aus Österreich, Kroatien, Großbritannien und Deutschland diskutierten die Teilnehmenden unter dem Titel »Wie sind die Europäischen Friedensvisionen noch zu retten? Herausforderungen für die europäische Zivilgesellschaft« über die Herausforderungen, vor denen die einzelnen Zivilgesellschaften in ihren Ländern stehen und wie dabei Friedensvisionen im Kleinen und Großen verwirklicht werden können.

Bereits zu Beginn der Tagung warnte der österreichische Politikwissenschaftler Dr. Thomas Roithner vor einer Verengung des Diskurses auf die geographischen Grenzen der Europäischen Union. Europa habe mehrere Institutionen, die eine friedliche Konfliktlösung unterstützen könnten, seien es die OSZE, der Europarat oder die Vereinten Nationen. Ein besonders wertvoller Erfahrungsschatz sind ebenso die zivilgesellschaftlichen und institutionellen Ansätze, die während des Kalten Kriegs erfolgreich waren, wie etwa der »Harmelprozess« der NATO oder die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die mit ihren Dialogformen und vertrauensbildenden Maßnahmen zu einer Entschärfung der Konflikte beitrugen. Diese Erfolge nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist eine generationsübergreifende Aufgabe. Die Diskussion griff auch Maßnahmen für die Zukunft auf. So wurden neben unterschiedlichen Systemen der Entscheidungsfindung die Vision eines europäischen Grundeinkommens diskutiert, um friedliche und demokratische Gesellschaften in Europa zu fördern.

Die Europäische Union stand im Fokus der Auseinandersetzung um die europäische Friedensvision. Analysiert wurden Initiativen wie der Europäischen Verteidigungsfonds oder die Veränderungen in der Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, die sich unter anderem in dem überwiegend militärischen Charakter der EU-Auslandseinsätze und einer Aufrüstung der EU widerspiegeln. Dabei waren sich die Teilnehmenden einig, dass diesen Entwicklungen eine konsequente Friedenslogik entgegenzusetzen ist. Als besonders eklatant wurde die Diskrepanz zwischen den Werten der EU und den wirtschaftlichen und geopolitischen Machtinteressen wahrgenommen. Auch dies führe dazu, dass es derzeit innerhalb der EU eine Rückbesinnung auf nationale Diskurse und Identitäten gebe, die sich in der Ablehnung von Migration und in rechtspopulistischen Meinungen gegen das »Friedensprojekt Europa« ausdrücke, so die Teilnehmenden. Barbara Lochbihler, außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament, kommentierte in ihrem Vortrag diese Differenz zwischen Werten und aktuellen Entwicklungen folgendermaßen: „Bei der Gründung der EU hat niemand vorausgesehen, dass sich die Mitgliedsstaaten hinter das Regelwerk zurückentwickeln.“

Aus den Berichten der europäischen Tagungsgäste ging hervor, dass es trotz unterschiedlicher Situationen in den Ländern auch gemeinsame Trends gibt: Die Verschärfung der sozialen Ungleichheit nimmt zu, Sicherheitsnarrative verändern sich, und das Misstrauen gegenüber Institutionen wächst. Auf diese Herausforderungen gilt es auch in Zukunft europäische Lösungen zu finden. Die Idee eines »Europas von unten«, das sich auf starke europäische Zivilgesellschaften stützt, betonte Dion van den Berg, Senior Politikberater bei der niederländischen Nichtregierungsorganisation PAX. Hier kommt auch der zivilen Konfliktbearbeitung eine Schlüsselrolle zu. Durch den Aufbau von Netzwerken, vertrauensvollen Beziehungen und ziviler Krisenprävention können zivilgesellschaftliche Akteure den Wandel hin zu einem friedlichen Europa anstoßen. Die gegenseitige Unterstützung von europäischen Partnern ist dabei ein wichtiges Element. Nicht nur verschafft es Organisationen Anerkennung und Bedeutung in ihren lokalen bzw. nationalen Kontexten, auch der Blick von außen trägt zu einer selbstkritischen Reflektion der eigenen Verortung von Positionen und Erwartungen bei.

Das Thema Frieden in Europa wird viele Mitglieder der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und auch die Plattform selbst weiterhin begleiten. Mit der Idee, Europa aktiv mitzugestalten – sei es, indem man Menschen mobilisiert, wählen zu gehen, oder sich über die eigenen Grenzen hinweg vernetzt, stützt und austauscht –, endete die Tagung.

Melanie Bleil

Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung


Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung

Tagung des Netzwerks Friedensforscherinnen, Universität Koblenz-Landau – Campus Koblenz, 7.-8. Februar 2019

von Lena Merkle und Christine Buchwald

Die Tagung der Frauensprecherinnen der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) fand in Kooperation mit der Friedensakademie Rheinland-Pfalz und der Graduiertenschule Genderforschung als zweitätige Veranstaltung am Campus Koblenz statt. Aufgrund des Work-in-progress-Charakters der Veranstaltung wurde den einzelnen Beiträgen eine längere Diskussionszeit eingeräumt, und die Vortragenden waren dazu angehalten, ihre eigenen Fragen und Probleme mit einzubringen, um diese zu diskutieren.

Der inhaltliche Fokus der Veranstaltung lag auf feministischen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung. Die etwa 30 Teilnehmenden der Tagung, von denen gut die Hälfte auch selbst vortrug, hatten bei der Keynote Lecture am ersten Tag und in insgesamt sechs Panels am zweiten Tag die Möglichkeit zum Austausch.

Eröffnung

Die Keynote Lecture wurde von Sabine Grenz, Universität Wien, gehalten. Sie sprach in ihrem Vortrag über »Feministische Methodenreflexion empirischer Daten­erhebung«. Dabei reflektierte sie zunächst den historischen und theoretischen Hintergrund der empirischen Datenerhebung und betonte die Machtwirkung, die zwischen Forschenden und Beforschten entsteht, sowie die dabei konstruierten Rollenbilder und den permanenten Zustand der Selbstkritik feministischer Forschung. Dies ist besonders relevant, da die Interviewsituation, insbesondere bei persönlichen Themen wie Sexualität, Vertraulichkeit und Vertrauen voraussetzt. Dabei kommt der interviewenden Person eine wichtige Rolle zu, da sie die Situation prägt und die Inhalte des Interviews auf sie zugeschnitten erzählt werden. Die Herausforderung für die Interviewenden besteht darin, die hohe Komplexität von Geschlechtlichkeit zu beachten, deren Vieldimensionalität und Deutungsabhängigkeit verschiedene Interpretationen ermöglicht. Daher gilt es auch, die eigenen Erwartungen kritisch zu hinterfragen und Einzelfälle ergebnisoffen zu betrachten.

Panels

Im Panel zu kulturwissenschaftlichen Perspektiven ging zunächst Malica Christ aus philosophisch-politischer Perspektive auf intersektionale Erfahrungen geflüchteter Frauen ein. Mithilfe einer »Matrix of Domination« wurden die komplexen Unterdrückungserfahrungen geflüchteter Frauen phänomenologisch betrachtet. Es folgte eine Studie von Juan Botia Mena zur Aneignung von Sophokles‘ Antigone durch Frauen im sozialen Protest in Kolumbien. Die Rolle der Frau, die ihren Bruder (oder einen anderen Verwandten) nicht zu Grabe tragen kann, wird dabei im Kontext des kolumbianischen Konfliktes in Filmen und Theaterstücken symbolisch reproduziert. Schließlich stellte Nicole Pruckermayr das interdisziplinäre Projekt »Comrade Con­rade« aus Graz vor, welches sich kritisch mit Straßennamen auseinandersetzt und die Umbenennung von Straßen, die nach historisch problematischen Personen benannt sind, zum Ziel hat. In dem Projekt wird u.a. das Machtgefälle deutlich, das zwischen Aktivist*innen auf der einen und bürokratischen Strukturen sowie ökonomischen Interessen auf der anderen Seite besteht.

Im Panel »Opfer, Kämpferinnen, Aktivistinnen I« präsentierte Clemens Starke seine Überlegungen zur veränderten Geschlechtergerechtigkeit im Südjemen. In Interviews mit lokalen Aktivistinnen will er herausarbeiten, wie sie den Wandel der Geschlechterbeziehungen wahrnehmen und welche Perspektiven sie selbst sehen. Mit dem Einfluss, den die Anwesenheit von Frauen in bewaffneten Einheiten auf das Ausmaß sexueller Gewalt hat, beschäftigte sich dagegen Viktoria Reisch. Anhand der FARC (Kolumbien) und der YPG/YPJ (Nordsyrien) testete sie die These, dass die Anwesenheit von Frauen in bewaffneten Einheiten das Ausmaß sexueller Gewalt wahrnehmbar reduziert. Sie kam durch verschiedene Argumente, wie z.B. dem Erreichen einer kritischen Masse von Frauen in den Armeen, zu dem Schluss, dass die Theorie in diesen beiden Fällen eher ein gegenteiliges Bild ergeben würde.

Das Panel »Opfer, Kämpferinnen, Aktivistinnen II« bot zunächst einen Beitrag von Paula Castro Blanco, Glendy Meja Garcia, Katharina König und Angela Rodriguez Prada zur Rolle von Frauen im ländlichen Raum im friedlichen Widerstand in Kolumbien. Die Vortragenden zeigten den enormen Ressourcenreichtum weiblichen Widerstandes auf. Frauen, die oftmals erst aufgrund der Lücken, die im Krieg gestorbene Männer hinterließen, relevante Positionen übernahmen, wurden zu Anführerinnen des friedlichen Widerstands. Max Jansen verglich in seinem Beitrag die Darstellung von Frauen durch internationale Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit mit der Selbstdarstellung der Frauen von Jinwar, einem Frauendorf in Rojava. Hier zeigt sich die oftmals vorherrschende Rollenbilder bestätigende und Frauen objektivierende Darstellung durch die Organisationen im Kontrast zur diversen und (selbst-) ermächtigenden Eigenporträtierung in Jinwar.

Im Panel zu Friedensbildung verdeutlichte Laura Stumpp den Mehrwert, der sich aus der Lektüre von und der Beschäftigung mit Grada Kilomba und bell hooks für eine andere Lehrgestaltung ergibt. Anhand von Zitaten und Videos erläuterte sie die Reflexion der beiden Autorinnen über ihre eigene Lehrgestaltung. Im Anschluss konzentrierte sich Marilena Müller auf einen anderen Bereich der Friedensbildung: die Friedenspädagogik. Durch eine theoretische Fundierung will sie anhand der Felder »Lernziele«, »Inhalte« und »Methoden« Kriterien entwickeln, wie gendersensitive Friedenspädagogik gestaltet werden kann. Es gibt zwar in der Praxis schon entsprechende Ansätze, es fehlt aber an eben dieser theoretischen Fundierung.

Ein weiteres Panel befasste sich mit Friedensaufbau. Manuela Scheuermann hinterfragte das »Gender Balancing« in Organisationen der Vereinten Nationen am Beispiel des United Nations Department of Peacekeeping Operations, UNDPKO. Während auf dem Makrolevel wenig Kritikpotenzial vorhanden ist, da die Vereinten Nationen nach außen Gender Mainstreaming signalisieren, zeigen sich auf dem Mikrolevel viele versteckte Barrieren. Trotzdem fragte Manuela Scheuermann, ob die Gleichung »UNDPKO = Militarismus = Maskulinismus« nicht zu kurz greift. Antje Busch zeigte am Beispiel Bougainville (Papua Neuguinea) auf, welche Auswirkungen die politische Partizipation von Frauen als Ausdruck eines Postkonflikt-Empower­ment haben kann. Auch wenn noch Verbesserungspotenzial besteht, zeigt sich doch ein positiver Trend, z.B. durch die paritätische Besetzung der Gemeinderäte. Kristina Hatas konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf den Zusammenhang zwischen der Debatte über die Einmischung der internationalen Gemeinschaft in vermeintlich innerstaatliche Belange und der Entwicklung des internationalen Strafrechts in Bezug auf genderbasierte Gewalt. Insbesondere die nur zurückhaltende Einmischung in vermeintlich innerstaatliche Problemlagen führt dazu, dass bestimmte Verbrechen – gerade genderbasierter Gewalt – für das internationale Strafrecht nicht sichtbar sind.

Schließlich fand ein Panel zu struktureller Gewalt statt. Kristina Hinz analysierte Rollendarstellungen von Frauen und Männern im brasilianischen Diskurs zum Kampf gegen Drogen. Hier zeigt sich die diskursive Marginalisierung der Favela-Bewohner*innen durch die Politik sowie die dichotome Wahrnehmung von Frauen als »unsere« und »deren« Frauen, wobei nur die eigenen schützenswert seien. Coretta Lemaitre beschäftigte sich mit der US-amerikanischen evangelikalen »Purity Culture«, die trotz enormer sozialer Bedeutung oftmals nur unscharf definiert ist und in scharfem Kontrast zu politischen Entscheidungen evangelikaler Christen steht, etwa der enormen Unterstützung für Donald Trump trotz dessen dem evangelikalen Wertekonstrukt widersprechenden Aussagen. In einem Beitrag zur Rolle von Frauen im Radio in Burkina Faso von Vivane Schönbächler wurde die historische gewachsene Bedeutung des Mediums deutlich, ebenso dessen politische Relevanz in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit für eine Gesellschaft, in der insbesondere in der jungen Generation Frauen nicht gehört werden. Die Möglichkeit, beim Radio zu arbeiten, bietet da eine besondere Chance für Frauen. Schließlich wurden im Beitrag von Vanessa Seibert die juristischen Möglichkeiten betrachtet, die bestehen, um die weibliche Beteiligung an Peacekeeping-Missionen zu erhöhen. Zwar gibt es einzelne Beispiele von (überwiegend) weiblichen Einheiten sowie die Erklärung der Vereinten Nationen, die Partizipation von Frauen stärken zu wollen, doch es bestehen bisher keine verbindlichen Verpflichtungen.

Resümee

Die Tagung war die Auftaktveranstaltung einer Reihe von Tagungen, die die Frauensprecherinnen der AFK initiieren, und soll noch in diesem Jahr fortgesetzt werden. Dafür sprechen auch der Erfolg der Veranstaltung und die positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden. Doch auch als einzelne Veranstaltung bildet die Tagung einen gewichtigen Beitrag zu den notwendigen feministischen Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung.

Ein ausführlicherer Tagungsbericht ist auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (afk-web.de) abrufbar.

Lena Merkle und Christine Buchwald

„Nicht dazu da, Waffen zu segnen“?


„Nicht dazu da, Waffen zu segnen“?

Über den Militär- und Kriegsdienst der Militärseelsorge

von Albert Fuchs

Im Zentrum von Auseinandersetzungen mit dem bundesdeutschen Zusammenspiel von Staat und Kirche in Form der Militärseelsorge steht in der Regel die rechtliche und organisatorische Seite dieses Zusammenspiels. Doch auch das konkrete dienstbezogene und dienstliche Reden und Handeln von (hochrangigen) Vertretern der kirchlichen Militärseelsorge bedarf der kritischen Analyse, wie der vorliegende Beitrag exemplarisch verdeutlicht. Zur klären, ob und ggf. wie dieses Reden und Handeln sich effektiv auf das Militärpersonal und eine interessierte Öffentlichkeit auswirkt, ist oder wäre Sache eingehender empirischer Forschung.

Das besondere, »Militär-« oder »Soldatenseelsorge« genannte, bundesdeutsche Zusammenspiel von Staat und Kirche gilt als im Kern grundgesetzlich verankert: einerseits durch die in Artikel 4 (Abs. 1 und 2) des Grundgesetzes garantierte „Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ und ungestörte Religionsausübung“ und andererseits durch eine gemäß Artikel 140 GG aus der Weimarer Reichsverfassung übernommene Regelung. „Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht“, sind dieser Regelung zufolge „[…] die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen“ (Art. 141 WRV).

Um dem Ziel der insoweit grundgesetzlich angelegten Kooperation von Staat und Kirche im Falle des „Heer[es]“ gerecht zu werden, hält man es für erforderlich, seelsorgerliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, die speziell auf die Arbeit und die Arbeitsbedingungen des Militärpersonals inkl. seiner Dienstzeiten und örtlichen Gegebenheiten abgestimmt sind. Das wiederum erfordert Vereinbarungen zum Status, zur Tätigkeit und zur Alimentierung der Militärseelsorger sowie zur Organisation dieses Dienstbereichs. Entsprechende rechtliche Regelungen liegen für die katholische Militärseelsorge im Wesentlichen in dem einschlägigen Passus des (gemäß einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1957) weiter geltenden Reichkonkordats von 1933 vor (Art. 27 RK). Die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr ist durch den Militärseelsorgevertrag von 1957 geregelt; er gilt seit Anfang 2004 als rechtlicher Rahmen auch für die ostdeutschen Landeskirchen.

Diese Verträge und deren konkrete Umsetzung laufen auf eine institutionelle Verflechtung von Staat und Kirche in der Militärseelsorge hinaus, die in dieser Enge und Dichte weit über das grundgesetzlich eher minimalistisch angelegte Kooperationsverhältnis hinausgeht; auf Details ist hier nicht näher einzugehen (vgl. Czermak 2017; Kropp 2018). Aus der Sicht der Kirchen (-Leitungen) wie aus der Sicht (von Repräsentant*innen) des Staates hat sich das tendenziell staatskirchliche Arrangement der bundesdeutschen Militärseelsorge bestens bewährt. Kritiker*innen liefert es dagegen reichlich und anhaltend Grund zu politischer, rechtlicher, ethischer und theologisch-religiöser Infragestellung. Als verfassungswidrig gilt vielen – wohl zu Recht – der Staatsbeamtenstatus der Militärgeistlichen mit enger Integration in den militärischen Dienstbetrieb und bei voller staatlicher Finanzierung. Unbestritten ist andererseits, dass jedenfalls im kirchlichen Wertehimmel das „auf Erden Frieden den Menschen“ des Evangeliums (Lukas 2,14) einen außerordentlich hohen Rang einnimmt, in Verkündigung und Lehre ebenso wie im Selbstverständnis der Kirchen.

Aus dieser Perspektive sollte demnach ausschlaggebend sein, ob die etablierte Militärseelsorge einen friedenspolitischen Mehrwert hat im Vergleich zu einer konsequent staatsunabhängigen bzw. nicht über die grundgesetzliche Minimalkooperation hinausgehenden Regelung. Das folgende Hitler-Zitat lässt auch für die Bundeswehr eher Gegenteiliges mutmaßen: „Es droht eine schwarze Wolke […] Wir haben Soldaten notwendig, gläubige Soldaten. Gläubige Soldaten sind die wertvollsten. Sie setzen alles ein.“ (Adolf Hitler in einem Gespräch mit dem Osnabrücker Bischof Berning, 26. April.1933; zitiert nach Breuer 2015, S. 75)

Zurüstung der »Seelen«

Erwartungen Hitlers an die Militärseelsorge und die Bereitschaft zumindest eines hochrangigen kirchlichen Amtsträgers, diese Erwartungen zu bedienen, kamen, wie gut verbürgt, deutlich zum Ausdruck bei einem Zusammentreffen Hitlers mit dem Münchner Erzbischof Kardinal Faulhaber im November 1936 auf dem Obersalzberg. Auf Hitlers Bemerkung, der Soldat, der drei oder vier Tage im Trommelfeuer liege, brauche einen religiösen Halt, versicherte ihm Faulhaber, da könne die Kirche dem Staat helfen und die Seelen rüsten (Czermak 2017). Seelsorge also als Zurüstung der gläubigen Herde – jedenfalls im Nebeneffekt – für den staatlichen Menschen-Schlachtbetrieb! Die konkreten Formen und Auswirkungen dieses perversen Zusammenspiels von Staat und Kirche sind hinlänglich beforscht und bekannt (z.B. Röw 2014).

Gewiss, man muss sich davor hüten, die kirchliche Seelsorge bei der Bundeswehr den Verhältnissen »unter dem Hakenkreuz« gleichzustellen. Das von diesen Verhältnissen ausgehende kalte Licht kann aber und sollte den kritischen Blick auf die Entwicklung bei der Bundeswehr-Seelsorge schärfen. So kommt ein in der Richtung »wie damals« liegender staatlich-militärischer Erwartungshorizont durchaus auch in der Zentralen Dienstvorschrift 66/1 (vom 25.8.1956) zum Ausdruck, die für die Bundeswehr-Seelsorge immer noch maßgeblich ist – freilich nicht annähernd so brutal offen wie bei Hitler. Dieser Dienstvorschrift zufolge stellt sich die Militärseelsorge „die Aufgabe, unter Wahrung der freiwilligen Entscheidung des einzelnen das religiöse Leben zu wecken, zu festigen und zu vertiefen. Dadurch fördert sie zugleich die charakterlichen und sittlichen Werte in den Streitkräften und hilft die Verantwortung tragen, vor die der Soldat als Waffenträger gestellt ist.“ (zit. nach Czermak 2017) Und in der so genannten Dienststelle Blank, dem Vorläufer des Verteidigungsministeriums, wurde bereits 1954 intern von einer Bringschuld des Staates gesprochen mit der Begründung, der Staat selbst habe ein echtes Interesse an der Militärseelsorge. Der Wert seiner Streitkräfte, so das Argument, hänge vom Charakter und der seelischen Einstellung der Soldaten nicht weniger ab als vom waffentechnischen Ausbildungsstand. Diese Eigenschaften aber würden bei den meisten Menschen von der religiösen Grundlage her bestimmt (ebd.).

So stellt sich die Frage, wie die maßgebenden Vertreter der zeitgenössischen Militärseelsorge mit dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont umgehen. Abermals wird kaum ein ähnlich offenes Andienen gegenüber (Mitgliedern) einer Bundesregierung nachzuweisen sein wie seinerzeit das von Kardinal Faulhaber gegenüber Hitler. Systematische Untersuchungen zu diesem Thema sind nicht bekannt. Immerhin sind öffentliche Einlassungen ranghoher Militärseelsorger zu finden, die mustergültig sein dürften für ihren Umgang mit dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont.

Aufschlussreiche Interviews mit den ranghöchsten amtierenden Vertretern der kirchlichen Militärseelsorge, mit dem katholischen Militärbischof Dr. Franz-Josef Overbeck und dem evangelischen Militärbischof Sigurd Rink, wurden im vergangenen Jahr vom Bonner General-Anzeiger veröffentlicht (Overbeck 2018; Rink 2018). Mit den Ausführungen von Bischof Overbeck hat sich eine kleine Gruppe aktiver Mitglieder der katholischen Friedensbewegung Pax Christi in einem offenen Brief eingehend auseinandergesetzt (Pax Christi/Impulsgruppe 2018). Aus ihrer differenzierten Kritik am Amtsverständnis und der Amtsführung des katholischen Militärbischofs stechen zwei Punkte hervor, die, geringfügig anders akzentuierend, auch bei Bischof Rink zu konstatieren sind.

Zum einen macht man es sich ausgesprochen leicht mit dem eklatanten Gegensatz zwischen dem jesuanischen Ethos radikaler Gewaltfreiheit und der Gewaltverhaftung des Militärbetriebs. Bischof Overbeck verschiebt diesen Konflikt in das Gewissen der Einzelnen, hält aber andererseits, höchst begründungsdürftig, die Anwendung von militärischer Gewalt „im Krisen- und Konfliktfall“ nicht nur für rechtfertigungsfähig, also für erlaubt, sondern sogar für „mitunter auch geboten“. Und Bischof Rink genügt eine kleine Schrift von Martin Luther aus der Zeit der […] Bauernkriege“ im geistig-geistlichen Überlebensbeutel für den soldatischen Weg durch die Dilemmata militärischer Gewalt.

In der angesprochenen Abhandlung »Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können« von 1526 (verfügbar unter glaubensstimme.de) stellt Luther grundlegend ab auf den Unterschied zwischen der Sorge um sich selbst und der Sorge für andere; bei jener fordert er Gewaltverzicht, bei dieser dagegen heißt er Gewaltgebrauch (unter bestimmten Bedingungen) gut. Wie frei von Sorge um sich selbst aber muss und kann die Sorge für andere sein? Der Konflikt wird also letztlich ebenfalls in das individuelle moralische Bewusstsein verschoben. Die strukturelle Gewalt, das Militärgewaltsystem, kommt nicht in den Blick, wird erst recht nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil bestätigt. Es ist ja rettende und folglich »gute Gewalt«. Dass derart obrigkeitsgefällige Ethik auch immer noch die Verwicklung der Bundeswehr in die Nuklearstrategie der NATO ethisch sanieren können soll, ist vielleicht am besten als (ungewollte) Karikatur zu jedem Versuch zu lesen, sich mit der ethischen Problematik militärischer Gewalt »staatstragend« auseinanderzusetzen.

Der zweite Hauptkritikpunkt betrifft die Linientreue, die beide Kirchenherren gegenüber der laufenden Militär- und Sicherheitspolitik an den Tag legen. So schätzt Bischof Overbeck u.a. die bundesdeutsche militär- und sicherheitspolitische Entwicklung seit der Epochenwende von 1989/90 durchweg als positiv ein, von der fraglosen Hinnahme des Eintritts der Bundeswehr in eine neue Ära ihrer Existenz“ im Zuge des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik und der Beschwörung „weltweite[r] Gefahren“ als treibende Kraft der Umwandlung der einst grundgesetzlich verankerten Verteidigungsarmee in eine „Armee im Einsatz“ bis hin zu einem vorbehaltlosen Lobspruch auf die Bundeswehr als „Parlamentsarmee“ mit „klaren ethischen Standards“. Und Bischof Rink, von der Redaktion als „bekennende[r] Pazifist“ vorgestellt, scheint sich mindestens ebenso sehr um „Material und Personal für die Einsätze“ zu sorgen wie um die Menschen, die beim Militär bzw. im Einsatz angeblich besonders „offen für die Seelsorge“ sind.

Besteht also doch nur ein gradueller Unterschied zwischen Kardinal Faulhabers Bereitschaft, sich auf Hitlers Erwartungen einzulassen, und der Kammerdienerei der amtierenden Militärbischöfe gegenüber dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont für die Bundeswehr?

Militärgeistlicher Kriegsdienst

Für einen dezidierten Kritiker aus theologisch-religiöser Sicht, wie den ehemaligen Militärseelsorger Matthias Engelke, ist ausgemacht, dass die etablierte Militärseelsorge nicht nur Militärdienst im Sinne der Zurichtung der Seelen leistet, sondern »Kriegsdienst« in einem engeren Sinn (Engelke 2010). Der Autor untermauert diese These durch einen Abgleich des Militärbetriebs mit formalen (soziologischen) Merkmalen von Religion. Zu jedem kritischen Religionsmerkmal findet sich ein Pendant beim Militär: von der deutlichen, durchaus auch physischen Trennung von »innen« und »außen« über eine eigene Sprache mit eigener Begrifflichkeit und einer Fülle von Abkürzungen, eine eigene Hierarchie mit eigenem Ethos und besonderen Verhaltensstandards, eigene Zeremonien und Feiern bis zu einer spezifischen Vorstellung vom »Ganz Anderen« samt der Besorgung seiner Präsenz in Kult und Ritus durch religiöse Spezialisten. Der Kern der Sonderexistenz des Militärs – und damit die Basis des militäreigenen »Ganz Anderen« – liegt in der ihm zugestandenen Tötungslizenz und in der Ausrichtung des gesamten Betriebs auf die Wahrnehmung dieser Lizenz, unter Einschluss der Hinnahme von eigener Verletzung und Tod.

Der Verlust eigener Soldat*innen aber ist die Stunde der religiösen Spezialisten. Ihnen obliegt die Kommunikation an der Grenze zwischen Leben und Tod – und darüber hinaus. Dabei geht es insbesondere darum, dem Geschehen irgendwie Sinn abzugewinnen und Schuld(-gefühle) zu bewältigen. Gemäß der herrschenden politisch-militärischen Ideologie haben Soldat*innen dafür zu sorgen, dass »notfalls« getötet wird, wer sich der Zielsetzung der eigenen Regierenden widersetzt; der Tod »der anderen« – für »unsere« Sicherheit und »unseren« Wohlstand – ist kaum des Nachdenkens und der Rede wert.

Der Verlust eigener Soldat*innen jedoch kann nicht Sinn und Zweck kriegerischer Unternehmungen sein. Die Eigenen dürfen auch nicht umsonst gestorben sein; das würde ja einzugestehen bedeuten, dass zumindest das betreffende militärische Unternehmen »unsinnig« ist. So muss ihr Tod für die Überlebenden einen besonderen Sinn haben. Er besteht zum einen darin, die »Sache«, für die sich die »Gefallenen« bis zum »Opfer des Lebens« eingesetzt haben, mit möglichst gleichem Einsatz weiter zu betreiben. Mit der Rede von einem Opfertod wird zum andern der Soldatentod zu einem übergeordneten Geschehen erhoben und erhält gleichsam sakrale Qualität. Beide Varianten der Konstruktion von Sinn entlasten zugleich von der Schuldproblematik, die sich den Überlebenden aufdrängt, wenn sie sich fragen, warum es die Kameraden und nicht sie selbst getroffen hat, sich eventuell (mit-) verantwortlich sehen (müssen) für den Tod von Kameraden oder unabweislich mit der politisch-moralischen Fragwürdigkeit eines kriegerischen Einsatzes konfrontiert werden.

Zum Kriegsdienst wird dieser militärgeistliche Service Engelke (2010) zufolge vor allem durch die Abwesenheit der Opfer der anderen Seite, der verletzten und/oder getöteten Gegner: „Dadurch wird augenfällig, dass die Militärseelsorger nicht im Dienste einer Institution stehen, die unabhängig vom Militär andere Zusammenhänge und Bezüge schafft und lebt, wie es etwa die weltweite Kirche beansprucht, sondern sie agieren innerhalb der Grenzen und Regeln des jeweiligen Militärs. […] Feindesliebe, die Jesus gemäß zum Weg derer gehört, die ihm nachfolgen, […] ist ausgeschlossen.“ (ebd. S. 8)

Engelkes hier nur gedrängt zu rekonstruierende Analyse mag bei aller Plausibilität Zweifel nahelegen, ob sie auch für die Bundeswehr zutrifft. Bei solchen Vorbehalten ist nachzulesen, was z.B. der damalige Bundesverteidigungsminister und der seinerzeit amtierende katholische Militärgeneralvikar im Rahmen der offiziellen Trauerfeier für die im April 2010 in Afghanistan »gefallenen« Bundeswehrangehörigen zu sagen hatten (Guttenberg 2010; Wakenhut 2010; vgl. Fuchs 2010). Nicht zuletzt diese oder ähnliche Ansprachen dürften Engelke zu seinen Einsichten zum Kriegsdienst-Charakter der etablierten Militärseelsorge inspiriert haben – und machen sie zumindest zu wohl begründeten Hypothesen.

Fazit

Die dargestellten Sachverhalte und Analysen lassen die im Titel des vorliegenden Beitrags aufgenommene Bemerkung von Bischof Overbeck, er sei „nicht dazu da, Waffen zu segnen“ (Overbeck 2018, S. 3), bestenfalls als Ausdruck von Selbsttäuschung erscheinen. Es geht aber nicht nur um individuelle Selbsttäuschung, sondern um sozial geteilte und insofern um eine Art institutionell verfestigte Selbsttäuschung, die darauf hinausläuft, im politischen und kulturellen Sinn sehr wohl „Waffen zu segnen“, und die damit höchstwahrscheinlich beiträgt zur Verstärkung und Perpetuierung des kulturellen „Mythos erlösender Gewalt“ (Wink 2014). Wie sich dieses Waffensegnen aber tatsächlich auf das Bundeswehrpersonal auswirkt, lässt sich weder auf der Basis von Plausibilitätserwägungen noch durch eine – u.U. auch kunstgerechtere – Interpretation von Einlassungen hochrangiger Akteure der Militärseelsorge ausmachen, sondern nur durch empirische Forschung.

Was immer aber diese Wirkungen sein mögen, militärgeistliches Waffensegnen auch indirekter Art stellt aus der hier zugrunde gelegten Perspektive eine schwere Belastung für die Glaubwürdigkeit des amtskirchlichen Friedensengagements dar.

Literatur

Breuer, T. (1999/2015): Gehorsam, pflichtbewusst und opferwillig – Deutsche Katholiken und ihr Kriegsdienst in der Wehrmacht. In Bürger, P. (Hrsg.): „Es droht eine schwarze Wolke“ – Katholische Kirche und Zweiter Weltkrieg. ­Berlin: Pax Christi, S. 75-84.

Czermak, G. (2017): Militärseelsorge. Institut für Weltanschauungsrecht (Lexikon); ­weltanschauungsrecht.de

Engelke, M. (2010): Der Kriegsdienst der Militärseelsorge. Wissenschaft und Frieden, 3-2010, Dossier 65, S. 6-8.

Fuchs, A. (2010): Re-Sakralisierung des Militärischen. Wissenschaft und Frieden, 3-2010, Dossier 65, S. 2-5.

Guttenberg, K.-T. zu (2010): Rede des Verteidigungsministers auf der Trauerfeier in Ingolstadt, 24.4.2010; bmvg.de

Kropp, V. (2018): Mit kirchlichem Segen in den Krieg? Die Militärseelsorge in der Bundeswehr. Ausdruck 3-2018, S. 13-22.

Overbeck, F.-J. (2018): „Ich bin nicht dazu da, Waffen zu segnen“ – Über die Seelsorge für Soldaten, soziale Brennpunkte und das Verhältnis von Staat und Kirche. General-Anzeiger/Bonn, 11.1.2018, S. 3.

Pax Christi/Impulsgruppe (2018): An den katholischen Militärbischof Herrn Dr. Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen – Offener Brief anlässlich des »Tages der Militärseelsorge« im Rahmen des 101. Deutschen Katholikentags vom 9. bis 13. Mai 2018 in Münster; ­militaerseelsorge-abschaffen.de.

Rink, S. (2018): „Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind keine Trockenübungen“ – Über schlechte Ausrüstung der Truppe und anspruchsvolle Soldatenseelsorge. General-­Anzeiger/Bonn, 20.11.2018, S. 26.

Röw, M. (2014): Militärseelsorge unter dem Hakenkreuz – Die katholische Feldpastoral 1939-1945. Paderborn: Schöningh.

Wakenhut, W. (2010): Ansprache von Militärgeneralvikar Walter Wakenhut aus Anlass der Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen Soldaten am 24.04.2010 in Ingolstadt; katholische-­militaerseelsorge.de.

Wink, W. (2014): Verwandlung der Mächte – Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Herausgegeben von Thomas Nauerth und Georg Steins. Regensburg: Pustet.

Prof. Dr. Albert Fuchs war Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie und psychologische Methodenlehre, ist u.a. Mitglied des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und bei Pax Christi engagiert.

Die Minga aus den Anden


Die Minga aus den Anden

Praktiken der Partizipation zur Gemeinschaftsbildung

von Kuymi Thayari Tambaco Díaz und Andrea Sempértegui

In diesem Artikel versuchen die Autorinnen, aus eigener Erfahrung und einer ethnographischen, historischen und theoretischen Perspektive1 am konkreten Beispiel der indigenen Kichwa aus Ecuador über die »Minga« als eine Praxis der ständigen Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung zu reflektieren.

Die Minga ist eine Form der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit, die Gemeinschaftsbeziehungen und territoriale Bindungen fördert und in vielen Orten Lateinamerikas praktiziert wird. Dieses »Gemeinschaft schaffen«, das die Minga charakterisiert, hat unserer Ansicht nach großes Potenzial, um den Begriff der »Partizipation« aus einer Perspektive neu zu denken, die über die sowohl in der liberalen als auch in der radikalen demokratischen Tradition vertretene Perspektive hinausgeht, in der Partizipation auf die formale Praxis der Einbeziehung von Individuen in Entscheidungsprozesse reduziert wird (Habermas 1975; Mouffe 2000). Innerhalb der Minga-Praxis hingegen ist es unmöglich, Partizipation außerhalb von Gemeinschaftsbeziehungen zu denken. Dies macht aus der Minga eine sehr interessante und relevante Alternative für politische Projekte, die darauf abzielen, jenseits des Staates nachhaltige Verbindungen für die Reproduktion des Gemeinsamen zu schaffen.

Im Folgenden wollen wir zunächst darstellen, wie die Minga-Praxis aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa in Ecuador verstanden wird. Anschließend wollen wir zeigen, wie sich diese Praxis in den letzten Jahren verändert hat. Damit wollen wir die Minga als eine lebendige Praxis veranschaulichen, die sich in einer ständigen Transformation befindet und ungeachtet ihres Potentials von kapitalistischen, patriarchalischen und kolonialen Machtlogiken durchdrungen ist. Zum Schluss wollen wir über die Rezeption dieser Praxis innerhalb zeitgenössischer indigener und nicht-indigener politischer Gruppen nachdenken, die die Minga als eine Praxis verstehen, die die Möglichkeit bietet, alternative politische Horizonte der Solidarität, der Demokratie und zum Aufbau von Gemeinschaft zu schaffen.

Die Minga aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa-Gemeinschaften Ecuadors

Die Minga wird in der Anthropologie zumeist entweder als ein System der kooperativen Arbeit in der Andenregion definiert oder als ein Mechanismus zur Unterordnung und Regulierung indigener Gemeinschaften, der sowohl von den Inkas als auch von den spanischen Kolonisatoren und den kreolischen Grundbesitzern genutzt wurde (Faas 2018). In diesem Artikel möchten wir jedoch über diese Praxis aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa-Gemeinschaften von Cotacachi, Cayambe und den Bobonaza- und Curaray-Flussgebieten reflektieren. Damit wollen wir die Funktion der Minga als Schöpferin und Fördererin von Gemeinschaftsbeziehungen und territorialen Bindungen betonen.

Im Gedächtnis der Bewohner*innen sowohl der ecuadorianischen Anden als auch des Amazonas waren Mingas immer im Gemeinschaftsleben präsent. Für eine Einwohnerin von Cotacachi bedeutet das Wort »Minga« in Kichwa „lasst uns zusammenarbeiten, lasst uns mit Emotion und Kraft arbeiten“ (Kichwa-Frau aus einer Gemeinschaft von Cotacachi, Quito, 16.2.2019). Für eine Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet ist die Minga eine „Angewohnheit vieler von uns, die Minga existiert seit der Geburt unserer Vorfahren, seit den »Rucus«2 […], als eine Form der gemeinschaftlichen Arbeit“ (Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet, Quito, 21.2.2019). Der Zweck dieser »gemeinsamen Arbeit« ist vielfältig. Es kann zum Beispiel dazu dienen, ein Haus, eine »Chakra«3 oder einen kommunalen Friedhof aufzubauen. In diesem Sinne muss man zwischen individuellen und kommunalen Mingas unterscheiden: Während erstere für den familiären Gebrauch von den Gastgeber*innen organisiert werden, werden letztere von den »Kurakas« und »Varayus«4 für den gemeinsamen Gebrauch organisiert. An dieser beteiligen sich alle Mitglieder der Gemeinschaft, manchmal sogar Jungen und Mädchen ab zehn Jahren.

Aus einer westlichen Sicht kann man die Minga wegen ihres Nutzens als eine Praxis zur Erleichterung des Familien- und Gemeinschaftslebens verstehen, insbesondere in ländlichen Kontexten oder wo der Staat nicht präsent ist und keine Grundversorgungen leistet. Aus der Sicht der Kichwa wird die Minga jedoch nicht nur zur Erzielung des Familien- oder Gemeinschaftsnutzens praktiziert, sondern ist eine Praxis in sich, die Beziehungen, Gemeinschaft und das Zusammenleben schafft. In diesem Sinne ist es wichtig zu erwähnen, dass die Gegenseitigkeit, die in der Minga-Praxis präsent ist, streng auf dem Kichwa-Gemeinschaftsgefühl und der Gemeinschaftspraxis basiert. Damit ist die Minga, insbesondere im Gebiet des Kichwa-Amazonas, an sich nicht »obligatorisch«, sondern wird als eine grundlegende Praxis des »Gemeinschaftslebens« verstanden (Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet, Quito, 21.2.2019).

Laut der Co-Autorin dieses Artikels, Kuymi Tambaco, spiegelt die Minga auch das Leben und die Verwurzelung in einem bestimmten Gebiet wieder: Da die Minga alle Menschen miteinbezieht, die in einem bestimmten Gebiet leben oder dort Land besitzen, erzeugt diese Praxis auch Verwurzelung und territoriale Positionierung. In anderen Worten: Durch ihre Teilnahme an kommunalen Mingas gewinnen die Einwohner*innen einer bestimmten Gemeinschaft ein Zugehörigkeitsgefühl. Im Fall der Kichwa-Einwohner*innen von Cotacachi erzeugt die Minga eine Verwurzelung und territoriale Positionierung ungeachtet der Unterschiede in Herkunft, Ethnizität, Alter oder Geschlecht.

Transformationen der Minga als lebendige Praxis

Ungeachtet der Relevanz der Minga für das Gemeinschaftsleben und für die territoriale Positionierung hat sich diese alltägliche Praxis im Laufe der Zeit stark verändert. Dies ist ein Zeichen dafür, dass keine Praxis statisch ist und außerhalb von dominanten Logiken der Macht, d.h. kapitalistischen, patriarchalischen und kolonialen Logiken, existieren kann, sondern unsere Körper und Territorien auch heute noch durchdringt.

Im ecuadorianischen Amazonasgebiet wird die Transformation der Minga vor allem am erhöhten Alkoholkonsum nach Abschluss der Gemeinschaftsarbeit wahrgenommen. Die Zunahme des Konsums alkoholischer Getränke, wie Bier oder »Puntas«,5 in Kichwa-Gemeinschaften, bedingt durch den größeren Verkehr von Menschen und Produkten aus den Städten, hat die traditionellen Sozialisierungspraktiken der Minga stark verändert. Wie eine Bewohnerin des Curaray-Flussgebiets uns mitgeteilt hat, lädt der Gastgeber oder die Gastgeberin der Minga nach Abschluss der Gemeinschaftsarbeit normalerweise zum Essen und zum Trinken der »Chicha«6 ein. Heutzutage jedoch „essen [die Teilnehmer*innen] und dann trinken sie Chicha und Alkohol bis zum nächsten Tag! Deswegen kommen wir nicht voran […] Das gefällt mir nicht. […] Wir sind mit der Arbeit um 12 Uhr am Tag fertig und dann sind wir bis 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 oder 8 Uhr [am Trinken], anstatt andere Dinge zu tun, nicht wahr?“ (Kichwa-Frau aus dem Curaray-Flussgebiet, Lorocachi, 10.11.2018)

Diese Kritik an der Zunahme des Alkoholkonsums während der Minga wird von den Bewohner*innen der ecuadorianischen Anden geteilt, insbesondere von den Frauen, die den höheren Alkoholkonsum mit dem Anstieg häuslicher Gewalt gegen Frauen verbinden. In der Provinz von Imbabura ist es üblich, dass alle Teilnehmer*innen der Minga, hauptsächlich Männer‚ »Cucabi«7 und alkoholische Getränke mitbringen. Laut einer Gemeinschaftsvertreterin betrinken sich einige Männer bereits während der Minga und arbeiten nicht gut: „Es wäre gut, wenn sie gut während der Mingas arbeiten und sich nicht betrinken würden. Dennoch ist meistens der Fall, dass einige nicht mal die Hälfte der Minga-Arbeit erreicht haben und schon betrunken sind.“ (Kichwa-Frau aus einer Gemeinschaft von Cotacachi, Cotacachi, 16.2.2019) Außerdem kommen vielen Männer am Tag der Minga nicht nach Hause, weil sie zum Trinken bleiben, und wenn sie nach Hause kommen, schlagen sie ihre Partner*innen.

Eine aktuelle Analyse zur indigenen Bevölkerung aus Pasto an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze zeigt, dass die Minga eine Vielfalt unterschiedlicher Menschen miteinbezieht (López 2018). Im Fall einer Gemeinschaft aus Cotacachi ist diese Vielfalt jedoch auch Quelle von Diskriminierung: Obwohl die Anwesenheit von Frauen und Jugendlichen in der Minga nicht völlig geleugnet wird, neigen vor allem erwachsene Männern dazu, den Frauen mit Verweis auf ihre geringere physische Leistungskraft von der Partizipation an der Minga abzuraten. Dies führt zu einer Aberkennung der Arbeit von Jugendlichen und Frauen. Während den Männern die Ganztagsarbeit anerkannt wird, wird die Ganztagsarbeit von Frauen und Jugendlichen als Halbtagsarbeit gewertet, obwohl sie die gleiche Anzahl von Stunden gearbeitet und die gleiche Tätigkeit ausgeübt haben (Feldforschungsnotizen über eine Gemeinschaftsversammlung, Cotacachi, 16.2.2019).

Im Fall der Sierra wurde die Minga außerdem weitgehend von der institutionalisierten Politik übernommen. Die Praxis wird also nicht mehr nur von den Gemeinschaftsbehörden praktiziert, sondern auch von den Bürgermeister*innen in Großstädten, wie Quito, genutzt, um ihre Entwicklungspolitik zu »vermarkten« (Chumpi 2002, S. 17). Diese institutionelle Vereinnahmung, die meistens von einer multikulturellen Interpretation indigener Praktiken ausgeht, ohne jedoch ihre tieferliegenden Bedeutungen zu respektieren, haben die Minga zweifellos transformiert. In ländlichen Gebieten hat beispielsweise die sichtbarere Präsenz des Staates die Praxis der Minga durchgedrungen und sie stärker von klientelistischen und monetären Logiken abhängig gemacht. Im Fall von Cayambe hat die Verfügbarkeit von Geld den gemeinschaftlichen Sinn dieser Praxis verdrängt und die Teilnahme von Einzelpersonen und Familien an der Minga reduziert. In Cotacachi hingegen haben der staatliche Bau von Straßen und Autobahnen und die Veränderungen beim Bau von Häusern, die heute aus Zement sind, die Minga als notwendige Praxis zur Erleichterung des Gemeinschaftslebens ersetzt beziehungsweise obsolet gemacht.

Vor diesem Hintergrund muss die Minga als eine dynamische, transformierende und rekonfigurierbare Praxis verstanden werden, die auch von der Globalisierung, dem Markt und dem Konsum durchgedrungen wird. In einer Gemeinschaft von Cotacachi schlugen daher einige, vor allem junge, Menschen vor, keine Mingas mehr zu organisieren, da diese Praxis einen Rückschritt bedeute und die Modernisierung und den Fortschritt bremse. Anstatt der Minga fordern sie, dass der Staat in den autonomen Kichwa-Gemeinschaften eine größere Präsenz zeigen sollte oder dass Geld gesammelt werden soll, um qualifizierte Arbeitskräfte für die Arbeiten einzustellen, die bislang durch Mingas und im Kollektiv durchgeführt wurden. Diese Szenarien, die das »Städtische« und die moderne »Entwicklung« als Ideal positionieren, sind Zeugnis der Verinnerlichung von Minderwertigkeitsgefühlen und von einem disqualifizierenden Denken gegenüber dem Ländlichen, dem Indigenen und den Kichwa-Praktiken der Vorfahren.

Die Minga als alternativer Horizont für das Verständnis von Partizipation

Das oben Beschriebene ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie sich die Minga innerhalb der Kichwa-Gemeinschaften verändert hat, sondern auch dafür, wie sie von der nicht-indigenen Welt übernommen wurde. Damit ist die Minga nicht mehr nur eine »Kichwa-­Praxis«. Diese Veränderung der Minga fand in einem Kontext statt, in dem die kulturellen Praktiken der indigenen Gemeinschaften in der Andenregion institutionalisiert wurden (Andolina et al. 2005, S. 136), was jedoch oft das politische Transformationspotenzial dieser Praktiken zunichte gemacht hat. Parallel zu diesem Prozess gibt es dennoch einige politische, sowohl indigene als nicht-indigene, Projekte, die versuchen, die Minga in ihrem gemeinschaftlichsten Sinne zu nutzen, um alternative Horizonte der Demokratie, Solidarität und Reproduktion des Gemeinsamen aufzuzeigen.

Ein Beispiel dafür ist, wie die ecuadorianische indigene Bewegung die Minga nutzt, um ihre Kritik am westlichen Konzept der Demokratie, wie es vom modernen Staat praktiziert wird, zu äußern. Sie kritisieren, dass die vom ecuadorianischen Staat geförderte Praxis der Demokratie keine effektive Partizipation der gesamten Bevölkerung ermöglicht, da dieses Demokratieverständnis immer noch von einem individualisierten und rassistischen Partizipationsverständnis »kolonisiert« ist (Chumpi 2002, S. 15). Dieses Verständnis erkennt nicht an, dass der einzige Weg, sich den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Gesellschaft zu stellen, nur darin bestehen kann, eine gemeinschaftliche Vision von Partizipation zu verfolgen. Dieses weitere und gemeinschaftliche Verständnis der Minga zielt nicht nur auf die Notwendigkeit ab, die Idee der Demokratie epistemisch zu transformieren, sondern appelliert an konkrete Praktiken der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit, die von den indigenen Gemeinschaften praktiziert werden, um ein System der sozialen Partizipation aufzubauen.

Die Minga wurde auch von urbanen politischen Gruppen adoptiert, die in dieser konkreten Praxis der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit eine reale gemeinschaftsbasierte Alternative zum Aufbau von Solidarität gefunden haben. In diesem Fall liegt das politische Potenzial der Minga darin, dass die Praxis nur dann Sinn macht, wenn sie mit dem »Ayllu«8 verbunden ist; d.h. wenn sie aus der Gemeinschaft entsteht und für sie praktiziert wird. Dies ist der Fall beim Antibergbau-Kollektiv »Minka Urbana« in Ecuador, das den Begriff der Minga übernommen hat, um zu unterstreichen, dass stärkere Solidaritätsbeziehungen zwischen den ländlichen und urbanen Gebieten aufgebaut werden müssen. Für dieses Kollektiv liegt der einzige Weg, Mega-Bergbauprojekte in Ecuador zu verhindern, darin, die Solidarität der Stadt mit dem Wunsch der ländlichen, bäuerlichen und indigenen Territorien, in Würde zu leben“ zu verbinden (Minka Urbana 2016).

Diese indigenen und nicht-indigenen Beispiele der Minga-Praxis laden uns dazu ein, über die Partizipation als eine kollektive Praxis neu nachzudenken. Die zugrundeliegende Rolle von Beziehungen und »Gemeinschaft schaffen« in der Minga zeigt uns, dass es keine politische Praxis der effektiven Partizipation geben kann, wenn man nicht auch ein aktiver Teil des Kollektivs ist. Auf diese Weise stellt die Praxis der Minga eine wirkliche dekoloniale Alternative zu üblichen Formen der hegemonial praktizierten Partizipation dar, die nach wie vor diejenigen Menschen und Bevölkerungsgruppen, die historisch als »Andere« konstituiert wurden, von politischen Entscheidungsprozessen und Institutionen ausschließt.

Anmerkungen

1) Für den vorliegenden Artikel haben wir historische und theoretische Forschung zur Minga mit unseren Erfahrungen und ethnographischen Erkenntnissen kombiniert. Die Co-Autorin Kuymi Tambaco, die aus einer Kichwa-Gemeinschaft in Cotacachi stammt, nahm aktiv an der Praxis der Minga und einem alltäglichen Austausch mit ihrer Gemeinschaft teil. Beide Autorinnen reflektieren über diese Praxis aus ihren unterschiedlichen ethnographischen Forschungsprojekten: Kuymi Tambaco führte ethnographische Forschung in Cayambe und Cotacachi durch, Andrea Sempértegui in den Kichwa-Amazonasgebieten an den Flüssen Bobonaza und Curaray.

2) »Rucu« ist ein Kichwa-Begriff, der alt oder uralt bedeutet. Der Begriff »Rucus« wird heute in Kichwa und Spanisch verwendet und bezieht sich auf sehr alte Menschen.

3) »Chakra« ist ein Kichwa-Begriff und bezeichnet eine landwirtschaftliche Anbaufläche.

4) »Kurakas« und »Varayus« sind Autoritätspersonen in Kichwa-Gemeinschaften.

5) »Puntas« ist ein Zuckerrohrschnaps.

6) »Chicha« ist ein Maniokbier.

7) »Cucabi« ist ein Kichwa-Wort für Essen, das von der indigenen Bevölkerung der Provinz Imbabura verwendet wird. Der Cucabi ist jedoch nicht irgendein Lebensmittel, sondern ein Lebensmittel, das aus verschiedenen Andenkörnern und Kohlenhydraten besteht. Jede Person, die zur Minga geht, bringt eigenen Cucabi mit und teilt ihn mit den anderen, wenn die Gemeinschaftsarbeit fertig ist (Lema 2007).

8) »Ayllu« ist ein Kichwa-Begriff für Gemeinschaft und Familie.

Literatur

Andolina, R.; Radcliffe, S.; Laurie, N. (2005): Gobernabilidad e Identidad: Indigenidades Transnacionales en Bolivia. In: Dávalos, P. (Hrsg.): Pueblos Indígenas, Estado y Democracia. Buenos Aires: CLACSO, S. 133-170.

Chumpi, M. (2002): Reflexiones Iniciales sobre la Participación Democrática Ciudadana en los Acontecimientos de Enero de 2002 – Encrucijadas y Ambigüedades. In: La Minga de la Democracia Indígena. Instituto para el Desarrollo Social y de las Investigaciones Científicas (INDESIC), YamaiPacha Especial, S. 13-21.

Faas, A.J. (2017). Reciprocity and Vernacular ­Statecraft – Andean Cooperation in Post-disas­ter Highland Ecuador. The Journal of Latin American and Caribbean Anthropology, Vol. 22, Nr. 3, S. 495-513.

Habermas, J. (1975): Legitimation Crisis. Boston: Beacon Press.

Lema, S. (2007): Tumarina y el Maíz. Quito: Universidad San Francisco de Quito.

Lopez Cortes, O. (2018): Significados y representaciones de la minga para el pueblo indígena Pastos de Colombia. Psicoperspectivas, Vol. 17, Nr. 3, S. 1-13.

Minka Urbana (2016): Únete a la Minka Urbana por Territorios Libres de Minería; facebook.com/MinkaUrbana.

Mouffe, C. (2000): On the Political. New York: Routledge.

Kuymi Thayari Tambaco Díaz (M.A. in Lokaler und Territorialer Entwicklung, FLACSO), indigene Kichwa-Frau aus Cotacachi, Ecuador, studiert zurzeit Geschlechter- und Entwicklungsstudien (Master) an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) in Quito. Kuymi, indigene feministische Aktivistin und Mutter eines jugendlichen Sohnes, ist außerdem Dozentin für Kichwa-Sprache an der San Francisco University in Quito und an der Nationalen Bildungsuniversität. Ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf Geschlecht, Klasse, Ethnizität, indigene Jugendliche und Territorium.
Andrea Sempértegui (M.A. Politische Theorie an der J.W. Goethe Universität in Frankfurt a.M.), Mestiza-Frau aus Ecuador, lebt seit 2009 in Deutschland. Zur Zeit ist sie Doktorandin und Lehrbeauftragte am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-­Liebig-Universität Gießen. Sie ist Mitglied des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) und des Forschungsnetzwerks »Queer Studies, Decolonial Feminisms and Cultural Transformations«. Ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf territoriale Kämpfe, Extraktivismus und populäre feministische Bewegungen in Lateinamerika.

Bewegte Forschung


Bewegte Forschung

Protest zwischen Wissenschaft und Politik

von Janina Rott und Max Schulte

Vom Protest der französischen Gelbwesten über die Besetzung zentraler Plätze im Arabischen Frühling oder bei Occupy bis zum Protest gegen Windkraftanlagen, von Demonstrationen gegen AfD-Veranstaltungen bis zu PEGIDA und dem Protest gegen Flüchtlingsunterkünfte – überall zeigt sich Protest. Die Autor*innen untersuchen Phänomene des Protests und der Protestakteure aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Dabei skizzieren sie zugleich, welches gesellschaftsverändernde, progressive Potential sowohl die Protestbewegungen wie die Bewegungsforschung in sich bergen.

Die Anerkennung von Protest als politisches Handlungsinstrument ist Teil eines längeren Rationalisierungs- und Normalisierungsprozesses (Neidhardt und Rucht 1993). So war es Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, Protest als irrationales Massenphänomen zu charakterisieren (exemplarisch Le Bon 1982): Die Masse sei verführbar und der*die Einzelne verliere in der Masse das Urteilsvermögen. Noch in den 1970er Jahren zählte man Protest zu den unkonventionellen Formen politischer Partizipation (Hoecker 2006, S. 10), zum Teil verbunden mit der Behauptung, es handele sich dabei um weniger legitime Handlungsformen. Am Ende dieses Normalisierungsprozesses wird die Legitimität nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt.

Interessant ist, dass der Begriff des Protests unscharf und wenig konzeptualisiert erscheint. Oft begnügt man sich – wie in der Einleitung zu diesem Artikel – mit Aufzählungen von Protestereignissen und -formen. Die große Bandbreite von Protestformen, -akteuren und -inhalten macht eine gemeinsame Einordnung schwierig, sowohl deskriptiv (welche Phänomene gehören dazu?) als auch normativ (welche Proteste sind legitim?). So treten derartige Fragen beispielsweise bei Protestereignissen, wie dem G20-Gipfel in Hamburg, deutlich zu Tage. Gründe genug, sich dem Phänomen des Protests und der ihn tragenden Akteure eingehender zu widmen. Wir tun dies mit dem Ziel vor Augen, am Ende nicht nur die wissenschaftliche Perspektive auf Protest deutlich gemacht zu haben, sondern das Ineinandergreifen von Wissenschaft und emanzipativem Potential zu skizzieren.

Protest und soziale Bewegungen

Eine grundlegende Definition von Protest verweist auf „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“ (Rucht 2003, S. 23). Zwei Fragen stellen sich im Anschluss: Was unterscheidet Protest mit dieser Definition und mit Blick auf die Phänomene, die wir oben benannt haben, von anderen Formen politischer Partizipation? Und wer sind die nicht-staatlichen Träger?

Wenn wir die Dimensionen politischer Partizipation betrachten (z.B. bei Hoecker 2006, S. 11), dann deckt Protest ein weites Spektrum unverfasster Partizipation ab. Gerade die große Bandbreite unterschiedlicher Aktions- und Organisationsformen zeichnet Protest aus. Die Aktionsformen können auf einem Kontinuum zwischen legal und illegal, zwischen gewaltlos und gewaltsam angesiedelt sein. Der individuelle Einstieg in den Protest ist niedrigschwellig, gleichzeitig aber oft mit hohem – auch körperlichem – Einsatz verbunden. Somit ist Protest in sehr unterschiedlicher Intensität möglich, von der genehmigten Mahnwache bis hin zur Blockade eines Castor-Transports.

Zu den maßgeblichen gesellschaftlichen Protestakteuren gehören die sozialen Bewegungen. Nicht weil sie die einzigen sind, die protestieren, sondern weil für sie Protest die „prägende Bewegungspraxis“ (Roth und Rucht 2008, S. 13) ist. Als »soziale Bewegung« verstehen wir das kollektive soziale Handeln für das gemeinsames Ziel, relevante Strukturen der Gesellschaft bzw. des Staates zu verändern oder zu verteidigen. Dabei muss eine Bewegung keineswegs auf einen Umbruch des gesamten Systems hinarbeiten, stattdessen können auch nur einzelne Elemente betroffen sein.

Um diese Ziele zu erreichen, weisen soziale Bewegungen eine gewisse Dauerhaftigkeit und Kontinuität auf. Sie sind daher permanent darum bemüht, weitere Menschen für die Bewegung zu mobilisieren und auch die bisherigen Mitglieder immer wieder zum aktiven Handeln zu motivieren. Sie müssen, wie es der Begriff schon sagt, ständig »in Bewegung bleiben«. Typisch dafür ist auch das Erzeugen eines starken Wir-Gefühls mittels (politischer) Symbolik, Mode, Umgangsformen, Sprache, Habitus etc. Aber wer engagiert sich in sozialen Bewegungen? Es sind nicht immer die, denen es am schlechtesten geht, die von außen gesehen am meisten Anlass zum Protest haben. Gerade wenn es um Proteste geht, die sich jenseits der sozialen Frage auf postmaterialistische Werte gründen, dann ist Protest oft ein Mittelschichtphänomen (Hellmann 1995, S. 144 ff.).

Des Weiteren zeichnen sich soziale Bewegungen durch eine geringe Rollenspezifikation aus, d.h. es gibt kaum festgeschriebene Rollen und somit auch keine feste Organisation. Auch wenn die verschiedenen Bewegungen durchaus einen unterschiedlichen Organisationsgrad aufweisen, ist dieser im Gegensatz zu formellen Organisationen (z.B. Vereine, Parteien) weitaus instabiler und unverbindlicher. Stattdessen gibt es in sozialen Bewegungen eine Vielfalt an Tendenzen, Organisationen und Aktionsansätzen (vgl. Beyer und Schnabel 2017, S. 13 ff.; Raschke 1991, S. 31 ff.).

Zusammenfassend lassen sich soziale Bewegungen somit als „Phänomene sozialen Handelns [definieren], bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen“ (Beyer und Schnabel 2017, S. 16).

Diese wissenschaftliche Definition grenzt sich sowohl von einem negativen Begriff von sozialen Bewegungen als irrationaler Masse (siehe Le Bon) als auch von einem emphatischen Bewegungsbegriff, der soziale Bewegungen als historische Akteure konzeptioniert, ab. Das öffnet den Blick auch für solche soziale Bewegungen, die nicht den klassischen Beispielen der Neuen Sozialen Bewegungen entsprechen, sondern z.B. einen autoritären Impetus haben.

Mit diesem Bild der Protestakteure und der großen Bedeutung, die der Mobilisierung zugeschrieben wird, stellt sich anschließend die Frage, wie diese Mobilisierung erklärt werden kann.

Antworten der Bewegungsforschung

Wenn wir von schlichten Ansätzen der Massenpsychologie oder der direkten Verbindung von Unzufriedenheit und Protest absehen, haben sich in der Bewegungsforschung in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Erklärungen für die Mobilisierungskraft sozialer Bewegungen herausgebildet.1

Eine ökonomisch geprägte Antwort auf die Frage der Mobilisierung ist – in starker Abgrenzung zur Massenpsychologie – der Ressourcenmobilisierungsansatz (McCarthy und Zald 1977). Hier wird, einfach formuliert, ein Bedingungsverhältnis zwischen den Ressourcen von Bewegungsorganisationen und ihrem Mobilisierungserfolg formuliert. Kurz gesagt: Mehr Ressourcen führen zu größerem Erfolg von Bewegungen. Erst der Zugang zu Ressourcen ermöglicht die Umwandlung von Unzufriedenheit in Mobilisierung. Die deutlichen Anleihen bei ökonomischen Begriffen und der Fokus auf Organisationen haben Kritik am Ressourcenmobilisierungsansatz hervorgerufen, weil wichtige Aspekte, wie die Umwelt der Bewegungen, die konkreten protestierenden Individuen und weniger strukturierte Protestphänomene, nur verkürzt einbezogen werden (Beyer und Schnabel 2017, S. 73 f). Trotz aller Kritik öffnet dieser Ansatz aber den Blick für die Rolle von Organisationen und für soziale Bewegungen als rational handelnde, strategische Akteure.

Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde von unterschiedlichen Wissenschaftler*innen der »Political Opportunity Structures«-Ansatz (della Porta 2013) geprägt, der im Gegensatz zur Theorie der Ressourcenmobilisierung die Rolle der Strukturen betont. Die Vertreter*innen des Ansatzes gehen davon aus, dass die Konfiguration des politischen Systems Protest entweder erschwert oder begünstigt. Dabei ist interessant, dass nicht nur die repressive Haltung eines Staates hemmend auf Protest wirken kann, sondern auch eine große Offenheit der politischen Institutionen. Warum protestieren, wenn die Interessen bereits durch etablierte politische Akteure aufgegriffen werden? Der Effekt struktureller Bedingungen darf dabei aber nicht als determinierend verstanden werden, sondern eben als Gelegenheitsbedingungen, die von sozialen Bewegungen wahrgenommen und genutzt werden müssen. Kritisiert wird an diesem Ansatz, dass hier tendenziell ein kausaler Zusammenhang zwischen Bedingungen und Protest formuliert wird, der sich empirisch nicht zeigen lässt.

Eine dritte Antwort ist Ergebnis eines »cultural turn«, der auch die Bewegungsforschung beeinflusst hat. Hier werden weniger Strukturen oder Ressourcen als vielmehr die kulturelle Bedeutungsarbeit sozialer Bewegungen in den Blick genommen. Mit Rückgriff auf Goffman (1977) formulieren als erste Snow et al. (1986) die Idee, dass der Erfolg sozialer Bewegungen maßgeblich von der strategischen Prägung von Themen und Begriffen (Framing) abhängig ist. Über dieses Framing gelingt es Bewegungen – oder auch nicht –, die Öffentlichkeit und andere Akteure zu mobilisieren. Die Perspektive des Framing öffnet damit den Blick für die besondere Bedeutung medialer Vermittlungsprozesse für soziale Bewegungen. Problematisch ist, dass sich der Framing-Ansatz stark auf Bewegungseliten, denen das strategische Framing zugeschrieben wird, konzentriert und weniger strategisch handelnde Akteure ausblendet (Beyer und Schnabel 2017, S. 186 ff.).

Wie so oft kann keiner der skizzierten Ansätze die Mobilisierung sozialer Bewegungen ganz erklären. Diese Feststellung hat in den letzten Jahrzehnten zu Weiterentwicklungen und Synthesen geführt.

Spannungsfelder der Bewegungsforschung

Neben die theoretischen Erklärungsversuche für das Handeln sozialer Bewegungen tritt eine umfangreiche empirische Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld. Dabei steht die Praxis der Protestforschung angesichts ihres Gegenstands vor methodischen und normativen Spannungsfeldern. Wir gehen davon aus, dass diese von Forschenden der Friedensforschung wiedererkannt werden.

Forschungshindernisse

Aus der Praxis sozialer Bewegungen ergeben sich oft Hindernisse für konkrete Forschungen. Manches Protesthandeln findet versteckt statt, manche Bewegung möchte nicht (kritisch bzw. wissenschaftlich) beobachtet werden, z.T. schlägt Forscher*innen Feindseligkeit entgegen (z.B. PEGIDA). Auch die Auftraggeber*innen können zur Skepsis gegenüber Protestforschung beitragen, wenn z.B. der Verfassungsschutz antifaschistische Bewegungen oder ein Innenministerium Fußball-Ultras untersuchen lässt (vgl. Teune und Ullrich 2018).

„Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“

Die Protestforschung ist, wie im Zitat (Bratanovic 2017) angedeutet, durch eine häufig anzutreffende Affinität der Forscher*innen mit dem Gegenstand geprägt. Viele Forscher*innen verstehen sich selber als Teil von Bewegungen oder grenzen sich – im Fall rechtsextremer Bewegungen – explizit von diesen ab. Dies geht oft über die auch in anderen Disziplinen übliche normative Positionierung der Forschenden hinaus. Die Klärung der Positionierung zwischen Nähe und Distanz zum Gegenstand bedarf daher einer erhöhten Reflexion (Rucht 2014, S. 87 f.), wenn dieses Spannungsfeld produktiv ausgehalten und genutzt werden soll. Die Auseinandersetzungen mit Bewegungen wie PEGIDA oder G20 sind Beispiele dafür, dass Protestforschung immer auch Teil einer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist, in der sich die Forscher*innen positionieren müssen.

Grenzen des legitimen Protests

Aus politischer und wissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage nach Grenzen des Protests. Wann wird Protest nicht mehr als legitim erachtet und als Konsequenz daraus mit öffentlicher Ächtung und staatlicher Repression konfrontiert? Ist ziviler Ungehorsam eine legitime Form des Protests? Es ist wichtig festzuhalten, dass es auf diese Frage keine objektive Antwort gibt, sondern die Frage der Legitimität gesellschaftlich und wissenschaftlich umkämpft ist.

Wozu Protestforschung?

Die Bewegungsforschung zieht ihre Legitimation einerseits aus der wissenschaftlichen Praxis der Ergebnisproduktion. Andererseits versuchen Forschende aber als Konsequenz der eigenen Positionierung auch, bewegungsrelevantes Wissen zu produzieren. Das kann zu einem Konflikt mit dem eigenen Wissenschaftsverständnis führen. Stelle ich meine Nähe zur Bewegung über die Standards wissenschaftlicher Arbeit? Kann ich beide Interessen miteinander in Einklang bringen?

Emanzipatorisches Potential

Für uns steht am Ende dieses kurzen Streifzugs durch Protest und Protestforschung die Frage nach dem gesellschaftsverändernden, progressiven Potential von Bewegungen, aber auch der Bewegungsforschung. Wir sind als Forscher*innen und als Protestierende nicht nur an der Wissensproduktion interessiert, sondern verfolgen auch politische und gesellschaftliche Ziele. Wir gehen davon aus, dass gerade aus den Spannungsfeldern, in denen soziale Bewegungen und Protestforschung stecken, ein emanzipatorisches Potential erwächst, das wir hier andeuten.

Forschung

Die Forschung zu sozialen Bewegungen und Protest hat das Potential, sowohl für die einzelnen Forscher*innen als auch für Bewegungen gewinnbringend zu sein. Die intensive Auseinandersetzung mit Protestierenden, ihren Lebenswelten und politischen Forderungen ermöglicht Forscher*innen neue Zugänge zur eigenen politischen Partizipation und verweist darauf, das Forscher*innen keine objektiven Beobachter*innen sind. Gleichzeitig kann die Forschung zu Protest auch für soziale Bewegungen hilfreich sein. Das Wissen, das über Bewegungen generiert wird, kann für diese einen praktischen Mehrwert haben. So können erforschte Probleme in Zukunft von Bewegungen verbessert und Strategien entwickelt werden. Eine partizipative und aktionsorientierte Forschung ermöglicht die im besten Fall gemeinsame Theorieentwicklung von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen.

Bewegungen

Ohne soziale Bewegungen als historischen Fortschrittsakteur zu verklären, sind sie und ihr Protest doch zentral für die Forderung nach einer besseren Welt. Protest hat einen Mehrwert, der in demokratischen ebenso wie in autokratischen politischen Systemen von großer Relevanz ist. So unterscheidet sich Protest, wie sich gezeigt hat, in seiner Form wesentlich von anderen Formen der Partizipation. Protest ermöglicht es, in Form von spontanem und nicht-institutionellem Handeln gesellschaftlich relevante Themenschwerpunkte zu setzen und den Diskurs zu verändern. Gleichzeitig wird dabei öffentlicher Druck ausgeübt, der die Legitimation staatlichen Handelns in Frage und somit auch auf den Prüfstand stellt, was wesentlich für die Legitimierung demokratischer Systeme ist. Gleichzeitig darf das damit einhergehende Risiko nicht übersehen werden. Protestakteure, die für autoritäre politische Forderungen eintreten, hat es immer gegeben und gibt es auch heute. Wir gehen daher davon aus, dass nicht alle sozialen Bewegungen ein emanzipatorisches Potential haben, es aber ohne soziale Bewegungen keine Emanzipation geben wird.

Anmerkungen

1) Unser Ziel ist hier vor allem eine Darstellung der grundlegenden Ideen und weniger eine Abbildung der Komplexität von Protestforschung. Ein Überblick findet sich z.B. bei Beyer und Schnabel 2017; Buechler 2011.

Literatur

Beyer, H.; Schnabel, A. (2017): Theorien sozialer Bewegungen – eine Einführung. Frankfurt/New York: Campus.

Bratanovic, D. (2017): „Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“ – Gespräch mit Peter Ullrich. Über die Widrigkeiten im Wissenschaftsbetrieb und die Gefahren der Vereinnahmung der eigenen Forschungen durch den Staat. junge Welt, 5.8.2017.

Buechler, S. M. (2011): Understanding social movements – theories from the classical era to the present. Boulder: Paradigm.

della Porta, D.(2013): Political opportunity/pol­itical opportunity structure. In: Snow, D.A. et al. (ed.): The Wiley-Blackwell encyclopedia of social and political movements. Wiley-Blackwell encyclopedias in social science, MA: Wiley, S. 956-961.

Goffmann, E. (1977): Rahmen-Analyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hellmann, K. (1995): Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Hoecker, B. (2006): Politische Partizipation – systematische Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – eine studienorientierte Einführung. Opladen: Barbara Budrich, S. 3-20.

Le Bon, G. (1982): Psychologie der Massen. Stuttgart: Kröner.

McCarthy, J.D.; Zald, M.N. (1977): Resource mobilization and social movements – A partial theory. American Journal of Sociology, Vol. 82, Nr. 6, S. 1212-1241.

Neidhardt, F.; Rucht, D. (1993): Auf dem Weg in die »Bewegungsgesellschaft«? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen. Soziale Welt, Vol. 44, Nr. 3, S. 305-326.

Raschke, J. (1991): Zum Begriff der sozialen Bewegung. In: Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 31-39.

Roth, R.; Rucht, D. (2008): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York: Campus, S. 9-36.

Rucht, D. (2003): Bürgerschaftliches Engagement in sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen. In: Enquete Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 17-155.

Rucht, D. (2014): Zum Stand der Forschung zu sozialen Bewegungen. In: Mittag, J.; Stadtland, H. (Hrsg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft. Essen: Klartext, S. 67-86.

Snow, D.A. et al. (1986): Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation. American Sociological Review, Vol. 51, Nr. 4, S. 464-481.

Teune, S.; Ullrich, P. (2018): Protestforschung mit politischem Auftrag? Forschungsjournal soziale Bewegungen. Vol. 31, Nr. 1-2, S. 418-424.

Janina Rott und Max Schulte arbeiten an der Universität Münster und beschäftigen sich u.a. mit sozialen Bewegungen.