Dual-Use in der IT


Dual-Use in der IT

Bewertung in der Softwareentwicklung

von Thea Riebe und Christian Reuter

Der Einsatz von Informationstechnologie (IT) im Frieden ebenso wie in Konflikten und für Sicherheitszwecke wirft einige Fragen auf (Reuter 2019), u.a. ob die Nutzung von IT auf so genannte förderliche Zwecke und Anwendungen begrenzt und eine schädliche Nutzung verhindert werden kann (Riebe und Reuter 2019). Diese Ambivalenz wird als Dual-use-Dilemma bezeichnet und bedeutet, dass Gegenstände, Wissen und Technologie sowohl nützliche als auch schädliche Anwendung finden können. Dual-use-Fragen stellen sich in ganz unterschiedlichen technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere in der Nukleartechnologie sowie in der Chemie und Biologie. Dabei unterscheidet sich die Bedeutung von Dual-use je nach Technologie, ihren spezifischen Risiken und Szenarien sowie ihrer Distribution und Anwendung. Konkret bedeutet dies: Sicherheitspolitische Risikoszenarien und Anwender der Nukleartechnologie unterscheiden sich erheblich von denen der IT.

Im Jahr 2016 erkannten die NATO-Staaten den Cyberspace als militärische Domäne an, um so Cyberoperationen als Angriffe bewerten und im Cyberraum selbst aktiv werden zu können (NATO 2016). Weltweit werden Streitkräfte für den Cyberspace ausgebaut, gleichzeitig nimmt der Einsatz von IT in allen Lebensbereichen zu. Es stellt sich dadurch mehr denn je die Frage nach der Bewertung von Forschung und Entwicklung in der Informatik hinsichtlich potenzieller militärischer Nutzungsbereiche von Software, die ursprünglich für den zivilen Einsatz entwickelt wurde. In der Nuklearphysik, der Biologie und der Chemie wurden die Dual-use-Risiken bereits intensiv untersucht (Altmann et al. 2017; Liebert et al. 2009; Tucker 2012). Diese Studien trugen dazu bei, für einzelne Technologien Verfahren zur Bewertung und Kontrolle eben dieser Risiken hervorzubringen, und lieferten die Grundlage für den Begriff »Dual Use Research of Concern« (DURC). Dieser Begriff bezeichnet Forschungsprojekte, (neue) Technologien oder Informationen, denen das Potential für förderliche und schädliche Anwendung innewohnt und die besonders verheerende Auswirkungen haben können (Oltmann 2015). Die Frage ist daher, ob auch in der Informatik ein »IT Research and Development of Concern« definiert werden kann, das heißt, ob solche besonders riskanten Technologien durch eine kontextbasierte Dual-use-Folgenabschätzung identifiziert werden können, die – ähnlich wie in den Naturwissenschaften – dazu beiträgt, das Potential für eine schädliche Verwendung bereits während der Softwareentwicklung zu verringern.

Die Herausforderung besteht darin, dass das jeweilige Dual-use-Risiko vom Stand und Prozess der Forschung und Entwicklung der jeweiligen Arbeit abhängt und die Technologie gleichzeitig inhärent ambivalent bleibt. Besonders Software zeichnet sich durch ihre vielfältigen Einsatz- und Anpassungsmöglichkeiten in förderlichen und schädlichen Kontexten aus und unterscheidet sich durch ihre mittelbare Wirkung wesentlich von unmittelbar schädlichen ABC-Waffen (Carr 2013; Lin 2016, S. 119). Um trotzdem Bewertungen und darauf aufbauend Designentscheidungen zu treffen, die das Dual-use-Risiko berücksichtigen, braucht es Einzelfallstudien, die sehr kontext- und technologiespezifisch sein müssen. Solche Fallstudien evaluieren nicht nur eine einzelne Technologie, sondern tragen auch insgesamt zur Entwicklung formeller und informeller Methoden der Dual-use-Gov­ernance (Tucker 2012, S. 30-39) und zum Wandel der sozio-technischen Sicherheitskultur bei.

Forschungsstand

Der Begriff »Dual-use« wird vielfältig und divergierend angewendet und definiert, da er sich sowohl auf die Forschung und das Wissen als auch auf Technologien und einzelne Gegenstände beziehen kann (Forge 2010; Harris 2016). Eine frühe Abschätzung der Folgen oder Verwendungsmöglichkeiten der eigenen Forschung und Entwicklung ist besonders dann schwierig, wenn Design­entscheidungen mit geringem Aufwand möglich wären (Collingridge 1980). Dabei gibt es unterschiedliche Methoden zur Dual-use-Bewertung, die sich an der Technikfolgenabschätzung orientieren (Grunwald 2002; Liebert 2011). Die Methoden sind szenarienbasiert und anwendungsorientiert und müssen daher immer in das konkrete Forschungs- oder Entwicklungsvorhaben integriert werden, um fallbasiert das jeweils pessimistischere Szenario durch Designanpassungen ausschließen zu können (von Schomberg 2006).

Für die Softwareentwicklung1 stellt sich gerade vor dem Hintergrund der Versicherheitlichung des Cyberspace (Hansen und Nissenbaum 2009), dem militärischem Bestreben nach umfassender Aufklärung (Müller und Schörnig 2006) und der zunehmenden Investition in die strategisch-offensive Erschließung (Reinhold 2016) die Frage, auf welche Weise Entwickler Missbrauchsrisiken ihrer Forschung und Entwicklung abschätzen können.

Die Dual-use-Debatte in der Informatik wurde bisher vor allem zur Kryptographie (Vella 2017) und zur Proliferation von Spionagesoftware geführt und 2013 sowie 2016 durch Ergänzungen des Wassenaar-Abkommens2 berücksichtigt (Herr 2016). Auch der Dual-use von Software wurde immer wieder als Teil der waffentechnischen Modernisierung problematisiert (Bernhardt und Ruhmann 2017; Reuter und Kaufhold 2018b), dennoch fehlen entsprechende empirische Fallstudien (Leng 2013; Lin 2016). Einerseits ist die moderne Softwareentwicklung durch agile und iterative Vorgehensmodelle, wie Extreme Programming und Scrum, gekennzeichnet, in denen Entwickler und Manager flexibel auf die Änderungen von (Kunden-) Anforderungen reagieren können (Dingsøyr et al. 2012). Es ist daher naheliegend, dass Dual-use-Potenziale nicht nur in der Planungsphase von Softwareprojekten, sondern prozessbegleitend überprüft werden müssen. Andererseits stellt die Flexibilität in der Verwendung von Software in unterschiedlichen Anwendungskontexten die Dual-use-Folgenabschätzung vor eine spezielle Herausforderung und führt dazu, dass diese grundsätzlich anders erfolgen muss als in den Naturwissenschaften (Lin 2016, S. 119). Dabei geht es sowohl darum, Risiken durch nicht-staatliche Akteure zu minimieren, als auch darum, die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung von Schadsoftware oder von Missverständnissen zwischen Staaten zu antizipieren.

Neben der unternehmerischen Analyse von Einflussnehmern und Stimmungsbildern spielen auch Systeme der Social-media-Analyse eine zunehmend wichtige Rolle: Einerseits ermöglichen sie die Identifikation von Einsatzlagen in sozialen Konflikten oder Krisen (Reuter und Kaufhold 2018a; Reuter et al. 2017), gleichzeitig eröffnen sie aber auch ein besonderes Missbrauchspotential im Kontext der Cyberspionage (Neuneck 2017) oder der (politischen) Verfolgung. Deshalb stellt sich die Frage, wie potenzielle Dual-use-Komponenten und -Indikatoren bereits in der Forschung und Entwicklung von Software identifiziert werden können.

Ausblick

Um diese Frage zu beantworten, müssen auf Basis bestehender Ansätze zur Identifikation von Dual-use relevante Indikatoren für eine besonders sicherheitskritische Datenverarbeitung und IT identifiziert und die Gemeinsamkeiten systematisiert werden. Zur Proliferationskontrolle von Spionagesoftware wurden im Wassenaar-Abkommen erste Schritte unternommen, die sich weniger an die konkrete »Intrusion-Software« als an die sie unterstützende Infrastruktur richten (Dullien et al. 2015; Herr 2016). Allerdings wird die Effektivität dieser nicht-bindenden Maßnahmen bezweifelt (Herr 2016; Vella 2017) bzw. sie werden sogar als möglicherweise kontraproduktiv kritisiert (Dullien 2015). Dies zeigt einerseits die Herausforderungen, die sich angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Prozesse für die effektive Kontrolle von Dual-use-Risiken ergeben. Andererseits tun sich mit der Identifikation von Indikatoren für »Dual Use IT of Concern« und der daran anschließenden Dual-use-Governance von der Forschung zur anwendungsorientierten Entwicklung auch Möglichkeiten zur Verringerung von und zum Umgang mit solchen Risiken auf.

Fazit und Zusammenfassung

  • Dual-use sind Forschungsprojekte, (neue) Technologien oder Informationen, denen das Potential für förderliche und schädliche Anwendung innewohnt und die besonders verheerende Auswirkungen haben können (Oltmann 2015).
  • Dual-use-Risiken sind früh im Forschungsprozess, solange Anpassungen relativ leicht vorzunehmen sind, schwer feststellbar, während sie in der anwendungsorientierten Forschung, wenn sie leichter feststellbar sind, aufwendiger zu vermeiden sind (Collingridge-Dilemma).
  • Dual-use-Risiken können Rüstungsdynamiken und die Stabilität der internationalen Gemeinschaft negativ beeinflussen.
  • Um Dual-use-Risiken zu bewerten, gibt es verschiedene Ansätze der Technikfolgenabschätzung. Diese untersuchen die möglichen Effekte von Technologien auf die Gesellschaft, unter Berücksichtigung von Normen, wie dem Vorsorgeprinzip oder Pazifismus.
  • Dual-use in der Informatik beinhaltet zahlreiche hier dargestellte Forschungsfragen, die wir aktuell in der Forschung adressieren.

Anmerkungen

1) Softwareentwicklung ist die „zielorientierte Bereitstellung und systematische Verwendung von Prinzipien, Methoden und Werkzeugen für die arbeitsteilige, ingenieurmäßige Entwicklung und Anwendung von umfangreichen Softwaresystemen“ (Balzert 2000).

2) Dem Wassenaar-Abkommen für die Exportkontrolle konventioneller Rüstungsgüter und Güter mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-use Güter) sowie darauf bezogene Technologien gehören 41 Staaten an. Es ist am 1. November 1996 in Kraft getreten.

Literatur

Altmann, J.; Bernhardt, U.; Nixdorff, K.; Ruhmann, I.; Wöhrle, D. (Hrsg). (2017): Naturwissenschaft – Rüstung – Frieden. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Balzert, H. (2000): Lehrbuch der Software-Technik – Software-Entwicklung. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

Bernhardt, U.; Ruhmann, I. (2017): Informatik. In: Altmann et al. (Hrsg.): Naturwissenschaft – Rüstung – Frieden (pp. 337-448). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Carr, J. (2013): The misunderstood acronym – Why cyber weapons aren’t WMD. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 69, Nr. 5, S. 32-37.

Collingridge, D. (1980): The social control of technology. New York: St. Martins Press.

Dingsøyr, T.; Nerur, S.; Balijepally, V.; Moe, N. B. (2012). A decade of agile methodologies – Towards explaining agile software development. Journal of Systems and Software, Vol. 85, Nr. 6, S. 1213-1221.

Dullien, T. (2015): Why changes to Wassenaar make oppression and surveillance easier, not harder. Blog ADD / XOR / ROL, 2.10.2018; addxorrol.blogspot.com.

Dullien, T.; Iozzo, V.; Tam, M. (2015): Surveil­lance, Software, Security, and Export Controls – Reflections and recommendations for the Wassenaar Arrangement Licensing and Enforcement Officers Meeting. Draft Report, 2.10.2015; tac.bis.doc.gov.

Forge, J. (2010): A note on the definition of »dual use«. Science and Engineering Ethics, Vol. 16, Nr. 1, S. 111-118.

Grunwald, A. (2002): Technikfolgenabschätzung – Eine Einführung. Berlin: Edition Sigma.

Hansen, L.; Nissenbaum, H. (2009): Digital disaster, cyber security, and the Copenhagen School. International Studies Quarterly, Vol. 53, Nr. 4, S. 1155-1175.

Harris, E.D. (ed.) (2016): Governance of Dual-Use Technologies – Theory and Practice. Cambridge MA: American Academy of Arts & Sciences.

Herr, T. (2016): Malware counter-proliferation and the Wassenaar Arrangement. NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence, 8th International Conference on Cyber Conflict – CyCon 2016. Proceedings, S. 175-190.

Leng, C. (2013): Die dunkle Seite – Informatik als Dual-Use-Technologie. Gesellschaft für Informatik.

Liebert, W. (2011): Wissenschaft und gesellschaftliche Verantwortung. In: Eger, M.; Gondani, B.; Kröger, R. (Hrsg.): Verantwortungsvolle Hochschuldidaktik. Berlin: LIT, S. 15-34.

Liebert, W.; Englert, M.; Pistner, C. (2009): Kernwaffenrelevante Materialien und Präventive Rüstungskontrolle - Uranfreie Brennstoffe zur Plutoniumbeseitigung und Spallationsneutronenquellen. Osnabrück: Deutsche Stiftung Friedensforschung, Forschung DSF Nr. 20.

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Müller, H.; Schörnig, N. (2006): Rüstungsdynamik und Rüstungskontrolle – Eine exemplarische Einführung in die Internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

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Neuneck, G. (2017): Krieg im Internet? Cyberwar in ethischer Reflexion. In: Werkner, I.-J.; Ebeling, K. (Hrsg.). Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 805-816.

Oltmann, S. (2015): Dual use research – investigation across multiple science disciplines. Science and Engineering Ethics, Vol. 21, Nr. 2, S. 327-341.

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Riebe, T.; Reuter, C. (2019): Dual Use and Dilemmas for Cybersecurity, Peace and Technology Assessment. In: Reuter, C. (ed.) (2019), op.cit.

Tucker, J.B. (ed.). (2012): Innovation, Dual Use, Security – Managing The Risks of Emerging Biological and Chemical Technologies. Cambridge MA: MIT Press.

Vella, V. (2017): Is There a Common Understanding of Dual-Use? The Case of Cryptography. Strategic Trade Review, Vol. 3, Nr. 4, S. 103-122.

von Schomberg, R. (2006): The Precautionary Principle and Its Normative Challenges. In: Fischer, E.; Jones, J.; von Schomberg, R. (eds.): Implementing the Precautionary Principle – Perspectives and Prospects. Cheltenham: Edward Elgar, S. 19-42.

Thea Riebe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Darmstadt sowie der Universität Siegen und promoviert zu Dual-use in der Informatik.
Christian Reuter ist Professor für Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) an der Technischen Universität Darmstadt; peasec.de.

Wissenschaft und Praxis


Wissenschaft und Praxis

Transdisziplinarität in der Friedens- und Konfliktforschung

von Cordula Dittmer, Christiane Fröhlich, Ulrike Krause

Friedens- und Konfliktforschung changiert seit ihrer Gründung zwischen dem Anspruch, qualitativ gehaltvolle Wissenschaft zu betreiben und zugleich normativ-politisch mit ihrer Forschung auch einen Beitrag zu nachhaltigem Frieden leisten zu wollen. In aktuellen Krisen- und Konfliktkontexten werden die damit verbundenen Fragen und Herausforderungen jedoch zunehmend komplexer. Antworten können nur noch unter Einbezug einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Wissensbestände als transdisziplinäres Projekt gefunden werden – so die Meinung auch etablierter Förderinstitutionen. Wie sich dieser Spagat in der Friedens- und Konfliktforschung gegenwärtig gestaltet und welche Rolle der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis dabei spielt, beleuchtet der folgende Beitrag.

Die (kritische) Friedensforschung verstand sich ursprünglich als normative Wissenschaft, die »auf den Frieden hin arbeitet« (Jahn 1984; Senghaas 1969). Dieses Ziel war immer auf eine Vielzahl außerwissenschaftlicher Akteure angewiesen, sei es die Friedensbewegung, Nichtregierungsorganisationen oder Vertreter*innen von Regierungen. Der Forschungsprozess müsse daher auch so begründet und betrieben werden“, dass die „Übersetzung in das Bewußtsein der politisch verantwortlichen Personen und Institutionen und in das Engagement politisch handelnder Gruppen gelingen kann“ (Schwerdtfeger 2001, S. 171).

Dieses ursprüngliche Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktforschung ist mit fortschreitender Professionalisierung des Feldes zunehmend in den Hintergrund gerückt (Bonacker 2011). Einschlägige Förderinstitutionen bekunden allerdings vermehrt Interesse an praxisorientierter Forschung, die über bloße Lippenbekenntnisse zur Praxisrelevanz hinausgeht. So schreibt etwa die Deutsche Stiftung Friedensforschung (2016) zu den Zielen ihrer Projektförderung, dass eine „Generierung von Handlungs- und Orientierungswissen für Praxisakteure“ und „Transferpotenzial wissenschaftlicher Erkenntnisse für die friedenspolitische Praxis, Zusammenarbeit (auch in Form von Aktionsforschung)“ gewünscht seien.

Doch was bedeutet es, Austausch zwischen und Kooperation von Wissenschaft und Praxis zu fördern? Dieser Frage gehen wir im Folgenden auf Grundlage einer Blitzlicht-Umfrage mit Praktiker*innen, die in der Konfliktbearbeitung und Friedensförderung tätig sind, nach. Wir diskutieren Herausforderungen und Potenziale des Wissenschaft-Praxis-Nexus für die Friedens- und Konfliktforschung und betten diese in den größeren Kontext transdisziplinärer Forschung ein.

Erfahrungen und Bedarfe des Wissenschaft-Praxis-Austausches

Um aus der Sicht von Praktiker*innen Bedarfe, positive und negative Erfahrungen sowie Wünsche an einen gelingenden Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis abzufragen, führten wir eine Blitzlicht-Umfrage1 mit 20 Praktiker*innen durch. Generell wird die Notwendigkeit von allen Teilnehmenden gesehen, sich stärker mit der Wissenschaft zu vernetzen und die dort erlangten Wissensbestände und methodischen Ansätze für die Arbeit in der Praxis zu nutzen. Obwohl Wissenschaft „oft weit weg von den Herausforderungen der Praxis“ sei, gelte doch auch: „Austausch mit der Wissenschaft hilft, fachlich auf dem neuesten Stand zu bleiben und verschafft Argumente in der Diskussion mit den (politischen) Auftraggebern.“

Teilnehmende nannten zum Teil sehr detaillierte Lücken, für deren Schließung Austausch mit Forschenden relevant sei, z.B. positive und negative Nebenwirkungen externer ziviler oder militärischer Einflussnahme oder Möglichkeiten zur Umsetzung von internationalen Abkommen in die Praxis, zu denen sich Praktiker*innen Erkenntnisse von Seiten der Wissenschaft erhoffen. Dies sei nicht nur für die Entwicklung neuer Projekte sinnvoll, sondern auch für die notwendige Lobbyarbeit und für Verhandlungen mit Auftraggeber*innen sowie für das eigene selbstreflexive »Über-den-Tellerrand-schauen«.

Praktiker*innen täten aus eigener Sicht auch gut daran, gemeinsam mit Forschenden, die ein Interesse daran haben, Zugänge zu Themen zu etablieren oder gemeinsame Fragestellungen zu entwickeln. Damit würden diese nicht als »Störfaktor«, sondern als Gewinn angesehen, vor allem wenn die Ergebnisse auch den jeweiligen Praxisakteur*innen zur Verfügung stehen. »Ungefragte« Forschung könne aufgrund der knappen zeitlichen Ressourcen oft kaum beachtet werden.

Als negative Erfahrungen im Kontakt mit Forschenden wurden eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber Praktiker*innen sowie die Praxisferne der Forschung erwähnt. So betonte ein*e Teilnehmer*in: „Bei Wissenschaftler*innen, die nie im Feld gearbeitet haben, fehlt oft das Verständnis für die realen Umstände »on the ground« und wie diese Projektumsetzungen oder politische Kontexte beeinflussen und gestalten.“

Zudem wurde angemerkt, eine praxisorientierte Abschlussarbeit werde in der Wissenschaft oft deutlich weniger wertgeschätzt als eine theoretische. Stimmen von Praktiker*innen würden – obwohl diese durchaus auch oft akademische Abschlüsse hätten – in wissenschaftlichen Diskursen nicht anerkannt. Als strukturell problematisch wurde die im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland kaum vorhandene personelle Durchlässigkeit zwischen Wissenschaft und Praxis moniert. Ein »Seitenwechsel« sei kaum möglich. Auch sei das Arbeiten in der Praxis selten Inhalt der akademischen Ausbildung; es werde z.B. fast nie gelehrt, wie aus wissenschaftlichen Erkenntnissen konkrete Handlungsempfehlungen zu generieren seien. Ein grundsätzliches Problem sei ferner, dass Forschungsergebnisse so aufbereitet werden müssten, dass sie in relativ kurzer Zeit les- und verstehbar seien.

Teilnehmende nannten überdies in den jeweiligen Feldern bestehende »blinde Flecken«, die als Teil des Austauschs von Wissenschaft und Praxis behandelt werden sollten. „Wissenschaftler*innen weisen auf blinde Flecken im Tun von Praktiker*innen hin und vice versa. Mein Vorurteil würde unterstellen, dass sich Praktiker*innen eher aus der Wissenschaft beraten lassen, als dass Wissenschaftler*innen kritisches Feedback und Resonanz aus der Praxis verarbeiten? Die Aufgabe besteht meines Erachtens darin, dass man sich gegebenenfalls auf Schwachstellen, blinde Flecken, etc. hinweist und sich insgesamt eine externe Resonanz/Rückmeldung gibt, um einen Perspektivwechsel zum eigenen Tun zu ermöglichen.“

Praktiker*innen, so zeigt diese kleine Umfrage, erwarten das Einlassen der Wissenschaft auf ihre Lebenswelten, Fragestellungen und Kontexte. Sie schätzen vor allem die methodischen Kenntnisse von Forschenden sowie bei entsprechender Aufbereitung auch die Möglichkeit, wichtiges Hintergrundwissen zu erlangen. Den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis als gegenseitigen Lern- und Forschungsprozess zu verstehen, erscheint unter den gegebenen Umständen aber nur einigen wenigen Teilnehmenden denkbar.

Potenziale des und Vorschläge für den Wissenschaft-Praxis-Nexus

Transdisziplinarität kann als gegenseitiger Lernprozess von Wissenschaft und Praxis verstanden werden, in dessen Rahmen verschiedene Wissensbestände zu gemeinsamen Problem-, Konzept-, und Lösungsansätzen integriert und zur Weiterentwicklung gesellschaftlicher wie auch akademischer Fragestellungen beigetragen wird. Obwohl das Potenzial von Transdisziplinarität in anderen Feldern, wie etwa in der sozialökologischen oder der Katastrophenforschung (Becker und Jahn 2006, S. 319 ff; Voss et. al 2018), mittlerweile selbstverständlich ist, gibt es in der Friedens- und Konfliktforschung dazu bislang nur wenige Ansätze. Dass dies ein schwieriges, zeit- und ressourcenintensives Unterfangen ist, steht außer Frage, relevanter erscheint uns hier jedoch, welche Potenziale Transdisziplinarität bietet:

Im Einklang mit unserer Blitzumfrage verspricht eine stärkere Einbindung von Praxisakteur*innen in Forschungsprozesse, wichtige Impulse zu setzen sowie zu innovativen Forschungsergebnissen und gesellschaftlichen Effekten beizutragen. Konkret wird aus unserer Umfrage deutlich, dass Austausch und Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen zu weitreichenden Einblicken in die jeweiligen Bereiche, zu besseren Zugängen zu jeweils betroffenen Personen und Praxisakteur*innen sowie zu tiefgehenden Auseinandersetzungen mit den Gegebenheiten vor Ort führen kann. Dies kann zu »capacity building« unter Forschenden und Praktiker*innen auf allen Hierarchieebenen beitragen. Auch benötigt und befördert transdisziplinäres Arbeiten hohe Selbstreflexion, Sensibilität für regionale Machtverhältnisse sowie Flexibilität und Anpassungsvermögen aller Beteiligten.

Von Seiten der Praktiker*innen, die an unserer Umfrage teilgenommen haben, kamen folgende Vorschläge, wie ein nachhaltiger Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis gelingen könnte: Es sollten gezielt Begegnungsräume, etwa auf Konferenzen, geschaffen werden, um Austausch und Zusammenarbeit zu fördern. Zeitschriften mit Beiträgen für Wissenschaft und Praxis, thematisch zentrierte Plattformen für Diskussionen, Newsletter und Mailinglisten sowie »Brown-Bag-Lunches« wurden als mögliche Ansätze zur Intensivierung des Austausches benannt. Auch verwiesen Teilnehmende auf Webinare, gemeinsame Reisen zu Praxisprojekten, gegenseitige Information über die jeweiligen Strukturen der alltäglichen Arbeit und Partnerschaften zwischen Wissenschaft und Praxis bei der Durchführung von Abschluss- und Doktorarbeiten. Schließlich betonten sie die Notwendigkeit, die Möglichkeit zum Arbeitswechsel zwischen Wissenschaft und Praxis ähnlich der Bedingungen in den USA oder Großbritannien zu verbessern. Von Seiten der Praxis wird allerdings kaum gesehen bzw. aus ressourcentechnischen Gründen für nicht (immer) realistisch erachtet, dass wirkliche Transdisziplinarität einen Schritt weitergehen muss, um nachhaltige Veränderungen für alle Akteure herbeizuführen.

Grundsätzlicher ist aber auch zu fragen, ob die Dichotomie zwischen Wissenschaft und Praxis – zwischen Elfenbeinturm und Zeitknappheit – nicht eigentlich längst überholt ist. Das Praxisfeld wird zunehmend durch Akademisierung professionalisiert, sodass es gegebenenfalls deutlich mehr Überschneidungen als Unterschiede gibt. Diese zu erkennen und daran anzuknüpfen, wäre wichtig für die nachhaltige Ausgestaltung von Austausch und Zusammenarbeit wissenschaftlicher und operativer Arbeiten.

Anmerkung

1) Die Umfrage fand Anfang 2018 statt. Sie wurde initiiert, um die in der Friedens- und Konfliktforschung bislang primär wissenschaftlich geführten Diskussionen zu diesem Themenkomplex mit der Perspektive der Praxis anzureichern. Die Teilnehmenden arbeiten für verschiedene Institutionen in der Friedensförderung und Konfliktbearbeitung und rekurrierten sich vornehmlich aus persönlichen Kontakten der Autorinnen. Die Einschätzungen sind daher nicht repräsentativ, sondern dienen einem ersten Problemaufriss, um weitere Schritte zum stärkeren Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis im Arbeitskreis sowie im Forschungsfeld zu initiieren.

Literatur

Becker, E.; Jahn, T. (Hrsg.) (2006) Soziale Ökologie – Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Frankfurt a. M.: Campus.

Bonacker, T. (2011): Forschung für oder Forschung über den Frieden? Zum Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktforschung. In: Wisotzki, S.; Schlotter, P. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos, S. 46-78

Deutsche Stiftung Friedensforschung/DSF (2016): Hinweise zur Begutachtung von Anträgen auf Förderung von Forschungsprojekten. Osnabrück: DSF; bundesstiftung-friedensforschung.de.

Jahn, E. (1984): Stichwort »Friedens- und Konfliktforschung«. In: Nohlen, D. (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik. München, Zürich: Piper, Band 5, S. 157-62.

Schwerdtfeger, J. (2001): Begriffsbildung und Theoriestatus in der Friedensforschung. Opladen: Leske und Budrich.

Senghaas, D. (1969): Abschreckung und Frieden – Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsgesellschaft.

Voss, M.; Dittmer, C.; Reiter, J. (2018): Transdisziplinäre integrative Vulnerabilitäts- und Resilienzbewertung (TIV) – Theoretische und methodologische Grundlagen. KFS Working Paper Nr. 5. Berlin: Katastrophenforschungsstelle.

Cordula Dittmer, Christiane Fröhlich und Ulrike Krause sind Koordinatorinnen des Arbeitskreises Wissenschaft und Praxis der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK).
Dr. Cordula Dittmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katastrophenforschungsstelle (KFS) der Freien Universität Berlin im Forschungsprojekt »Migrationsbezogenes Wissensmanagement für den Bevölkerungsschutz der Zukunft (WAKE)«.
Dr. Christiane Fröhlich ist Research Fellow am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) und leitet das Forschungsprojekt »Comparing Crises« im Rahmen des EU-Horizon2020-Konsortiums »Migration Governance and Asylum Crises«.
Dr. Ulrike Krause ist Juniorprofessorin für Flucht- und Flüchtlingsforschung am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück, affiliierte Research Associate am Refugee Studies Centre der University of Oxford und leitet das Forschungsprojekt »Global Refugee Protection and Local Refugee Engagement« (Förderung: Gerda Henkel Stiftung).

Kultur(en) des Friedens

Kultur(en) des Friedens

Tagung des AK Friedenspädagogik der AFK, 15.-17. Oktober 2018, Salzburg

von AFK

Über 150 Personen fanden sich im Oktober 2018 im Bildungszentrum St. Virgil ein, um die Vielfalt der Friedensarbeit kennenzulernen und Impulse für ihre beruflichen und privaten Wirkungsfelder zu erhalten. In der gemeinsam vom Friedensbüro Salzburg, St. Virgil Salzburg, dem Arbeitskreis Friedenspädagogik in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. und der Stille Nacht 2018 GmbH veranstalteten Tagung »Kulturen des Friedens – Harmonie. Spannung. Widerstand« wurden Zugänge und Initiativen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar gemacht und Möglichkeiten der ganzheitlichen Verschränkung und Vernetzung aufgezeigt. Dabei zeigte sich, dass die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Zugängen nicht reibungsfrei verläuft, sondern Dilemmata und Spannungsfelder entstehen lässt. Diese wurden in den Vorträgen, Diskurs­panels und vorgestellten Praxisbeispielen aufgegriffen und konstruktiv thematisiert.

Nach der offiziellen Eröffnung der Tagung durch Martina Berthold und Landeshauptmann Wilfried Haslauer ging Isolde Charim in ihrem Eröffnungsvortrag »Der andere Name des Friedens« der Frage nach, was Frieden im politischen Sinn bedeutet. Frieden, so betonte sie, ist mehr als ein bloßer Zustand des Nicht-Krieges: Frieden ist die Hegung von Konflikten. Diese gehegten Konflikte muss eine Demokratie nicht nur aushalten und in eine politische Form übersetzen können; vielmehr lebt sie von ihnen. In Demokratien, so Isolde Charim weiter, ist Konflikt daher nicht »das Andere« des Friedens, sondern vielmehr dessen Bedingung. Konstruktiver Dissens – und nicht soziale Harmonie – ist ihr Kitt.

Am zweiten Tag umriss die Friedens- und Konfliktforscherin Hanne-Margret Birckenbach die Grundlagen einer friedenslogischen (Europa-) Politik. Wie kann es gelingen, dem Leitbild des Friedens zu folgen, ohne legitime Interessen, wie die eigenen Sicherheit und das eigene Wohlergehen, zu gefährden? Die Antworten darin sieht sie vor allem im gewaltfreien, konstruktiven und dialogischen Umgang mit Problemen. Im Anschluss skizzierte der Friedenspädagoge Werner Wintersteiner den Zusammenhang zwischen Bildung und den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, in die sie eingebettet ist. Er sieht in einer »Kultur des Friedens« die Möglichkeit, diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen klarer herauszuarbeiten. Der dritte Vortrag des Tages wurde von Ingo Bieringer gehalten. Er näherte sich der Frage, wie man mit Ambivalenzen und Spannungen umgehen kann, aus systemischer Sicht.

Anliegen der Tagung war es, verschiedene Standpunkte zum Thema aufzugreifen und in einem Dialog zu vergleichen und zusammenzuführen. Dementsprechend war die Tagung diskursorientiert angelegt: Jeweils drei hochkarätige Referent*innen führten kontroverse, aber konstruktive Diskussionen zu Grundfragen der politischen Bildung, Arbeitspolitik, Medien, Populismus, dem Spannungsfeld zwischen Frieden, Freiheit und Sicherheit und zur Globalen Agenda 2030. Dabei wurde deutlich, dass Frieden kein Nischenthema einer überholten Bewegung ist. Moderne Friedensarbeit muss vielmehr neue Formen der Artikulation und des Aktionismus finden und breit gefächerte Initiativen in ganz unterschiedlichen Bereichen setzen. In den anschließenden praxisorientierten Workshops bot sich für die Teilnehmenden die Möglichkeit, Handwerkzeug für solch eine Friedensarbeit kennenzulernen und bestimmte Themen zu vertiefen.

Der dritte und letzte Tag der Veranstaltung stand ganz im Zeichen der Praxis: Im Rahmen von Good-Practice-Panels wurden jeweils drei Projekte zu einem bestimmten Thema vorgestellt, diskutiert und kritisch verglichen. Im Kern stand die Frage, in welchen Spannungsfeldern sich die Projektverantwortlichen bewegen und wie sie mit diesen konstruktiv umgehen.

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion mit dem Karikaturisten Gerhard Haderer, der Volkskundlerin Elsbeth Wallnöfer und dem Präsidenten der Stille Nacht Gesellschaft, Michael Neureiter. Alle drei sprachen sich für mehr Mut in der Friedensarbeit aus. „Schärft eure Sprache, traut euch mit eurer Arbeit nach außen“, so Wallnöfer. Michael Neureiter fügte hinzu: „Vielleicht finden sich heute andere Wege als die Demonstrationen in den 1980ern“.

In diesem Sinne lieferte die Tagung zahlreiche Impulse und Aktionsformen für ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Bereiche, die eines eint: der unermüdliche Einsatz für den Frieden.

Im Rahmen der Tagung fand auch ein Theoriearbeitskreis des Arbeitskreises Friedenspädagogik der AFK statt, der bereits ein Jahr läuft. Dort wurden folgende Fragen gestellt:

  • Was verstehen wir heute unter Frieden (vertiefende Auseinandersetzung, die in Salzburg begann)?
  • Vertiefung der interdisziplinären Ausein­andersetzung im Kontext der Friedensbildung mit Texten aus der Friedenspädagogik und verwandten Feldern, Friedensforschung, Gewaltforschung, Psychologie, Soziologie, Kriminologie, Globales Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung …
  • Was brauchen die Praktiker*innen an Theorie für ihre konkrete Arbeit, was wäre ihnen hilfreich seitens der Wissenschaft?

Die nächste Jahrestagung findet von 11. bis 13. November 2019 in Hamburg im Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation e.V. (IKM) statt. Thema: »Lernen in der globalisierten Welt – Herausforderungen für die Friedenspädagogik«.

Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden

Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden

Kongress der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative, Berlin, 15.-16. Juni 2018

von Malte Albrecht

Angesichts hoher Rüstungsausgaben, eines zunehmenden Waffenhandels und des Vormarsches neuer Milita¨rtechnologien hatte sich die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative (NatWiss) für ihren diesjährigen Kongress »Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden« vorgenommen, die Wissenschaft von heute einer Standortbestimmung zu unterziehen. Gefördert von der GEW und unterstützt durch BdWi, FIFF, IALANA, IPB, IPPNW, VDW und W&F1 diskutierten Fachleute aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, welche Rolle der Wissenschaft bei der weltweiten Militarisierung zukommt. Eng damit gekoppelt ging es auch um konkrete Möglichkeiten, Verantwortung und Wissenschaft zusammen zu denken: Welche Verantwortung tragen Wissenschaftler*innen und was kann jede(r) Einzelne zum Frieden beitragen?

Ausgangspunkt waren Überlegungen zur aktuellen Situation wissenschaftlichen Arbeitens. Die Wissenschaftler*innen sind konfrontiert mit unzureichenden Reformen an den Universitäten, dem Fehlen öffentlicher Gelder und der zunehmenden Drittmittelabha¨ngigkeit von Forschung und Lehre, was den Druck verstärkt, Projekte einzuwerben. Zentrales Ergebnis des Kongresses war im Abschlussplenum die Forderung nach Wiederbelebung und Erneuerung der Idee einer Zivilklausel. NatWiss e.V. wird daher für 2019 einen Kongress der Zivilklausel-Bewegung initiieren.

In ihrem Grußwort zu Beginn der Tagung betonte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe, Frieden, integrales Ziel der gewerkschaftlichen Bewegung und Geschichte, sei auch im Wissenschaftsbetrieb von großer Bedeutung. Tepe plädierte dafür, in der Wissenschaft die Arbeitsbedingungen an den Forschungseinrichtungen mit in den Blick zu nehmen. Es gebe bereits gute Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft. Das »Templiner Manifest« (2010) der GEW beispielsweise habe gezeigt, an welchen Stellen es dringenden Handlungsbedarf gebe. Tepe betonte darüber hinaus den Willen der GEW, weiterhin eine Zusammenarbeit zu fördern.

Dr. Alex Rosen, Kinderarzt und Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW, erinnerte an die verheerenden Folgen der Atombomben-Abwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Am Beispile des im Juli 2017 vereinbarten »Vertrags über das Verbot von Kernwaffen« (Ban Treaty) stellte Rosen einen Vertragsprozess innerhalb der Vereinten Nationen, unter Mitwirkung der Zivilgesellschaft, als Möglichkeit vor, den Gefahren der nuklearen Aufrüstung in Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu begegnen.

Professor Lothar Brock (VDW) von der Goethe-Universität Frankfurt reflektierte die Wissenschaft als Teil organisierter Gewalt. Dabei ging er insbesondere auf das widersprüchliche Verhältnis von Wissenschaft und Krieg ein: Während Wissenschaft durch Forschungsaufträge und -mittel vom Krieg profitiert, wird sie durch Krieg gleichzeitig außer Kraft gesetzt. Krieg ist ohne Wissenschaft unmöglich, gleichzeitig steht die Wissenschaft aber auch für die Kritik des Krieges. Es sei demnach mitnichten so, dass Wissenschaft und Krieg sich historisch wechselseitig nur befördert hätten. In der Beziehung zwischen Wissenschaft und Krieg konstatierte Brock eine Entwicklung. So seien mit der Umorientierung von der Militärwissenschaft zur sicherheitspolitischen Forschung und der Dual-use-Problematik inzwischen alle Teile des Wissenschaftsbetriebs mit kriegsrelevanter Wissensproduktion konfrontiert. Dies gelte neben den technischen Entwicklungen ebenso für die Produktion legitimatorischen Wissens. Als Handlungsfelder identifizierte Brock zum einen wissenschaftsimmanente Mechanismen der Kontrolle und Reflexion. Dazu seien der Einsatz für mehr Transparenz sowie wissenschaftliche Überzeugungsarbeit im öffentlichen Raum geeignete Wege. Die Stärkung internationaler Kooperation im Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer rechtlichen Grundlagen sowie die Beteiligung von Akteur*innen aus der Wissenschaft an der Entwicklung ziviler Konfliktbearbeitungsstrategien seien weitere Möglichkeiten der Einflussnahme. Dabei sei es wichtig, dass die zivile Konfliktbearbeitung nicht der Logik militärischer Sicherheitspolitik verhaftet bliebe. Politische Phänomene, wie die internationale Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie, Klimawandel und damit verbunden die Konkurrenz menschlicher Interessen in einer globalisierten Welt, seien Herausforderungen auch für Wissenschaftler*innen. Brock plädierte daher dafür, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Wissenschaft das ist, was sie schon immer war: nicht nur eine Denkveranstaltung, sondern immer auch ein politischer Akteur.

Reiner Braun (NatWiss) wies auf die zahlreichen aktuellen Herausforderungen hin: die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, das Pariser Klimaabkommen und das Ziel, die Auswirkungen der Klimakatastrophe abzuwehren, sowie die Armut auch im eigenen Land, die breiter werdende Kluft zwischen Arm und Reich, die Furcht von Millionen vor dem Abrutschen in Armut. Zugleich seien die aktuellen Entwicklungen direkte Folgen politischer Prioritätensetzung auf nationaler und internationaler Ebene. Während Gemeinsinn vor Profit und die Interessen der 99 % gegen die der 1 % durchgesetzt werden sollten, sei die Realität im neoliberalen Kapitalismus von Konfrontation statt Kooperation, dem täglichen Töten als Gegenpol zum täglichen Ringen um Leben und Überleben, Rüstungsexporten und völkerrechtswidrigen Drohnen-Einsätzen geprägt. Diese konfrontative Politik berge die Gefahr eines Weltbrandes. Die Friedensbewegung sei ein schwacher, aber umso notwendiger Teil der Lösung der drängendsten Herausforderungen. Hier gebe es drei Handlungsfelder: Abrüstung, Schaffung eines internationalen Klimas der Kooperation statt Konfrontation sowie ein mutiges und kontinuierliches Engagement für den Frieden.

Claudia Haydt von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) sprach über den Stand der Militärforschung in Deutschland. Dabei machte sie deutlich, dass aktuelle militärische Entwicklungen und Aufrüstung ohne Zugriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschung nicht möglich sind. Als Beispiel nannte sie das neue Konzept der Bundesregierung zur Bundeswehr, insbesondere die Konzeption zur »Cybersicherheit«. Haydt betonte, Rüstungsforschung sei eigentlich kein Bestandteil öffentlicher Forschungsförderung des BMBF. Dennoch hätten sich die Ausgaben des BMBF für rüstungsbezogene Forschung zwischen 2010 und 2015 (sieben Millionen Euro pro Jahr) im Vergleich zu dem Jahr 2000 (vier Millionen Euro pro Jahr) fast verdoppelt. Diese Zahlen zeigen, so Haydt, dass die öffentlichen rüstungsbezogenen Forschungsgelder für die Universitäten keine wichtige Einkommensquelle darstellten, für das Militär jedoch den unverzichtbaren Zugriff auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse ermöglichen. Dies identifizierte Haydt als ein wichtiges Handlungsfeld. Trotz der Unzulänglichkeiten der Zivilklauseln plädierte Haydt für eine Weiterentwicklung dieses Instruments und die Herstellung von Öffentlichkeit.

Hartwig Hummel, Professor an der Universität Düsseldorf und bis vor Kurzem Vorstandsmitglied von W&F, griff das Thema der Verantwortung und der Zivilklauseln auf und plädierte für eine Weiterentwicklung des Wissenschaftsdiskurses. Im Vergleich zwischen Japan und Deutschland zeigte Hummel am Beispiel von fünf zentralen Argumentationslinien die Unterschiede auf, die das Wissenschaftsverständnis in Japan und Deutschland prägen. So gelte in Deutschland die Zivilklausel als unerwünschte Politisierung der Forschung, denn hier stehe die individuelle Verantwortung des*der Wissenschaftlerinnen im Fokus. In Japan hingegen gelte gerade die Ablehnung von Militärforschung als Ausdruck ethisch und gesellschaftlich verantwortlicher Wissenschaft. In der Frage der Wissenschaftsfreiheit stünden in Deutschland nach vorherrschender Überzeugung Zivilklauseln für einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Im japanischen Verständnis hingegen störe jede Investition in militärische Forschung die selbstbestimmte und freie Entfaltung der Wissenschaft. Militäreinsätze sowie die Forschung für militärische Zwecke gälten in Deutschland als legitim, in Japan hingegen verstehe sich die Wissenschaft als kosmopolitische Forschungsgemeinschaft, in der nationale Militärforschung keinen Platz habe. Dies zeige sich auch im Umgang mit der Dual-use-Frage. In Deutschland gälte die kritische Hinterfragung von Dual-use-Forschung als unpraktikabel, während in Japan Zivilklauseln von Kommissionen genutzt würden, um die negativen Auswirkungen militärisch nützlicher Forschung zu erkennen. Jegliche militärische Forschungsfinanzierung stehe unter Generalverdacht. Während in Deutschland die individuelle Forschungsverantwortung betont werde, seien in Japan die einzelnen Forscher*innen Teil einer Forschungsgemeinschaft. Die Institutionen dieser Gemeinschaft, wie Hochschulen und ihre Fachverbände, seien daher mindestens ebenso Träger einer kollektiven Verantwortung.

In der Podiumsdiskussion mit Professor Hartmut Graßl (VDW), Professor Werner Ruf (Friedensforscher) und Professor Ernst Ulrich von Weizsäcker (Club of Rome) standen die Fragen nach Wissen, seiner Verbreitung und den Bedingungen der Wissensproduktion in Forschungseinrichtungen im Zentrum. Von Weizsäcker betonte die Bedeutung der Folgen wissenschaftlicher Forschung, die die Existenzbedingungen der Menschheit in Frage stellen. Künstliche Intelligenz, Geo-Engineering und CRISPR/Cas sowie Gene Drive seien Entwicklungen, über deren mögliche Folgen wenig bis gar keine öffentliche Diskussion stattfinde. Von Weizäcker plädierte daher für eine aktive Rolle von Wissenschaftler*innen und ihren Organisationen, wie NatWiss e.V., als Akteure, die zu einem kritischen Bewusstsein der Menschen beitragen könnten. Ihre Aufgabe sei es, das Wissen über ihre Forschung in eine breite, öffentliche Diskussion einzubringen. Dabei gehe es auch darum, den militärisch relevanten Charakter dieser Entwicklungen aufzuzeigen.

Werner Ruf stellte die Frage nach den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen von Wissen. Neben der Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse an den Universitäten mit Zeitverträgen und geringer öffentlicher Finanzierung sei vor allem auch die zunehmende Rolle von Drittmitteln problematisch. So gelte inzwischen Drittmittelförderung als Nachweis von Wissenschaftlichkeit, was in der Formel münde: Auftragsforschung = Wissenschaftlichkeit. Im Mittelbau gebe es subtile Mechanismen, die dazu führen, dass unter Bedingungen existenzieller Nöte kaum mehr darüber reflektiert werde, welche Folgen die eigene Forschung habe. Im Bereich der Zivilgesellschaft lasse sich zudem eine zunehmende Militarisierung beobachten. Angesichts der Mitarbeit von 200 Nichtregierungsorganisationen am verteidigungspolitischen Weißbuch der Bundesregierung stelle sich die Frage, ob es sich um einen Demokratisierungsprozess oder nicht eher um einen Militarisierungsprozess handele. Ruf identifizierte daher die Verbesserung der materiellen Existenzbedingungen im Wissenschaftsbetrieb als ein zentrales Handlungsfeld für die Ermöglichung einer unabhängigen Wissensproduktion. Hier ergäben sich auch Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften.

Hartmut Graßl knüpfte an das Plädoyer von Weizsäckers an und berichtete von der Einrichtung einer Arbeitsgruppe in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) zu den Folgen von Künstlicher Intelligenz (KI). Graßl verglich die Gefahren der KI mit der Bedrohung durch einen Atomkrieg. Diese Folgen seien nicht ausreichend präsent im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs. In Ergänzung zu den Beträgen von Weizsäckers und Rufs betonte Graßl, dass es viele Wissenschaftler*innen gäbe, die für das Militär arbeiten würden. In Erwiderung zu Hartwig Hummel stellte Graßl die Frage, weshalb eine solche Kultur in Japan möglich geworden sei. Die Schutzgarantien anderer Länder hätten eine Fokussierung auf eine friedliche Kultur ermöglicht. Auch Deutschland habe diese Schutzgarantien. Graßl plädierte als Vorsitzender der VDW für eine optimistischere Perspektive. Die Klima-Charta von Paris, 70 Jahre friedliches Zusammenleben und die EU als Friedensunion seien das Resultat einer vernünftigen Handlungsweise und gäben Anlass für Optimismus, aber auch für andauerndes Engagement mit dem Ziel eines friedlichen Zusammenlebens.

Ausgehend von einer kritischen Analyse der Faktoren, die zur Bedrohung durch Aufrüstung und Klimakonflikte führen, diskutierte Professor Jürgen Scheffran (NatWiss/VDW) Beiträge der Wissenschaft zum nachhaltigen Frieden. Zugrunde liegen Fragen nach der Verantwortung der Wissenschaft, wie wissenschaftliche Erkenntnisse die Gesellschaft beeinflussen und formen, wie Wissenschaft kommuniziert und angewendet wird und wie nachhaltige und friedensfördernde Wissenschaft beratend und aktiv in gesellschaftliche und politische Prozesse einfließen kann, als Teil einer „»neuen Aufklärung«. Hierfür gibt es historische Beispiele, vom Russell-Einstein-Manifest und der Göttinger Erklärung gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr über die Untersuchung nuklearer Risiken bis hin zu wissenschaftlichen Bemühungen um eine friedliche und nachhaltige Welt ohne nukleare Bedrohung. Hierzu gehören auch jüngste Forschungen zu den Sicherheitsrisiken des Klimawandels – von Wasser- und Landkonflikten über die Zerstörungen durch Wetterextreme bis hin zu globalen Vertreibungen und Fluchtbewegungen. Diese Risiken verdichten sich zusammen mit anderen globalen Problemen (Gewaltkonflikten und Terrorismus, Hunger und Armut, Wirtschaftskrise und Nationalismus) zu immer neuen Krisenherden. Im Zeitalter des Anthropozän stößt die forcierte kapitalistische Globalisierung zunehmend auf ökologische, ökonomische, soziale, politische und wissenschaftlich-technische Grenzen. Statt Zerstörungs- und Gewaltmittel weiter zu steigern, sollten Innovationen in Wissenschaft und Technik die Transformation in eine lebensfähige und lebenswerte Welt ermöglichen, die durch nachhaltige Entwicklung und kooperative Friedenssicherung im gemeinsamen Haus unseres Planeten gekennzeichnet ist. Alternativen gibt es genug, vom Atomwaffenverbotsvertrag und dem Pariser Klimaabkommen, die jeweils von einer Koalition von Staaten mit der Zivilgesellschaft herbeigeführt wurden, bis zum Umbau in eine erneuerbare Energieversorgung und eine kohlenstoffarme Gesellschaft, die Ökosysteme bewahrt, allen Menschen Wohlstand und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht.

In einem Abschluss-Plenum, in dem auch die Ergebnisse der verschiedenen Workshops vorgestellt und diskutiert wurden, wurde die Forderung nach Erneuerung der Zivilklausel-Bewegung besonders deutlich. Ein Kongress zur Zivilklausel wurde in Zusammenarbeit mit den Partnern des Kongresses in die Planung von NatWiss e.V. aufgenommen und befindet sich in Vorbereitung für das Frühjahr 2019.

Anmerkung

1) BdWi = Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler; GEW = Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft; FIFF= Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung; IALANA = IALANA Deutschland – Vereinigung für Friedensrecht; IPB = International Peace Bureau; IPPNW = International Physicians for the Prevention of Nuclear War; VDW = Vereinigung Deutscher Wissenschaftler; W&F = Wissenschaft und Frieden.

Malte Albrecht

Frieden nach dem Ersten Weltkrieg


Frieden nach dem Ersten Weltkrieg

Chancen und Grenzen

von Jost Dülffer

Am 11. November 1918 schwiegen die Waffen zwischen dem Deutschen Reich und den alliierten und assoziierten Nationen, allen voran Großbritannien, Frankreich und USA. Dieser Erste Weltkrieg hatte annähernd zehn Millionen Menschen das Leben gekostet, doppelt so viele waren verwundet und kehrten physisch, oft auch psychisch für ihr weiteres Leben gezeichnet in der Folgezeit zurück. Dieser 11. November hat sich seither als der entscheidende Tag des Kriegsendes ins historische Gedächtnis eingebrannt und wird zumal in den USA, Frankreich und Großbritannien bis heute jedes Jahr intensiv gefeiert. Es ist eine klassische, aber naive und daher falsche Vorstellung, dass nach dem Ende der Kampfhandlungen »nur« noch ein Frieden ausgehandelt werden musste, den man dann normativ bewerten kann.

Was sich seit 1945 verfestigte, traf schon 1918 zu: Die Rechtsakte formaler Verträge wurden zum Teil eines länger andauernden, komplexen und umfänglichen Friedensprozesses, der auch die mentale Versöhnung einschließen musste. Oder anders gesagt: Während für die eine oder die andere Region Friedensverträge geschlossen wurden, gingen an anderer Stelle Kämpfe, ja sogar langwierige Kriege weiter. Das dauerte mindestens bis 1923. Der Weltkrieg fand in sehr unterschiedlichen Gewalträumen statt, in denen jeweils unterschiedliche Strategien zur Befriedung verfolgt wurden.

Neue Dimensionen: Untergang einer Stadt und Aufbegehren gegen Rassismus

Zentral waren die Ereignisse um Waffenstillstände und das Aushandeln von Friedensverträgen, daneben es gab aber noch ganz andere wichtige und langfristig wirkende Faktoren. Zwei Beispiele erläutern dies.

  • Smyrna (heute Izmir) war eine multiethnische Stadt an der Ägäis, u.a. von Türken, Griechen und Armeniern bewohnt. Sie wurde 1919 im Einvernehmen mit den Westmächten von griechischen Truppen besetzt, um einem befürchteten italienischen (!) Eingreifen zuvorzukommen. Im Zuge des türkischen revolutionären Krieges unter Mustafa Kemal rückten türkische Truppen im September 1922 in die Stadt ein. Der orthodoxe Bischof wurde brutal ermordet; die zusätzlich von griechischen Flüchtlingen überfüllte Stadt fiel Raub, Mord, Vergewaltigungen anheim und wurde gezielt in Brand gesetzt. Von britischen Schiffen vor der Stadt und damit von der Weltöffentlichkeit beobachtet ging die Stadt unter; man schätzt, dass 30.000 Menschen bei diesen Massakern ums Leben kamen (Gerwarth 2017; Immig 2008; Milton 2008).1 Es gab also intensive Kriege noch nach dem Ende des »eigentlichen« Weltkrieges.
  • Im Februar 1919 stellte die japanische Delegation auf der Friedenskonferenz in Paris den Antrag, in die Satzung der neuen Weltorganisation, des Völkerbundes, einen Artikel aufzunehmen, der sich gegen rassische Diskriminierung wendet. Der Antrag griff auch Erfahrungen aus Afrika und anderen asiatischen Ländern auf, wurde in einer entsprechenden Kommission diskutiert und mit einer deutlichen Mehrheit von 17 zu 11 Stimmen angenommen. Allein Sitzungsleiter Woodrow Wilson, der US-Präsident, bürstete das Ganze mit Verfahrenstricks ab. Weltweite Empörung war die Folge, doch es blieb dabei: Die Ablehnung der USA, Frankreichs und Großbritanniens, die aufgrund eigener Rassensegregation oder Kolonialherrschaft entsprechende Vereinbarungen gefährlich fanden, setzte sich durch.2 Hier wurde erstmals ein mögliches dauerhaftes Friedenselement formuliert, das damals nicht konsensfähig war.

Weil die Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg so komplex war, werden im Folgenden exemplarisch zwei allgemeinere Aspekte herausgegriffen, die in der Gegenwart öffentliche Diskussion versprechen:3 die Rolle Deutschlands im Spiegel des Versailler Vertrags und globale Entwicklungen in der Folge des Weltkriegs.

Der Frieden von Versailles mit dem Deutschen Reich

Die Verteufelung des Versailler Vertrages gehört seit den Tagen der Unterzeichnung im Juni 1919 zu den zentralen Geschichtsaussagen in Deutschland. Man kann argumentieren, dass sich erst im fast nationsweiten Protest gegen das »Schanddiktat« die Gesellschaft der entstehenden Weimarer Demokratie konstituierte – nur die Unabhängigen Sozialdemokraten fanden an diesem kapitalistischen Frieden nicht viel Schlimmes (Dülffer 2002). Der Protest setzte sich in den 1920er Jahren fort und bot Stoff für die zugkräftigsten nationalsozialistischen Kampfparolen. Erst einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sich der Blick um: Wenn – so die Argumentation im Zuge der vom Historiker Fritz Fischer (1961) ausgelösten Kontroverse – Deutschland den Krieg angezettelt hatte, dann hatte es den harten Frieden auch verdient. Rückhalt fand diese Sicht in dem »Kriegsschuldartikel« 231 des Vertrages, in dem Deutschland zu Reparationen in noch festzulegender Höhe verpflichtet wurde (Dülffer 2017). In jüngerer Zeit machte die US-Historikerin Isabel Hull (2014) mit dem Verweis auf angeblich singuläre deutsche Völkerrechtsverletzungen Furore und heizte die Schulddebatte erneut an.

Mit 100-jährigem Abstand vom Friedensvertrag sollte man jedoch jenseits aller juristischen oder moralischen Empörung die schwierige Lage der Friedensmacher und die objektiv keineswegs unerträglich demütigende Situation des Deutschen Reiches angemessen einzuordnen suchen. Historisch gesehen ging es nie allein darum, einen Frieden der Gerechtigkeit und des Ausgleichs nach den Vorstellungen des bereits genannten US-Präsidenten Wilson zu schaffen, etwa auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Letzteres war zwar eine regulative Größe, aber niemand konnte damals sagen, welche Bevölkerungsgruppe jeweils welche Selbstbestimmung ausüben soll oder darf (Fisch 2010; Dülffer 2011) – US-Außenminister Robert Lansing war denn auch auch einer der klarsten Gegner dieses Prinzips. Es gab in der Folge Gebietsverschiebungen allein aus politischen Gründen; lagen diese nicht vor, fanden in Mitteleuropa auch Volksabstimmungen zur Neuordnung statt.

Wichtiger aber war: Alle beteiligten Mächte wollten nicht mit einem »Unentschieden« aus dem Krieg ausscheiden, sondern suchten – auch aus innenpolitischen Gründen –, sich für die eigene Rolle in der Zukunft schadlos zu halten. Am markantesten für diese Einstellung war der mit Kriegsende obsolet gewordene deutsche Frieden von Brest-Litowsk, im Frühjahr 1918 separat mit der Ukraine und Sowjetrussland geschlossen: Er legte den Grundstein für geplante Vasallenstaaten, aus denen dann die Lebensraumidee Hitlers u.a. erwuchs. Auch die europäischen Alliierten hatten zuvor ihre Bevölkerung und ihre materiellen Ressourcen mit der Maßgabe mobilisiert, dass der Sieg sie sowohl entschädigen als auch auf Dauer gegen einen neuen Krieg schützen sollte. Daraus resultierten die moralischen Elemente im Vertrag, vor allem aber die materiellen Verpflichtung aller Verliererstaaten zu Reparationen, deren Umfang erst nach mehreren Jahren festgelegt und im Laufe der Jahre modifiziert wurde. Das war ein zwischen den USA und den Alliierten mühsam ausgehandelter Kompromiss.

Die entscheidende Aussage zum Versailler Vertrag muss allerdings lauten: Die mentale Empörung beruhte auf einer kollektiven Realitätsverweigerung der meisten Deutschen, erklärlich durch den scheinbar bis zum Schluss noch günstigen Kriegsverlauf, verstärkt durch eine gezielte Propaganda der Reichsregierung, allen voran des Außenministers Graf Brockdorff-Rantzau. Die Bestimmungen von »Versailles« waren hart, boten aber bei besonnener Deutung Chancen für einen Wiederaufstieg des Deutschen Reiches zu einer europäischen Großmacht im Rahmen einer europäischen Friedensordnung. Der gegen viele innenpolitische Widerstände begonnene Weg der Vertragserfüllung und -revision setzte auf die Wirtschaftskraft des Reiches und zeitigte bis Mitte der 1920er Jahre unter Außenminister Gustav Stresemann gute Erfolge, bekam aber in der aufkommenden Weltwirtschaftskrise nicht genügend Zeit, um in einer europäischen Friedensordnung volle Wirkung zu entfalten (Niedhart 1989, 2006).

Im Gegensatz zu diesem zentralen geschichtlichen Befund zeigen sich in der Gegenwart erneut Ansätze zur Revision. Revision ist an sich ein legitimer wissenschaftlicher Prozess der Überprüfung liebgewonnener Urteile, sie hat aber in der Absicht und in der Funktion auch eine Rolle in der politischen Gegenwartsdiagnose. Da ist zum einen die ausführliche Darlegung, dass die Alliierten ab 1916 alle deutschen Friedensbemühungen abwiesen. Zum anderen wird der Gedanke entfaltet, militärisch hätten die Deutschen noch mindestens ein halbes Jahr durchhalten können, dann wäre der Frieden ganz anders ausgefallen. Sodann wird die Versailler Inszenierung der Alliierten bei der Übergabe der Friedensbedingungen gelegentlich als ein nie dagewesener Akt der Demütigung aufgefasst (Afflerbach 2018, Krumeich 2017; Platthaus 2018a und 2018b). Und schließlich finden die zeitgenössischen Grafiken der Reichskarte mit – inhaltlich zutreffender – Abtretung von Gebieten, inklusive Angabe der Prozente an verloren gegangener Bevölkerung, Industrie- oder Rohstoffproduktion sowie der weitgehenden Entmilitarisierung (bei Veranschaulichung der Truppenstärken der Nachbarn) bis in die Gegenwart hinein Anwendung, so etwa in der großen Ausstellung »Frieden. Von der Antike bis heute«4 im Westfälischen Landesmuseum Münster): An die Stelle der heutigen analytischen Deutung wurde auch hier die propagandistische Inszenierung der 1920er Jahre gesetzt.

Globale Friedenskonferenz in Paris5

Auch wenn die oben erwähnten japanischen Bemühungen zur Ächtung von Rassismus auf der Pariser Friedenskonferenz keinen unmittelbaren Erfolg hatten, so fanden sie doch in vielen Teilen der Welt direkten Widerhall, u.a. in den USA bei den Vertretern der Schwarzen, darunter W.E.B. Du Bois. Er hatte das »negro problem« schon 1906 als zentrale Frage der Zukunft bezeichnet und damit einen Auftakt zur Emanzipationsbewegung der Schwarzen in den USA markiert (Berg 2005). Gewiss, China unterstützte Japan in Paris bei seinem Antrag, doch andere Vertreter von »nations of color«, wie man früher sagte, hatten keinen Staat, für den sie sprechen konnten, und suchten daher ihre Anliegen am Rande der Konferenz als Lobbyist*innen zur Geltung zu bringen.

Komplementär zur Friedenskonferenz fand in der französischen Hauptstadt daher der erste »Pan African Congress« statt. Neben Afrikaner*innen nahmen auch bürgerschaftlich engagierte Politiker aus Großbritannien und den USA teil, darunter auch Du Bois. Zwar erreichten sie mit ihrem Anliegen eines zentralafrikanischen Staats nichts, aber das Thema war formuliert. Personen wie ein junger Exil-Vietnamese, der später unter dem Namen Ho Chi Minh bekannt wurde, und Delegierte des Jüdischen Weltkongresses oder des arabischen Fürstentums der Hedschas signalisierten weitere Ansprüche und Aufbrüche aus der außereuropäischen Welt.

Formal galt, dass nur die offiziell am Krieg beteiligten Staaten an der Friedenskonferenz teilnahmen, dennoch waren etliche außereuropäische Staaten vertreten, darunter vor allem die wichtigsten Staaten des British Commonwealth, wie Australien, Neuseeland, Canada und Südafrika. Dies verdankten sie nicht zuletzt der Tatsache, dass Kontingente ihrer Truppen an zentralen Kriegsschauplätzen gekämpft hatten, sowohl an der Westfront in Europa als auch im Nahen Osten. Beim Kampf um die Dardanellen 1915 waren australische Truppen zentral, sodass man geradezu von einer Konstituierung der australischen Nation durch den Ersten Weltkrieg sprechen kann. In Mesopotamien hatten 700.000 z.T. gut ausgebildete indische Truppen von Bagdad aus gekämpft; Inder waren darüber hinaus u.a. an der Somme in Frankreich, an den Dardanellen und in Ostafrika eingesetzt. Indien wurde in Paris bei der Unterzeichnung des Friedensvertrages durch den britischen Indienminister und den kurz zuvor zum Lord Ganga Singh ernannten Maharadscha von Bikaner repräsentiert – während gleichzeitig britische Truppen in Amritsar ein Massaker an Hunderten protestierenden Indern anrichteten (Kulke/Rothermund 2018). Dies alles stellte die Vorherrschaft des »Weißen Mannes« ersichtlich in Frage.

Mandatssystem des Völkerbunds

Institutionalisiert wurde dieses Gefüge durch das Mandatssystem des Völkerbundes, mit dem ehemalige Kolonien unter die abgestufte Oberhoheit anderer Kolonialmächte gestellt wurden, vordergründig aufgrund der Unfähigkeit Deutschlands zu deren Verwaltung. Daraus wurde in der Folge eine »Kolonialschuldlüge« gestrickt.

Auch wenn dies – insbesondere bei der Übernahme pazifischer Gebiete durch Japan oder von »Deutsch-Südwest« durch Südafrika – auf Annexion hinauslief, war hier das Prinzip der Vorbereitung auf Eigenverantwortung wichtig, zwar kolonialistisch formuliert, aber dennoch zukunftsweisend (Pedersen 2014). Dieses Prinzip griff, wie gleich zu zeigen ist, auch im Nahen Osten.

Auflösung von Großreichen

Nach dem 11. November 1918 und während der gesamten Pariser Friedenskonferenz gingen in mehreren Gewaltzonen die Kämpfe weiter. Die Auflösung dreier Großreiche – des Osmanischen, des Habsburgischen, des Russischen –, zum Teil auch des Deutschen Reiches (Polen!), schuf Probleme, die mit der regulativen Idee neuer Nationalstaaten nur bedingt und oft erst Jahre später gelöst werden konnten.

Sowjetrussland war an den Friedensverhandlungen in Paris nicht beteiligt. Der russische Bürgerkrieg, der zugleich eine breite Intervention bedeutete, ließ vorläufig keinen Frieden zu. Der polnisch-sowjetische Krieg um Grenzen und Einflussbereiche endete im März 1921 mit dem bilateralen Frieden von Riga; Sowjetrussland benannte sich Ende 1922 in Sowjetunion um.

Die zweite große fortdauernde Kampfzone bildete der Vordere Orient. Anders als die Friedensverträge der Alliierten mit dem Deutschen Reich, Österreich, Ungarn und Bulgarien trat der im August 1920 geschlossene Vertrag mit dem Osmanischen Reich nie in Kraft. In fortdauernden Kämpfen – von Smyrna war bereits die Rede – emanzipierte sich vor allem die von nun an nationalstaatliche Türkei. Die arabischen Territorien südlich der Türkei hingegen gerieten in prekäre Mandatsverhältnisse zu Frankreich und Großbritannien, die auf eine neue Kolonisierung hinausliefen. Immerhin schuf der Vertrag von Lausanne, der die Grenzen der Türkei insbesondere gegenüber Griechenland festgelegte, im Juli 1923 auch eine vorübergehende völkerrechtliche Grundlage zur externen Lösung der Palästinafrage (Roshwald 2000).

Wie bereits angedeutet, nahm neben den konkreten Friedensverträgen mit territorialen und materiellen Verpflichtungen die Frage nach der künftigen Weltordnung und der neuen Institution des Völkerbundes eine zentrale Rolle ein. In den meisten kriegführenden Staaten hatte es vielfältige Überlegungen für die Ordnung nach dem „Krieg, der alle Kriege beenden wird“ (Wells 1914), gegeben, die nun alle zusammengebracht werden mussten. Deshalb wurde es keineswegs ein reiner »Wilson-Frieden«, den man sich im Deutschen Reich in unterschiedlichen Versionen zusammenfantasierte, sondern ein Kompromiss. In diesen gingen viel mehr Komponenten der alten Großmacht- und Kolonialordnung ein, als sich die progressive Geschichtsdeutung des völkerrechtlichen Fortschritts gern zugesteht. Vielmehr ließen die Interessen der Großmächte, allen voran das Interesse am Zusammenhalt des britischen Empires, das der Südafrikaner Jan Smuts wirkmächtig einzubringen verstand, einen recht hybriden Völkerbund entstehen (Mazower 2009).

Bilanz

Da sich die USA aus innenpolitischen Gründen aus der Unterzeichnung wie der Umsetzung des Völkerbundes zurückzogen (mit ihrem Beobachterstatus aber dennoch die Gestaltungsmöglichkeiten der stärksten kapitalistischen Weltmacht weiter nutzten) und weitere zentrale Akteure, wie die Sowjetunion oder Deutschland, zunächst fehlten, blieb die Wirkung der Pariser Friedensverhandlungen deutlich begrenzt. Eine entscheidende Weltmachtfrage, die Verhinderung eines künftigen Wettrüstens zur See, wurden 1921/22 auf der Washingtoner Seemächtekonferenz vorläufig geregelt (Ziebura 1984).6 Überdies waren die Verhandlungen von»„weißen« Vorstellungen geprägt, wie ein dauerhafter Frieden aussehen sollte. Aus dem Krieg, der, wie oben zitiert, alle Kriege beenden sollte, war für viele ein Friedensschluss geworden, der wahren Frieden gerade unmöglich machte.7

Im Rückblick kam es bei der Pariser Friedenskonferenz nur zu einem Kompromiss – einem Kompromiss „zwischen enttäuschten Siegern und nicht zwischen Siegern und Besiegten“ (Leonhard 2014, S. 967). Die Ordnung selbst war damit kaum konsolidiert, die Verantwortung für eine permanente Fortsetzung von Friedensprozessen blieb. Unter den Bedingungen fortgesetzter Großmachtpolitik, weltwirtschaftlicher Rivalitäten und sich voll entfaltender Globalisierung sowie stärker denn je ideologisch aufgeladener Gegensätze wurden die Staaten dieser Verantwortung nur ansatzweise gerecht. Es ist gleichwohl erstaunlich, wieviele Regelungen, ob temporär pazifizierend oder neue Konflikte schaffend, die Friedensmacher damals zustande brachten.

Anmerkungen

1) Eine gute Auflistung der unterschiedlichen Deutungen findet sich unter en.wikipedia.org/wiki/Great_fire_of_Smyrna (10.10.2018).

2) Der Antrag forderte „allen fremden Staatsbürgern von Mitgliedschaften des Völkerbundes in jeder Hinsicht gleiche und gerechte Behandlung zukommen zu lassen, keine Unterscheidung, sei es durch Gesetze oder in der Realität, zu machen, was ihre Rasse oder Nationalität betrifft“; siehe dazu Shimazu 2002; Lissner 2014; Lauren 2003.

3) Die für den Herbst 2018 in Deutschland erschienenen umfängliche Monographien von Eckart Conze, Gerd Krumeich, Jörn Leonhard und Klaus Schwabe sind nach Abfassung dieses Beitrags erschienen. Bereits im Sommer 2018 erschien Payk 2018.

4) Siehe ausstellung-frieden.de; zur Ausstellung wurde ein mehrbändiger Katalog vorgelegt.

5) Auch vor den Neuerscheinungen Herbst 2018 zum Rahmen: Leonhard, J. (2014): Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München: C. H. Beck, S. 894-938; Krumeich, G. (2001): Versailles. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Essen: Klartext.

6) Ziebura (1984) unterschied demgemäß nur leicht überspitzt ein Versailler und ein Washingtoner System.

7) In Anlehnung an den auf den Nahen Osten gemünzten Titel »A Peace to End all Peace« von Fromkin (2009).

Literatur

Afflerbach, H. (2018): Auf des Messers Schneide – Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor. München: C.H. Beck.

Berg, M. (2005): The Ticket to Freedom – Die NAACP und das Wahlrecht der Afro-Amerikaner. Frankfurt/M.: Campus.

Conze, E. (2018), Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München: Siedler.

Dülffer, J (2002): Frieden schließen nach einem Weltkrieg? Die mentale Verlängerung der Kriegssituation in den Friedensschluß. In: Dülffer, j.; Krumeich, G. (Hrsg.): Der Verlorene Frieden – Politik und Kriegskultur nach 1918. Essen: Klartext, S. 19-38.

Dülffer, J. (2011): Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. In: Fisch, J. (Hrsg.): Die Verteilung der Welt – Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. München: Oldenbourg, S. 113-140.

Dülffer, J. (2017): German Research on the First World War in a Centenary Perspective. Ventunesimo Secolo, No. 41, S. 38-57.

Fisch, J. (2010): Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – Die Domestizierung einer Illusion. München: Oldenbourg.

Fischer, F. (1961): Griff nach der Weltmacht – Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf: Droste.

Fromkin, D. (2009): A Peace to End all Peace – The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East. London: Macmillan.

Gerwarth, R. (2017): Die Besiegten – Das blutige Erbe des Ersten Weltkrieges, München: Siedler, S. 11-14.

Hull, I.V. (2014): A Scrap of Paper – Breaking and Making International Law during the Great War. Ithaca: Cornell Univeristy Press.

Immig, N. (2001): Die Smyrna-Frage in der internationalen Politik 1919-1923. Magister-Arbeit an der Univeristät Köln.

Krumeich, G. (2017): Der Dolchstoß war nicht bloß eine Legende. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2017, S. 13.

Krumeich, G. (2018), Die unbewältigte Niederlage. Das Träuma des Ersten Weltkrieges und die Weimarer Republik. Freiburg: Herder

Kulke, H.; Rothermund, D. (2018): Geschichte Indiens. München: C. H. Beck.

Lauren, P. G. (2003): The Evolution of International Human Rights – Visions Seen. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, S. 97-102.

Leonhard, J.(2018), Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923, München: C.H. Beck.

Lissner, S. (2014): Menschenrechte auf der Pariser Konferenz 1919 – Universalistisches »Menschenrasserecht«? Bucerius Law Journal, 2/2014, S. 98-103.

Manela, E. (2007): The Wilsonian Moment – Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford/New York: Oxford University Press.

Mazower, M (2009), No Enchanted Peace – The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations. Princeton und Oxford: Princeton University Press.

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Niedhart, G. (2006): Die Außenpolitik der Weimarer Republik. München: Oldenbourg.

Payk, M. (2018): Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg. München: de Gruyter.

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Platthaus, A. (2018a): Demütigung als Prinzip. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.2018.

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Roshwald, A. (2000): Ethnic Nationalism and the Fall of Empires – Central Europe, the Middle East and Russia, 1914-23. London: Routledge.

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Tooze, A. (2014), Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931, München: Siedler

Wells, H.G. (1914): The War that Will End War. London: Frank & Cecil Palmer.

Ziebura, G.(1984): Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24-1931 – Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch. Frankfurt: Suhrkamp.

Professor Dr. Jost Dülffer lehrt Mittlere und Neuere Geschichte am Historischen Institut der Unversität zu Köln.

Krieg und Frieden in den Medien

Krieg und Frieden in den Medien

Tagung der IALANA, 26.-28. Januar 2018, Kassel

von Stefan Hügel

Ende Januar fand ein von IALANA Deutschland organisierter Medienkongress statt. Er befasste sich kritisch mit der Kriegsberichterstattung in den Medien, die seit einiger Zeit Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen ist. Leitfrage des Kongresses war: Kann man ein Leitbild »Friedensjournalismus« etablieren, das der Wahrheit verpflichtet ist und deeskalierende Berichterstattung betreibt? Der Kongress war sehr gut besucht, die CROSS-Jugendkulturkirche in Kassel gut gefüllt.

»Klassische« Medien sind zunehmend Kritik ausgesetzt. Sie werden verdächtigt, Propaganda zu betreiben und allzu »staatsnah« von Ereignissen zu berichten. Diese Kritik nimmt seit dem Konflikt in der Ukraine zu, in dem vor allem den öffentlich-rechtlichen Medien eine zu deutliche – und sachlich nicht immer gerechtfertigte – Schuldzuweisung an Russland vorgeworfen wird. Unter Druck geraten klassische Medien auch durch die Kommunikation in sozialen Netzwerken und allgemein im Internet, in dem sich eine Vielfalt von Ansichten und (vermeintlichen) Fakten verbreitet – von den »News« zu den »Fake News« ist es oft nur ein einziger Mausklick. Verstärkt wird dies durch politische Akteure, allen voran US-Präsident Trump, die ihre eigene Sicht zu aktuellen Ereignissen verbreiten und einen erheblichen Einfluss darauf ausüben, was für »wahr« gehalten wird – und was nicht.

Gleichzeitig stehen gegen kritische Journalist*innen Vorwürfe im Raum, Verschwörungstheorien zu verbreiten, gar Antisemitismus. Auf Twitter wurden solche Behauptungen auch gegen diese Veranstaltung laut. Die unterstellte Verbindung zwischen antisemitischen Medien und Journalist*innen, die auch auf dieser Veranstaltung zu Wort kamen, wurde von den Veranstaltern entschieden zurückgewiesen. Dennoch wird ein Dilemma deutlich: Wann werden tatsächlich mit Verschwörungstheorien allzu einfache Erklärungen präsentiert, und wann wird der Vorwurf der Verschwörung dafür eingesetzt, missliebige Fragen und Interpretationen zu ersticken? Eine Antwort darauf kann man vielleicht nur im konkreten Einzelfall geben.

Zum Programm: Nach der Themeneinführung am Freitagabend befassten sich die Referate am Samstagvormittag mit der Frage, wie in den Medien über Krieg berichtet wird und warum genau in dieser Weise berichtet wird. Dabei ging es vor allem um die Frage, wer auf Medien Einfluss nimmt. Auch die inneren Strukturen der Medien spielen eine Rolle: Welche Kontrollstrukturen und -gremien gibt es und welchen Einfluss haben sie auf die Inhalte?

Konkrete Themen waren Inhalt des nächsten Blocks: Die Berichterstattung über den Kosovo-Krieg, der Krieg in Syrien, die illegalen Kriege der USA, die Konfrontationspolitik gegenüber Russland wurden hinsichtlich möglicher Manipulation der Öffentlichkeit kritisch beleuchtet. Daraus ergibt sich die Frage, wie wir uns gegen solche Manipulation schützen können.

Eine systematische Aufarbeitung von Propaganda und den Möglichkeiten ihrer Erkennung bildete den Auftakt zum Sonntag. Danach gab es Schlaglichter auf die Rolle von Public-Relations-Agenturen und auf die formalen Wege, um auf die Berichterstattung in den Medien als Einzelperson Einfluss zu nehmen, wie Programmbeschwerden, Gegendarstellungen oder gerichtliche Anordnungen. Einige alternative Medien wurden vorgestellt: NachDenkSeiten, weltnetz.tv, correctiv und RUBIKON. Den Abschluss bildete die Diskussion der Möglichkeiten von alternativen Medien.

Der Kongress gab – so mein Fazit – einen sehr guten Überblick über alternative Medien und war gleichzeitig stark durch die Kritik an den »klassischen« Medien geprägt – deren Vertreter*innen allerdings kaum präsent waren. Offenbar hatten eingeladene Vertreter*nnen klassischer Medien ihre Teilnahme abgesagt. Dies führte dazu, dass die Diskussionen nicht übermäßig kontrovers waren. Dass Journalismus interessengeleitet sein kann, ist nichts Neues und muss offen diskutiert werden. Sich dieser Diskussion zu entziehen hilft ebenso wenig weiter, wie die eigene kritische Meinung in Echokammern zu reproduzieren.

Auch eine intensivere Auseinandersetzung mit den »Verschwörungs«-Vorwürfen wäre wohl notwendig: Auch wenn man sich dieser Kritik nicht anschließen mag, die Aussagen stehen im Raum und können nicht ignoriert werden.

Zweifellos lässt sich all dies nicht an einem einzelnen Wochenende aufarbeiten. Wollte man sich als Teilnehmer*in über alternative Medien und fundierte Kritik an klassischen Medien informieren, war der Besuch des Kongresses absolut lohnenswert.

Eine Dokumentation des Medienkongresses findet sich unter ialana.de. Die Veranstaltung wurde durch Weltnetz.tv aufgezeichnet; Aufzeichnungen einiger Vorträge finden sich unter weltnetz.tv/dossier.

Stefan Hügel

Responsible Research and Innovation

Responsible Research and Innovation

Interdisziplinärer Workshop von IANUS und Schader-Stiftung, 19. April 2018, Darmstadt

von Thea Riebe, Alfred Nordmann und Christian Reuter

Statt der Forschung ethische, rechtliche, gesellschaftliche Reflexion nur beizugesellen, verlangt Responsible Research and Innovation (RRI), dass sich Forschung an europäischen Werten – den Werten der Europäischen Union – orientiert. Um diese Öffnung zu gewährleisten, setzt RRI zunächst nicht auf spezifische Werte, sondern prozedural auf eine Forschung, die Folgen antizipiert, unterschiedliche Interessen und Wertvorstellungen inkludiert, sich selbst reflektiert und in die Verantwortung nehmen lässt. Doch was heißt das?

In Zusammenarbeit mit IANUS (Science, Technology, Peace) veranstaltete die Darmstädter Schader-Stiftung am 19. April 2018 einen interdisziplinären Workshop und ein Forum Offene Wissenschaft unter dem Titel »Science and Engineering for Global Peace – A Makerspace for Responsible Innovation« (Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit), um sich unter der Fragestellung »Ein europäisches In­stru­ment zur Förderung der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung?« näher mit RRI zu beschäftigen. An dem eintägigen Workshop nahmen 32 Teilnehmer*innen aus zwölf Disziplinen (Arbeitswissenschaften, Architektur, Biologie, Gesellschaftswissenschaften, Informatik, Materialwissenschaften, Philosophie, Physik, Politikwissenschaft, Sportwissenschaften, Technikfolgenabschätzung, Techniksoziologie) teil.

René von Schomberg gilt als Architekt von RRI, da er das Konzept weitgehend entwickelt und ihm im Rahmen seiner Arbeit für die Europäische Kommission zur Durchsetzung verholfen hat. In seiner derzeitigen Rolle als Gastprofessor am In­stitut für Philosophie der TU Darmstadt leitete er die Diskussion mit der Feststellung ein, dass es der EU darum ginge, ihre Forschungsförderung an die Werte des Lissabon-Vertrages zu binden, um wissenschaftliche Innovation verantwortungsvoller zu gestalten. Die Geschichte der europäischen Union verdeutliche, dass die Formulierungen in Art. 2 des Vertrags („Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören […]“) nicht schon für die Realisierung dieser Werte stünden, aber eine Einladung darstellten, diese Werte einzufordern. So sei etwa das Vorsorgeprinzip zur rechtlich verbindlichen Norm geworden. Wer Art. 3(1) des Lissabon-Vertrages lese („Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“), könne sich demnach eingeladen fühlen, eine friedens­politische Dimension als wesentlichen Bestandteil von RRI einzufordern.

Ein zweiter zentraler Gedanke von RRI bestehe darin, dass es sich eben nicht, wie im Falle der ethischen, juristischen und sozialen Begleitforschung (ELSA), um neben- oder nachgeordnete Forschung handeln solle. Vielmehr sei RRI selbst Teil des Innovationsprozesses und damit integraler Bestandteil der Forschung und Entwicklung. Das Beispiel der Technikgestaltung in der »precision agriculture« (Präzisionsackerbau) zeige, dass es Teil des gesamten Designprozesses sein könne, den Zugang zu den dafür erforderlichen Daten im Sinne der mittelständischen Agrarbetriebe zu gestalten.

Die zentrale Frage der ersten Diskussionsrunde war daher, wie ein zunächst abstrakt wirkender Friedensbegriff in ein solches Innovationssystem integriert werden kann und welche Möglichkeiten sich dabei für den Forschungs- und Entwicklungsalltag ergeben. Besonders bei anwendungsorientierter Forschung bestehen Gestaltungspielräume, um beispielsweise Missbrauchs­potentiale von Dual-use Technologien einzuschränken. Dies hat die Forschung zur Umrüstung von Atomreaktoren hin zu mehr Proliferationsresistenz gezeigt. In der IT-Sicherheit stellen sich hier allerdings noch viele Probleme, da alle IT-Technologien im Grunde Dual-use Technologien sind.

In der zweiten Sitzung wurde aus der Perspektive der Forschenden diskutiert, wie friedens- und konfliktrelevante Dimensionen eines Forschungsvorhabens explizit in eine Forschungsagenda aufgenommen werden können. Die zunehmende Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Ingenieur*innen erzeugen für die Integration gesellschaftlicher Fragen in die anwendungsorientierte Forschung neue Herausforderungen. Im Rahmen von RRI geht es vor allem darum, bereits während der Forschung und Entwicklung eine positive Gestaltung der Technologie sicherzustellen. Eine potenziell produktive Forschungslücke der anwendungsorientierten Friedensforschung ergibt sich auch aus der breiten Verteilung von Verantwortlichkeiten ohne klare Abgrenzung von technischen, zivilgesellschaftlichen und nationalstaatlichen Problemdimensionen. Die derart ausgeweiteten Sicherheitskulturen stellen neue Herausforderungen für die naturwissenschaftliche-technische Friedenforschung dar. Erweiterte Sicherheitsdiskurse reflektieren eine gesamtgesellschaftliche Verunsicherung und verursachen einen Technologie-, Kompetenz- und Rüstungswettlauf in der Zivilgesellschaft. Darum müsse auch der Innovationsbegriff kritisch hinterfragt werden: Was unterscheidet den bloßen Zuwachs technischer und ökonomischer Kapazitäten als (immer auch sozialer) Innovation von der Stärkung eines kooperativen und friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens? Dafür braucht der Innovationsprozess die systematische Einbeziehung der Zivilgesellschaft im Sinne einer «open science« (offene Wissenschaft).

Im anschließenden »Forum Offene Wissenschaft« schloss René von Schomberg die Diskussionen mit seinem Vortrag über RRI und der Weiterentwicklung dieses Konzeptes ab. Als Desiderat ergab sich dabei, aus der Darmstädter Forschungstradition abgeleitete Vorschläge und methodische Ansätze weiterzuentwickeln, die die angestrebte Integration einer friedenspolitischen Perspektive in RRI ermöglichen.

Freilich könnte RRI als Schönreden europäischer Innovationspolitik abgeschrieben werden. Die Diskussion hat allerdings gezeigt, dass es ein Werkzeug oder Instrument sein kann, mit dem sich womöglich eine Hebelwirkung zur breiteren Verankerung von friedens- und konfliktrelevanten Fragen nicht nur in europäisch geförderten Forschungsprojekten erzeugen lässt.

Thea Riebe, Alfred Nordmann, Christian Reuter

Frieden – Konflikt – Wissenschaft

Frieden – Konflikt – Wissenschaft

50. Kolloquium der AFK, 12.-14. April 2018, Villigst

von Hartwig Hummel

50 Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1968 stand das Jubiläumskolloquium der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) unter dem Motto »Frieden – Konflikt – Wissenschaft. Reflexionen zu Forschung und Praxis«. Die Tagung fand statt vom 12.-14 April 2018 im Tagungshaus der Katholischen Bischofskonferenz in Berlin und in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst.

Prof. Dr. Conrad Schetter, Vorsitzender der AFK, stellte die Konzeption der Veranstaltung vor. Es gehe bei diesem Jubiläumskolloquium nicht nur darum, selbstbewusst Bilanz zu ziehen, sondern auch darum, das eigene wissenschaftliche Arbeiten kritisch zu reflektieren. Der AFK-Vorstand hatte als Leitfaden für die dreitägige Tagung folgende Fragen vorgegeben:

  • Wie kann Friedens- und Konfliktforschung den eigenen Ansprüchen und Herausforderungen entsprechen, wissenschaftliche Beiträge zum Frieden zu leisten?
  • Wie geht sie mit dem selbstgestellten Anspruch um, methodisch und theoretisch inter- und transdisziplinär vorzugehen?
  • Wie bleibt die Friedens- und Konfliktforschung praxisrelevant bei der beständigen Gefahr, sich politisch instrumentalisieren zu lassen?

Reflexion über Vergangenheit und Zukunft der Friedens- und Konfliktforschung

Prof. Dr. Herbert Wulf, der die Friedens- und Konfliktforschung von Anfang an in Hamburg, Duisburg und bis zu seiner Pensionierung dann als Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC) miterlebt und mitgeprägt hatte, unternahm einen persönlichen geschichtlichen Rückblick. Die in der AFK organisierte kritische deutsche Friedens- und Konfliktforschung war ein Kind des sozialliberalen Aufbruchs in Westdeutschland nach 1968, wurde aber während der Kohl-Ära an den politischen und wissenschaftlichen Rand gedrängt. Die AFK verlor an Bedeutung, überlebte aber als kritisches Netzwerk von Friedenswissenschaftler*innen nicht zuletzt dank der Unterstützung durch einige Bundesländer und Evangelische Akademien. Eine neue Phase begann mit der rot-grünen Koalitionsregierung. Seitdem erlebt die Friedens- und Konfliktforschung einen anhaltenden Aufschwung in der Lehre, u.a. durch die Einrichtung mehrerer Masterstudiengänge, in der Forschung, u.a. durch die Gründung der »Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung« (ZeFKo) und in der Politikberatung, vor allem im Bereich der zivilen Friedensdienste. Die politische Anerkennung der AFK als Repräsentantin der Friedens- und Konfliktforschung brachte Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Bündnisgrüne) in ihrem Grußwort zum Ausdruck. Sie ermahnte die Kolloquiumsteilnehmer*innen, ihren kritischen Ansatz zu behalten und bei aller durchaus wünschenswerten Praxisorientierung »unbequem« zu bleiben.

In den Plenumsdiskussionen zu Beginn und am Ende des Kolloquiums waren sich nicht nur Friedens- und Konfliktforscher*innen über die politische Relevanz der Friedens- und Konfliktforschung einig, sondern auch Repräsentant*innen aus Zivilgesellschaft, Medien und Diplomatie, wie die frühere Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, Selmin Çaliskan, der ehemalige ARD-Nahostkorrespondent Jörg Armbruster und Botschafter a.D. Peter Gottwald. Stellenweise drohte sich die Diskussion auf ein Lobbying für eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung und für bessere Berufsperspektiven für die Friedens- und Konfliktforschung zu verengen. Doch kritische Diskussionsbeiträge erinnerten die Versammlung immer wieder an die wissenschaftlichen und politischen Herausforderungen der AFK.

Panels und Arbeitskreise

Wie vital die AFK gegenwärtig ist, wird durch die große Zahl an Panels belegt, die sowohl von jungen als auch von altgedienten AFK-Mitgliedern durchgeführt wurden. Abgedeckt wurde ein breites Themenspektrum. Es umfasste inhaltliche Forschungsthemen, wie die Krise des Peacebuilding-Ansatzes, die (De-) Konstruktion der Opfer-Kategorie in der Transitional Justice, die Mikrodynamik von Bürgerkriegen, historische Friedens- und Konfliktforschung (FKF) sowie Terrorismus und Radikalisierung. In den Panels ging es aber auch um eine kritische Selbstreflektion anhand folgender Themen: Forschungsethik und Forschungsmethodologie der FKF, das Konzept der Friedenslogik, kritische Reflexionen zum Oxfam-Skandal um sexuellen Missbrauch, transrationale Friedensphilosophie, Wissenstransfer und Transferwissen in den Studiengängen der FKF, Herrschaftskritik, die deutschsprachigen FKF-Zeitschriften und schließlich Rassismus in der FKF. Als sehr erfrischend erwies sich die Aufforderung des AFK-Vorstands, auch alternative Präsentationsformate zu wählen. Neben klassischen Panelvorträgen gab es nämlich auch Fishbowl-Gesprächsrunden, moderierte Podiumsdiskussionen und interaktive Vorträge.

Eine besondere Dynamik erleben derzeit die Arbeitskreise der AFK. Eigene Panels und Netzwerktreffen auf dem Kolloquium organisierten die Arbeitskreise »Natur, Ressourcen, Konflikte«, »Herrschaftskritische Friedensforschung«, »Wissenschaft und Praxis«, »Curriculum und Didaktik«, »Theorie« und »Methoden« sowie das »Netzwerk Friedenswissenschaftlerinnen«. Weitere Arbeitskreise befassen sich mit »Historische Friedensforschung«, »Friedenspädagogik« sowie »Kultur und Religion«. Die Arbeitskreise veranstalten zunehmend auch eigene Workshops jenseits des AFK-Kolloquiums. Insgesamt bieten die Arbeitskreise gerade den vielen Nachwuchswissenschaftler*innen gute Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Vernetzung. Die Nachfrage seitens der Nachwuchswissenschaftler*innen ist sogar so groß, dass die »Junge AFK« seit einigen Jahren regelmäßig ein eigenes Vorkolloquium veranstaltet.

Nachwuchspreis und Mitgliederversammlung

Die AFK vergibt jährlich in einem festlichen Rahmen den Nachwuchspreis an junge Wissenschaftler*innen oder Initiativen, die einen herausragenden Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung geleistet haben. Der Preis ist dem Andenken an die Friedensforscherin Prof. Christiane Rajewsky gewidmet. Den diesjährigen Nachwuchspreis vergab die AFK-Jury unter Vorsitz von Simone Wisotzki an Philipp Lottholz (Universität Birmingham) für seine Doktorarbeit zum Thema »Post-Liberal Statebuilding in Central Asia – A Decolonial Perspective on Imaginaries of Social Order and Community Security Practices in Kyrgyzstan« und an David Scheuing (Universität Marburg) für seine Masterarbeit zum Thema »Using Collaborative Cartography on the Balkan Route to Navigate Oppressive Spaces«.

Die diesjährige AFK-Mitgliederversammlung in Berlin wählte auch einen neuen AFK-Vorstand. Zur ersten Vorsitzenden und Nachfolgerin von Prof. Dr. Conrad Schetter, der nicht mehr kandidierte, wurde Prof. Dr. Bettina Engels (FU Berlin) gewählt. Zweite Vorsitzende wurde Dr. Simone Wisotzki (HSFK). In den Vorstand wurden außerdem als Beisitzer*innen gewählt: Prof. Dr. Eva-Maria Hinterhuber (Hochschule Rhein-Waal), Dr. Claudia Kemper (Universität Gießen), Prof. Dr. Alex Spencer (Universität Magdeburg), Prof. Dr. Nils Weidmann (Universität Konstanz) sowie als Frauenbeauftragte Christine Buchwald (Universität Koblenz-Landau) und ihre Stellvertreterin Lena Merkle (Universität Magdeburg). Nachwuchssprecher*innen sind Tim ­Bausch, Daniel Beck, Alexandra Engelsdorfer und Julia Renner.

Fazit

Mit ihrem Kolloquium in Berlin zeigte sich die AFK als lebendiges und kreatives Netzwerk aus alten und jungen Friedenswissenschaftler*innen. Die Beteiligung prominenter Gäste belegt eine hohe gesellschaftliche und politische Anerkennung der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Während das AFK-Kolloquium für die in der FKF aktiven Professor*innen zu einem Pflichttermin geworden zu sein scheint, tritt dies nicht in gleicher Weise auf die Friedensforschungsinstitute zu, die kaum (prominent) vertreten waren. Das Drängen nach einem kritischen Selbstverständnis ist unter den AFK-Mitgliedern stärker geworden. Gleichzeitig spürt die AFK aber auch die materiellen und politischen Grenzen, die einer (kritischen) FKF gesetzt sind.

Hartwig Hummel

Frieden Macht Freiheit

Frieden Macht Freiheit

31. Tagung des Forum Friedenspsychologie, 8.-10. Juni 2018, Heidelberg

von Ursula Christmann und Julia Schnepf

Frieden ist der Gegenpol zu Gewalt, sei es personale oder strukturelle Gewalt. In der Friedenspsychologie geht es daher direkt oder indirekt immer um die Überwindung von Gewalt. Bei der 31. Tagung des Forums Friedenspsychologie an der Universität Heidelberg stand vor allem die Macht des Wortes in Relation zur friedensgefährdenden oder -zerstörenden Gewalt im Mittelpunkt. Sprache und Kommunikation können den Weg zur Gewalt bahnen, können aber auch ein Königsweg zur Verhinderung oder sogar Überwindung von gewalthaltigen Konflikten zwischen Personen, Gruppen, Ethnien etc. sein. Gerade bei lang andauernden zwischenmenschlichen Konflikten mit hohem Gewaltpotenzial ist die konstruktive Macht des Wortes daher in der Lage, Freiheit wiederherzustellen: die Freiheit der Opfer wie der Täter*innen.

Diesem Problem war nicht zuletzt die Keynote-Vorlesung gewidmet, in der Dr. Nurit Shnabel (Universität Tel Aviv) das Bedürfnisbasierte Modell als Schlüssel für Versöhnungsprozesse vorstellte. Das Modell geht davon aus, dass Menschen grundsätzlich bestrebt sind, eine positive Identität aufrechtzuerhalten, und dass Konflikte die Identität von Opfern und Täter*innen bedrohen. Opfer fühlen sich durch den Konflikt in ihrer »Agency« (z.B. Macht, Kontrolle, Einflussnahme, Handlungsfähigkeit) bedroht, während Täter eine Beeinträchtigung des moralischen Selbstbildes erfahren, und sei es nur durch die moralische Ablehnung (eines Großteils) der Umgebung und den möglichen sozialen Ausschluss. Versöhnung ist dadurch möglich, dass die konträr-komplementären Bedürfnisse der Wiederherstellung von Agency (Opfer) bzw. moralischer Akzeptanz (Täter*innen) erfüllt werden, und zwar in gegenseitiger Kommunikation und Anerkennung. Gerade bei lang andauernden, auch kriegerischen, Konflikten wird die Situation allerdings meist dadurch verkompliziert, dass Opfer auch zu Täter*innen werden und umgekehrt. (Mehr zum Bedürfnisbasierten Modell siehe Shnabel, N. (2017): Wie versöhnen wir uns? W&F 3-2017, S. 34-38.) Welche Möglichkeiten – und Grenzen – für Versöhnungsprozesse durch diese Verschränkung des Täter*in-Opfer-Status auch im Rahmen des Bedürfnisbasierten Modells zu erwarten sind, war Gegenstand nicht nur des letzten Vorlesungsteils, sondern auch der engagierten Diskussion mit den Tagungs-Teilnehmer*innen.

Dem Rahmenthema der Tagung entsprechend wurden in der ersten Sektion, »Die schiefe Ebene«, zunächst die Gefahren thematisiert, die von destruktiver Kommunikation und Weltverarbeitung für den Frieden ausgehen (können). Eine prominente Rolle spielt in Deutschland dabei das auf den Holocaust bezogene »Schluss-Strich-Argument«, das nicht nur im Kontext von offenem Antisemitismus geäußert wird, sondern mit einer vorgeblich israelfreundlichen Kritik an muslimischen Migranten*innen verschleiert auch im neuen Rechtspopulismus zum Ausdruck kommt. Gegen muslimische und andere Geflüchtete richtet sich auch die (im Vergleich zur deutschen Mehrheitsbevölkerung) geringere Zuschreibung von komplexen Emotionen und Kognitionen, die als »Infrahumanisierung« bezeichnet wird und einen nicht bewussten ersten Schritt zur Ausgrenzung und Ablehnung von Geflüchteten darstellt. Die potenziellen Einflussfaktoren für Infrahumanisierung zwischen bahnendem Nationalismus und hemmendem Kontakt sind jedoch so komplex, dass eine Aufklärung durch weitere Forschung noch aussteht. Allerdings gibt es auch innerhalb der jeweiligen nationalen Mehrheitsgesellschaften ein Auseinanderdriften von Gesellschaftsschichten, das zum Erstarken von (rechts-) populistischen Entwicklungen geführt hat. Dieses Auseinanderdriften korreliert mit dem Anwachsen der Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahrzehnten, wodurch sich im positiven Fall die traditionellen Parteien zur Erhaltung ihres Wählerpotenzials gedrängt fühlen könn(t)en, diese Schere wieder mehr zu schließen. In diesem Fall würde der Rechtspopulismus letztlich eine Art »Demokratiehäutung« bewirken, also eine Erneuerung der demokratischen Institutionen und Inhalte, um die Gefahren von Rechts abzuwehren.

In der zweiten Sektion, »Overcoming conflicts?«, ging es zunächst um die Möglichkeiten, die Spannung zwischen negativen und positiven Dynamiken in Richtung Letztere aufzulösen. Dabei stand das Vertrauen in die Polizei (in den USA) bei Mitgliedern der (weißen) Mehrheitsgesellschaft vs. (farbigen) Minoritäten im Fokus. Durch Studien auf der Basis des Intergruppen-Vertrauen-Modells konnte nicht nur der erwartbare Ver-/Misstrauensunterschied zwischen diesen Gesellschaftsschichten nachgewiesen werden, sondern auch, dass sich das Misstrauen durch einen Mangel an Empathie und Vergleichbarkeit aufseiten der Polizei verstärkt – was Konsequenzen für Polizei-Trainings haben sollte, indem zum Beispiel nicht nur ein Fokus auf Gerechtigkeit gesetzt wird. Wie schwer sich konstruktiv-altruistische Haltungen jedoch entwickeln lassen, zeigen Untersuchungen zum Management in der Organisationspsychologie. Hier erhalten diejenigen, die Informationen nicht nur für den eigenen Gewinn, sondern auch für den des Teams einholen, deutlich schlechtere Bewertungen, was egoistisches Verhalten mehr als altruistisches belohnt. Um solchen Dynamiken entgegenzuwirken, gibt es bereits eine Fülle von kreativitätssteigernden Gruppentechniken. Dazu gehören Ansätze wie das »Ideen-Mining« oder »Democratic Tableware«, deren Effektivität allerdings noch durch systematische Interventionsstudien gesichert werden muss. Man darf sich also die Überwindung von Konflikten nicht zu einfach vorstellen. Trotzdem existiert in der Zusammenschau der bisherigen Konflikt- und Friedensforschung durchaus ein substantieller Pool von Ansätzen zur Überwindung sogar von unlösbar scheinenden Konflikten: von der Reduzierung der Feindschaft über die Zusammenarbeit in abgegrenzten Bereichen bis zur Anerkennung von Ungerechtigkeiten, und sei es nur auf symbolische Weise.

In der dritten Sektion, »Politisches Engagement und Kompetenz«, lag das Schwergewicht auf den (möglichst) konstruktiven Prozessen und (Rahmen-) Bedingungen für die Sicherung von Frieden und Freiheit. In einer groß angelegten Studie an thüringischen Schulen konnte aufgezeigt werden, dass es unter den Jugendlichen eine große Gruppierung gibt, die sich intrinsisch motiviert für politisches Engagement interessiert und gegenüber Ausländer*innen eine positive Einstellung aufweist; insbesondere zeigte sich, dass dafür demokratiepraktizierender Unterricht eine entscheidende Rahmenbedingung darstellt. Paralleles gilt auch für Ausländer*innen bzw. Migranten*innen selbst: Sie versuchen sowohl in der Phase der Flucht aus dem Herkunftsland als auch während der Integration ins Aufnahmeland ihre Akteurschaft in vielfältiger Weise aufrecht zu erhalten. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext setzt das allerdings auch kon­struktive Erklärungsmodelle aufseiten der aufnehmenden Gesellschaft voraus. Dafür sind mediale Darstellungen, sowohl bildlicher als auch textueller Art, mit entscheidend, da sie einen Einfluss darauf haben, ob sich anteilnehmende Emotionen mit angemessener Verbalisierung entwickeln oder nicht. Selbst wenn dies zunächst nicht gelingt und Diskriminierung vorliegt, kann die Psychologie Trainingsprogramme zur Überwindung von Diskriminierung anbieten, zum Beispiel das Kompetenztraining zur Bewältigung von Diskriminierung (­KOBEDI) der Universität Marburg, das nicht nur die Diskriminierung von Geflüchteten, sondern auch sexuelle, religiöse und andere Arten von Diskriminierung einschließt.

In der letzten Sektion der Tagung, »Die Macht des Wortes«, stand schließlich die argumentative Kraft der Kommunikation im Mittelpunkt. Zunächst wurde mit dem Konzept der »Argumentationsintegrität« eine Sensibilität für gerechte und kooperative Kommunikation – auch in der politischen Diskussion – vorgestellt, durch die unintegre, unfaire Argumente auf den*die Sprecher*in selbst zurückfallen (sollten). Die häufigsten unfairen rhetorischen Strategien (46 an der Zahl) lassen sich elf Standards des un/integren Argumentierens zuordnen, die an Videobeispielen aus dem Wahlkampf der AfD verdeutlicht wurden. Gerade der Erfolg dieser Partei wirft die Frage auf, ob es unter Umständen ganze Bevölkerungsteile gibt, die Unintegrität nicht ablehnen, sondern sich daran ergötzen, und wie man einer solchen Gefährdung von Frieden und Freiheit entgegentreten kann. Die Antwort gab der letzte Vortrag über eine »erwägungsorientierte Bildung« von Kindesbeinen an. Das betrifft eine Didaktik schon im 3. Schuljahr, durch die argumentative Kompetenz und insbesondere der konstruktive Umgang mit anderen Meinungen (qua Meinungen anderer) erlernt und eingeübt werden. Am Ende dieses Weges sollte eine aufgeklärte Toleranz stehen, in der die Macht des Wortes gleichermaßen Frieden und Freiheit ermöglicht.

In der Mitte der Tagung wurde, wie bei den Jahrestagungen des Forum Friedenspsychologie üblich, der Gert-Sommer-Preis für die beste friedenspsychologische Qualifikationsarbeit des vergangenen Jahres verliehen. Der Preis ging an die Dissertation über ein Modell zur »Komplexität des Bösen« von Timothy Williams, in dessen Preisvortrag die komplexen Dimensionen und Verschränkungen in Genoziden an den Beispielen Ruanda und Kambodscha aufgezeigt wurden. Aufgrund der überdurchschnittlichen Qualität der Einreichungen gab es in diesem Jahr auch zwei »Honorable Mention«-Vorträge. Der Beitrag von Ulrike Auge befasste sich mit den Strategien, mit denen Jugendliche in Afghanistan trotz ihrer außerordentlich belastenden Lebenssituation die Adolszenz innerhalb der eigenen Identitätsbildung sowie der gesellschaftlich vorgegebenen (Handlungs-) Räume verhandeln und dabei einen Beitrag zu einer friedlichen Gesellschaft leisten. Sofia Krüger untersuchte, wie die Kirchen im Nordirland-Konflikt mit der Betonung eines Friedensethos eine aktive Politik des »Counterframing« betrieben. (Siehe Kurztexte zu den drei Arbeiten auf Seite 52)

Die Tagung wurde von ca. 50 Teilnehmer*innen der verschiedensten mit Konflikt- und Friedenforschung befassten Institutionen besucht. Die Organisation konnte so gestaltet werden, dass alle Teilnehmer*innen jeden Vortrag hören konnten, wodurch eine familiäre und intensive Atmosphäre des engagieren Austauschs entstand. Der Tagungsort, das Psychologische Institut im Friedrichsbau von 1865 inmitten der Heidelberger Altstadt, mag das Seine dazu beigetragen haben. In diesem Klima fanden auch die Mitgliederversammlung des Forums (Freitagabend, 8.6.) und die Vorstandssitzung (Sonntagmorgen, 10.6.) statt. Die Tagung wurde organisiert von Prof. Dr. Ursula Christmann und Julia Schnepf (B.A.) mit Unterstützung des »Field of Focus 4 Self-Regulation and Regulation« der Heidelberger Exzellenzinitiative, der Gesellschaft der Freunde der Universität Heidelberg und der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie. Allen Unterstützenden sei an dieser Stelle herzlich gedankt!

Ursula Christmann und Julia Schnepf

Sexualisierte Gewalt als »Kriegsstrategie«?


Sexualisierte Gewalt als »Kriegsstrategie«?

Zur Problematik dieser Rahmung

von Ruth Seifert

In einer Reihe von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates wurden in den vergangenen 20 Jahren die Position von Frauen in bewaffneten Konflikten und das Problem sexueller bzw. sexualisierter Gewalt behandelt. In diesen Resolutionen wird sexualisierte Gewalt – gemeint ist sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen- als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« gerahmt. Die Autorin hinterfragt diese Rahmung, begründet, warum sie sogar kontraproduktiv sein kann, und weist darauf hin, dass sexualisierte Gewalt gegen Männer in diesem Kontext fast aus dem Blick gerät. Deshalb fordert sie eine neue theoretische und politische Auseinandersetzung mit der Thematik.

Nach einer Hochkonjunktur des Themas »sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten« im politischen und akademischen Diskurs in den 1990er Jahren verlagerte sich das Interesse nach der Jahrhundertwende schwerpunktmäßig auf empirische Erhebungen und politisch-rechtliche Interventionen. Wegweisend war dabei die Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrats im Jahr 2000, in der – auf eine kurze Formel gebracht – die Mitgliedsstaaten aufgerufen wurden, Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten vor geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zu schützen und ihre Teilnahme am Friedensprozess zu sichern.

Die Nachfolge-Resolutionen 1820 (2008), 1888 (2009) sowie 1960 (2010) bekräftigen jeweils die Forderungen der Resolution 1325 und fordern darüber hinaus Maßnahmen zur effektiven Verfolgung der Täter, die Einsetzung eines*einer Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten und von Expertenteams zur Untersuchung von sexualisierter Gewalt sowie ein Mandat für Peacekeeper-Truppen zum Schutz von Frauen und Kindern. Resolution 2272 (2016) thematisiert schließlich sexuelle Übergriffe von Seiten des Peacekeeping-Personals. All diese Resolutionen verfolgen das Ziel, die Position von Frauen in bewaffneten Konflikten und das Problem sexueller bzw. sexualisierter Gewalt zu einem Thema der Sicherheitspolitik und der internationalen Beziehungen zu machen. Insbesondere argumentieren sie, dass sexualisierte Gewalt zum Aufgabenbereich des UN-Sicherheitsrats gehört.

Das Interesse verlagerte sich im Zuge dieser Initiativen zunehmend von der Analyse der Hintergründe und verursachenden Mechanismen sexualisierter Gewalt auf die »Lösung des Problems«, die in politischen und rechtlichen Initiativen gesehen wurde. Wesentlich dafür war die Rahmung sexualisierter Gewalt als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie«, wie sie in den oben genannten UN-Resolutionen vorgenommen wurde.

Die Verlagerung der Debatte auf die politisch-rechtliche Ebene ging einher mit einem Wechsel der Akteur*innen, die die Resolutionen anschoben. Ging Resolution 1325 noch überwiegend auf Bottom-up-Initiativen von transnationalen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zurück, waren die folgende Resolutionen Top-down-Initiativen von Akteur*innen, die von Crawford (Crawford 2017) als »systemimmanente Expert*innen« (embedded experts) bezeichnet werden, unter ihnen Spitzenpolitikerinnen, wie Hilary Clinton und Condoleezza Rice.

In den ersten Interventionen, die in den 1990er Jahren erfolgten, wurde der Terminus »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« zur Charakterisierung sexualisierter Gewalt eher in skandalisierender und weniger in analytischer Absicht eingeführt: In den 1990er Jahren waren die (geschlechter-) politischen Verhältnissen dergestalt, dass es möglich geworden war, sexualisierte Gräueltaten aus einer kulturellen Grauzone des Verdrängens und (aktiven) transnationalen Verschweigens zu holen. Es gelang zu verdeutlichen, dass sie offenbar integrale Bestandteile gewaltsamer Konflikte vieler (wenn auch nicht aller) Konflikte waren und der Politisierung, der wissenschaftlichen Untersuchung und der menschenrechtlichen Thematisierung bedurften.

Es war bereits damals klar, dass die Begrifflichkeiten »Kriegswaffe« und »Kriegsstrategie« in analytischer Hinsicht problematisch waren (vgl. dazu Seifert 1995). Mit Blick auf neuere Arbeiten ist zwar festzuhalten, dass der Begriff der »Strategie« Wechselfällen unterliegt und von gesellschaftlichen Institutionen, Normen und kulturellen Besonderheiten abhängig ist (vgl. Heuser 2010). Insbesondere in so genannten »neuen Kriegen« findet, wie Gause feststellt, eine Vermischung von taktischer, operativer und strategischer Ebene statt, die amorphe Zustände höchster sozialer Spannung auslöst, in denen das Verhalten der Akteure „Mustern und Strukturen der Vergangenheit […] sowie den Umweltbedingungen des Systems (Gause 2011, S. 189) folgt. Entsprechend darf man folgern, dass die Konfliktdynamik damit nicht völlig militärisch planvoll ist. Dennoch: Soll der Begriff der »Strategie« oder des »Einsatzes als Kriegswaffe« Sinn ergeben, so beinhaltet er ein Minimum an planvollem und mit Bewusstsein vorgenommenem Einsatz militärischer Mittel zu bestimmten, insbesondere politischen, Zielsetzungen mit dem Zweck der Durchsetzung eigener Ziele gegen den Willen des Gegners (vgl. Heuser 2010; Liddell Hart 1967, S. 351).

Eben hier lag von Anfang an die Problematik, sexualisierte Gewalt als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« zu bezeichnen. Zwar gibt es in einigen Fällen Hinweise darauf, dass sexualisierte Gewalt vonseiten der militärischen Führung eingeplant und/oder zielvoll eingesetzt wurde. So stellte Bassiouni1 fest, dass die sexualisierten Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien an ganz verschiedenen Orten stattfanden, aber dennoch systematische und konsistente Muster aufwiesen und über lange Zeiträume hinweg anhielten, was ohne die Billigung der politischen und militärischen Führung auf allen Ebenen nicht möglich gewesen wäre. In der Folge drängte sich die Schlussfolgerung einer systematischen Planung und Durchführung auf. Darüberhinaus gab es Aussagen von Soldaten, die über Vergewaltigungsbefehle berichteten (Bassiouni 1994, S. 22 ff.; Mazowiecki Report 1995). Für die Demokratische Republik Kongo wurde berichtet, dass sexualisierte Gräueltaten bewusst zur Provokation der kongolesischen Regierung eingesetzt und von lokalen Milizen und Rebellen dazu benutzt wurden, die Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen (Autessere 2012). Aus einer empirisch gesättigten Untersuchung verschiedener Konfliktszenarien geht hervor, dass sexualisierte Gewaltakte in Sierre Leone ebenfalls bestimmten Mustern folgten und die Funktion hatten, die Gruppenkohäsion in wenig kohäsiven militärischen Gruppen zu erhöhen (Cohen 2013). Allerdings ist zumeist nicht nachweisbar, dass es sich um Befehle handelte oder Soldaten zu sexualisierten Gewalttaten aufgefordert wurden (Mühlhäuser 2010, S. 73 ff.).

Bei Resolution 1820 (2008) hingegen handelte es sich bei der Wahl des Begriffs »Kriegsstrategie« nicht um den Versuch der Skandalisierung, sondern um eine »strategische Rahmung«, verstanden als eine spezifische diskursive Konstruktion einer Problematik, die bestimmte Bedeutungsaspekte einer Situation hervorhebt und zu einer kohärenten Interpretation einer Situation führen soll (Cohen 2014, S. 55). Diese spezifische Rahmung beinhaltete zum einen eine tendenziell genderspezifische Verengung sexualisierter Gewalt. Zwar taucht in Resolution 1820 erstmals der Hinweis auf, dass auch Männer von sexualisierter Gewalt betroffen sein können, was in Resolution 1888 etwas weiter ausgeführt und spezifiziert wurde; allerdings wurden daraus keine praktisch-politischen Folgerungen abgeleitet. Die Rahmung als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« hatte zum anderen die Zielsetzung, den Sicherheitsrat, als „global höchste politische und normative Instanz“ (Crawford 2017, S. 4) davon zu überzeugen, dass sexualisierte Gewalt in seinen Zuständigkeitsbereich fällt und nicht ausschließlich ein menschenrechtliches, sondern auch ein sicherheitspolitisch relevantes Problem darstellt, das staatliche Sicherheitsinteressen tangiert. Ohne die Rahmung wäre, so Crawford (ibid., S. 14), Resolution 1820 aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch den Sicherheitsrat gegangen.

Kosten der »strategischen Rahmung«

Für diese »strategische Rahmung« hatte es also gute politische Gründe gegeben; sie hatte allerdings Kosten, die sowohl auf politischer wie auch auf analytisch-theoretischer Ebene zu verorten sind. In praktisch-politischer Hinsicht muss, sofern eine Aktivierung des Sicherheitsrats angestrebt wird, nachgewiesen werden, dass sexualisierte Gewalt strategisch eingesetzt wird. Das schränkt die politischen, rechtlichen und humanitären Handlungsmöglichkeiten ein, da die systematische und taktische Natur der Gewalttaten bzw. ihr absichtsvoller, auf die Bekämpfung des Feindes ausgerichteter Einsatz nachgewiesen werden muss (Crawford 2017) – ein Nachweis der naturgemäß in vielen Szenarien schwer zu führen ist.

Desweiteren wird sexualisierte Gewalt gegen Männer politisch bzw. menschenrechtlich, aber ganz wesentlich auch theoretisch zu einem zunehmend dringenden Problem. Die Erhebung empirischer Daten ist notorisch schwierig, was auch daran liegt, dass, wie eine Abfrage in 189 Ländern ergab, in ihrem Strafrecht 62 nur Frauen als Opfer und 28 nur Männer als Täter sexualisierter Gewalt kennen (Solangon/Patel 2012). Dennoch häufen sich die Hinweise, dass sexualisierte Gewalt gegen Männer ein dramatisch unterschätztes und, wie eingeräumt wird, ein aktiv aus historischen und empirischen Quellen getilgtes Phänomen ist (O’Móchain 2015; Cohen 2014, S. 127 ff.).

Sexualisierte Gewalt gegen männliche politische Gegner ist, um einige Beispiele zu nennen, dokumentiert in Chile, im ehemaligen Jugoslawien, im Iran, in Kuwait, in der ehemaligen Sowjetunion, in der Demokratischen Republik Kongo. Von 6.000 befragten Gefangenen eines KZ nahe Sarajevo im Jugoslawien-Konflikt berichteten 80 %, sie seien vergewaltigt worden. Sexualisierte Gewalt gegen Männer war, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Bestandteil der von Angehörigen der US-Armee ausgeübten Folter in Abu Ghraib (Stemple 2009, S. 612 f.; Sivakumaran 2009). Allerdings können in 90 % der Krisengebiete dieser Welt Männer, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, weder Hilfe noch Schutz erhalten (Solangon/Patel 2012; Dolan 2014). Zeichneten sich die Menschenrechtsdiskurse lange Zeit durch eine fast völlig Vernachlässigung der Menschenrechtsverletzungen an Frauen aus, so ist aktuell sexualisierte Gewalt gegen Männer als blinder Fleck anzusehen.

Erneute Theoretisierung und Politisierung des Themas sind nötig

Was eine weitergehende Theoretisierung sexualisierter Gewalt anbetrifft, die auch das Problem der Betroffenheit von Männern zu berücksichtigen hat, so ist sie für die Rahmung als »Kriegswaffe« marginal, wenn nicht störend. Sie ignoriert darüber hinaus bereits vorhandene Ansätze, die über einen engen »Kriegsstrategie«-Ansatz hinausgingen und die kriegsstrategische Wirkung sexualisierter Gewalt in komplexeren, kulturtheoretisch zu erklärenden Kontexten verorteten. Beispielhaft dafür sind Ansätze, die auf die Verquickung von Konstruktionen von Gender, Nation und kollektiven Konflikten verweisen (z.B. Hayden 2000; Seifert 2003) und zumindest teilweise Antworten auf Fragen wie diese geben: Warum ist sexualisierte Gewalt alles andere als eine stets auftretende Begleiterscheinung aller bewaffneter Konflikte, sondern sind vielmehr bestimmte Erscheinungsformen an spezifische Kriegsszenarien gebunden? Warum gibt es unterschiedliche Häufigkeiten und Erscheinungsformen, je nachdem, ob es sich um Staatenkriege, Bürgerkriege, ethnonationale Kriege oder sezessionistische Kriege handelt? Warum wird sie von verschiedenen Akteuren in bewaffneten Konflikten in unterschiedlicher Weise gehandhabt? (Vgl. im Detail Wood 2006; Cohen 2013)

Illustriert werden kann dies mit der wegweisenden Arbeit von Hayden aus dem Jahr 2000, der sexualisierte Gewalt in der indischen Punjab-Region 1947, in Delhi 1985, in Hyderabad 1990 und im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahre untersuchte. Er stellte fest, dass in allen untersuchten Beispielen sexualisierte Gewalt dann verstärkt ausgeübt wurde, wenn neue geographische und soziale Grenzen gezogen werden sollten und sich eine Region in einem undefinierten Übergangszustand befand, in dem die Machtverhältnisse unklar waren. In diesen Situationen macht nicht ausschließlich »Weiblichkeit« Frauen zu Zielscheiben sexualisierter Gewalt, sondern die Intersektionalität von Gender mit anderen Identitätsmarkern, wie Nationalität, Ethnizität oder Religion (z.B. Hayden 2000; Seifert 2002 und 2003; Koo 2002).

Der hinter diese – hier nur kurz angedeuteten – Ansätze zurückfallende Topos von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe gibt eine Darstellung als in besonderer Weise verabscheuungswürdige Gräueltat, die jenseits der in kriegerischen Konflikten legitimen Gewaltausübung zu verorten sei. Diese Rahmung bezeichnet Meger (2016, S. 149 ff.) als „Fetischisierung“, da sie a) sexualisierte Gewalt dekontextualisiert und als »unakzeptable Kriegsgewalt« absondert von »akzeptabler« Gewalt, b) sie auch im internationalen Recht als sozusagen abweichenden Sonderfall von »normaler« Gewalt darstellt und c) sie in den Medien und in einer Helferindustrie, die nicht mehr unbedingt am Nutzen für die Betroffenen ausgerichtet ist, kommodifiziert (vgl. im Detail ibid.). Darüberhinaus, so könnte man hinzufügen, impliziert dies eine Hierarchisierung von Opfern und suggeriert, dass sexualisierte Gewalt aus dem Kriegsgeschehen zu tilgen sei, während andere Kriegsgräuel als »normal« und »akzeptiert« praktisch wie theoretisch unproblematischer seien und nicht in Bezug zu sexualisierter Gewalt gesetzt werden müssten.

Schließlich ist zu konstatieren, dass die weitgehend ignorierte sexualisierte Gewalt gegen Männer wesentlich ein feministisches Thema ist: Die Unsichtbarmachung des männlichen Opfers ist ein massiver Beitrag zu einer Geschlechterkonstruktion, in der Frauen als verletzungsoffen und Männer als verletzungsmächtig konstruiert werden. Angesichts der Realitätswirksamkeit kultureller Konstruktionen kann davon ausgegangen werden, dass die Ausblendung männlicher Opfer sexualisierter Gewalt keineswegs weiblichen Betroffenen zugute kommt (wie in einigen feministischen Zirkeln gelegentlich behauptet), sondern vielmehr die weibliche Opferrolle verstärkt und auf diese Weise die Positionierung von Frauen in gewaltsamen Konflikten eher noch prekärer macht.

Eriksson Baaz and Stern (2012 und 2018) stellen fest, theoretische Ansätze zum Thema sexualisierte Gewalt in kriegerischen Konflikten seien schwer fassbar und entzögen sich einer klaren Logik. Sie entziehen sich einer klaren Logik, weil das Phänomen selbst diese Logik nicht aufweist: Bei der Analyse der Problematik befinden wir uns in einem Minenfeld diverser politischer und sozialer Hintergründe, kultureller Muster und Mechanismen und nicht zuletzt strategischer Effekte. Was eine Fassung so schwierig macht, ist die Tatsache, dass Gewalttaten im Allgemeinen und sexualisierte Gewalt im Besonderen tief eingebettet sind in variierende kulturelle Kontexte: Was wesentlich in einem Kontext ist, mag es im anderen nicht sein. Angesichts der kulturell hochgradig aufgeladenen Bedeutung von Gewalt und der vielen Bedeutungen und Funktionen, die sexualisierte Gewalt in kollektiven Konflikten haben kann, kann man einen symbolischen Overkill oder mit Foucault eine Hypersaturierung mit Bedeutungen konstatieren. Ansätze, die das ignorieren und sich auf die Rahmung als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« kaprizieren, konnten bisher wenig zu einer effektiven Bekämpfung des Phänomens beitragen. Im Gegenteil, es gibt Hinweise darauf, dass sie eher Anreize zur Ausübung sexualisierter Gewalt geben, da einige bewaffnete Gruppen sie neuerdings als politische Verhandlungsmasse einsetzen (vgl. Autessere 2012). Die weitergehende theoretische Analyse mag weniger leicht zugänglich sein als ein policy-orientierter Diskurs über sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe, für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem scheint eine Re-Theoretisierung und in der Folge Re-Politisierung allerdings unverzichtbar.

Ansätze für eine weitergehende Analyse finden sich in Soziologien und Anthropologien der Gewalt, die davon ausgehen, dass Gewalthandlungen nicht nur Funktionen, sondern auch kulturelle Bedeutungen haben, die den Handelnden nicht bewusst zugänglich sind, sich aber gleichwohl in Gewalthandeln übersetzen, da die Handelnden auf „Archive unbewusster Erinnerungen“ (Hayden 2000, S. 30) zurückgreifen, die im kulturellen Bestand vorhanden sind und das kollektive Handeln beeinflussen. Im Gewaltakt werden somit die kulturell geformten Erfahrungen der Täter mit denen der Opfer in einem spezifischen sozialen Zusammenhang verknüpft (von Trotha 1997, S. 31). In der Folge kann eine Analyse des Gewaltaktes auf die „kulturellen, geschlechtsspezifischen, religiösen, politischen und sonstigen Vorstellungen, Deutungen und symbolischen Interpretationen des Leibes nicht verzichten“ (Nedelmann 1997, S. 76). Die Analyse muss also notwendigerweise kontextuell sein und kann sich nicht in der Feststellung einer strategischen Funktion erschöpfen, sondern muss die Aufmerksamkeit richten auf den kulturellen, organisatorischen, institutionellen und situativen Kontext, in dem Gewalthandeln stattfindet und in den die Leiblichkeit von Opfern und Tätern jeweils eingebettet ist.

Anmerkung

1) Sonderberichterstatter der Sachverständigenkommission des Sicherheitsrats zu Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien 1992-1994.

Literatur

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Ruth Seifert ist Professorin für Soziologie an der Hochschule Regensburg (OTH). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender und kriegerische Konflikte, Gender und Militär, Theorien von Inklusion /Exklusion.