Krieg gegen die Ukraine

Krieg gegen die Ukraine

Einschätzungen zur Situation

Gewaltsam eskalierte Konflikte und Kriege stellen Wissenschaft, Soziale Bewegungen und Publizistik international immer vor mehrere Herausforderungen: wie adäquat auf die Krise reagieren? Wie Solidarität zeigen und leben, die nicht nur wohlfeil, anmaßend oder paternalistisch ist? Wie Einfluss auf das Konfliktgeschehen nehmen und dabei friedenspolitisch sinnvoll handeln? So stellt natürlich auch der Krieg gegen die Ukraine dieselben Fragen an uns. In den folgenden Beiträgen versuchen die Mitglieder der Redaktion eine erste vorsichtige Sortierung dessen, was Friedenswissenschaften zur Lösung und Transformation des Konfliktes beitragen könnten, welche Dynamiken es kritisch zu hinterfragen gilt und welche Fragen noch offen sind.
Manche Überlegungen in diesem Schwerpunkt sind noch roh, manche könnten zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Heftes schon wieder hinfällig sein, dennoch wollen wir uns an einer – wie immer temporären – Einordnung versuchen.

Alles über Bord werfen?

Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges

von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg von Russland in der Ukraine hat die Koordinaten der internationalen Ordnung durcheinandergewirbelt. Glaubt man der Darstellung in Massenmedien und Regierungspolitik, herrscht zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Krieg in Europa, ungeachtet der Kriege in Jugoslawien und der ehemaligen Sowjetunion nach 1990. Es wird der Eindruck erweckt, die liberale Weltordnung habe über drei Jahrzehnte den Frieden in der Welt gesichert und wurde nun plötzlich durch einen skrupellosen Diktator aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Unter dem Diktat der ausgerufenen »Zeitenwende«, in der alles von der Kriegslogik beherrscht wird, seien frühere Gewissheiten über Krieg und Frieden obsolet oder naiv geworden. Gehört die Friedenspolitik insgesamt auf den Prüfstand?

Wir sehen das nicht so, denn gerade dieser Krieg bestätigt einmal mehr viele frühere Erkenntnisse. Es kann nicht alles über Bord geworfen werden, was zuvor richtig war und auf die Gefahren dieser vertrackten Situation hingewiesen hatte. Im Vorfeld des Krieges gab es genügend Warnungen, die zum Krieg führenden Triebkräfte zu vermeiden und die Eskalationsspirale einzudämmen. Um den Nebel des Krieges zu durchdringen, braucht es dieses Wissen.

Gibt es eine Mitverantwortung?

Die im Westen vorherrschende Meinung ist, dass Wladimir Putin, getrieben von imperialen russischen Großmachtambitionen, allein für diesen Krieg verantwortlich sei. Während dies mit Blick auf den Befehl zum Angriffskrieg korrekt ist, wird die Reduzierung auf einen einzelnen Kriegsaggressor den Dynamiken innerhalb der russischen Führung und Bevölkerung nicht gerecht. Schon vor dem Krieg gab es das geopolitische Ringen zwischen der Durchsetzung der liberalen Weltordnung auf der einen und gezielten Regelverstößen dagegen auf der anderen Seite.

Dieser Konflikt ist nicht zu verstehen ohne die Mitverantwortung des Westens für die vorangegangene Konflikteskalation (vgl. u.a. Zumach 2022). Westliche Staaten (allen voran die USA) haben selbst nicht immer Rücksicht auf ihre eigenen Prinzipien genommen, auch nicht auf das Völkerrecht und seinen Beitrag zum Weltfrieden (vgl. Zumach in dieser Ausgabe, S. 21). So wurden die Chancen für nukleare Abrüstung und die atomwaffenfreie Welt nicht genutzt, bestehende Verträge beiderseits in Frage gestellt bzw. aufgekündigt, neue Abkommen wie der Atomwaffenverbotsvertrag oder die Kontrolle der Weltraumrüstung blockiert. Mit verschiedenen Militärinterventionen haben sich die Hardliner gegenseitig in die Hände gespielt. Die am Krieg verdienende Rüstungsindustrie und Militärstrategen drängen schon länger auf eine »Zeitenwende« geopolitischer Machtkämpfe und eine forcierte Aufrüstung. Die westliche Drohkulisse hat Russland jedoch nicht vom Angriff auf die Ukraine abgehalten. Wurden vor zwei Jahrzehnten Warnungen vor einem kommenden Kalten Krieg noch ignoriert (Scheffran 2000), reden heute fast alle von einem neuen Kalten Krieg oder gar Weltkrieg.

Lehren aus Konfliktanalysen ziehen

Was bleibt in dieser Situation? Lehren aus Konfliktgeschichte und -analyse wurden in diesem Krieg bislang vielfach ignoriert. (Selbst-)Kritische Ansichten werden diskreditiert durch den politisch-medialen Komplex, in dem der Westen Opfer, aber nicht Täter ist. Jede eigene Verantwortung für die Vermeidung der Ursachen wird zurückgewiesen. Der Ukrainekrieg bestätigt jedoch in vielfacher Weise frühere Erkenntnisse der Friedenswissenschaft und -bewegung, darunter:

  • Statt Sicherheit zu schaffen, erhöhen Militär und Rüstung die gegenseitige Bedrohung, die Gegenmaßnahmen und ein Wettrüsten fördert. Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete gießen Öl ins Feuer, verstärken Sicherheitsdilemmata und Gewaltspiralen und verlängern den Krieg.
  • Rüstung und Krieg verbrauchen Finanzmittel und Ressourcen, die für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme nicht zur Verfügung stehen, Umwelt und Klima belasten. Wie andere Krisen und Konflikte der letzten Jahre hat auch dieser Krieg viel mit der expansiven Geschichte kapitalistischer Systeme zu tun, die an verschiedene Grenzen stößt, Umbrüche und Krisen verursacht (Scheffran 2021).
  • Die Systemgrenzen bedingen auch die Renaissance von nationalistischen, autoritären und identitären Verhaltensmustern, die verbunden sind mit gewaltbereitem Großmachtstreben. Dies gilt nicht nur für Russland oder China, sondern gerade auch für die liberalen Demokratien, die im Kampf um ihre Hegemonie Prinzipien über Bord werfen. So wird dem Vorrang für das Zivile und das Gewaltverbot in den internationalen Normen schrittweise die schon dünne Luft entzogen, wodurch die Möglichkeiten gewaltfreier Konflikttransformationen immer kleiner werden.
  • Die Eigendynamik militärischer Gewalt und Eskalation destabilisiert die internationalen Beziehungen, fördert Bedrohungsängste, lässt sich schwer stoppen, erschwert die Suche nach Auswegen und Lösungen (vgl. W&F Ausgabe 3/2015 zu Friedensverhandlungen).
  • Mediale Berichterstattung verstärkt oft Empörungsreflexe wie in einer Echokammer, schafft Feindbilder und Blockkonfrontation (siehe W&F Dossier 80).
  • Militärische Mittel sind für die Bewältigung (sicherheits-)politischer Herausforderungen unserer Zeit (Klimawandel, Pandemien, Ressourcen, Terrorismus, Cyberkonflikte, vernetzte Sicherheit) schlecht geeignet und behindern ihre kooperative Lösung. Sicherheitspolitik sollte vielmehr einer Friedenslogik folgen, die Kriege vermeidet, statt sie zu führen. Das Wissen über Friedenslösungen muss genutzt werden (vgl. W&F Dossier 75)

Alternativen denkbar machen

Dieser Krieg hat globale und systemische Auswirkungen, wie lange kein anderer vor ihm. Die unmittelbaren Folgen treffen hauptsächlich die Menschen in der Ukraine, aber auch die Bevölkerung Russlands und Menschen in der ganzen Welt. Die Schäden und Kosten zerstören allerdings auch die Bedingungen für eine nachhaltige Friedensordnung und ein wieder denkbarer Atomkrieg riskiert das Ende der Menschheit. Problematisch sind auch Wirtschaftskriege, Waffenlieferungen oder Militäraktionen, die die Eskalationsspirale vor und in diesem Krieg angeheizt haben, ebenso Sanktionen, die die Bevölkerung weltweit treffen (vgl. Werthes und Hussak in dieser Ausgabe, S. 18).

Es bedarf also der Alternativen. Zu unterstützen ist humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt, ebenso der Ausbau der Verbindungen zur Zivilgesellschaft und Friedensbewegung in Russland und der Ukraine, um Bewegungen zur Beendigung des Kriegs zu mobilisieren. Die Zivilgesellschaft muss mit ihren zivilen Prinzipien für menschliches Zusammenleben und Konfliktlösung überall gefördert werden, ebenso Deeskalation und Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen und Rückzug der Waffen. Weiterhin braucht es Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas. Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit setzt auf Diplomatie und »Win-Win«-Lösungen und berücksichtigt nicht nur die eigenen Sicherheitsinteressen, sondern auch die anderer Akteure.

Statt einer »Zeitenwende« für Konfrontation, Aufrüstung und Krieg, brauchen wir eine Zeitenwende für Kooperation, Abrüstung und Frieden, für gemeinsame Sicherheit, Nachhaltigkeit und die Lösung der globalen Probleme durch tragfähige Konzepte für eine »lebenswerte Welt« im gemeinsamen Haus der Erde (Scheffran 2022). Doch dafür müssen diese Konzepte auch gehört und angewendet werden.

Notwendige Verschiebungen in der Friedensforschung?

Die Ereignisse der vergangenen Wochen führen zu alten wie neuen Debatten in Friedensforschung und -bewegung. Sie betreffen Themen wie die europäische Sicherheitsordnung, Aufrüstungsprogramme und Möglichkeiten einer raschen Energiewende. Sie zeigen aber auch die Notwendigkeit neuer thematischer Schwerpunktsetzungen, die zwar vielfach benannt wurden, aber dennoch zu wenig innerhalb der Friedens-Community Raum gefunden haben. So könnte dieser Krieg für die Friedensforschung bedeuten, Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen, auch wenn deren Konfliktbearbeitungsmethoden strikt abgelehnt werden. Zudem bedarf es einer stärkeren Beschäftigung mit politischen Desinformations- und Destabilisierungsbestrebungen Russlands im Ausland sowie deren Unterstützung durch europäische rechte Parteien.

Blickt man auf die zahlreichen Stellungnahmen zum Kriegsausbruch aus Wissenschaft und Bewegung, so wird ein breiter Konsens über eine verpasste Chance der Prävention deutlich (siehe Dokumentation, S. 27). Der größte Handlungsspielraum wird der präventiven Friedensarbeit zugeschrieben, die Instrumentarien wie Dialog und Verhandlung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Ebenen entfaltet (Fischer 2022). Zudem herrscht breite Einigkeit darüber, dass eine nachhaltige Friedensordnung nicht ohne Russland zu erreichen ist.

Uns scheint ein stärkeres Zusammenwirkens von Friedensforschung, Friedensbewegung und Friedenspädagogik unumgänglich. Jede*r dieser Akteur*innen der Friedens-Community kann für je andere Handlungsebenen und Phasen von Konflikten wichtige Beiträge leisten. Der Krieg in der Ukraine kann ein – wenn auch trauriger – Anlass sein, durch die Verständigung über gemeinsame Zielsetzungen das Verhältnis mit- und zueinander neu zu überdenken und den Austausch untereinander zu stärken. Dies ist auch ein Bestreben dieser Zeitschrift.

Jede dieser drei Gruppen hat die Möglichkeit, andere Kommunikationskanäle zu adressieren, Dialogprozesse einzuleiten sowie Spielräume und Gelegenheitsfenster zu nutzen. Als ein Beispiel für ein gelungenes Zusammenwirken können die Dialogprozesse genannt werden, wie sie nach den Kriegshandlungen in den westlichen Bal­kanstaaten ab den 1990er Jahren unter anderem vom »Nansen Dialogue Network« (nansen-dialogue.net) durchgeführt wurden. Eine weitere Methode ist die Theaterarbeit, die vom Hamburger Regisseur Georg Genoux in Russland und der Ukraine durchgeführt wurde (Genoux 2021). Er beschreibt eindrucksvoll die individuellen wie gesellschaftlichen Transformationspotentiale von Konflikten, die in künstlerischen Prozessen entstehen können.

All dies verdeutlicht: Keinesfalls sollten friedenswissenschaftliche Erkenntnisse in Zeiten eskalierten Krieges über Bord geworfen werden; vielmehr ist es an uns, die Verstärkung von Friedensforschung zu fordern, das Verhältnis zur Friedensbewegung neu auszuhandeln und uns resolut für zivile und gewaltfreie Wege zur Konflikttransformation einzusetzen.

Literatur

Fischer, M. (2022): Krieg in der Ukraine. Blog Brot für die Welt, 27.02.2022.

Genoux, G. (2021): Die Seele heilen. Die Kraft des Theaters. Wissenschaft & Frieden 3/2021, S. 42-44.

Scheffran, J (2000): Zurück zum Kalten Krieg? Russland und der US-Hegemonieanspruch. Wissenschaft & Frieden, 2/2000.

Scheffran, J. (2021): Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“. Die Friedenswarte 3-4/2021, S. 205-227.

Scheffran, J. (2022): Klimaschutz für den Frieden: Der Ukraine-Krieg und die planetaren Grenzen. Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2022, S. 113-120.

Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le monde diplomatique, 10.03.2022.

Ein psychologischer Blick auf die Situation

von Klaus Harnack

Ein guter Indikator, wie groß unser Unvermögen ist, diesen Krieg zu verstehen und einordnen zu können, zeigt uns die in den Medien immer wieder aufgeworfene Frage „Wie erkläre ich den Kindern diesen Krieg?“ Ist diese, für sich genommen, legitime Frage, nicht in Wirklichkeit eine Stellvertreterfrage, die zeigt, dass wir bei der Einordnung dieses Krieges selbst noch im völligen Dunkeln stehen? Wir finden uns im ersten Augenblick der Schockstarre mit leeren Händen bezüglich unsere Handlungsoptionen wieder, denn die meisten friedensorientierten Naturwissenschaften basieren auf einem Präventions- anstatt auf einem Interventionsverständnis. Im Angesicht des eskalierten Konfliktes in der Ukraine ist es deswegen jetzt umso wichtiger, weniger auf die eigene mahnende Tätigkeit in der Vergangenheit zu referieren, als vielmehr friedenspsychologische Methoden und Erkenntnisse ausfindig zu machen, die der gegenwärtigen Kriegslogik eine fundierte Logik des Friedens entgegenstellen.

Gruppendenken und Gesichtswahrung

Mit Blick auf den Aggressor könnte die Theorie des »Groupthink« (Janis 1972) zu einer Erklärung des Entstehungsprozesses beitragen, wie es zu dem Angriff kommen konnte. Groupthink oder das Gruppendenken beschreibt einen Prozess innerhalb einer geschlossenen und isolierten Gruppe, bei der die Gruppe für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbare und objektiv schlechte Entscheidungen trifft. Dabei wird der Zusammenhalt der eigenen Gruppe für viel wichtiger gehalten als die getroffenen Entscheidungen selbst. Getrieben wird dieser Mechanismus durch die Bedrohung und Isolation der Gruppe. Die Meinungen passen sich immer mehr aneinander an und eigentlich hilfreiche divergierende Standpunkte werden zunehmend aktiv bekämpft und unterdrückt, um die selbstgeformte artifizielle Gruppendynamik zu stabilisieren. Die Abwehr von Bedrohungen der Gruppenüberzeugungen wird so zum primären Ziel. Beispiele dafür lassen sich in den absurd anmutenden, öffentlich abgehaltenen Sitzungen des russischen nationalen Sicherheitsrats in den Tagen vor Kriegsbeginn im Februar 2022 oder auch in den Entscheidungen der ukrainischen Führung, bestimmten Parteien die Ausübung ihres politischen Mandats zu verbieten, sehen.

Während die Theorie des »Groupthink« für die Entstehung der Angriffsentscheidung herangezogen werden kann, kann die Thematisierung der Notwendigkeit für einen gesichtswahrenden Ausstieg einen möglichen Ausweg aus der gegenwärtigen Situation weisen. So schwer es emotional fällt, so notwendig ergibt es sich aus psychologischer Sicht, dass dem Aggressor immer auch eine Hintertür auf diplomatischem Parkett eröffnet wird. Schon Clausewitz betonte, dass nichts schwerer ist, „als der Rückzug aus einer unhaltbaren Position“, denn je mächtiger ein*e Aggressor*in seinem*ihrem Selbstverständnis nach ist, desto enger wird das eigene psychologische Korsett und umso kleiner der eigene Aktionsradius, Handlungen aus der Vergangenheit zu revidieren. Eine Chance liegt hier in der sehr diffusen Kriegsbegründung Russlands, die eine Beilegung des Krieges ohne internen Gesichtsverlust ermöglichen und eine weitere Eskalation verhindern könnte. Hier könnte sich der Kriegsapparat sowohl auf die »geglückte« Unterstützung der Separatistengebiete Luhansk und Donezk, eine Schwächung des westlichen Einflusses innerhalb der Ukraine oder um die »erfolgreiche« Abwehr russischer Nationalinteressen berufen.

Kognitive Dissonanz

Ein psychologischer Klassiker, der das Erleben mittelbar Beteiligter beschreibt, ist das durch den US-Sozialpsychologen Leon Festiger (1957) bekannt gewordene Konstrukt der »kognitiven Dissonanz«. Wie andere Konsistenztheorien beschreibt es die interne Harmonisierung von Kognitionen, Motivation und tatsächlicher Handlung, die nach Widerspruchsfreiheit im eigenen Denken strebt.

Als kognitive Dissonanzreduktion wird die Triebfeder beschrieben, die die Lücke (Inkongruenz) zwischen den eigenen Vorstellungen, Überzeugungen und Wünschen und der Realität zu schließen versucht, indem das Denken die Realitätswahrnehmung den eigenen Vorstellungen und Wünschen systematisch angleicht. Dies kann auf staatlicher Ebene durch Propaganda, aber eben auch als interner Mechanismus individuell geschehen. Die im Vorfeld des Konfliktes aufgezogenen Narrative Russlands und die von westlicher Seite getroffenen Entscheidungen, wie beispielsweise der Umgang mit der NATO-Osterweiterung, Nord Stream 2 oder die vorherige Situation auf der Krim dokumentieren diesen Prozess. Aufbauend auf dieser Erkenntnis könnten zukünftige Entscheidungen besser reflektiert und die Aussagen der beteiligten Parteien auf mögliche Interessen und Ressourcen überprüft werden, um so zukünftige Maßnahmen der Annäherung auf Basis einer breiteren Akzeptanz im politischen Diskurs besser vertreten zu können.

Grundbedürfnisse befriedigen

Für die Zeit nach einer hoffentlich baldigen Beendigung der kriegerischen Gewalt verweist das „bedürfnisbasierte Modell der Versöhnung“ (Shnabel und Nadler, 2008) auf einige grundlegende Aspekte, um den Bedürfnissen aller Konfliktparteien nachzukommen. In aller Kürze besagt das Modell, dass Opfer eine Einschränkung ihres Status und ihrer Macht erfahren haben, während Täterschaft mit einer Einschränkung der moralisch-sozialen Dimension einhergeht. Für eine Versöhnung müssen diese Verluste im Zuge einer Annäherung wieder hergestellt werden, d.h., dass das Opfer für die Bereitschaft zur Versöhnung eine Kompensation des erlittenen Kon­trollverlustes benötigt, während der*die Täter*in wieder Anerkennung vom Opfer und Drittbeteiligten erfahren möchte. Dies sollte besonders in vermittelten Drittparteiengesprächen berücksichtigt werden, um den diplomatischen Prozess zu unterstützen.1

Natürlich stellt diese, wie auch die vorhergenannten Theorien immer nur Teilaspekte dar und werden in ihrer Begrenztheit der Realität nicht umfänglich gerecht; aber alle Theorien zeigen Handlungsoptionen auf, die uns aus dem Unvermögen des Verstehens und der Optionslosigkeit herausführen können. Für die Anwendung bedürfen sie der Erweiterung und Schärfung durch weitere Disziplinen, um das Ziel einer friedensorientierten Doktrin erreichen zu können. Einer Doktrin, die sowohl die gegenwärtige Situation, als auch die Situation nach Beendigung des Konfliktes im Auge hat und mit Hilfe der Werkzeuge der friedensorientierten Wissenschaften die Logik des Friedens auch in Zeiten des Krieges anwendet.

Anmerkung

1) Für weitere mögliche Lektionen aus der psychologischen Verhandlungsforschung siehe auch Frech (2021).

Literatur

Festinger, L. (1957): A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford: Stanford University Press.

Frech, A. (2021): Frieden lernen. Eine Einführung in die Psychologie des Verhandelns. W&F 3/2021, S. 39-41.

Janis, I. L. (1972): Victims of Groupthink: A Psychological Study of Foreign-policy Decisions and Fiascoes. Boston: Houghton, Mifflin.

Shnabel, N.; Nadler, A. (2008): A needs-based model of reconciliation: Satisfying the differential emotional needs of victim and perpetrator as a key to promoting reconciliation. Journal of Personality and Social Psychology 94(1), S. 116-132.

Die Rückkehr des Militärischen

von Marius Pletsch, Paul Schäfer und Marek Voigt

Weltweit ist bei den Rüstungs- und Militärausgaben seit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und dem bewaffneten Konflikt um die seit 2014 von Russland militärisch unterstützten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk ein deutlicher Trend nach oben zu beobachten. Neben der Rüstung gegen Russland nach 2014 waren weitere Faktoren der amerikanische Politikwechsel des »pivot to Asia« – also der Fokus auf die Einhegung der aufstrebenden Großmacht China – unter Präsident Obama und später die Wahl Trumps, welche die europäischen Staaten veranlassten, mehr für Rüstung auszugeben. Zu der internationalen Aufrüstungsdynamik tragen auch die sich intensivierenden Konflikte über die regionale Vormachtstellung in Südostasien, im Nahen und Mittleren Osten oder westliche »Stabilisierungs- und Ausbildungseinsätze« auf dem afrikanischen Kontinent – insbesondere im Sahel – bei.

Mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar rückte in der Außenpolitik der Fokus wieder abrupt auf »staatliche Sicherheit«. Das ging einher mit der Wiederkehr der Abschreckungslogik(en) des Kalten Krieges und einem neuen, als »systemisch« apostrophierten Konflikt zwischen West und Ost. Beides wird diese Aufrüstungsdynamik über Jahre an Fahrt gewinnen lassen, Mittel und Aufmerksamkeit binden und Kooperation bei globalen Herausforderungen hemmen oder komplett zum Erliegen bringen. Das ist besonders tragisch, da globale Krisen wie die Klimakatastrophe nicht abwarten werden, bis die Blöcke meinen, den Systemkonflikt militärisch entschieden zu haben. Die Aktienkurse der Rüstungsschmieden nach dem Beginn des Krieges waren hier Vorboten. Es wird der „Zwang zur Abschreckung“ (Zellner 2022) ausgerufen, und Friedens- und Konfliktforscher Niklas Schörnig sagte dem evangelischen Pressedienst, „[w]ir müssen gezwungenermaßen wieder wie im Kalten Krieg denken“ (Bayer-Gimm 2022).

Deutsche Aufrüstung in einer »neuen Zeit«?

Die Ukraine wird von der Bundesrepublik mit modernen und weniger modernen Rüstungsgütern direkt unterstützt. Geliefert wurde zunächst aus dem Bestand der Bundeswehr. Da hier die Möglichkeiten erschöpft sind, werden seit Ende März auch Waffen direkt von Rüstungsunternehmen in die Ukraine verschickt.

Für die von diesen unmittelbaren Waffenlieferungen an die Ukraine gänzlich unabhängige Aufrüstung der Bundeswehr soll ein Sondervermögen in der Höhe von 100 Mrd. € geschaffen werden, abgesichert durch das Grundgesetz, zweckgebunden und ausgenommen von der Schuldenbremse. Das Geld wird noch in diesem Haushaltsjahr eingestellt. Nach dem Haushaltsentwurf von Bundesfinanzminister Lindner sieht der jährliche Haushalt 2022 50,334 Mrd. € und 2023 bis 2026 pro Jahr 50,1 Mrd. € für das Bundesverteidigungsministerium vor. Das 2 %-Ziel der NATO soll die nächsten fünf Jahre mithilfe des Sondervermögens erreicht, wahrscheinlich sogar übererfüllt werden.

Folgt man dem öffentlich vermittelten Eindruck, so handelt es sich um eine dramatische Veränderung der deutschen Politik. Der Blick auf den Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2021 zeigt jedoch: An den dort erkennbaren Linien und den generellen Absichten und Plänen für die deutsche Verteidigungspolitik hat sich nicht viel geändert. Stichworte sind hier: rasche Klärung der Tornado-Nachfolge für die nukleare Teilhabe, Drohnenbewaffnung, Zusage und Unterstützung an multinationale Großprojekte wie dem »Next Generation Weapon System« im »Future Combat Air System« (FCAS) und dem »Main Ground Combat System« (MGCS). Damit ist offensichtlich: Die Richtung war vorgezeichnet. Allerdings sind Skrupel, Bedenken und Einwände auch aus dem Lager der jetzigen Regierungsparteien gegen diesen Kurs auf einen Streich mit der Rede von Kanzler Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag vom Tisch gewischt worden. Jetzt kann das Angedachte immens beschleunigt, finanziell abgesichert und, ohne Widerstände befürchten zu müssen, durchgezogen werden. Der Ausdruck »Zeitenwende« ist daher mit größter Vorsicht zu betrachten. Genau genommen zielt er eher auf eine Öffentlichkeit ab, die alles Weltgeschehen unter dem Primat militärischer Abschreckung einer »Politik der Stärke« betrachten soll. Die Scholz’sche Überrumpelung des Parlaments und der Öffentlichkeit passte haargenau zu dieser Art »Wende«: Über Sinn und Unsinn einer fixen Aufrüstung (2 %-Ziel), über die Beschaffung spektakulärer Waffen-Großprojekte und über die Einsatzdoktrin der Streitkräfte soll nicht weiter nachgedacht und diskutiert werden. Dabei ist die strategische Debatte, wozu die Bundeswehr von der Politik überhaupt gebraucht und eingesetzt werden soll, bitter notwendig. Herbert Wulf schreibt dazu treffend: „Zuerst Finanzen bereit zu stellen und dann zu fragen, was damit geschehen soll, ist die falsche Reihenfolge“ (Wulf 2022). Was jetzt zu sehen sei, sei „Panikpolitik, die der Bundeswehr kaum nützt“ (ebd.). Unter dem Dach des Auswärtigen Amts soll über die kommenden Monate eine »Nationale Sicherheitsstrategie« erarbeitet werden. Bis die Strategie fertig ist, werden zahlreiche wegweisende Beschlüsse schon den parlamentarischen Prozess passiert haben.

Neue Blöcke?

Die sich über die Jahre langsam, aber stetig zuspitzende neue Blockkonfrontation mit Russland und China auf der einen und »dem Westen« auf der anderen Seite wird sich durch den Krieg gegen die Ukraine beschleunigen. Präsident Biden hat bei seinem Besuch in Polen Ende März 2022 den neuen Systemkonflikt wie folgt beschrieben: Er sehe ihn als eine „große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird. Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen“ (The White House 2022).

Was an Bidens emphatischer Rede richtig ist: Es gibt in der Tat einen weltweiten Konflikt zwischen autoritären und freiheitlichen Ordnungsvorstellungen, zwischen der konsequenten Umsetzung von Menschenrechten und ihrer Nichtachtung. Nur kann dieser Wertekonflikt nicht bestimmten Staatengruppen oder Allianzen (der »gute« Westen gegen den »bösen« Osten) zugeordnet werden. Der Blick auf die verschiedenen Partner auf der westlichen Hälfte des neuen Großkonflikts zeugt davon, dass die alte Politik der doppelten Standards fortgesetzt werden soll. Wer auf der richtigen Seite steht, darf auf milde Beurteilung hoffen, wenn es um Demokratie und Menschenrechte geht.

Auch die Europäische Union sieht sich dazu aufgerufen, in diesem Wettstreit zwischen Demokratie und Diktatur Farbe zu bekennen. Sie möchte endlich zu einem wirkmächtigen globalen Akteur werden. Offen bleibt, was der strategische Kern dieser Bemühungen sein soll: Eigenständigkeit auch von den USA oder weiter an der Seite der USA gegen Russland/China? Neokoloniale Missachtung der Belange des Globalen Südens oder strikte Ausrichtung auf die globale, gleichberechtigte Kooperation zur Verwirklichung der »Sustainable Development Goals«? Was wir stattdessen wahrnehmen, ist eine Fokussierung auf die militärische Stärkung der EU (siehe z.B. W&F 1/2021). Die durch den Krieg begünstigte relative Einigkeit zwischen den Staaten der EU soll nun genutzt werden, um diesen Prozess voranzutreiben. Der Instrumentenkoffer dafür wurde über die vergangenen Jahre prall gefüllt: die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), der Europäische Verteidigungsfonds (EDF), die Europäische Friedensfazilität oder auch die seit Jahren zunehmende Dual-Use Forschung in den Forschungsprogrammen der EU (bspw. Horizon 2020). Im Rahmen des »Strategischen Kompasses« soll nun zusätzlich eine neue 5.000-köpfige Eingreiftruppe geschaffen werden, die ab 2025 einsatzfähig sein soll (Demirel und Wagner 2022). Was davon tatsächlich umgesetzt werden wird, ist nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nicht abschließend zu beantworten. Tatsache bleibt, dass die EU ihre hegemonialen Machtambitionen auf den oben geschilderten systemischen Konflikt ausrichten und militärisch untersetzen will. Damit bleibt auf der Strecke, dass sich die EU in den globalen Auseinandersetzungen der Zukunft als Macht des Interessenausgleichs, der globalen Zusammenarbeit, einer Politik der Deeskalation und der Abrüstung profilieren könnte.

Die NATO scheint immerhin – Stand Anfang April 2022 – nicht gewillt zu sein, sich direkt(er) am Krieg in der Ukraine zu beteiligen – die Risiken einer Eskalation und eines noch größeren Krieges mit aktiver NATO-Beteiligung erscheinen zu hoch. Dennoch werden Truppen und Material in die osteuropäischen Mitgliedsländer in Bewegung gesetzt.

Gleichzeitig ist der nukleare Schrecken zurück in den Köpfen und präsent wie seit über 30 Jahren nicht mehr, unverhohlene Drohungen eines Einsatzes dieser verheerenden Waffen inklusive. Dies ist umso bedrohlicher, da fast alle bi- und multilateralen Sicherungsinstrumente der zwischenstaatlichen Kooperation nicht mehr existieren. Im Bereich der nuklearen Waffen ist nur noch der »New Start«-Vertrag für die Begrenzung der Strategischen Nuklearwaffen verblieben, andere Instrumente der nuklearen und auch konventionellen Rüstungskontrolle wurden mal von den USA, mal von Russland aufgekündigt. Einem absichtlichen, aber auch versehentlichen Einsatz durch Fehleinschätzung und unbeabsichtigte Zwischenfälle muss vorgebeugt werden. Nukleare Abrüstung wird durch die aktuelle Eskalation nicht etwa weniger wichtig, wie die Regierungen auf beiden Seiten zu glauben scheinen, sondern umso dringender. Ein halbherziges Herangehen, wie das Deutschlands, ist nur wenig überzeugend. Dabei könnte Deutschland hier, wie Wolfgang Richter schreibt, einen wichtigen Beitrag leisten. Auch wenn das Signal für die Atomwaffen besitzenden Staaten nicht überschätzt werden solle, „die Glaubwürdigkeit seiner Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik […] würde gestärkt werden, sollte sich Berlin aus der nuklearen Teilhabe lösen und dies als Beitrag zur globalen Abrüstung kommunizieren. Als politisches Signal würde ein solcher Schritt dem NVV-Prozess einen positiven Impuls geben“ (Richter 2021, S. 99).

Auch wenn sie im Kontext von verstärkter Aufrüstung, Militarisierung und Blockbildung derzeit wenig opportun erscheinen, so müssen Optionen der Deeskalation, diplomatischen Konfliktlösung und Abrüstung jetzt erst recht auf den Tisch.

Literatur

Bayer-Gimm, J. (2022): Friedensforscher: Westen muss für Verständigung aufrüsten. evangelisch.de, 3.3.2022.

Da Silva, D.; Tian, N.; Marksteiner, A. (2021): Trends in World Military Expenditure, 2020. SIPRI Fact Sheet.

Demirel, Ö.; Wagner, J. (2022): Strategischer Kompass weist den Weg zur Militärmacht EU. telepolis, 26.3.2022.

Richter, Wolfgang (2021): Abrüstung, Nichtverbreitung und nukleare Teilhabe. Deutschlands europäische und globale Verantwortung. In: Maihold, G. et al. (Hrsg.): Deutsche Außenpolitik im Wandel. Unstete Bedingungen, neue Impulse. SWP Studie 15, S. 97-100.

The White House (2022): The Royal Castle in Warsaw. Warsaw, Poland. 26.3.2022.

Wulf, H. (2022): Panikpolitik. ipg-journal.de, 15.3.2022.

Zellner, W. (2022): Der Zwang zur Abschreckung: Das Dilemma des Westens. Blätter, 04/2022.

Reflexionen über pazifistisches Handeln und Solidarität

von Christiane Lammers und David Scheuing

Mit Kriegsausbruch in der Ukraine sind pazifistisch begründete Forderungen und Hinterfragungen der Kriegslogik noch weiter in Bedrängnis geraten. Pazifismus und ein Eintreten für Gewaltfreiheit wird als moralisch nicht begründbare Haltung verstanden. Das Einlassen auf die Gewaltspirale sei die einzige Möglichkeit, um die Ukraine, Moldawien und Andere – womöglich auch uns – vor dem Zugriff Putins zu retten. Bleiben noch Möglichkeiten einer gewaltfreien, solidarischen Reaktion, fragen wir uns angesichts der gewaltsamen Eskalation.

In einem Interview zur Dringlichkeit pazifistischen Handelns setzt sich der Wissenschaftsphilosoph Olaf Müller (2022) mit dem Rettungsgedanken in dieser Kriegssituation auseinander, im Sinne des Schutzes von Menschenleben: Es sei kein Verteidigungskrieg denkbar, in dessen Verlauf keine Stadt in Schutt und Asche gelegt wird. An dem Schicksal von Mariupol sehen wir, wie unbarmherzig ein entschlossener Angreifer reagiert – gerade wenn er bzw. die Soldaten sich durch militärische Gegengewalt legitimiert sehen, durch Tötung und Zerstörung die eigene Haut zu retten. Olaf Müller liegt es fern, der Ukraine die Legitimität der (auch gewaltsamen) Verteidigung abzusprechen, aber er macht auf einen schwierigen Punkt aufmerksam: Entspricht es unserem Wertesystem, tausendfache Opfer in der Ukraine in Kauf zu nehmen und, das sei von uns hinzugefügt, hunderttausendfache Hungertote, die vermutlich als »Kollateralschaden« im Globalen Süden in diesem und in den nächsten Jahren sterben werden?

Auch mit dem berechtigten Verweis auf die diesbezügliche Schuld des russischen Aggressors kann man sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Ebenso wie es uns fernliegt, der Ukraine Vorschriften zu ihrem eigenen Handeln zu machen, ist es auch unabdingbar, dass wir eigene Entscheidungen bezüglich unseres Handelns treffen und unsere deutsche und europäische Politik selbstkritisch in Zweifel ziehen. Die Hoffnung des Westens ist bislang darauf gerichtet, dass die Wehrkraft der Ukraine, unterstützt durch westliche Militärhilfe und begleitet von massiven Sanktionen gegen Russland, den Krieg beendet. NATO-Diplomat*innen und Militärexpert*innen warnen allerdings schon heute vor einem langanhaltenden Zermürbungskrieg, in dem beide Seiten nur verlieren können und die Wahrscheinlichkeiten für Kriegsverbrechen und hohe zivile Opferzahlen rasant steigen.1

Wenn der Rettungsgedanke von Müller hält, so ergibt sich also schon aus humanitären Gründen die Notwendigkeit, an der Abschaffung aller Gewaltmittel zu arbeiten. Dies allein ist jedoch unzureichend, um der Situation des Überfalls durch einen Aggressor zu begegnen. Außerdem dürfte eine solche Forderung, heute erhoben, in den Ohren der Ukrainer*innen wie Spott klingen. Zu Recht fordern sie unsere Solidarität.

Solidarität als gewaltfördernde oder -mindernde Vokabel

Doch was heißt nun »Solidarität«? Von staatlicher ukrainischer Seite wird unter Solidarität vor allem das Zurverfügungstellen von Waffenhilfe bis hin zum direkten Kriegseintritt verstanden. Wenn allseits in Europa argumentiert wird, dass letztlich vor allem Waffengewalt zählt – so z.B. bei den Begründungen für die massive Steigerung des Rüstungshaushalts in Deutschland – dann ist dies ein konsequentes Verständnis. Diese Gleichsetzung war auch in anderen gewaltförmigen Konflikten zu beobachten – z.B. in der inzwischen schon sprichwörtlichen Formel der »uneingeschränkten Solidarität«, die westliche Staaten nach dem 11. September 2001 gegenüber den USA erklärten.2

Solidarität könnte jedoch auch anders verstanden und umgesetzt werden: als gewaltminderndes Konzept, dessen Ziel es ist, vor allem Menschenleben konkret zu schützen. Hierzu zählt nicht nur die Flüchtlingshilfe, humanitäre Hilfe und alle erdenkliche Diplomatie. Es gilt auch zu prüfen, ob kurzfristig geplant Mittel des Sozialen Widerstands in dieser hoch eskalierten Situation Sinn machen.

  • Zum Stichwort Flüchtlingshilfe: Es muss alles getan werden, damit Fluchtkorridore offen bleiben bzw. neu geöffnet werden. Auch Männern sowie Personen, die den Kriegsdienst verweigern wollen, muss die Flucht ermöglicht werden.
  • Humanitäre Hilfe wird in großem Ausmaß und lange erforderlich sein. Es wird erheblichen Finanzierungsschwierigkeiten zu begegnen sein, da die internationale humanitäre Hilfe weltweit massiv beansprucht wird.
  • Bezüglich bisher öffentlich gewordener diplomatischer Initiativen ist es etwas irritierend, dass, zumindest medial vermittelt, vor allem auf westliche Regierungsvertreter*innen gesetzt wird. Schröders Treffen mit Putin wurden mit Hohn quittiert, von China verlangte man vielseits eine eindeutige Positionierung gegen die russische Regierung, die UN wurde vor allem als Struktur für Deklarationen gegen Russland genutzt (siehe dazu auch Zumach in dieser Ausgabe, S. 21). Das mag alles politisch gut begründbar sein, aber wird dabei nicht verkannt, dass es dringend eines »neutralen Dritten« bedarf, um die Aushandlung eines Waffenstillstands voranzutreiben?

Hoffnungen auf Soziale Verteidigung? Naiv gedacht?

Nun zum Letztgenannten: der solidarischen Unterstützung des Sozialen Widerstands. Die Berichterstattung über das Kriegsgeschehen lässt kein klares Bild entstehen über Art, Ausmaß und Relevanz des Widerstands der ukrainischen Zivilbevölkerung. Die hohen Flüchtlingszahlen innerhalb der Ukraine und in die Nachbarstaaten lassen vermuten, dass der zivile Widerstandswille nicht so groß ist, wie seitens der ukrainischen Regierung vermittelt. Wie dem auch sei: Ziviler Widerstand ist analytisch zu trennen von »Sozialer Verteidigung«.

Ersterer kann auch gewaltförmige Mittel einschließen, also auch Methoden des bewaffneten Partisanenkampfs. Die heroisch anmutenden Bilder von Molotow-Cocktails und Bomben bauenden Ukrainer*innen haben wir vor Augen.3 Gewaltförmiger, zivilgesellschaftlicher Widerstand bedeutet jedoch, dass involvierte Zivilpersonen zu Kombattant*innen im Krieg werden, d.h. nicht mehr völkerrechtlich bzw. durch das Kriegsrecht geschützt sind. Im urbanen Kampfgeschehen werden unbewaffnete Zivilist*innen zu »menschlichen Schutzschilden«. Es wird am Ende kaum mehr zu unterscheiden sein, ob Zivilist*innen im Kampf getötet oder widerrechtlich umgebracht wurden. Die vielen Toten, die nach dem Rückzug der russischen Truppen aus den Kiewer Vorstädten gefunden wurden, geben schon einen bitteren Vorgeschmack darauf, wie die Kriegslogik greift.

Bleibt die Frage, ob solidarisches Handeln auch im Kontext der sogenannten »Sozialen Verteidigung« in dem jetzt hoch eskalierten Konflikt realisierbar wäre. Im Fokus der Sozialen Verteidigung steht nicht die Verteidigung des Territoriums, sondern die aktive Verteidigung der eigenen Lebensweise und Werte. Die dahinterstehende Annahme ist, dass letztlich die Kooperations»bereitschaft« der Bevölkerung darüber entscheidet, ob der Aggressor, hier die russische Regierung, etwas von der Kriegssituation und der Besetzung der ukrainischen Landesteile und Städte hat. Methoden der Sozialen Verteidigung sind etwa: Verlangsamung der Arbeit, Boykott u.a. von Institutionen der Gewaltprofiteure (oft bspw. Banken), Generalstreik oder Demonstrationen. Dabei ist natürlich nicht zu verkennen, dass Gewaltfreiheit unter kriegerischen Zuständen auch gefährlich ist und Menschenleben fordern kann. In Deutschland arbeitet vor allem der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) an und mit dem Konzept. Die Frage, ob die Bedingungen für gewaltfreie Soziale Verteidigung in der Ukraine gegeben waren und sind, wird dort bejaht (BSV 2022). Dass es derzeit einen praktizierten gewaltfreien Widerstand sowohl in der Ukraine als auch in Russland gibt, wird vom Metta Center for Nonviolence (2022) eindrucksvoll dokumentiert (siehe auch Wintersteiner in dieser Ausgabe, S. 24).

Unser solidarisches Handeln ist hierbei gefordert: Neben der Notwendigkeit, diesen Ansätzen in den politischen Debatten Gewicht zu geben, heißt es, diese konkret und praktisch zu unterstützen. Solidarität könnte sich ausdrücken in »Zivilem Peacekeeping«, auch wenn dies primär präventiv gedacht ist (vgl. Nonviolent Peaceforce 2021).4 Anwendung könnten Erfahrungen des »Balkan Peace Team« aus den 1990er Jahren finden, die im Rahmen einer internationalen Kooperation mehrerer Friedensorganisationen lokale Friedensfachkräfte, die Schutzbegleitung von Menschenrechtsaktivist*innen, Besuche der Flüchtlingslager, Versöhnungsarbeit, Jugendarbeit und Lobbyarbeit (Regierungen, diplomatische Vertreter*innen und NGOs) beinhaltete (Müller und Foster 2012). Aber auch für solches Vorgehen gilt, dass es seine Wirksamkeit erst dann entfalten kann, wenn es geplant Teil eines Gesamtkonzeptes ist – einer transnationalen Notfallvorbereitung, die Friedensorganisationen in den letzten Jahren haben vermissen lassen.

Pazifismus und Soziale Verteidigung als Grundräson?

Ein Gedankengang zum Schluss: Viele, die in der Friedensarbeit aktiv sind, lehnen das von der Bundesregierung beschlossene Sondervermögen in Höhe von 100 Mrd. € für die Bundeswehr ab. Angesichts der Verunsicherung durch die Unwirksamkeit bisheriger, als konflikteinhegend eingeschätzter Instrumente – von der UN-Charta, internationalen Institutionen bis hin zu ökonomischen Projekten wie Nordstream 2 –, werden wir nicht darum herumkommen zu antworten auf die Fragen: „Was soll geschehen, wenn die Krisenprävention versagt? Wollen wir, dass unser Land sich verteidigen kann?“ Aus den anfangs für die Ukraine genannten Gründen folgt die Frage nach der Form der Selbstverteidigung, die wir bereit wären zu tragen. Dieser Frage sollte nicht ausgewichen werden: Auch deshalb, weil Soziale Verteidigung, der Strategie, der Mittel und der Kompetenzen bedarf. 100 Mrd. € wären hierfür nicht notwendig, aber Planung und Vorbereitung, womöglich auch eine entsprechende gesellschaftliche Kultur. Es ist höchste Zeit, unsere eigene Politik zu hinterfragen und für Soziale Verteidigung zu streiten – in Solidarität mit den akut vom Krieg betroffenen Menschen, wie für unsere eigene Zukunft.

Anmerkungen

1) Siehe z.B. Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß im Interview mit dem Deutschlandfunk (Küpper 2022).

2) Zur Problematisierung der Solidarität im Kontext des Ukraine-Kriegs, siehe auch Vondermaßen und Bieß (2022).

3) »Stern« und »Focus« verifizierten diverse dieser Videos, die Ende Februar 2022 verbreitet wurden.

4) Das Konzept hat erstaunlicherweise auch Eingang in die Leitlinien der Bundesregierung zur Zivilen Krisenprävention von 2017 gefunden.

Literatur

BSV (2022): Gewaltfreie Alternativen zu Krieg und Rüstung. Thesenpapier von Christine Schweitzer, 15.03.2022.

Küpper, M. (2022): Militärstratege Brauß befürchtet „langen Zermürbungskrieg“. DLF, 21.3.2022.

Metta Center for Nonviolence (2022): Resistance to war in Ukraine: Actions, news, analyses, and resources for nonviolence. mettacenter.org/nonviolencereport/resistance-to-war-in-ukraine-resource-list, kontinuierlich aktualisiert.

Müller, B.; Foster, P. (2012): The Balkan Peace Team 1994-2001 Non-violent intervention in crisis areas with the deployment of volunteer teams. Stuttgart: ibidem Verlag.

Müller, O. (2022): Optionen des Pazifismus in kriegerischen Zeiten. Interview mit dem SRF. Vollständiges Transkript, W&F Blog.

Nonviolent Peaceforce (2021): Unarmed civilian protection. Strenghtening civilian capacities to protect civilians against violence. Zweite Edition. Selbstverlag.

Vondermaßen, M.; Bieß, C. (2022): Solidarität mit der Ukraine. Blogbeitrag, BedenkZeiten (Uni Tübingen), pdf bei Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.

Statthalter in Zeiten von Krieg und Frieden

Statthalter in Zeiten von Krieg und Frieden

Die Rolle der »Comités de Autodefensa Civil« in Peru

von Eva Willems

Die gängige Einteilung in Opfer und Täter*innen, die das Handeln in Kriegszeiten beschreibt, übersieht oft die Ambivalenzen der zivilen Beteiligung an bewaffneten Konflikten. Ein Blick auf die bäuerlichen Gemeinschaften, die während des internen bewaffneten Konflikts in Peru (1980-2000) in zivilen Selbstverteidigungskomitees organisiert waren, gibt Aufschluss über einige dieser Zweideutigkeiten. Die Selbstverteidigungskomitees trugen dazu bei, das tägliche Leben über die rein militärischen Angelegenheiten hinaus zu organisieren, einschließlich Strategien zur Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen des »Leuchtenden Pfads«.

1980 nahm die maoistische Rebellengruppe »Leuchtender Pfad« (Sendero Luminoso) in der Region Ayacucho in Peru ihren bewaffneten Kampf auf, um die Zentralregierung zu stürzen und ein kommunistisches Regime zu errichten. Der Aufstand des Leuchtenden Pfads wurde von den staatlichen Streitkräften mit einer brutalen Kampagne der Aufstandsbekämpfung beantwortet. Nach Angaben der Wahrheits- und Versöhnungskommission (CVR), die nach der politischen Wende im Jahr 2000 eingesetzt wurde, wurden während des Konflikts ca. 69.000 Peruaner*innen getötet oder verschwanden (CVR 2003a). Im Laufe dieses internen bewaffneten Konflikts entstand im Apurímac-Tal, im nördlichen subtropischen Wald der Region Ayacucho, ein weiterer nichtstaatlicher bewaffneter Akteur, der sich den maoistischen Aufständischen entgegenstellte: die zivilen Selbstverteidigungskomitees (»Comités de Autodefensa Civil« oder CADs). Mit dem Gesetzesdekret 741 aus dem Jahr 1991 wurden die CADs als juristische Personen anerkannt und ihre Erlaubnis zum Gebrauch von Schusswaffen formalisiert. Bis 1993 registrierte die Armee 1.564 CADs mit 61.450 Mitgliedern und 5.583 Schusswaffen für das gesamte Departement Ayacucho (Del Pino 1996, S. 181). Die CADs spielten schließlich eine entscheidende Rolle im Kampf an der Seite der staatlichen Streitkräfte, um die militärische Niederlage des Leuchtenden Pfades im Apurímac-Tal zu erreichen. Nach dem Ende des internen bewaffneten Konflikts wurde keine Entwaffnungs- oder Demobilisierungsstrategie eingeführt, und einige CADs fungieren heute noch als lokale Sicherheitskräfte auf der Grundlage des oben genannten Rechtsrahmens.

Auf die peruanischen CADs lässt sich am besten die von Jentzsch, Kalyvas und Schubiger aufgestellte Definition von Milizen anwenden: „bewaffnete Gruppen, die neben regulären Sicherheitskräften operieren oder unabhängig vom Staat arbeiten, um die lokale Bevölkerung vor Aufständischen zu schützen“ (2015, S. 755). Obwohl in der Vergangenheit in Konflikten auf der ganzen Welt Anti-Rebellen-Milizen aufgetaucht sind, werden sie nur selten untersucht, da die Verbreitung nichtstaatlicher bewaffneter Akteure meist aus der Perspektive der Rebellen betrachtet wird. Milizen werden in der Regel entweder als staatsnahe paramilitärische Gruppen oder als staatlich geförderte bewaffnete Beteiligung von Zivilist*innen an Militäroperationen betrachtet. Ein solcher Ansatz birgt jedoch die Gefahr, den autonomen Charakter und die antistaatlichen Eigenschaften einiger Milizen zu verschleiern. Gleichzeitig besteht in der Konflikt- und Postkonfliktforschung die Tendenz, die Handlungsformen während Kriegen in exklusiven Kategorien von Zivilist*innen und Kombattant*innen oder Opfern und Täter*innen zu beschreiben. Die genaue Art und die Beweggründe für die Beteiligung von Zivilist*innen an bewaffneten Konflikten – sei es in Form von Kollaboration, Widerstand oder Selbstverteidigung – sind noch immer mangelhaft konzipiert.

Auch im Postkonflikt-Peru ist die Rolle der CADs sowohl unterbelichtet als auch umstritten. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission kam zu dem Schluss, dass „bei keinem anderen Akteur des Krieges die Grenze zwischen Täter und Opfer, zwischen Held und Schurke, so dünn und durchlässig ist wie bei den Selbstverteidigungskomitees“ (CVR 2003b, S. 74). Dieser Artikel, der auf meiner Doktorarbeit basiert1, beleuchtet die Ambivalenzen der zivilen Beteiligung an bewaffneten Konflikten, indem er ein Gegengewicht zur einseitigen Fokussierung auf den destruktiven Charakter der Milizen schafft (Fumerton 2018, S. 63; Willems 2020). Dies geschieht, indem ich zeige, wie die CADs das tägliche Leben während des Krieges über die rein militärischen Angelegenheiten hinaus regelten, beispielsweise durch die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen, die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts und die Reintegration ehemaliger Kämpfer*innen des Leuchtenden Pfads. Die Ergebnisse sind eingebettet in verschiedene Episoden der Feld- und Archivforschung im Tal des Apurímac-Flusses, die zwischen 2015 und 2021 durchgeführt wurden.

Entstehung bäuerlicher Selbstverteidigung

Während des internen bewaffneten Konflikts änderte sich die Governance-Struktur der bäuerlichen Gesellschaft im Apurímac-Tal drastisch. Während die unterscheidungslose Aufstandsbekämpfung der staatlichen Streitkräfte der unmittelbare Auslöser für die Organisation der bäuerlichen Selbstverteidigung war, hinterließ die Strategie des Leuchtenden Pfads aus Angriffen auf bestehende Regierungs- und Autoritätsstrukturen ein »Governance-Vakuum«, das von den CADs gefüllt wurde (Fumerton 2018, S. 68). Inmitten des Kreuzfeuers begannen die Bäuer*innen, eine alternative und starke lokale Regierungs- und Verwaltungsstruktur aufzubauen. Bis zum Beginn des Krieges hatten viele Bäuer*innen verstreut auf ihrem Land oder in kleinen Weilern gelebt. Wie ein ehemaliger CAD-Kommandant im Bezirk Pichari beschreibt:

„Damals [vor dem Krieg] lebten wir alle getrennt in unserem Haus auf unserem Land. Es gab kein Dorf, das war nicht so wie jetzt. Jeder von uns lebte auf seinem Land.“ (Interview der Autorin 2018)

Um der durch den Konflikt verursachten zunehmenden Unsicherheit zu begegnen, beschlossen die Bäuer*innen an verschiedenen Orten, sich in befestigten Siedlungskernen, den so genannten »zivilen Antisubversionsstützpunkten«, zu sammeln und die Selbstverteidigung in Form von Patrouillen zu organisieren. Ab 1984 entstand im gesamten Apurímac-Tal ein Netz ziviler Selbstverteidigungskomitees mit einem zentralen Hauptquartier in der Stadt Pichiwillca.

Milizverwaltung auch jenseits militärischer Belange

Die Organisation in streng bewachten Stützpunkten oder Selbstverteidigungskomitees ermöglichte es den Bäuer*innen, die Bewegung von Personen auf ihrem Gebiet zu kontrollieren. Pro Familie war mindestens ein Mitglied verpflichtet, sich an den Selbstverteidigungsaufgaben zu beteiligen. Für das Verlassen oder Betreten der Stützpunkte aus anderen Gründen als der Arbeit auf dem Land war eine schriftliche Genehmigung erforderlich.

Auf dem Höhepunkt des Konflikts im Apurímac-Tal in den späten 1980er Jahren beteiligte sich fast jedes aktive Mitglied der Gemeinschaft an Aufgaben im Zusammenhang mit der Selbstverteidigung. Folglich verschmolzen die Gemeinde und die CAD de facto zu einer einzigen Einheit. Die Selbstverteidigungskomitees verteidigten somit die Interessen der Gemeinschaft, was eine ihrer organisatorischen Stärken war, da es ihre Legitimität erhöhte. Die Funktion der zivilen Selbstverteidigungskomitees, die eindeutig in einem Kriegskontext entstanden, ging über die Kriegsangelegenheiten hinaus, da die CADs die wichtigsten Organisatoren des täglichen Lebens im Apurímac-Tal wurden. Sowohl die Archivunterlagen der Selbstverteidigungskomitees als auch die Interviews mit ehemaligen Milizionär*innen und Gemeindemitgliedern deuten darauf hin, dass die CADs während des internen bewaffneten Konflikts weitreichend und systematisch in die Verwaltung der bäuerlichen Gemeinden eingriffen. Dazu gehörten die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung, die Organisation von Freizeitaktivitäten wie Fußballturnieren, sowie die Koordinierung der inner- und zwischengemeindlichen Solidarität, beispielsweise die Hungerhilfe oder die Versorgung von Waisen und Witwen. Dazu kamen der Umgang mit Kleinkriminalität, häuslicher Gewalt oder lokalen Konflikten um Land.

Reintegration durch Reue

So wurden die CADs durch die Regelung sowohl kriegsbezogener als auch anderer alltäglicher Angelegenheiten zu wichtigen Trägern der sozialen Ordnung: Inmitten des Kriegschaos institutionalisierte die Bevölkerung durch die Selbstverteidigungskomitees Strategien für das Überleben und Zusammenleben. Das wichtigste Beispiel dafür ist die Praxis des »arrepentimiento« (»Reue«), das die Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen des Leuchtenden Pfades in die Gemeinschaft und das Selbstverteidigungskomitee umfasste. Das bedeutete, dass Mitglieder des Leuchtenden Pfades, die von den CADs gefangen genommen wurden, nicht an die staatlichen Streitkräfte ausgeliefert wurden, sondern die Möglichkeit erhielten, durch eine schriftliche Erklärung Reue zu zeigen, manchmal gefolgt von einer öffentlichen körperlichen Bestrafung. Indem sie ihre Loyalität gegenüber der Gemeinschaft durch aktive Teilnahme an der Selbstverteidigung unter Beweis stellten, konnten die »arrepentidos« anschließend Vertrauen gewinnen oder wiederherstellen. Um ihren Wiedereingliederungsprozess zu erleichtern, bürgten Landbesitzer*innen für die arrepentidos, indem sie ihnen Zugang zu einem Stück Land gewährten oder ihnen eine Anstellung als Lohnarbeiter*innen auf ihrem eigenen Land anboten. Sobald die Gemeinschaft beschlossen hatte, dass sie bleiben konnten, wurden die arrepentidos (wieder) in das Zivilregister eingetragen. Ein ehemaliges CAD-Mitglied beschreibt diesen Prozess wie folgt:

„Es gab zum Beispiel immer wieder Personen, die auf [arrepentidos] trafen, während sie auf ihrem Land arbeiteten, und sie brachten diese dann zur Selbstverteidigungs-Einheit, und die informierten sie, dass sie einen arrepentido gefunden hätten. Und dann haben sie [die arrepentidos] gestanden […], aber die Selbstverteidigung hat verziehen.“ (Interview der Autorin 2018)

Die arrepentidos hätten auch ehemalige Mitglieder derselben Gemeinde sein können, aber aufgrund des Kriegsverlaufs und der Rekrutierungsstrategie des Leuchtenden Pfads landeten viele von ihnen in Gemeinden, aus denen sie nicht stammten. Ein Forschungsteilnehmer berichtet zum Beispiel, wie die arrepentidos aus dem Hochland kamen, um im subtropischen Apurímac-Tal Zuflucht zu suchen:

„Oft kamen sie aus dem Hochland, viele Leute mit ihrer weißen Fahne, die ein Baby trugen, andere gerade erst erwachsen geworden, oder auch eine hochschwangere Frau. Und das Kommando wartete auf sie und wir riefen: ‚Kommen die terrucos [Terroristen], oder was?‘ – ‚Nein, das sind arrepentidos‘, das sagten sie damals. Sie kamen in Herden, wie Tiere, in jedes Dorf.“ (Interview der Autorin 2018)

Die Praxis des »arrepentimiento« kann sowohl als Kampf- als auch als Überlebensstrategie gesehen werden. Der Drang der Bäuer*innen, sich vor den staatlichen Kräften vom Leuchtenden Pfad zu distanzieren, war einer der Hauptgründe für die Existenz der Selbstverteidigungskomitees. Indem sie auf ihre eigenen Wiedereingliederungsstrategien zurückgriffen, anstatt ihre zu Guerriller@s gewordenen Nachbar*innen an die staatlichen Streitkräfte oder die Justiz auszuliefern, vermieden die bäuerlichen Gemeinschaften, als »rote Zone« abgestempelt zu werden, die mit den maoistischen Aufständischen sympathisiert hätten. Gleichzeitig motivierte die Notwendigkeit, die fragile Koexistenz zwischen den Gemeindemitgliedern aufrechtzuerhalten, und die Möglichkeit, wertvolle Informationen über die Position des Leuchtenden Pfads zu erhalten, die Bauern zur Wiedereingliederung der ehemaligen Gueriller@s.

Das durch die Existenz der Selbstverteidigungskomitees verbesserte Sicherheitsgefühl milderte zudem – bis zu einem gewissen Grad – das Gefühl der gegenseitigen Angst und des Misstrauens zwischen den Dorfbewohner*innen, was wiederum das soziale Kapital der Bevölkerung für die Wiedereingliederung stärkte. Darüber hinaus wurde ein großer Teil der arrepentidos vom Leuchtenden Pfad zwangsrekrutiert. Diesen Rekrut*innen, die unter sehr schlechten Bedingungen in Lagern des Leuchtenden Pfades tief im Wald lebten, wurde bei ihrer Rückkehr in die Gemeinschaft oft mit Mitgefühl begegnet. Ein ehemaliger CAD-Kommandant ist gerührt, wenn er sich an die arrepentidos erinnert:

Dort [beim Leuchtenden Pfad] waren die Beteiligten bescheidene Leute, es waren keine vorbereiteten Leute. Es waren bescheidene Bauern, arme Mocositos [rotznasige Kinder]. Sie wurden rekrutiert. Was hatten sie sich zuschulden kommen lassen? Also konnten wir sie auch nicht töten. Das Einzige, was uns blieb, war zu versuchen, sie zu retten. […] Wenn ich mich daran erinnere, was [geschehen ist], so viel Kummer… [fängt an zu weinen]. Wir brachten sie sehr krank, wie hätten wir sie töten können? Man musste sie retten.“ (Interview der Autorin 2018)

Die Bedeutung von Wiedereingliederungsstrategien als grundlegendem Element der Regierungsführung der CADs zeigt, dass die Bevölkerung in einem Kriegskontext, der Druck auf die bestehenden Strukturen der Sicherheit und des sozialen Zusammenhalts ausübt, ein Bedürfnis nach der Gestaltung von Gemeinschaftsbeziehungen hatte.

Schlussfolgerung

Die Zivilbevölkerung wird meist als Opfer dargestellt, das in bewaffneten Konflikten ins Kreuzfeuer der Kriegsparteien gerät. Damit wird die Komplexität ihrer Beteiligung an oder ihre Reaktionen auf Kriegsgewalt und Unsicherheit übersehen. Die CADs waren zwar in der Tat bewaffnete Akteure, die bis zu einem gewissen Grad zur Spirale der Kriegsgewalt beitrugen, aber ihre Rolle unterschied sich grundlegend von der der staatlichen Streitkräfte oder des Leuchtenden Pfads. Ein besseres Verständnis der Art und Weise, wie Milizen während des Krieges für die Regierungsführung sorgen, kann uns nicht nur helfen, bestimmte Konfliktdynamiken besser zu verstehen, sondern auch Erkenntnisse über den Wiederaufbau nach einem Konflikt liefern. Die Untersuchung der (post-)konfliktiven Rolle von bäuerlichen Selbstverteidigungsmilizen wie den CADs – die kein ausschließlich peruanisches Phänomen sind – kann uns helfen, unser Verständnis darüber zu erweitern, wer als konfliktverändernde Akteure während eines bestimmten Konflikts und seiner Folgen gelten kann. Während sich die traditionellen Ansätze zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (DDR) hauptsächlich darauf konzentriert haben, durch die Arbeit mit den Täter*innen wieder Sicherheit zu erlangen, hat das opferzentrierte Feld der Transitional Justice dabei versagt, die potenzielle Rolle bewaffneter Akteure bei der Erleichterung von Prozessen der Reintegration, des sozialen Wiederaufbaus und der Koexistenz (nach dem Konflikt) anzuerkennen. Die Erforschung der Rolle von Milizen beim Wiederaufbau nach Konflikten muss daher eine Brücke zwischen diesen beiden Bereichen schlagen und die vielfältigen Schattierungen von Opfer- und Täter*innenschaft berücksichtigen, die für bewaffnete Konflikte und deren Folgen charakteristisch sind.

Anmerkung

1) Finanziert von der Forschungsstiftung Flandern und dem Sonderforschungsfonds der Universität Gent.

Literatur

CVR (2003a): Informe Final. Lima.

CVR (2003b): Informe Final, Tomo 4. Lima.

Del Pino, P. (1996): Tiempos de Guerra y de Dioses: Ronderos, Evangélicos y Senderistas en el valle del Río Apurímac. In: Degregori, C. I. (Hrsg.): Las rondas campesinas y la derrota de sendero luminoso. Instituto de Estudios Peruanos, S. 117-88.

Fumerton, M. (2018): Beyond counterinsurgency: Peasant militias and wartime social order in Peru’s civil war. European Review of Latin American and Caribbean Studies 105, S. 61-86.

Jentzsch, C.; Kalyvas, S. N.; Schubiger, L. I. (2015): Militias in civil wars. Journal of Conflict Resolution 59 (5), S. 755-69.

Willems, E. (2020): Open secrets & hidden heroes: Violence, citizenship and transitional justice in (post-)conflict Peru. Ghent: Ghent University.

Dr. Eva Willems ist PostDoc Forscherin am ZfK Marburg. Ihre Dissertation zu »Transitional Justice in (Post-)Conflict Peru« wurde 2020 mit den Christiane-Rajewsky-Preis der AFK und dem Romain-Yakemtchouk-Preis der Königlich Belgischen Akademie für Überseestudien ausgezeichnet.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Täter*innen

Täter*innen

Ein Begriff und seine Komplexität

Wer als Täter*innen zu verstehen ist, was diese ausmacht und weshalb »wir« von Täter­*innen sprechen ist nicht leicht zu beantworten – oder zumindest umstritten. Welche Rolle spielen individuelle Persönlichkeitszüge, Motivationen oder Ideologien, welche Rolle haben gesellschaftlich legitimierte und strukturelle Gewalt als Kontext? W&F hat Autor*innen aus der Forschung zu kollektiver (Massen-)Gewalt gebeten, ihre je eigenen Positionen darzulegen – mit zwei ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Christian Gerlach bezieht als Historiker Position, während sich Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred Louis, Emma Thomas und Catherine Amiot als Psychologinnen zu diesen Fragen äußern.

Gegen den Täterbegriff

von Christian Gerlach

Meine Perspektive ist die eines Historikers, der sich lange mit der Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert beschäftigt hat. Mit deutscher Geschichte, aber auch mit aussereuropäischer.

Was die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus angeht, hat die Forschung zu »Tätern« in den 1990er Jahren Fortschritte gemacht.1 Zwei US-amerikanische Forscher, Christopher Browning und Daniel Goldhagen, untersuchten damals dieselbe Einheit der deutschen Ordnungspolizei, die 1942 viele Massen­erschiessungen an Jüdinnen und Juden in Polen durchführte, das Reserve-Polizeibataillon 101. Beide kamen zu dem Schluss, es habe sich bei den Tätern um gesellschaftlichen Durchschnitt gehandelt: Männer verschiedenen beruflichen Hintergrunds, Alters und Bildungsstands (meist keine Berufspolizisten); in der Regel ohne psychische Krankheit oder entsprechende Neigung; keine ideologische Elite, nicht besonders ausgewählt oder geschult und mehrheitlich keine NSDAP-Mitglieder. Ihre weiteren Folgerungen unterschieden sich freilich sehr: Für Browning waren dies „ganz normale Männer“, die, ohne besonderen Hass gegen Juden, unter bestimmten politischen Umständen aus verschiedenen Gründen – vor allem Gruppendruck – zu effizienten Mördern wurden. Goldhagen dagegen bezeichnete sie als „ganz normale Deutsche“, die sehr wohl einen Konsens zur Eliminierung der Juden teilten, der angeblich seit Jahrhunderten unter Deutschen bestand. Und es gab viele solche Polizeibataillone.2

Auch die heiss diskutierte sogenannte Wehrmachtausstellung Mitte der 1990er Jahre vermittelte einem breiten Publikum, dass sich deutsche Offiziere und Soldaten an Verbrechen in der Sowjetunion und in Südosteuropa massenhaft und mit Nachdruck beteiligt hatten. Die meisten von ihnen waren gleichfalls keine Nazis, und sie bildeten einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft.3 Ein von Gerhard Paul 2002 herausgegebener Sammelband mit Fachaufsätzen brachte es dann auf den Punkt: Die »Täter« liessen sich nach Gesellschaftsschicht, Werdegang, Bildungsstand, Alter, Region, religiöser und politischer Überzeugung nicht eindeutig einem Milieu zuordnen.4 Nichts immunisierte Menschen dagegen, an Massengewalt teilzunehmen, teilweise sogar aus eigener Initiative. Um es kurz zu machen: Das Bild für andere Fälle von Massengewalt ist nicht grundsätzlich anders, von Ruanda bis Argentinien, von der Sowjetunion über Indonesien bis zum Spätosmanischen Reich oder kolonialer Gewalt.

Das mag überzeugend klingen, aber am Beispiel der Forschungen zu NS-Deutschland lassen sich auch Schwächen und innere Widersprüche zeigen. Browning, Goldhagen und die Autorinnen und Autoren des Paul-Sammelbands behandelten vor allem sogenannte tatnahe Täter: Personen in ausführenden Organen, einer mörderischen Exekutive, vor allem Schützen und Lagerpersonal. Deren Handlungsautonomie überbetonend, entpolitisierten die Forschenden das Handeln jener Personen; sie verwiesen zwar auf direkte Befehlsgeber in SS, Polizei und Militär sowie Hitler, sagten aber nichts oder fast nichts über Politiker, Fachleute und Verwaltungsfunktionäre, die die »Taten« vielfach erdacht, gefordert oder darüber entschieden hatten, und lösten die »Taten« damit aus ihren historisch-gesellschaftlichen Kontexten heraus.

Die Funktion des Täterbegriffs

Viele Forschende stützten sich bei ihrem Vorgehen auf Akten von Justizverfahren gegen NS-Täter, von denen die meisten übrigens straffrei ausgingen. Dies ist der Kern des Problems: Der Täterbegriff stammt aus einem juristischen Kontext, und das, obwohl sich die Justiz als völlig ungeeignet erwiesen hat, Massenmord zu ahnden. Die BRD ist hier ein besonders abschreckendes Beispiel, aber in keinem einzigen Land, von dem Massengewalt ausging, ist die juristische Aufarbeitung je erfolgreich gewesen. Massenmord ist das Verbrechen, das ungestraft bleibt, jedenfalls für die meisten Beteiligten. Das ist kein Zufall, denn grosse Teile der Gesellschaft waren ja an der Gewalt beteiligt oder haben sie unterstützt (wie z. B. die meisten westdeutschen Richter, Staatsanwälte und Polizisten der unmittelbaren Nachkriegszeit frühere NS-Mitglieder waren).

So bleiben auch bestimmte Formen von Gewalt und Gewalt gegen bestimmte Opfergruppen juristisch praktisch gänzlich unverfolgt (im westdeutschen Fall die Vernichtung von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten bei der Partisanenbekämpfung, die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen oder die Hungerpolitik), von Wissenschaftler*innen wenig beachtet und in der gesellschaftlichen Diskussion auch. Prozesse gegen Täter von Massengewalt dienen weniger der individuellen Aburteilung als politischen und gesellschaftlichen Zwecken. Sie sollen die Gesellschaft stabilisieren und bieten Deutungen des Geschehenen an, die für die Mehrheit und die führenden Schichten akzeptabel sind, wobei Schuld auf einige Radikalinskis, Exzesstäter und vermeintliche Sadisten ausgelagert wird. So entstehen tröstliche Geschichten von Gut und Böse. Und »wir« sind natürlich »gut«.

Grosse Teile der vergleichenden Genozidforschung erzählen ähnliche Geschichten von Gut und Böse, wobei sie radikale Schurkenregime für Massenmorde verantwortlich machen, die bestimmte Ideen (statt Interessen) verfolgen und von oben nach unten umsetzen, wozu ihnen radikale Organisationen und propagandistische Manipulation dienen. Ihre Gegenrezepte lauten Regimewechsel und etwas Umerziehung.Während Prozesse und Justizakten einiges interessantes biographisches Material zu »Tätern« bieten mögen, geben sie zu einem Punkt ganz besonders wenig her: zur Motivation für die Tat. Aus Schutz vor juristischen Folgen bekennen ganz wenige Beschuldigte Rassenhass, Raubgier, Machtdünkel oder sexuelle Lust, was strafverschärfend wäre. Stattdessen tendieren sie dazu, andere (am besten Tote) zu beschuldigen, sich auf Befehle von höherer Stelle zu berufen und eine räumliche Distanz zur Tat zu behaupten, jedenfalls aber eine innere Distanz. Es gibt keine sinnvollen Methoden zur Benutzung solcher Aussagen. Weder Browning überzeugt, der ihnen meist Glauben schenkte, noch Goldhagen, der sie alle abtat und pauschal Rassenhass als Motiv annahm.

Extrem gewalttätige Gesellschaften

Nach meinen Forschungsergebnissen ist die Entstehung von massenhafter Gewalt aus Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Konflikten zwischen ihnen zu erklären. Gewalt ist also multikausal, die Motive, sich zu beteiligen, sind verschieden, und die Gewalt richtet sich oft gleichzeitig gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen. In Gesellschaften des 20. Jahrhunderts beruht die Gewalt auf Arbeitsteilung, wodurch es Aktivitäten gibt, die vor den Augen der Justiz kaum als kriminell gelten können und doch den Tod von Verfolgten massgeblich mitverursachen (z. B. die Organisation von Eisenbahnverkehr im Fall von Deportationen oder das Verlangen von Wucherpreisen gegenüber hungernden oder durstigen Verfolgten). Die zahlreichen an der Verfolgung Beteiligten sind nicht nur den herrschenden Verhältnissen unterworfen, sondern schaffen sie selbst mit. Dass bestimmte gesellschaftliche Strukturen vorhanden sind, schliesst absichtsvolles, überlegtes und autonomes Handeln nicht aus, auch von »ungebildeten« Personen aus Unterschichten nicht. Massengewalt ist ein interaktiver Prozess, an dem übrigens auch Gruppen aktiv beteiligt sind, die zu Opfern werden.5

Der Begriff »Täter« hemmt aus meiner Sicht ein komplexes Verständnis von Massengewalt. Hinter dem Begriff steht ein Denken, das »Täter« als ausserhalb der Gesellschaft stehend sieht und in unzutreffender Weise individualisiert. Als analytische Kategorie ist der Täterbegriff daher ungeeignet.

Was ist mit Alltagsgewalt?

Aber sind diese Überlegungen auch für den Alltag relevant, für »normale« Zeiten? In der kapitalistischen, bürgerlich geprägten Gesellschaft funktioniert das Rechtswesen ähnlich wie oben beschrieben. Es greift Einzelpersonen heraus und entkleidet ihr Handeln tendenziell seinen Zusammenhängen. Es verfolgt Devianz, also die Abweichung von insgesamt für normal und gut erklärten Zuständen. Angesichts der bürgerlichen Externalisierung von »Tätern« und »Täterinnen« ist es nur konsequent, dass sie weggesperrt werden und dass ihre »Resozialisierung« später oft nicht gelingen mag. Andererseits ist beispielsweise die deutsche Justiz so gut wie unfähig, systemische Gewalt zu ahnden, also zum Beispiel im Autoverkehr oder durch Polizeibrutalität oder durch Verhältnisse, die Unternehmen ihren Beschäftigten auferlegen, oder bei der angeblichen Bekämpfung der extremen politischen Rechten. Für Gewalt zwischen den Geschlechtern oder unter Beteiligung der meisten ethnischen Minderheiten gilt Ähnliches mit Einschränkungen. Darin drücken sich bestimmte Machtverhältnisse aus. Aber auch bestimmte, den herrschenden Verhältnissen angepasste Denkweisen. Wenn also hinter »linker« Gewalt regelmässig sogenannte terroristische Vereinigungen gesehen werden, »rechte« Gewalt dagegen fast immer das Werk sogenannter »Einzeltäter« sein soll, und wenn das Leben von Radfahrerinnen und Radfahrern, Fussgängerinnen und Fussgängern recht billig ist, stehen dahinter nicht nur Probleme des Rechtswesens, sondern in der Gesellschaft vorherrschende Zustände und Anschauungen, auch wenn viele sie nicht billigen.

Damit ist auch gesagt, dass die Zeiten vielleicht nicht so normal und die Verhältnisse nicht so unproblematisch sind. Vieles daran, dass Menschen durch den Täterbegriff als im Grunde ausserhalb der Gesellschaft stehend erklärt werden, mag kein spezifisch deutsches Problem sein. Allerdings hat nicht jedes Land der Welt Truppen in elf fremden Staaten auf drei Kontinenten stehen; nicht in jedem Land der Welt sind Atomwaffen stationiert (mit dem Anspruch auf »nukleare Teilhabe«); nicht jedes Land hat eine ähnlich machtvolle, protektionistisch-aggressive Aussenwirtschaftspolitik in einer Welt des Massenhungers; und kein anderes Land ist ohne Tempolimit. All dies hat mit deutscher Gewalt zu tun, freilich einer ohne »Täter«.

Statt sich zu fragen, wen »wir« als »Täter« oder »Täterinnen« bezeichnen, und damit an jener ausgrenzenden Fiktion mitzuarbeiten, sollten Angehörige der Intelligenzschichten lieber versuchen, die »Tat« als Teil gesamtgesellschaftlicher Prozesse zu begreifen. Die Behauptung, es gebe überhaupt ein umfassendes »Wir«, das man sich als »gut« vorstellt, ist an sich schon ein grosses Problem.

Anmerkungen

1) In diesem Aufsatz wird meist die männliche Sprachform verwendet, nicht als generisches Maskulinum, sondern weil ich meist nur Männer behandele und die komplexe Diskussion um Täterinnen (die zahlenmässig ein Randphänomen waren) aus Platzgründen beiseitelasse.

2) Browning, Ch. (1993): Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Goldhagen, D. (1997): Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler

3) Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1996): Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg: Hamburger Edition

4) Paul, G. (Hrsg.) (2002): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein.

5) Gerlach, Ch. (2011): Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München: DVA.

Christian Gerlach arbeitet an der Universität Bern.

Kontext und Intention

Die Psychologie des »Schädigens«

von Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred R. Louis, Emma F. Thomas und Catherine E. Amiot

Viele Verletzungen und Schädigungen werden kollektiv begangen, wie im Konflikt zwischen Israel und Palästina oder während des Genozids in Kambodscha. Obwohl diese Beispiele für Gewalt und Verletzungen aus feindlichen und/oder ungleichen Beziehungen zwischen Gruppen erwachsen, hat sich ein Großteil der Forschung darauf verlegt, das Handeln der Täter*innen aus individuellen Pathologien oder moralischen Schwächen zu erklären. Der Fokus auf das Individuum ignoriert jedoch die erleichternde Rolle, die Gruppenprozesse in Fällen kollektiver Gewalt spielen (Louis et al. 2015).

Wer ist eine Täter*in und weshalb?

Unter Zuhilfenahme von Erkenntnissen der Sozialpsychologie erkunden wir die Wahrnehmungen von und Motivationen für Praktiken des »kollektiven Schädigens« der Täter*innen. Speziell fokussieren wir darauf, wie Gruppenprozesse: a) beeinflussen, wen wir als Täter*innen wahrnehmen; b) die Motivationen der Täter*innen unterstützen, Schaden zufügen zu wollen; und c) die Intentionalität hinter den Taten der Täter*innen beeinflussen.

Was als »Schädigung« oder »Gewalt« zählt (und, in Erweiterung, wer diese Gewalt verbrochen hat) ist eine subjektive Einschätzung und umkämpft. In manchen Fällen können sich die meisten Menschen einigen, dass eine Verletzung vorliegt (z. B. bei sexuellem Missbrauch von Kindern), aber es gibt auch Fälle die umstritten sind. Praktiken, die in manchen Kontexten zu bestimmten Zeiten in der Geschichte als grausam bewertet werden (z. B. Sklaverei) sind in anderen Kontexten und Zeiten gebilligtes und weiterverbreitetes Verhalten. Diese Definitionen der Gewaltanwendung sind beeinflusst von den historischen und kulturellen Gruppen, zu denen wir gehören.

Der »Social Identity Theory« (SIT, Tajfel und Turner 1986) zufolge ist das Selbstkonzept eines Individuums in Teilen von der/den sozialen Gruppe(n) abgeleitet, zu denen es gehört. Diese Gruppen können auf sozialen Kategorien (z. B. Gender) oder auf geteilten Ansichten und Meinungen darüber, wie die Dinge sein sollten beruhen (beispielsweise die Unterstützer*innen von Frauenrechten). Indem wir uns mit diesen sozialen Gruppen identifizieren, entwickeln wir »soziale Identitäten«: Wir betrachten Gruppenwerte, -normen und -ziele als bedeutsam für unser Selbst und verhalten uns in Übereinstimmung mit diesen Erwartungen. Zudem werden wir motiviert, die Interessen unserer Gruppe zu repräsentieren und ihr Ansehen und ihre Möglichkeite zu schützen oder zu verbessern.

Indem wir dies mit kollektiver Gewalt in Bezug setzen, können wir festhalten, dass uns unsere sozialen Identitäten dazu führen können, das gewalttätige Handeln unserer Gruppe und unsere Rolle als »Täter*innen« umzudefinieren basierend auf den Werten und Normen der Gruppe. So mögen sich Mitglieder von Siedlergesellschaften nicht als Dieb*innen verstehen, obwohl sie auf gestohlenem Land leben. Progressive, die für das weibliche Recht auf körperliche Selbstbestimmung eintreten, verstehen sich nicht als Unterstützer*innen von mörderischer Gewalt und »lebensschützende Konservative« verstehen sich selbst nicht als sexistisch und oppressiv. Zudem kann die Motivation, die eigene Gruppe in einem guten Licht erscheinen zu lassen, dazu führen, die Existenz oder die Auswirkungen von intergruppaler Gewalt herunterzuspielen, um das Ansehen oder Bild der eigenen Gruppe nicht zu beflecken. Daher kann schon der reine Glaube an die Existenz oder die Schwere der Verletzung – ob durch Rassismus oder den Klimawandel – stark variieren, abhängig von den Gruppenzugehörigkeiten.

Was motiviert Täter*innen zu ihren Taten?

Die »Social Identity Theory« kann uns auch bei der Erklärung helfen, wann und warum Menschen diese Verletzungen verüben. Ganz speziell die Motivation, unsere Gruppeninteressen zu schützen und zu bedienen sowie die Werte dieser Gruppe umzusetzen, können die Bereitschaft erhöhen, kollektive Gewalt zu unterstützen und an ihr teilzunehmen. Tatsächlich sind viele Fälle radikaler und gewalttätiger Handlungen durch diese »pro-Ingroup« Motive verstärkt (Thomas et al. 2014), was die Schlussfolgerung nahelegt, dass die Verletzung gegen die relevante Outgroup dem Schutz oder der Verbesserung des Status oder dem Wohlbefinden der Ingroup dient. Dazu kommt, dass Gruppenmitglieder umso mehr bereit sind, Schaden zuzufügen, je stärker sie sich mit ihrer Gruppe identifizieren (d.h. sie fühlen eine stärkere Art der Verbindung und Verpflichtung gegenüber dieser Ingroup, Tajfel und Turner 1986). Das rührt daher, dass diese stark identifikatorisch Gebundenen eher geneigt sind, bedeutsame Normen der Ingroup auszuführen – die verletzenden und schädigenden mit eingeschlossen – und diese auf ihr eigenes Selbstgefühl (»sense of self«) und ihr Verhalten anzuwenden (Amiot et al. 2020).

Allerdings liefert uns die SIT keine Erklärung für die diversen Motivationen hinter den Handlungen von Täter*innen. Das heißt, dass manche Gruppenmitglieder autonom Gewalt verüben, weil diese Handlungen ihre persönlichen Werte und Ziele spiegeln (d.h. diese Handlungen sind »internalisiert«), während andere wiederum Gewalt verüben, da sie eine Form von externem Druck oder Zwang verspüren. Das Modell zur »Internalisierung sozial normierten Verletzens« (MINSOH, Amiot et al 2020) wendet daher ein motivationales Kontinuum auf kollektives Schädigen an (Deci und Ryan 2000), bei dem die Motivation der Menschen für ein bestimmtes Verhalten von »selbstbestimmt« (self-determined; d.h. ausgewählt mit einem höheren Grad an Handlungsmacht und da sie Bestandteil der eigenen Identität sind) bis zu »nicht-selbstbestimmt« reicht (non-self-determined, d.h. gewählt aus einer geringeren Handlungsmacht und nicht aufgrund von Kernwerten des Selbstkonzeptes einer Person). MINSOH schlägt vor, dass die Motivation einer Täter*in sich entlang dieses Spek­trums organisiert und dass Gruppenprozesse es ermöglichen, dass die verletzenden Normen und Handlungen internalisiert werden und frei über Zeit hinweg verübt werden können.

Aus dem Modell folgt, dass Täter*innen sich an Gewalt aus einer Reihe von Gründen beteiligen:

  • Mit Blick auf Motive der Selbstbestimmtheit agieren Täter*innen gewaltvoll, um die Ziele der Gruppe zu erreichen oder um diese vor externen Bedrohungen zu schützen (»identifizierte Regulation«), oder weil Gewalt eine Funktion als Identitätsausdruck hat, bei der die Ingroup glaubt, dass diese normativen Handlungen mit den Kernüberzeugungen der Gruppe übereinstimmen (»integrierte Regulation«).
  • In manchen Fällen wird Gewalt und Verletzung zugefügt, weil es als an sich vergnüglich betrachtet wird, gänzlich getrennt von irgendeinem zweckdienlichen Mehrwert (»intrinsische Motivation«, z. B. Jagd von Tieren).
  • Manchmal jedoch wird Schaden auch aus nicht-selbstbestimmten Gründen verübt, beispielsweise um die Wahrnehmung der Wertigkeit der Gruppe sicherzustellen oder um ein Gefühl von Hochachtung zu erlangen (»introjezierte Regulation«) oder auch, weil es von anderen Gruppenmitgliedern erwartet wird (»externe Regulation«).
  • In manchen Fällen beteiligen sich die Gruppenmitglieder an Gewalt ohne Intention, selbst wenn sie nicht davon überzeugt sind, dass derartige Handlungen das erwünschte Ergebnis zur Folge haben werden; in diesem Fall könnten Gruppenmitglieder direkt ihre Beteiligung an diesem Verhalten infrage stellen (»Amotivation«).

»Opfer der Umstände« oder intentional handelnde Akteure?

Dass wir die Motivationen erhellen, die Gewalttaten stützen, kann auch dabei helfen zu erkunden, inwieweit Täter*innen die Verletzung beabsichtigen oder ob ihre Handlungen von Umständen befeuert werden, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. MINSOH legt nahe, dass Intentionalität und Kontext miteinander verwoben und nicht zwei getrennte Dimensionen sind. Beispielsweise handeln Gruppenmitglieder, die Schaden aus selbstbestimmten Motiven zufügen und dieses Verhalten aus freier Entscheidung unterstützen, beabsichtigt und willentlich. Jedoch können solche Handlungen aus einem intergruppalen Kontext erwachsen in dem verneint wird, dass es sich um Verletzungen handelt, diese herabgespielt oder als notwendig dargestellt werden, um die Interessen der Gruppe zu schützen (z. B. in einem Wettstreit um wertvolle Ressourcen) oder um ihre Werte zu verteidigen. Daher handeln diese Gruppenmitglieder zwar mit voller Absicht, aber fügen nicht unbedingt absichtsvoll Schaden zu, als Antwort auf einen dynamischen intergruppalen Kontext, der ihre Aufmerksamkeit auf die Vorteile für die Ingroup lenkt oder die gewaltvollen Handlungen sogar als positiv für die Betroffenen darstellt (wie z. B. im Kolonialismus).

Im starken Kontrast dazu reagieren Gruppenmitglieder, die aus nicht-selbstbestimmten Gründen Schaden zufügen, auf externen Druck, wie Zwang von anderen Gruppenmitglieder, oder dem Verlangen nach Belohnung. Daher kann argumentiert werden, da sich ihr Verhalten in einer geringeren Autonomie ausdrückt, dass diese Menschen nicht absichtsvoll Verletzungen zufügen, sondern die Absicht haben, diesen externen Druck von sich abzuleiten.

MINSOH legt ebenso nahe, dass man­che Gruppenmitglieder Gewalt ohne Absicht ausüben, gedankenlos. Insofern verhalten sie sich »unabsichtlich«, da ihre Motivation eher »unpersönlich« und uninvolviert als erzwungen ist. Stellen wir uns vor, Mitglieder einer Militäreinheit töten Zivilist*innen aus der verfeindeten Gruppe. Dann handeln einige Soldat*innen auf Basis der angenommenen patriotischen Vorteile, andere weil sie die Angst vor Bestrafung bei Verweigerung befürchten und wiederum andere sind erschöpft und denken überhaupt nicht nach über ihre Handlungen. Die moralische Bewertung, dass dieser Akt böse ist, setzt keineswegs voraus, dass alle Täter*innen einer kollektiven Gewalttat das selbe Motiv dafür haben.

Nicht zuletzt legt das Modell von MINSOH nahe, dass die Mitgliedschaft in unterschiedlichen Gruppen, die voneinander abweichende Positionen dazu vertreten, was es heißt, ein »guter, moralischer Mensch« zu sein, normative Hilfestellung sein kann, um kollektiver Gewalt in jedwedem Kontext vorzubeugen.

Umgekehrt erhöhen Erfahrungen von Vernachlässigung und Marginalisierug die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen dysfunktionale Bezugsgruppen suchen, die eben ein solches kollektives Schädigen propagieren (Amiot et al 2020). Rückkopplungsschlaufen in diesen Gruppen können dann das Durchführen von Gewalttaten bestärken, da jegliche Gewalttat Akteur*innen von pro-sozialen Gruppen entfremdet, nicht-selbstbestimmte Motive bekräftigt und moralische Verletzung und Trauma hervorruft (Louis et al 2015).

Um es erneut deutlich zu machen: Eine solche kontextuelle Analyse entlastet oder entschuldigt die Handlungen der Täter*innen nicht, aber sie hilft uns dabei, diejenigen sozialen und gruppenbezogenenen Faktoren zu identifizieren, die gefährliche Laufbahnen begünstigen und die daher geeignet sind für rechtzeitige Interventionen.

Literatur

Amiot, C. E.; Lizzio‐Wilson, M.; Thomas, E.F.; Louis, W.R. (2020): Bringing together humanistic and intergroup perspectives to build a model of internalisation of normative social harmdoing. European Journal of Social Psychology 50(3), S. 485-504.

Deci, E.L.; Ryan, R.M. (2000): The „what“ and „why“ of goal pursuits. Human needs and the self-determination of behavior. Psychological Inquiry 11(4), S. 227-268.

Louis, W.R.; Amiot, C.E.; Thomas, E.F. (2015): Collective harmdoing. Developing the perspective of the perpetrator. Peace and Conflict: Journal of Peace Psychology 21(3), S. 306-312.

Tajfel, H.; Turner, J. C. (1986): The social identity theory of intergroup behavior. In: Worchel, S.; Austin, W.G. (Hrsg.): Psychology of Intergroup Relations. Chicago: Nelson-Hall, S. 7-24.

Thomas, E.F.; McGarty, C.; Louis, W. (2014): Social interaction and psychological pathways to political engagement and extremism. European Journal of Social Psychology 44(1), S. 15-22.

Morgana Lizzio-Wilson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Flinders University. Sie forscht zur Rolle von Identität, Emotionen und Bedrohungen in kollektiver Handlung von progressiven und regressiven sozialen Bewegungen.
Winnifred R. Louis ist Professorin an der Universität von Queensland. Sie forscht zum Einfluss von Identität und Normen auf soziale Entscheidungsfindungen.
Emma F. Thomas ist Professorin an der Flinders University. Ihre Forschung erkundet, wie Menschen zusammenfinden, um gemeinsam soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.
Catherine E. Amiot ist Professorin an der Université du Québec in Montreal. In ihrer Forschung adressiert sie die Selbstbestimmtheit der Annahme und Internalisierung von Normen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

»Slow Violence«


»Slow Violence«

Zeitlichkeit(en) von Frieden und  Konflikten

von Natascha Mueller-Hirth

Obwohl es mit Debatten rund um strukturelle Gewalt in Einklang gebracht werden kann, hat das Konzept der »slow violence« (langsamer, schleichender Gewalt) bislang noch wenig Verwendung in der Friedens- und Konfliktforschung gefunden. »Slow violence« nimmt Bezug auf allmähliche und verzögerte Gewalt, die unsichtbar wird durch das Fortschreiten der Zeit und einem gesellschaftlich dominanten Verständnis von Krisen als spektakulären und plötzlichen Ereignissen. Der Beitrag diskutiert die Kernelemente der »slow violence« und setzt diese in Bezug zu feministischen und postkolonialen Ansätzen der Gewaltforschung sowie zu jüngeren Arbeiten über die Zeitlichkeiten von Frieden und Konflikten.

Vor zehn Jahren wurde das Konzept der »slow violence« von Rob Nixon in seinem Buch »Slow Violence and the Environmentalism of the Poor« eingeführt. Nixon beschreibt diese Form der Gewalt als eine Gewalt, die sich allmählich und außer Sichtweite realisiert, eine Gewalt der verzögerten Zerstörung die über Zeit und Raum verteilt ist, eine Gewalt der Zermürbung, die üblicherweise gar nicht als Gewalt verstanden wird“ (Nixon 2011, S. 2).

Sein disziplinärer Hintergrund in der sozialwissenschaftlichen Umweltforschung erklärt Nixons speziellen Fokus auf die Zerstörung der Umwelt im Kapitalismus, indem er betont, dass sich die verzögerten Folgen des Klimawandels, der Verschmutzung, des Ressourcenabbaus und der Kriegsführung oft erst nach Jahrzehnten zeigen. Für Nixon wird »slow violence« dadurch ermöglicht, dass es eine spezifische Erkenntnis- und Konstruktionsweise von Krisen und Desastern gebe: Gewalt müsse spektakulär, explosiv und überraschend sein, um in den Medien abgebildet zu werden oder von der Politik und strategischen Planungsvorhaben mit berücksichtigt zu werden. Dem hält er entgegen, dass Gewalt auch allmählich, stufenweise, schleichend und akkumulierend wirken kann und das über weitaus längere Zeitfenster. Beispiele dessen, was Nixon eindrücklich »lange Tode« (long dyings) nennt, lassen sich im ökologischen Kollaps des Nigerdeltas infolge der Ölförderungen, in der Strahlung, die von zerfallender Uranmunition aus den Golfkriegen stammt oder auch »Umweltflüchtlingen« finden, die von Mega-Staudamm Projekten vertrieben werden.

Die Auswahl dieser Beispiele verdeutlicht auch, dass das Verständnis von Gewalt nicht nur einer Auseinandersetzung über Zeitlichkeit, sondern auch über Geographie bedarf: Der globale Kapitalismus führt zu ungleichen Entwicklungen und sozialer wie ökologischer Ungerechtigkeit, in der Gemeinschaften oder Staaten mit niedrigen Einkommen üblicherweise diejenigen sind, die solche (lebens)gefährlichen Orte aufweisen, eine höhere Verletzlichkeit gegenüber den Folgen des Klimawandels aufweisen und möglicherweise weniger Ressourcen für die Anpassung aufbringen können.

Andere Forscher*innen haben das Konzept jenseits seines umweltwissenschaftlichen Kontextes zu erweitern versucht, indem sie sich der »slow violence« im Verhältnis zu Polizeiarbeit und staatlich unterstützten rassistischen Verbrechen, im Verhältnis zur Bildung, sozialer Stigmatisierung, Grenzregimen oder dem Niedergang des Wohnungsmarktes annäherten, um nur einige Anwendungsgebiete zu erwähnen.

Die Unsichtbarkeit der Gewalt

Friedens- und Konfliktforscher*innen mag der Klang von »slow violence« vertraut vorkommen. Nixon erkennt auch explizit die Bedeutung von Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt (1969) – das normalisierte und oft nicht bemerkte Leiden, das den Menschen durch ungleiche Lebenschancen und die Verweigerung von Grundbedürfnissen zugefügt wird – für sein eigenes Werk. Er argumentiert aber, dass strukturelle Gewalt statisch sei und Fragen von Bewegung, Wandel und Handlungsmacht vernachlässige. Obwohl »slow violence« Formen struktureller Gewalt beinhalten kann, stellt es als Konzept eher auf die Ausübung vieler möglicher Formen der Gewalt über Zeit ab und antwortet damit auf gegenwärtige »Politiken der Beschleunigung« und auf ein sich wandelndes Verständnis vom massiven menschlichen Einfluss auf den Planeten.

»Slow violence« wird jedoch vorgeworfen, gerade die Gegensatzpaare zu verdinglichen (wie sichtbar/unsichtbar, abrupt (hot)/schleichend (slow) oder spektakulär/alltäglich), die feministische und postkoloniale Forschende seit langem schon infrage stellen. Ihre Kritik lautet, dass es ein Kontinuum der Gewalt von »spektakulärer« hin zu alltäglicher struktureller Gewalt gibt, die viele marginalisierte Gruppen erleben, dass es aber auch Kontinuen geschlechtsbezogner oder ethnischer Gewalt gibt, die sich zwischen dem »Krieg« und sogenannten »Friedenszeiten« aufspannen. Die Unsichtbarkeit bestimmter Formen der Gewalt sei also nicht nur von Zeitlichkeit abhängig, sondern vielmehr auch beeinflusst von „größeren vergeschlechtlichten und rassifizierten Epistemologien [Erkenntnisweisen] die das Öffentliche, das Schnelle, das Aufgeheizte und das Spektakuläre privilegieren“ (Christian und Dowler 2019, S. 1066; ebenso George 2014 für den Versuch, »slow violence« auf geschlechtsbezogene Gewalt zu beziehen). Davies (2019) Arbeit mit Communities in den giftigen Landschaften der petrochemischen Industrie Louisianas zeigt dabei deutlich, wie strukturelle Ungleichheit zu »slow violence« gerinnen kann. Seine Kritik an Nixons Behauptung, dass »slow violence« „Spektakel-defizitär“ sei, wirft ein grelles Licht auf epistemische Gewalt: Davies argumentiert, dass es eher die Politiken der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid marginalisierter Gruppen sind als die reine Unsichtbarkeit an sich, die »slow violence« verstetige und am Leben hielte. Seinen Ausführungen nach ist es daher zentral, sich mit den gelebten Erfahrungen und informellen Wissensformen derjenigen auseinanderzusetzen, die mit diesem schleichenden Umweltstress leben müssen, für die die »slow violence« oft „klar und geradeheraus zu sehen ist“ (ibid. 2019, S. 13).

Die Betroffenen der »slow violence«

»Slow violence« ruft Herausforderungen der Repräsentation und politische Herausforderungen hervor. Das Verstreichen der Zeit, und seine Beschleunigung (siehe unten), trennt die Ursachen der Gewalt von ihren Konsequenzen, was wiederum die Möglichkeiten behindert, auf sich langsam entfaltende Umweltkrisen entsprechend aufmerksam zu machen – geschweige denn, dagegen zu mobilisieren.

Zudem verschärft »slow violence« das Problem der politischen Verantwortung – politischer Wandel passiert deutlich schneller als die Erholung der Umwelt –, und Gesetzgebung, die Umweltzerstörung wirklich nachhaltig angehen könnte, lässt sich nicht mit Wahlperioden oder Amtszeiten in Einklang bringen.

In der Konsequenz führt also die Engführung von Gewalt auf einzelne Ereignisse oder kurze, klar definierte Perioden zu einer Vernachlässigung derer, die unter den verzögert wirkenden oder sich akkumulierenden Auswirkungen von Umweltkatastrophen leben, leiden oder daran sterben. Strahlung oder chemische Verschmutzung verursachen Krebsgeschwüre und Verseuchungen; Ressourcenabbau und Klimawandel verringern die Chancen, menschliches Leben auf der Erde sicherzustellen; die 100 Millionen nicht explodierten Minen verschiedener Kriege weltweit liegen in den Böden vorwiegend ärmerer Länder konzentriert und führen dort zu Verstümmelungen und Toden. Fortlaufende und intergenerationelle Gewalt könnte ein chronisches Trauma verursachen (Pain 2020). In diesem Sinne verstärkt »slow violence« Bedrohungen exponentiell und kann dazu beitragen, langfristige Spannungen und Konflikte weiter anzuheizen.

Mit all diesen Argumenten setzt sich Nixon in seinem Werk nicht explizit auseinander, sie sind aber in der Forschung zu den Folgen von Massengewalt erkundet worden – von Volkans „Zeitenkollaps“ (1997), in dem Gruppen Ideen und Gefühle im Zusammenhang mit einem „erwählten Trauma“ aus der Vergangenheit mit denen aktueller Krisen ineinanderfalten, bis zu den „zeitlichen Konflikten“ (Mueller-Hirth 2017) zwischen den Bedürfnissen und Rhythmen der Heilung der Überlebenden auf der einen Seite und gesellschaftlichem und politischem Streben nach Übergang und Versöhnung auf der anderen Seite.

Zeitlichkeit(en) von Frieden und Konflikten

Allgemeiner gesprochen hat es in jüngerer Zeit Bewegungen in der Friedens- und Konfliktforschung gegeben, die impliziten Konzepte linearer Zeit zu kritisieren und dagegen die Weisen auf die Zeit und Macht miteinander verschränkt sind ernstzunehmen. Diese Arbeiten beziehen sich oft auf postkoloniale Forschungsarbeiten, die explizit die „imperiale Idee der linearen Zeit“ ablehnen, um die Kontinuitäten zwischen kolonialer Vergangenheit und Gegenwart nachzuzeichnen (McClintock 1995, S. 9; siehe auch Christian und Dowler 2019 zu feministischen und antirassistischen Kritiken).

Diese Kritik eröffnet einen Blick auf die vielfältigen Zeitlichkeiten im Erleben der Gewalterfahrungen und darauf, wie dominante Zeitlichkeiten ungleiche Machtverhältnisse reproduzieren (z.B. Igreja 2012, Mueller-Hirth und Rios Oyola 2018). Zum Beispiel werden Überlebende von Gewaltakten oft nach einer gewissen Zeit als anachronistisch porträtiert, als lehnten sie es ab »voranzugehen«; dominante Zeitlichkeiten von Konflikt und Frieden versuchen, die (gewaltvollen) Vergangenheiten und die (friedliche) Gegenwart als binäre Oppositionen zu konstruieren, was aber mit der gelebten Erfahrung derer nicht übereinstimmt, die sich von Traumata, Gewalt oder Leid zu erholen versuchen.

Zeitliche Dominanz kann durch die Macht bestimmter Akteure ausgedrückt werden, Zeitfenster für Friedensprozesse zu setzen, und kann dann z.B. in Verzögerungen und Wartezeiten auf Kompensationsleistungen für die Überlebenden beobachtet werden.

Wir müssen uns an dieser Stelle also fragen, ob Nixons Konzept selbst überhaupt Gewalt und die Erfahrung von Gewalt angemessen „verzeitlicht“. Die Soziologie der Zeit hat schon vor Langem auf die soziale Konstruiertheit und die diversen Formen menschlicher Zeitlichkeiten hingewiesen, im spezifischen auf dynamische Beziehungen der Zeitverhältnisse, Zeitfenster, Tempo, Timing, Sequenzierung und Muster (Adam 2004). Vergleichbar enthalten Ökosysteme so viele »Zeiten«, wie sie Objekte enthalten“ (Huebener 2020, S. 344).

Während das Konzept der »slow violence« also den Fokus bedeutsamerweise auf das Verstreichen der Zeit lenkt, das die Ursachen von Umweltverletzungen unsichtbar macht und nicht mehr nachvollziehbar werden lässt, ist es in Nixons Konzept dennoch unklar, was genau an »Zeit«, oder einer bestimmten »Zeitlichkeit«, diese Verschleierung erlaubt. Beispielsweise bezieht er sich auf den technologischen Wandel und die gegenwärtigen »Politiken der Geschwindigkeit« (Nixon 2011, S. 13), dafür maßgebliche theoretische Zugänge zu technologischer und sozialer Beschleunigung zieht er allerdings nicht heran (vgl. z.B. Rosa 2003).

In der Tat liegt dem Ansatz der »slow violence« ein linear-chronologisches Zeitlichkeitskonzept zugrunde, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als distinkte Einheiten betrachtet. Es scheint aber doch gerade solche zeitlich und räumlich verteilte schleichende Gewalt zu sein, die diese distinkten Grenzen und eine chronologische Konzeption der Zeit aufzulösen beginnt. Vom Standpunkt einer kritischen Zeitlichkeitsforschung leidet das Konzept der »slow violence« also an einer ungenügenden Berücksichtigung multipler oder alternativer Konzeptionen der Zeit.

Der »slow violence« entgegentreten?

Wie von seinem Untertitel angedeutet, dreht sich Nixon auch um den Widerstand gegen »slow violence« durch das, was er »(Um-)Weltverhältnisse der Armen« nennt, sowie diejenigen, die Zeug*innen solcher Umweltbewegungen werden. Er bezieht sich auf postkolonial inspirierte aktivistische Intellektuelle wie Ken Saro-Wiwa, Wangari Maathai, Arundhati Roy und viele andere, um zu erkunden wie »slow violence« „für die Sinne verständlich gemacht werden kann durch wissenschaftliche und imaginative Bezeugungen“ (Nixon 2011, S. 14). In Ergänzung argumentiert Davies (siehe oben), dass »slow violence« für die davon Betroffenen keinesfalls versteckt ist, dass deren Aussagen oder Erzählungen aber regelmäßig ignoriert würden. Lokale, informelle Wissensbestände und die „visuelle, verkörperte und gelebte Erfahrung dieser toxischen Orte“ (Davies 2019, S. 11) sollten in Feststellungen von Umweltrisiken und -gefahren mit einbezogen werden, um wissenschaftliche Ergebnisse und Expert*innenaussagen zu ergänzen. Für Forschende bringt dies zusätzlich die Aufgabe mit sich, die eigenen Fähigkeiten zu pflegen, Zeit(lichkeiten) kritisch analysieren zu können (Huebener 2020) – in einem Bewusstsein für die vielzähligen Beziehungen der Individuen zu Gewalt und Zeit, für mehrfache Zeitlichkeiten und für die Art und Weisen in denen Zeit als Mittel zu sozialer Kontrolle und Machtausübung verwendet werden kann.

Es lässt sich festhalten, dass das Konzept der »slow violence« in der sozialwissenschaftliche Umweltforschung einflussreich geworden ist und viel dazu beitragen kann, Themen der Sichtbarkeit und Zeitlichkeit von Gewalt in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken – und doch ist es wohl am ehesten dazu geeignet, umwelt(ökologische) Katastrophen verstehbar zu machen, wie Nixon in seinem Werk schon selbst anmerkte.

Es muss aber auch betont werden, dass »slow violence« in wissenschaftlicher, medialer und allgemein gesellschaftlicher Debatte deutlich breiter diskutiert werden muss, nicht zuletzt um das Leid derer sichtbar zu machen, die allzuoft ignoriert werden – so bereichert das Konzept auch gegenwärtige Debatten um Umweltgerechtigkeit und -rassismus.

Literatur

Adam, B. (2004): Time. Cambridge: Polity

Christian, J. M.; Dowler, L. (2019): Slow and fast violence. ACME: An International Journal for Critical Geographies 18(5), S. 1066-1075.

Davies, T. (2019): Slow violence and toxic geographies: ‘Out of sight’ to whom?. Environment and Planning C: Politics and Space, doi.org/10.1177/2399654419841063.

Galtung, J. (1969): Violence, peace, and peace research. Journal of peace research 6(3), S. 167-191.

George, N. (2014): Promoting women, peace and security in the Pacific Islands: Hot conflict/slow violence. Australian Journal of International Affairs 68(3), S. 314-332.

Huebener, P. (2018): Timely ecocriticism: reading time critically in the environmental humanities. ISLE: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 25(2), S. 327-344.

Igreja, V. (2012): Multiple temporalities in indigenous justice and healing practices in Mozambique. International Journal of Transitional Justice 6(3), S. 404-422.

McClintock, A. (1995): Imperial leather: Race, gender, and sexuality in the colonial contest. London: Routledge.

Mueller-Hirth, N. (2017): Temporalities of victimhood: Time in the study of postconflict societies. Sociological Forum 32(1), S. 186-206.

Mueller-Hirth, N., & Rios Oyola, S. (Eds.) (2018): Time and Temporality in Transitional and Post-Conflict Societies. London: Routledge.

Nixon, R. (2011): Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Harvard: Harvard University Press.

Pain, R. (2020): Geotrauma: Violence, place and repossession. Progress in Human Geography, doi.org/10.1177/0309132520943676.

Rosa, H. (2003): Social acceleration: ethical and political consequences of a desynchronized high–speed society. Constellations 10(1), S. 3-33.

Volkan, V. (1997): Bloodlines. From ethnic pride to ethnic terrorism. New York: Farrar, Straus & Giroux.

Natascha Mueller-Hirth ist Lehrbeauftragte für Soziologie an der Robert Gordon Universität Aberdeen, Schottland. Eines ihrer Forschungsgebiete ist Zeitlichkeit und die Politiken der Zeit im Verhältnis zu Transitional Justice und Peacebuilding.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

It’s a man’s world?


It’s a man’s world?

Diplomatengattinnen auf dem Westfälischen Friedenskongress

von Lena Oetzel

Auf den ersten Blick erscheint der Westfälische Friedenskongress (1643–1649) als eine reine Männerveranstaltung. Viele der Gesandten wurden aber von ihren Ehefrauen begleitet. Diese eröffneten informelle Kommunikationswege und trugen so zum Funktionieren des Kongresses bei.

Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster

Abbildung 1: Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster am 15. Mai 1648, Gerard ter Borch, 1648, Rijksmuseum Amsterdam. Quelle: Wikimedia Commons.

Diplomatie und insbesondere Friedensverhandlungen in der Frühen Neuzeit erscheinen zunächst als eine reine Männerwelt; diesen Eindruck vermitteln gerade auch die zeitgenössischen bildlichen Darstellungen zum Westfälischen Friedenskongress. Gerard ter Borchs bekanntes Gemälde vom niederländisch-spanischen Friedensschluss etwa zeigt ausschließlich Männer (siehe Abbildung 1).

Auch unter den Gesandtenportraits, die für die Rathäuser von Münster und Osnabrück zur Erinnerung angefertigt wurden, finden sich nur Männer. Lediglich unter den Portraits der Herrschenden sind zwei Frauen vertreten: Königin Christina von Schweden und Landgräfin Anna Amalia von Hessen-Kassel, die als Regentin für ihren minderjährigen Sohn auftrat. Alle offiziellen Gesandten in Münster und Osnabrück waren jedoch Männer.1

Friedensverhandlungen als Männerveranstaltung?

Sie waren nach Westfalen geschickt worden, um die Konflikte, die als Dreißigjähriger Krieg bekannt sind, beizulegen.2 Fast ganz Europa – Frankreich, Spanien, Schweden, die Niederlande, der Kaiser und die Reichsstände, um nur die Hauptverhandlungsparteien zu nennen – war in diesen ursprünglich reichsinternen Konflikt verwickelt. Alle Versuche, nur zwischen einzelnen Konfliktparteien Frieden zu schließen, waren gescheitert. Der Westfälische Friedenskongress war der erste internationale Gesandtenkongress dieser Größenordnung und damit diplomatisches Neuland.

Aber handelte es sich bei dem Kongress wirklich um eine reine Männerveranstaltung? Die Forschung hat in den letzten Jahren gezeigt, dass frühneuzeitliche Diplomaten nicht nur ausführende Organe ihrer jeweiligen Dienstgeber*innen waren, sondern eigenständige Akteure. Sie hatten eigene Interessen, waren u.a. auch Ehemänner und Väter. Als solche wurden viele Gesandte von ihren Ehefrauen und Kindern nach Westfalen zu den Friedensverhandlungen begleitet.

Diese fehlen jedoch auf den diplomatischen »Familienbildern« des 17. Jahrhunderts. Für das Verständnis der Verhandlungssituation und des Kongresses in seiner Funktionsweise sind sie aber wichtig. Nicht zuletzt, weil die meisten anwesenden Gesandten mehrere Jahre von zu Hause fort waren. Dabei war zu Beginn des Kongresses nicht klar, wie lange es dauern würde und ob er nicht, wie frühere Versuche, scheitern würde. Wenn die Gesandten also nicht von ihren Familien begleitet wurden, waren sie von ihren Ehefrauen und Angehörigen getrennt, was sich durchaus auf ihr Wohlbefinden auswirkte.

Der kurbrandenburgische Gesandte Johann Friedrich von Löben etwa beklagte sich bei seinem Patron am Berliner Hof: „Die andern Abgesandten haben meistlich alle ihre Eheschätze bei sich. […] Ich aber weiß kein Rhatt, bin zwar schoen bei Jharen, empfinde doch gleichwhol zu Zeitten ein Verlangen nach der meinigen. Im Sommer gehet es noch hin, aber im Wintter wirdts zu kalt sein, alleine zu schlaffen.3

Frauen als informelle Akteurinnen

Die Rolle der Diplomatengattinnen beschränkte sich allerdings nicht nur auf die der Begleiterin, die für das Wohlbefinden ihres Ehemannes sorgte und an den gesellschaftlichen Aktivitäten teilnahm. Eine solche Betrachtungsweise greift zu kurz und blendet die Bedeutung informeller Akteur*innen aus.

Die Forschungen der letzten Jahre hat für den Hof gezeigt, dass Fürsten und Fürstinnen sowie Diplomaten und ihre Ehefrauen zumeist als Arbeitspaare agierten.4 Den Frauen standen oft andere (weiblich dominierte) Netzwerke zur Verfügung als ihren Ehemännern, z. B. zu den Fürstinnen. Gerade die informelle Natur ihrer Handlungsmöglichkeiten erlaubte es, etwa Angelegenheiten unverbindlich vorzubringen, bevor offizielle Verhandlungen eingeleitet wurden.5

Der Westfälische Friedens­kongress als besonderer Handlungsraum

Nun funktionierte aber ein Friedenskongress anders als ein Hof: Er war von zeitlich begrenzter Dauer und wurde nicht von einer*m Herrscher*in mit Hofstaat dominiert. Alles gesellschaftliche Leben musste erst organisiert werden, die zeremoniellen Regeln des Miteinanders ausverhandelt werden. Das heißt, auch die informellen Räume und Kommunikationskanäle mussten erst gefunden werden.

Diplomatengattinnen spielten bei der Schaffung und Gestaltung dieser informellen Kommunikationswege eine wichtige Rolle. Der portugiesische Gesandte Sousa Coutinho beispielsweise beklagte die Abwesenheit seiner Ehefrau, weil diese ihm Kontaktmöglichkeiten zu den Ehefrauen der niederländischen Gesandten eröffnet hätte.6

Das Mittagessen als Ort diplomatischer Konflikte

Wie wichtig solche informellen Kontakte waren und wie sie funktionierten, zeigt das Beispiel des kaiserlichen Gesandten Johann Maximilian Graf von Lamberg und des kurbrandenburgischen Gesandten Johann VIII. Graf von Sayn-Wittgenstein. Deren Ehefrauen Judith Rebecca Eleonore Gräfin von Lamberg und Anna Augusta Gräfin zu Waldeck waren eng befreundet. Lamberg notierte regelmäßig, dass sich die Ehepaare gegenseitig zum Essen besuchten.7

Was bei diesen gemeinsamen Mahlzeiten besprochen wurde, ist nicht überliefert. In Einzelfällen lässt sich aber der Kontext rekonstruieren. Im Januar 1646 etwa speisten Lambergs bei Sayn-Wittgensteins, wobei sich die Herren heftig über die schwedischen Gebietsforderungen stritten. Lamberg selbst notierte dieses Treffen in seinem Diarium ohne weitere Anmerkungen. Von dem Streit erfahren wir aus Berichten Dritter.8

Die Anwesenheit der Ehefrauen gab der Situation einen informellen Anstrich, der es ermöglichte, Dinge zu sagen, die in einem anderen Kontext vielleicht einen Affront dargestellt hätten. Gleichzeitig sicherten sie den Kontakt: Die Gräfin Sayn-Wittgenstein speiste nur wenige Tage später bei Lambergs und auch Graf Lamberg selbst war bald wieder beim Ehepaar Sayn-Wittgenstein zu Gast.9 Natürlich gab es auch andere Möglichkeiten, solche Räume der Informalität herzustellen, z.B. bei Gratulations- und Kondolenzbesuchen, bei Kirchgängen oder Ausflügen in die Umgebung.10 Wie diese verschiedenen informellen Settings zusammenspielten, ist noch zu untersuchen.

Diplomatengattinnen als Interessenvermittlerinnen

Wiederholt wurden Diplomatengattinnen als Vermittlerinnen eingeschaltet. Wenn die üblichen Wege, die eigenen Interessen vorzubringen und durchzusetzen, erschöpft schienen, wandten sich die Gesandten mitunter an die Ehefrauen ihrer Verhandlungspartner. Gerade wenn deren Ehemänner sich als unzugänglich erwiesen und etwa einen Gesprächstermin verweigerten, boten die Ehefrauen eine Kontaktmöglichkeit.

Deutlich zeigt sich dies anhand von Anne Geneviève de Bourbon-Condé Duchesse de Longueville, Ehefrau des französischen Gesandten Henri d’Orléans Duc de Longueville11, die zudem als Mitglied des französischen Königshauses die ranghöchste Person überhaupt am Kongress war und entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zog (siehe Abbildung 2). Der Bischof von Osnabrück wandte sich mit der Bitte an sie, sich für den Erhalt dreier Hochstifte und gegen deren Säkularisierung bei ihrem Mann einzusetzen, was diese auch tat.

Inwieweit die Intervention der Ehefrauen sich tatsächlich auf das Verhandlungsgeschehen auswirkte, ist meist den Quellen nicht zu entnehmen. Klar ist aber, dass sie durchaus in das Verhandlungsgeschehen einbezogen waren und an informellen Gesprächen ihrer Ehemänner teilnahmen, wie bei gemeinsamen Mahlzeiten.

Wie verbreitet diese Einflussnahme von Diplomatengattinnen auf Friedenskongressen war, über welche weiteren Handlungsmöglichkeiten sie verfügten und wie sich diese von denen am Hof unterschieden, bedarf weiterer Forschungen. Hierfür müssen auch spätere Friedenskongresse untersucht werden. Während die (diplomatischen) Handlungsspielräume von Frauen am Hof immer mehr Aufmerksamkeit erhalten, fehlen ähnliche Untersuchungen für Friedenskongresse fast vollständig. Bereits jetzt ist aber klar, dass sie wesentlich dazu beitrugen, informelle Räume und Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. Sie wurden als alternative Mittlerinnen angesprochen und waren als solche informeller Teil des Verhandlungsgeschehens.

Der Westfälische Friedenskongress mag zwar zunächst als Männerwelt erscheinen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass es eine Welt war, in die Frauen eingebunden waren und in der sie eine wesentliche Rolle spielten auf dem mühsamen Weg der Friedensfindung.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht auf »fernetzt. Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte«, URL: univie.ac.at/fernetzt/20210515/.

Anmerkungen

1) Vgl. Duchhardt, H;Kaster, K. G. (Hrsg.) (1996):, „… zu einem stets währenden Gedächtnis“. Die Friedenssäle in Münster und Osnabrück und ihre Gesandtenporträts: anlässlich des Jubiläums 350 Jahre Westfälischer Frieden von Münster und Osnabrück im Jahre 1998, Bramsche: Rasch.

2) Einführend jüngst: Burkhardt, J. (2018): Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart: Klett-Cotta; Schmidt, G. (2018): Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München: C.H.Beck.

3) Löben an Konrad von Burgsdorf, Osnabrück, den 18./28. April [1645], in: Meinardus, O. (Hrsg.) (1893): Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rates aus der Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Bd. 3: Vom Januar 1645 bis Ende August 1647, Osnabrück, Nr. 59, S. 102.

4) Vgl. Wunder, H. (1992): Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit, München: C.H.Beck.

5) Bastian, C. u.a. (Hrsg.) (2014): Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Köln Weimar Wien: Böhlau; Sluga, G.; James, C. (Hrsg.) (2015): Women, diplomacy and international politics since 1500, London: Routledge; von Thiessen, H. (2020): Die Gender-Perspektive in der Geschichte der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen: Frauen in einer Männerdomäne? In: Schnelling-Reinicke, I.; Brockfeld, S. (Hrsg.): Karrieren in Preußen – Frauen in Männerdomänen, Berlin: Duncker & Humblot, S. 291–304.

6) Croxton, D. (2013): Westphalia. The last Christian peace, Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 172.

7) Vgl. Brunert, M.-E. (2001): „… ich hatte ja auch luxaugen sowohl als andere“. Der Augenzeugenbericht eines Teilnehmers am Westfälischen Friedenskongress über den Wallfahrtsort Rulle. Osnabrücker Mitteilungen 106, S. 127-143, hier S. 142f.

8) Vgl. 08.01.1646, 02.02.1646, in: Acta Pacis Westphalicae. Serie III Abteilung C: Diarien, Bd. 4: Diarium Lamberg 1645–1649 (APW III C 4), bearb. von Herta Hageneder, Münster 1986, S. 107, 110; Verhandlungen der Pommerschen Gesandten auf dem Westphälischen Friedenscongreß, in: Baltische Studien V.1 (1838), S. 1–130, hier S. 4f; Brunert 2001, S. 142f.

9) Vgl. 10.01.1646, in: Diarium Lamberg, APW III C 4, S. 107.

10) Vgl. z. B. Oetzel, L. (2019): Die Leiden des alten T. Krankheit und Krankheitsdiskurse auf dem Westfälischen Friedenkongress. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster: Aschendorff, S. 323–340, bes. S. 329–331.

11) Maria-Elisabeth Brunert gibt mit ihrer Studie einen ersten wichtigen Einblick in die Bedeutung von Diplomatengattinnen für die Verhandlungen: Brunert, M.-E. (2019): Interzession als Praktik. Zur Rolle von Diplomatengattinnen auf dem Westfälischen Friedenskongress In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster: Aschendorff, S. 209–225.

Lena Oetzel ist Historikerin am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes (ÖAW/Wien) und an der Universität Salzburg. Sie forscht u.a. zu frühneuzeitlichen Friedenskongressen.

Multiple Krisen gemeinsam meistern

Multiple Krisen gemeinsam meistern

IPT Online Lecture Series, ASPR Schlaining, online, 01-29. Juni 2021

von Julia Scharinger

Die Covid-19 Pandemie sowie die anhaltenden Krisen der Umwelt und des sozioökonomischen Lebens veranlassten das »Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution« (ASPR) dazu, 2021 eine internationale Kampagne zum Thema »Heimatland Erde – Terre Patrie« ins Leben zu rufen. Inspiriert ist sie vom Werk des französischen Soziologen und Philosophen Edgar Morin, der bereits in den 1990er Jahren die »Polykrise« thematisierte, deren in ihr liegende Verwobenheit vieler Themenkomplexe und die Dringlichkeit aufzeigte, nach einem planetarischen Zugehörigkeitsgefühl zu suchen. Heute scheinen diese Themen brennender denn je.

Auch die diesjährige »IPT Online Lecture Series« des ASPR reihte sich mit ein in die Fragen nach der Polykrise. Unter dem wiederkehrenden Titel »Caring Conversations for Peace and Justice« beschäftigt sich diese frei zugängliche Vortragsreihe alljährlich mit brennenden Fragen rund um Frieden, Konflikt und Gerechtigkeit. Sie hat den Anspruch zum Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis beizutragen und richtet sich besonders an ziviles Personal aus der Friedens- und Konfliktarbeit.

Im Rahmen von fünf interaktiven Vorträgen wurden die Teilnehmenden dazu eingeladen, in Aspekte von Morins Werk und der heutigen Polykrise näher einzutauchen. Im Vordergrund standen der Umgang mit Komplexität, Fragen von Handlungsfähigkeit im Angesicht der Polykrise sowie die Aufgabe, eine Re-Imagination von Identität und Zugehörigkeit weit über unsere direkten Gemeinschaften oder Nationalstaaten hinaus vorstellbar zu machen – hin zu einem planetaren Bewusstsein.

Den Auftakt zur Vortragsreihe machte Dr. Annick de Witt. Auf Basis ihrer Forschung zu Weltanschauungen begleitet sie Menschen in transformativen Prozessen hin zu einer nachhaltigeren Welt. Laut Dr. de Witt sind Weltanschauungen sogenannte »big stories«, die es ermöglichen, Erfahrungen Sinnhaftigkeit und Bedeutung zu verleihen. Erst dieser Prozess ermöglicht den menschlichen Umgang mit Komplexität und die Entwicklung von Identitäten und Zugehörigkeiten. Laut Dr. de Witt müssten Menschen nicht grundsätzlich ihre Weltanschauungen verändern, sondern diese eher kritisch reflektieren. Durch die Erfahrung, dass festgefahrene Denkmuster, Interpretationen und das,
„was wir als gegeben hinnehmen“ vielleicht gar nicht so statisch ist, wird es Menschen möglich, sich vertieft mit eigenen Wertvorstellungen, Handlungs- und Lebensweisen auseinanderzusetzen und diese zu transformieren. Dies bezieht Dr. de Witt nicht nur auf Personen, sondern auch auf die Reflexion und mögliche Transformation von Strukturen und Kulturen.

Mit kulturellen Transformationsprozessen und dem Hinterfragen des »Festgefahrenen« führte die Gender- und Peacebuilding-Spezialistin Dr. Gal Harmat die Fragen nach der Polykrise weiter. Sie lud die Teilnehmenden zu einer virtuellen Sightseeing-Tour rund um die Welt ein, um anhand der »besuchten« öffentlichen Räume, Kunstobjekte oder Denkmäler zu (hinter)fragen, welche Geschichte(n) sie beispielsweise zu Maskulinität, Femininität, Kolonialismus und »race« erzählen und welche sie nicht oder nur verzerrt erzählen. Und nicht zuletzt, wie dies entsprechend Erfahrungen von Identität und Zugehörigkeit beeinflusst. Der Impuls führte also direkt zu einem aktuell sehr prominenten Aspekt der Polykrise : innergesellschaftlicher Gewalt, die sich aus Rassismus, Sexismus und Klassismus speist. Angeregt von der Arbeit der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama diskutierten die Teilnehmenden anschließend Potentiale von fluider, vergänglicher und nachhaltiger Kunst im öffentlichen Raum. Damit würden Menschheit und Geschichte(n) nicht statisch verewigt, sondern könnten in anhaltender Bewegung und Weiterentwicklung bleiben.

Fragen von Unbeständigkeit und dem Verhältnis von Mensch und Natur behandelte auch Dr. Yulia Sugandi. Sie lud die Anwesenden dazu ein, einen weiteren Aspekt der Polykrise näher zu betrachten : jenen, der derzeit, vielleicht etwas unscharf, als »Umweltkrise« bezeichnet wird. In Ihrem Vortrag verdeutlichte Dr. Sugandi die Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur, sowie lokaler und globaler Ebene anhand von Beispielen aus urbanen Gegenden in Indonesien, welche von Überflutungen betroffen sind. Sie argumentierte, dass diesen Zusammenhängen, deren Komplexität und den vielschichtigen Herausforderungen, welche sich daraus ergeben, mit einer Entwicklung hin zu »planetarer Gerechtigkeit« begegnet werden könne. Planetare Gerechtigkeit muss hier mindestens multidimensional gedacht werden – über Grenzen, über Generationen und über die Menschheit hinweg. Es geht um eine glokale und sozio-ökologische Herangehensweise.

Auch Dr. Siad Darwish legte den Fokus auf die sozio-ökologische Krise. Allerdings standen diesmal weniger Komplexität und planetare Gerechtigkeit im Vordergrund, als vielmehr ein Ausloten der Potentiale, ein Zugehörigkeitsgefühl über das »Mensch-Sein« hinaus zu entwickeln. Dr. Darwish nutzte das Medium des Storytellings, um anhand zweier Geschichten aufzuschlüsseln, wie aus Belastungssituationen auch neue Erfahrungen einer Verbundenheit und Beziehung zwischen Mensch und Natur erlebbar werden können. Laut Dr. Darwish gehe es in Zukunft darum, Wege zu finden, diese individuellen Erfahrungen auf kollektive Ebene bringen zu können. Damit könnten sozio-ökologische Beziehungen und Zugehörigkeit entwickelt werden, die Mensch und Natur gleichzeitig und in aufeinander bezogener Abhängigkeit voneinander insgesamt widerstandsfähiger gegenüber Natur- und menschengemachten Katastrophen werden lassen könnten. Die Frage sei jedoch, welche Ethik und welche Formen der Begegnungen das Fundament für derartige Beziehungen bilden könnten.

Den Abschluss der diesjährigen Vortragsreihe machte Professor Dr. Heikki Patomäki mit einem Rekurs auf die Meta-Ebene. Er beleuchtete das Spannungsverhältnis zwischen Diversität einerseits und planetarem Zugehörigkeitsgefühl andererseits. Auch Dr. Patomäki kam auf die »big stories« oder vielmehr die »Big History« zu sprechen. Mit Big History, so sein Argument, verfügen wir über ein Rahmenwerk, um darüber nachzudenken wer wir sind, ohne gleichzeitig kulturelle und historische Unterschiede außer Acht zu lassen. Um auch hier das Spannungsverhältnis zwischen Individualität, Diversität und Kollektivität konstruktiv nutzen und halten zu können, bedarf es laut Dr. Patomäki einer entsprechenden Reflexion von bestehenden Identitätskonzepten. Indem wir die Beziehung zum Selbst und Anderen neu definieren, so Patomäki, könnten wir zum Projekt eines gemeinschaftlichen planetaren Lernens beitragen, zu Gerechtigkeit und Solidarität.

Zum Abschluss lade ich auch Sie als Leser*innen ein, eigene Annahmen, Welt­anschauungen und Wertvorstellungen zu reflektieren, vielleicht sogar zu expandieren. Welche Geschichten über die Welt und das Sein sind Ihnen geläufig ? Wie könnten Sie sich einem planetaren Zugehörigkeitsgefühl annähern und was würde das wohl für Ihr Leben und Ihr Tun bedeuten ?

Julia Scharinger

LinkedIn als Barometer

LinkedIn als Barometer

Wissenstransfers zwischen ziviler und militärischer F&E

von Thea Riebe, Stefka Schmid und Christian Reuter

Gibt es Wissenstransfers zwischen militärischer und ziviler Forschung? Wenn ja, in welchem Umfang? Um die Art und Weise zu untersuchen, wie Unternehmen durch sogenannte »Spillover«-Effekte von den Aktivitäten in den Bereichen »Forschung und Entwicklung« (F&E) eines anderen Unternehmens profitieren, existieren bereits Methoden, die die Mobilität von Arbeitskräften als Initiator von Wissenstransfers untersuchen. Dieser Beitrag stellt einen ergänzenden Ansatz vor, der auf »Social Media Analytics« (SMA) beruht. Er soll helfen, die »Spillover«-Effekte vom Verteidigungsbereich in die zivile F&E quantifizieren zu können und beruht auf der Analyse von Angaben zum Beschäftigungswechsel aus dem sozialen Netzwerk »LinkedIn«.

Unter »Spillover« wird der Prozess des Transfers von (technologischem) Wissen verstanden, der häufig innerhalb oder zwischen Unternehmen entsteht und anschließend, zum Beispiel durch Patente oder Weitergabe an andere Akteure, sichtbar wird (vgl. Aghion und Jaravel 2015). Unternehmen profitieren auf diese Weise von den Aktivitäten in der F&E eines anderen Unternehmens. In diesem Zusammenhang wurden in der Forschung Ansätze entwickelt, die die Mobilität von Arbeitskräften als Initiator von Wissenstransfers untersuchen (vgl. Audretsch und Keilbach 2005). Für die Messung dieser »Spillover« wurde der Fokus auf geografische Nähe sowie auf Transfers von informellem Wissen über soziale Netzwerke gelegt.

Dieser Beitrag soll zum interdisziplinären Forschungsbereich der Friedensinformatik beitragen, die die Rolle und Anwendung der Erkenntnisse und Methoden der Informatik im Kontext von Frieden und Sicherheit untersucht (vgl. Reuter 2019). In dieser Studie untersuchen wir konkret, inwieweit die Analyse Sozialer Medien (SMA) als ein ergänzender Ansatz zur Quantifizierung von »Spillover«-Effekten im Verteidigungsbereich auf zivile Forschung und Entwicklung verwendet werden kann.

Es existieren bereits viele verschiedene Möglichkeiten, Daten aus Sozialen Netzwerken zu analysieren: Neben den Beiträgen der Nutzer*innen spielen auch persönliche Netzwerke und Beziehungen eine zentrale Rolle. Daher werden in dieser Studie insbesondere Beschäftigungsbiographien aus dem sozialen Netzwerk »LinkedIn« analysiert. Mittels deskriptiver Statistik untersuchen wir die Mobilität von Mitarbeiter*innen zwischen militärischer und ziviler F&E in Deutschland. Es wird von manchen Wissenschaftler*innen angenommen, dass Innovationen aus dem Verteidigungssektor aufgrund dessen spezifischer Eigenschaften selten in zivile Bereiche »überlaufen« (vgl. Schmid 2017). Tatsächlich zeigte unsere Studie auch, dass Mitarbeiter*innen von Rüstungszulieferern signifikant seltener in zivile F&E wechselten, als Fachkräfte, die hauptsächlich im zivilen Sektor gearbeitet haben.

Ansatz: Arbeitsmobilität und Soziale Netzwerke

Die Innovationsforschung konzentrierte sich zur Messung von »Spillover«-Effekten bisher insbesondere auf Wirtschafts-, Wissens- und Technologietransfers, auch in persönlichen Netzwerken oder durch einzelne Sektoren (vgl. Cerulli und Potì 2009). Die Untersuchung von »Spill­over«-Effekten hilft dabei, zu verstehen, welchen Effekt Innovationen über ihren originären Sektor hinaus haben können und wie sich solche Effekte über verschiedene Sektoren hinweg verhalten. Die wichtigste Methode zur Untersuchung und Quantifizierung von »Spill­over«-Effekten macht sich den Umstand zunutze, dass sich Autor*innen von Patenten und Publikationen gegenseitig zitieren. Die Untersuchung dieser Zitationsnetzwerke hilft, die Beziehungen zwischen Innovationen nachvollziehen zu können (vgl. Acosta et al. 2011). Die Analyse von Patentzitaten bietet zwar viele Vorteile, stößt aber auch an Grenzen. Insbesondere bei den sogenannten »Emerging Technologies«, also grundlegend neuen und sich schnell entwickelnden Technologien, die möglicherweise noch keinen etablierten Output an Patenten entwickelt haben, muss unter Umständen auf andere Indikatoren für die Messung des »Spillover« von Innovationen zurückgegriffen werden.

Dabei wird diesen Innovationen ein weitreichender Einfluss und die Fähigkeit zugeschrieben, den Status Quo zu verändern. Da sie sich noch in der Entstehung befinden und viele Anwendungsgebiete noch erforscht werden, vermutet man ihre bedeutsamsten Auswirkungen in der Zukunft, weshalb letztere noch nicht mit Sicherheit eingeschätzt werden können (vgl. Rotolo et al. 2015). Im militärischen Kontext werden als solche zukunftsweisenden Innovationen in Entwicklung derzeit insbesondere Cyber-Technologien, Künstliche Intelligenz (KI), autonome Waffensysteme (AWS), Hyperschallflugkörper und ferngelenkte Systeme diskutiert (vgl. Sechser et al. 2019).

Im Zuge der zunehmenden Nutzung sozialer Netzwerkplattformen wie »Facebook« und »LinkedIn« ist das Feld der »Social Media Analytics« entstanden. Deren Ansatz ist es, Methoden zur Analyse von Social-Media-Daten zu kombinieren, zu erweitern und anzupassen (vgl. Stieglitz et al. 2018). Die Verwendung der von SMA bereitgestellten Daten kann Aufschluss über soziale Netzwerke und relevante Wissenstransfers geben, welche die Schwachstellen der Patentanalyse umgehen könnten. Bei der Untersuchung von »Spillover«-Effekten auf der Basis von individuellem Verhalten konzentriert sich unser Ansatz mithilfe einer Karrierenetzwerkanalyse darauf, wie Individuen Wissen zwischen Unternehmen, Abteilungen und Jobpositionen übertragen. Auch wenn sich die betreffenden Personen nicht persönlich kennen, können ihre Wege miteinander verbunden sein, indem sie für dieselbe Firma arbeiten, ähnlichen Aufgaben nachgehen oder dasselbe Wissen erwerben und weitergeben (vgl. Robertson und Jacobson 2011). Unserer Ansicht nach repräsentieren »LinkedIn«-Netzwerke teilweise diese Netzwerkcharakteristika und ermöglichen so die Untersuchung von Verbindungen zwischen der Verteidigungs- und der zivilen Industrie sowie zwischen relevanten Rüstungsunternehmen, welche durch Arbeitsplatzwechsel einzelner Akteure initiiert werden.

Ergebnisse und ethische Einordnung

Für die Analyse wurden 513 Profile von Mitarbeiter*innen untersucht, die im Zeitraum von 2009-2019 zu irgendeinem Zeitpunkt für die drei umsatzstärksten Rüstungsunternehmen in Deutschland gearbeitet haben.1 Die Beschäftigten wurden danach ausgewählt, dass sie in einem Bereich der F&E tätig waren, wobei nicht nach der Beschäftigung mit einer konkreten Technologie ausgewählt wurde. Die Beschäftigten wechselten ihren Arbeitsplatz zwischen 2009 und 2019 im Durchschnitt 3,75 Mal (siehe Tabelle auf Seite 50).

Anzahl der Arbeitsplätze zwischen 2009-2019 1,926
Fachkräfte 513
Durchschnittliche Arbeitsplatzwechsel pro Person 3.75
Standardabweichung 1.76
Median 3

Tabelle: Arbeitsmobilität zwischen 2009-2019

Es lassen sich drei Gruppen innerhalb der Stichprobe identifizieren: Gruppe eins (D), bestehend aus Personen, die ausschließlich für Unternehmen des Verteidigungssektors gearbeitet haben, Gruppe zwei (DC), bestehend aus Personen, die überwiegend im Verteidigungssektor gearbeitet haben und Gruppe drei (C) mit Personen, die häufiger im zivilen Sektor als im Verteidigungssektor gearbeitet haben (siehe Abbildung auf Seite 50). Die Anwendung der deskriptiven Statistik auf die Stichprobe zeigt dementsprechend in der Verteilung von militärischen zu zivilen Arbeitsplätzen, dass 257 Personen innerhalb von zehn Jahren ausschließlich für verteidigungs­orientierte Unternehmen gearbeitet haben (der Anteil der Jobs im militärischen Bereich (v) ist also v(D) = 1.00). Des Weiteren arbeiteten 154 Individuen überwiegend im militärischen (v(DC) = 0.50) sowie 102 überwiegend im zivilen (v(C) < 0.50) Bereich. Dabei wechselte die erste Gruppe durchschnittlich weniger häufig ihre Arbeitsposition (v(D) 3,242), während mit stärkerer Bindung an zivil ausgerichtete Unternehmen die durchschnittlichen Jobwechsel pro Person stiegen (v(DC) 4,019, v(C) 4,608).

Dies scheint die Annahme zu stützen, dass der »Spillover« von Wissen aus der Verteidigungsindustrie nur gering ist und unterstützt damit die These, dass dies auch an den äußerst spezifischen Merkmalen der nationalen Verteidigungsindustrien liegen könnte. Aus den detaillierten Projektbeschreibungen zu den jeweiligen Profilen der Mitarbeiter*innen lässt sich außerdem der wissensbasierte Charakter der Arbeitsplätze ablesen. Unternehmen tragen daher indirekt durch den Wechsel von Mitarbeiter*innen dazu bei, dass sich neue Technologien weiterentwickeln und an neue Kontexte angepasst werden können. Der Wissens-»Austausch« zwischen den Mitarbeiter*innen, auch wenn er quantitativ wenig stattfindet, kann somit qualitativ zur Verbreitung einer neuen Technologie beitragen. Dies gilt es durch weitere Studien zu untersuchen.

Die Soziale Netzwerkanalyse direkter Beziehungen (vgl. Leistner 2012) führt jedoch im Gegensatz zur Untersuchung von Verbindungen der Unternehmen zu forschungsethischen Herausforderungen, da hierzu die Analyse von Daten erforderlich ist, die aus dem Kontext der Zustimmung durch die Nutzer*innen herausgelöst werden oder gar deren Privatsphäre verletzen könnten (vgl. Hoser und Nitschke 2010). In dieser Hinsicht erweist sich die Patentanalyse als forschungsethisch weniger problematisch, da die öffentlich zugänglichen Datenbanken bekannt sind und es weniger Beschränkungen bezüglich des Schutzes der individuellen Privatsphäre gibt. So kann man Patentinformationen einschließlich ihres Inhalts analysieren, um einen tieferen Einblick in die Merkmale des übertragenen Wissens zu erhalten, ohne dabei den Fokus durch die Analyse ihrer charakteristischen Fähigkeiten oder Biografien auf Einzelpersonen zu legen. Die Dokumentation und Diskussion ethischer Fragen in Abwägung mit dem tatsächlichen Forschungsnutzen ist daher auch bei der Durchführung von Social Media-Forschung von entscheidender Bedeutung. In Einschränkung unserer eigenen Ergebnisse muss daher festgehalten werden: In weiteren Studien sollte der Fokus auf Netzwerkdaten gelegt werden, die nicht oder weniger personenbezogen sind, und sich stärker an spezifischen Technologien, Firmen oder Projekten orientieren.

Unsere Studie zeigt, wie »Spillover«-­Effekte zwischen dem Verteidigungs- und dem zivilen Sektor mithilfe von sozialen Karrierenetzwerken wie »LinkedIn« gemessen werden können. Dieser Ansatz kann damit zum einen Patentnetz­werkanalysen ergänzen, die sich der Diffusion von Technologien in zivilen und militärischen Bereichen widmen, indem der Fokus auf hierfür relevante (personale) Prozesse der Wissensproduktion in Firmen gelegt wird. Zum anderen könnten Zitationsnetzwerkanalysen, die sich auf Wissenstransfers zwischen Publikationen im akademischen Diskurs fokussieren, von der Konzentration der SMA auf den Anwendungsbereich, also wirtschaftliche Aktivitäten in militärischen oder zivilen Industrien, profitieren.

Dies erlaubt eine richtungsweisende Auseinandersetzung mit neuen (militärischen) Technologien mit Blick auf verantwortungsvolle F&E, welche zu einer besseren Beurteilung neuer Technologien beitragen kann. Besonders wenn sie viele mögliche Anwendungsfelder haben, stellen diese Technologien eine Herausforderung für die Einschätzung der Risiken und potentieller Folgen für die internationale Sicherheit und den Frieden dar (vgl. Riebe und Reuter 2019). Um diese Effekte zu untersuchen, und die Verbreitung von Technologien zwischen Wirtschaftssektoren zu analysieren, kann die technisch-naturwissenschaftliche Friedensforschung sich in Zukunft auch der Methoden der »Spillover«-Forschung bedienen.

Dieser Beitrag ist die gekürzte Version von »Riebe et al. (2020): Measuring Spillover Effects from Defense to Civilian Sectors – A Quantitative Approach Using LinkedIn. In: Defence and Peace Economics« (doi.org/10.1080/10242694.2020.1755787).

Anmerkung

1) Anzumerken ist hier allerdings, dass nicht bekannt ist, wie viele Mitarbeiter*innen der untersuchten Unternehmen tatsächlich bei LinkedIn angemeldet sind.

Literatur

Acosta, M.; Coronado, D.; Marín, R. (2011): Potential dual-use of military technology: Does citing patents shed light on this process? In: Defence and Peace Economics 22(3), S. 335-349.

Aghion, P.; Jaravel, X. (2015): Knowledge spillovers, innovation and growth. In: Economic Journal 125(583), S. 533-573.

Audretsch, D. B.; Keilbach, M. (2005): The mobility of economic agents as conduits of knowledge spillovers. In: Fornahl, D.; Zellner, C.; Audretsch, D. B. (Hrsg.): The role of labour mobility and informal networks for knowledge transfer. Boston: Springer Science, S. 8-25.

Cerulli, G.; Potì, B. (2009): Measuring intersectoral knowledge spillovers. An application of sensitivity analysis to Italy. In: Economic Systems Research 21(4), S. 409-436.

Hoser, B.; Nitschke, T. (2010): Questions on ethics for research in the virtually connected world. In: Social Networks 32(3), S. 180-186.

Leistner, F. (2012): Connecting organizational silos. Taking knowledge flow management to the next level with social media. Hoboken: Wiley.

Reuter, C. (2019): Information technology for peace and security. IT-applications and infrastructures in conflicts, crises, war, and peace. Wiesbaden: Springer Vieweg.

Riebe, T.; Reuter, C. (2019): Dual-use and dilemmas for cybersecurity, peace and technology assessment. In: Reuter, C. (Hrsg.): Information technology for peace and security. IT-applications and infrastructures in conflicts, crises, war, and peace. Wiesbaden: Springer Vieweg, S. 165-183.

Robertson, P. L.; Jacobson, D. (2011): Knowledge transfer and technology diffusion: An introduction. In: Dies. (Hrsg.): Knowledge transfer and technology diffusion. Cheltenham: Edward Elgar, S. 1-34.

Rotolo, D.; Hicks, D.; Martin, B. R. (2015): What is an emerging technology? In: Research Policy 44(10), S. 1827-1843.

Schmid, J. (2017): The diffusion of military technology. In: Defence and Peace Economics 29(6), S. 1-19.

Sechser, T. S.; Narang, N.; Talmadge, C. (2019): Emerging technologies and strategic stability in peacetime, crisis, and war. In: Journal of Strategic Studies 42(6), S. 727-735.

Stieglitz, S.; Mirbabaie, M.; Ross, B.; Neuberger, C. (2018): Social media analytics. Challenges in topic discovery, data collection, and data preparation. In: International Journal of Information Management 39, S. 156-168.

Thea Riebe ist Doktorandin am Lehrstuhl Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) an der TU Darmstadt und erforscht Dual-use-Risiken und deren Bewertung in der Informatik.
Stefka Schmid erforscht als Doktorandin am Lehrstuhl Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) Innovationsdiffusion von AI und verantwortungsvolle Digitalisierung.
Christian Reuter verbindet als Inhaber des Lehrstuhls Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) an der TU Darmstadt Fragen der Informatik mit der Friedens- und Sicherheitsforschung.

Konfliktkompetent in fünf Minuten?!

Konfliktkompetent in fünf Minuten?!

Zur Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse durch Videos

von Mathias Jaudas, Heidi Ittner und Jürgen Maes

Der Großteil der deutschen Bevölkerung nutzt das Internet, 78 % sind
in sozialen Medien aktiv und 47 % der Deutschen nehmen digitale Lernangebote in Anspruch. Kann moderne Friedensarbeit demnach nicht auch online stattfinden, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sich einen Großteil ihrer Zeit selbstbestimmt aufhalten? Der Beitrag beleuchtet die Potenziale und Herausforderungen einer online- und videobasierten Kompetenzvermittlung. Aus psychologischer Perspektive gehen wir der Frage nach, ob Videoformate in der Lage sind, Konfliktkompetenzen zum konstruktiven Umgang mit sozialen Konflikten zu verbessern.

Seit den 1970er Jahren ist sich die psychologische Konfliktforschung einig: Konflikte sind Chancen, wenn wir ihnen kompetent begegnen. Insbesondere die psychologische Mediationsforschung, die Kommunikations- aber auch die Gerechtigkeitspsychologie liefern handlungspraktisches Anwendungspotenzial, das für kooperative und gewaltfreie Konfliktlösungen im Alltag genutzt werden kann. Doch bislang verbleibt der größte Teil wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Umgang mit sozialen Konflikten dort, wo er entstand: in den Köpfen und Fachpublikationen der Expert*innen. Dabei vertrat der Psychologe George A. Miller schon 1969 die Ansicht, dass die Psychologie als Wissenschaft ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden sollte, indem sie psychologisches Wissen an die Öffentlichkeit weitergibt und damit zur Lösung individueller, aber auch gesellschaftlicher Herausforderungen beiträgt und Wohlergehen fördert (vgl. Miller 1969). Heutzutage wird diese gesellschafts- und bildungspolitisch initiierte Zielstellung durch die »Third Mission«-Bewegung wieder aufgegriffen und zunehmend prominent platziert.

Schritt Eins: Conflict Food – ein medialer Vermittlungsansatz entsteht

Unter dem Arbeitstitel »Conflict Food« entwickeln wir seit 2018 einen medialen Ansatz zur Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse an die Bevölkerung – mit dem Ziel, die individuelle und gesellschaftliche Konfliktkompetenz zu verbessern. Dazu haben wir für Conflict Food einen online-basierten Multi-Level-Multi-Channel-Ansatz entwickelt, der verschiedenen Vermittlungskanälen (z. B. Twitter, YouTube, Websites) verschiedene Medienformate (z. B. Posts, Videos, Fact Sheets) zuweist, die jeweils ein spezifisches Verhältnis von Unterhaltung und Lernen aufweisen und somit mehr oder weniger implizites Lernen ermöglichen (siehe Abbildung 1 auf Seite 36).1 Grundannahme hier: Zunächst generieren wir durch attraktive Unterhaltungsformate Aufmerksamkeit, während wir den Transferanspruch geringhalten, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sich in ihrer Freizeit aufhalten (Level 1). Haben wir Reichweite und damit Aufmerksamkeit gewonnen, können andere Formate, die zunehmend dem expliziten Lernen dienen, angeboten werden (Level 2-5) (vgl. Jaudas 2020).

Konzepte und erste Evaluation des Ansatzes

Bei der Auswahl konfliktpsychologischer Inhalte für die Conflict Food-Materialien kommt in unserem Ansatz dem gerechtigkeitspsychologisch fundierten Mediationskonzept von Leo Montada und Elisabeth Kals eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Montada und Kals 2013). Dieses liefert ein Modell sozialer Konflikte, das subjektiv erlebte Norm- oder Anspruchsverletzungen in den Mittelpunkt stellt und darauf basierend Bearbeitungsmöglichkeiten ableitet. Weiter geben kognitive Emotionsmodelle Hinweise darauf, wovon wir in konkreten Konfliktsituationen überzeugt sind, damit wir etwa Empörung, Neid oder Feindseligkeit empfinden. Aus all dem lassen sich Rückschlüsse auf die sogenannte Tiefenstruktur der Konflikte ziehen, d. h. die eigentlichen Beweggründe für die vertretenen Positionen. Eine Annäherung der Konfliktparteien wird durch verschiedene Relativierungstechniken möglich, die etwa konfliktverhärtende assertorische Urteilstendenzen (z. B. „Ich habe Recht, sonst niemand.“) durch ein Denken in Alternativen, dem hypothetischen Urteilen (z. B. „Inwieweit sieht es der andere anders als ich?“), aufweichen.

Auf dieser Basis verstehen wir Konfliktkompetenz also als Fähigkeit, sich in Konfliktsituationen auf alternative Ansichten und Erklärungsmöglichkeiten einlassen zu können, sich der Tiefenstruktur von Konflikten bewusst zu sein und darauf aufbauend eine für alle Konfliktparteien vorteilhafte Lösung entwickeln zu können (vgl. Jaudas und Maes 2021).

Um verlässlich Auskunft zu geben, ob die medialen Formate von Conflict Food konfliktspezifische Kompetenzen verbessern können, haben wir ein eigenes Messinstrument entwickelt: das Inventar mediationsspezifischer Konfliktkompetenz (IMKK). Basierend auf einem Kompetenzbegriff von Erpenbeck (2010) unterscheidet das IMKK die drei Kompetenzfacetten Wissen, Fähigkeit und Erfahrung. Zudem erlaubt die aktuelle Version eine Differenzierung in je vier verschiedene Teilkompetenzen, die sich aus dem oben geschilderten Mediationskonzept von Montada und Kals ableiten: (1) Verständnis sozialer Konflikte, (2) Oberflächen- vs. Tiefenstruktur, (3) Relativierungstechniken sowie (4) Konflikttranszendierung und Win-Win-Lösung (vgl. Jaudas 2020).

Die bisherigen Evaluationen fokussierten die Wirksamkeit eines für Conflict Food entwickelten Erklärvideoformats. In den ca. fünfminütigen Videos erläutert ein Sprecher aus der Expert*innenperspektive die vier aus dem Mediationskonzept abgeleiteten Teilkompetenzen. Die Vermittlung nutzt eine einfache Sprache, veranschaulichende Beispiele und eine reduzierte Visualisierung.

Eine experimentelle Kontrollgruppenstudie mit einer annähernd bevölkerungsrepräsentativen Quotenstichprobe (N = 499) belegt, dass die Nutzung der Videoformate die Konfliktkompetenz signifikant verbessert. Die Gruppe der Nutzer*innen, die die Videos gesehen hatte, zeigt im IMKK höheres konfliktspezifisches Wissen (dCohen = 1.202), verbesserte Anwendungsfähigkeit (dCohen = .82) und berichtet konfliktkompetenteres Verhalten (dCohen = .32). Eine Folgeerhebung bestätigte sechs Monate nach dem Anschauen der Videos signifikante Langzeiteffekte in allen Kompetenzfacetten. Die Evaluation der Erklärvideos spricht somit grundsätzlich dafür, dass durch ihren Einsatz Konfliktkompetenzen verbessert werden können. Nun galt es, attraktivere Videoformate zu entwickeln und auch für niedrigere Ebenen des Multi-Level-Multi-Channel-Ansatzes zu testen.

Schritt zwei: Können auch virale Videoformate Konfliktkompetenzen verbessern?

Das Ziel der sich anschließenden Studie3 bestand darin, ein Videokonzept zu entwickeln, das sich besser für eine virale Verbreitung auf Social-Media-Plattformen eignen und Reaktanzen4 seitens der Nutzer*innen vermeiden sollte, wie sie teilweise bei den Erklärvideoformaten beobachtet werden konnten. Das neue Format ordnet sich im Multi-Level-Multi-Channel-Ansatz (vgl. Abbildung 1) damit auf einer niedrigeren Stufe ein: Der Unterhaltungsanteil steigt im Vergleich zum Lernanteil und der Transfer des Konfliktwissens erfolgt stärker implizit.

Von anderen Laien lernen: Peer-to-Peer Videos

Aus der Forschung zur Sozialkognitiven Lerntheorie wissen wir, dass die Wahrscheinlichkeit für ein erfolgreiches Modelllernen steigt, wenn das Modell dem Lernenden ähnlich ist (z. B. Davidson und Smith 1982). Auf dieser Grundlage entstand die Idee, einen symmetrischen Transferansatz zu wählen, bei dem – im Gegensatz zum bisherigen Format – die Darstellung der Inhalte nicht aus Expert*innenperspektive, sondern aus Sicht von Laien erfolgen sollte. Das Format berücksichtigt damit potenzielle Widerstände seitens der Nutzer*innen aufgrund einer als eher normativ erlebten Vermittlung durch »belehrende Expert*innen«. Damit ist zugleich eine Stärkung des Edutainment-Ansatzes verbunden, denn das Beobachten erhält durch die Eigenheiten der darstellenden Laien unterhaltsame Komponenten und bedient als weiteres Nutzungsmotiv das Interesse, andere Menschen in ihren Besonderheiten kennenzulernen, vergleichen und bewerten zu können.

Dazu bekommen Laien eine kurze Einführung in das Thema durch Expert*innen und versuchen später, diese Inhalte knapp, verständlich und in eigenen Worten selbst in einer Videosequenz zu vermitteln. Das ist auch als Reaction­video möglich, bei dem eine Person live auf filmische Konfliktepisoden in einer Videosequenz reagiert, diese also in eigenen Worten kommentiert. Durch die Auswahl eines diversen Personenpools für diese Videos werden diese abwechslungsreicher und bieten eine größere Vielfalt an Identifikationsmöglichkeiten für Nutzer*innen.

Um herauszufinden, wie gut ein solches Videoformat im Vergleich zu den bereits evaluierten Erklärvideoformaten in der Lage ist, Konfliktkompetenzen zu verbessern, haben wir ein circa fünfminütiges Reactionvideo produziert, das die Differenzierung zwischen der Oberflächen- und Tiefenstruktur von Konflikten thematisiert. Zur Erfassung eines möglichen Kompetenzzuwachses beantworteten die Proband*innen im Anschluss die Fragen der Wissens- und der Fähigkeitsfacette des IMKK. Zusätzlich wurden die Proband*innen gebeten, das Videoformat anhand der Kriterien Alltagsnutzen, Unterhaltsamkeit, neue Informationen und genereller Präferenz (Liking) zu bewerten.

Ergebnisse der vergleichenden Evaluationen

Nachdem die Proband*innen das Reactionvideo gesehen haben, zeigen sie mit Blick auf die Wissensfacette signifikant höhere Werte als zuvor (dCohen = .45). Im Vergleich dazu lieferte allerdings das inhaltlich korrespondierende Erklärvideo der Expert*innen eine höhere Effektstärke (dCohen = .77). Auch im Hinblick auf eine mögliche Veränderung der Fähigkeitsfacette steigen die Werte nach dem Anschauen des Reactionvideos signifikant (dCohen = .29), wenngleich die Effektstärke des Erklärvideos auch in dieser Kompetenzfacette größer ist (­dCohen = .52). Bezüglich der Wirksamkeitsevaluation lässt sich demnach feststellen, dass auch das Reactionvideoformat in der Lage ist, die hier überprüften wissens- und fähigkeitsbasierten Kompetenzfacetten signifikant zu verbessern. Dass die Effektstärken im Vergleich zum Erklärvideoformat geringer ausfallen, entspricht den Erwartungen, denn der Anteil expliziter Wissensvermittlung ist im Reactionformat auch deutlich geringer als im Erklärvideoformat.

Entgegen den Erwartungen jedoch wurde das Reactionvideo im Zuge der Produktevaluation überwiegend schlechter bewertet als das Erklärvideoformat: Das Erklärvideo liefert subjektiv einen höheren Alltagsnutzen (dCohen = .41), vermittelt mehr neue Informationen (dCohen = .59) und zeigt insgesamt höhere Präferenzwerte (dCohen = .33). Mit Blick auf die wahrgenommene Unterhaltsamkeit beider Videoformate konnten – ebenfalls entgegen den Erwartungen – keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden (dCohen = .10,
p = .376). Leider kann zu den Gründen dieser Ergebnisse aufgrund der begrenzten Datenlage zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. Eine Erklärung könnte darin bestehen, dass die allgemeine Produktionsqualität der Erklärvideos höher ist als die des Reac­tionvideos und daraus eine pauschalisierte Präferenz für das Erklärvideoformat entstanden ist. Auch Stichprobeneffekte sind nicht auszuschließen, da es sich hier nicht um einen direkten Vergleich beider Videoformate gehandelt hat, sondern die Proband*innen jeweils nur ein Format bewertet haben und sich die beiden Stichproben in Hinblick einiger soziodemografischer Variablen signifikant unterscheiden.

Ein kritischer Blick auf die Wirksamkeit

Wenngleich die Ergebnisse der bisherigen Wirksamkeitsanalysen konsistente Verbesserungen in den getesteten Kompetenzfacetten zeigen, sind diese Ergebnisse zum aktuellen Zeitpunkt mit Vorsicht zu interpretieren, insbesondere aufgrund der bisher eingeschränkten Datengrundlage. Das IMKK liefert valide Ergebnisse in Hinblick auf die Kompetenzfacetten Wissen und Fähigkeit. Doch eine Steigerung von konfliktspezifischem Wissen und Fähigkeiten sagt noch nichts darüber aus, ob sich auch das faktische Verhalten im Umgang mit sozialen Konflikten ändert. Im Einklang mit der psychologischen Konfliktstilforschung nutzt das IMKK in der Erfahrungsfacette ausschließlich Selbstauskunftsitems (z. B. „In Streitigkeiten und Konflikten frage ich mich, ob die andere Konfliktpartei für ihr Fehlverhalten verantwortlich ist.“). Aus aktuellen Studien wissen wir jedoch, dass Menschen bei der Beschreibung des eigenen Konfliktverhaltens einer starken kognitiven Verzerrung unterliegen, mit der sie ihr eigenes Verhalten nahe an dem für sie gültigen normativen Ideal orientieren. Mit anderen Worten tendieren wir dazu, unser eigenes Konfliktverhalten so zu beschreiben, wie wir glauben, dass man sich im Idealfall verhalten sollte. Positiv interpretiert bedeutet dies, dass die Videos dabei unterstützen, dass die Nutzer*innen ihr normatives Ideal verschieben. Es bleibt auf der bestehenden Datenlage aber ungewiss, ob die Videos auch dabei helfen, den alltäglichen Umgang mit Konflikten zu verändern.

Ergänzend dazu muss berücksichtigt werden, dass die Videoformate bislang noch nicht im realen Umfeld verschiedener Social-Media-Plattformen konsumiert wurden. Dieser Umstand ist für die Wirksamkeitsevaluation nicht zentral. Für die Frage, ob es letztlich gelingen kann, über derartige videobasierte Angebote Konfliktkompetenzen zu verbessern, ist er jedoch essenziell. Hier wird deutlich, dass die Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse weitere Hürden nehmen muss: Es reicht nicht, wenn Transferangebote existieren. Sie müssen attraktiv sein und die Bedürfnisse und Präferenzen von Nutzer*innen berücksichtigen. Kurz gesagt: Nützlichkeit setzt Nutzung voraus.

Chancen videobasierter Transferkonzepte

Doch aus unserer Sicht lohnt es sich, an der Überwindung der genannten Hürden zu arbeiten.

In zukünftigen Studien wird die Wirksamkeitsevaluation um verhaltensnahe Daten zu ergänzen sein, um herauszufinden, ob Verhaltensänderungen im Alltag erzielt werden können. Das kommt nicht nur einer valideren Evaluation zugute, sondern hilft uns auch in der anwendungsorientierten Konfliktforschung. Die zentralen Forschungsfragen lauten: Unter welchen Voraussetzungen werden konfliktspezifisches Wissen und Fähigkeiten in entsprechendes Handeln überführt? Welche Personen- und Umweltmerkmale verhindern bei vorhandenem Wissen die alltägliche Ausführung konfliktkompetenter Verhaltensweisen? Wie können diese verändert werden?

Auch die Herausforderung, die Videoformate außerhalb experimenteller Evaluationsstudien auf Social-Media-Plattformen zu verbreiten, kann und sollte angenommen werden. Der Schlüssel liegt hier in einer gelebten Selbstbescheidung: Wissenschaftler*innen sollten sich eingestehen, dass es Expert*innen insbesondere aus der Kreativwirtschaft braucht (z. B. Videoproduktion, Online-Marketing), um ein attraktives Produkt herzustellen, um Reichweite und damit Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die idealistische Überzeugung, sich für eine gesellschaftlich relevante und nützliche Sache zu engagieren, setzt übliche Marktgesetze allein nicht außer Kraft. Gerade der Wettbewerb um Aufmerksamkeit in hochdynamischen Systemen wie YouTube und anderen sozialen Netzwerken ist ohne professionelle Expertise und die dafür notwendigen Ressourcen nur schwer zu gewinnen.

Mit dem Forschungs- und Transferprojekt »KOKO. Konflikt und Kommunikation«5 gehen wir diese und weitere Herausforderungen an. Ein interdisziplinär aufgestelltes Forscher*innenteam aus Psychologie, Journalistik und Politikwissenschaft hofft so, zur Verbesserung gesellschaftlicher Konfliktkompetenz beitragen zu können – auch wenn es mehr als fünf Minuten in Anspruch nehmen sollte.

Anmerkungen

1) Grundlage des Ansatzes sind Impulse aus der Sozialkognitiven Lerntheorie, dem Lernen durch Beobachtung (Bandura 1976) und dem Edutainment-Ansatz.

2) Effektstärkemaß Cohen’s d: Hier beschreibt es die Größe bzw. die Bedeutsamkeit von vorliegenden Unterschieden zwischen der Experimental- und der Kontrollgruppe und damit die Bedeutsamkeit des Kompetenzzuwachses. Nach Cohen (1988) gilt dCohen ˜ .20 als kleiner Effekt, dCohen ˜ .50 als mittlerer Effekt und dCohen > .80 als großer Effekt.

3) »Entwicklung und Evaluation eines Reactionvideos im Peer-to-Peer-Transfer«. Diese Studie wurde durch den Small Grant 2020 des Forums Friedenspsychologie e.V. gefördert.

4) Reaktanz meint die Ablehnung vorgegebener Verhaltensweisen, weil diese den Handlungsspielraum der Adressaten einschränken. Menschen verhalten sich reaktant, um Freiheit wiederzuerlangen und nicht, weil sie inhaltlich anderer Meinung sind.

5) »KOKO. Konflikt und Kommunikation« wird durch das dtec.bw®-Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr von 2021-2024 gefördert.

Literatur

Bandura, A. (1976): Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett.

Cohen, J. (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences (2nd ed.). Hillsdale, N.J.: L. Erlbaum Associates.

Davidson, E. S.; Smith, W. P. (1982): Imitation, social comparison, and self-reward. In: Child Development 53(4), S. 928-932.

Erpenbeck, J. (2010): Kompetenzen – eine begriffliche Klärung. In: Heyse, V.; Erpenbeck, J.; Ortmann, S. (Hrsg.): Grundstrukturen menschlicher Kompetenzen. Münster: Waxmann, S. 13-20.

Jaudas, M. (2020). Psychologie Weitergeben. Entwicklung und Evaluation eines online-basierten Programms zur Vermittlung mediationsspezifischer Konfliktkompetenz. Dissertation an der Universität der Bundeswehr München. Neubiberg: Universität der Bundeswehr München Fakultät für Humanwissenschaften.

Jaudas, M.; Maes J. (2021): Der soziale Konflikt. Durch psychologische Begriffsarbeit zu einer verbesserten Konfliktbearbeitung. In: Konfliktdynamik 10(1), S. 21-28.

Miller, G. A. (1969): Psychology as a means of promoting human welfare. In: American Psychologist 24(12), S. 1063-1075.

Montada, L.; Kals, E. (2013): Mediation: psychologische Grundlagen und Perspektiven (3. Aufl.). Weinheim: Beltz.

Dr. Mathias Jaudas, Psychologe, leitet das Forschungsprojekt »KOKO. Konflikt und Kommunikation«. Hier beschäftigt er sich mit Eskalationsdynamiken sozialer Konflikte und entwickelt ein mediales Transferkonzept zur Weitergabe konfliktpsychologischer Erkenntnisse an die Bevölkerung.
Dr. Heidi Ittner, Psychologin, ist Mitarbeiterin im Projekt »KOKO«. Ihre Forschungs- und Praxisschwerpunkte liegen im Konfliktmanagement, v.a. der Mediation, und der Gerechtigkeitspsychologie. Daneben ist sie freiberuflich in der Körperarbeit und im Coaching tätig.
Prof. Dr. Jürgen Maes, Psychologe, ist Professor für Sozial- und Konfliktpsychologie an der Universität der Bundeswehr München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Gerechtigkeitspsychologie und der angewandten Sozialpsychologie. Seit 2021 leitet er gemeinsam mit Mathias Jaudas das Forschungsprojekt »KOKO«.

Frieden lernen

Frieden lernen

Eine Einführung in die Psychologie des Verhandelns

von Marie-Lena Frech

Im Folgenden stellt Marie-Lena Frech einige Grundlagen der psychologischen Verhandlungsführung dar und unterstreicht die Bedeutung dieser Kulturtechnik für das Erlernen und Bewahren von Frieden.

Verhandlungen helfen uns dabei, soziale Konflikte zu lösen. So verhandeln Partner*innen in einer Beziehung beispielsweise über die Aufteilung der Aufgaben im Haushalt, Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen über das Gehalt, Gewerkschaften und Arbeitgeber über Arbeitskonditionen und Nationen über die Aufteilung begrenzter Ressourcen. Die Fähigkeit, Konflikte friedlich zu lösen und eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten, ist demnach eine Grundvoraussetzung für das menschliche Zusammenleben.

Grundsätzlich lassen sich Verhandlungen beschreiben als Diskussionen zwischen zwei oder mehreren Parteien mit dem Ziel, konkurrierende Interessen zu beseitigen, um zu einer Übereinkunft zu kommen und somit soziale Konflikte zu vermeiden (Pruitt und Carnevale 1993, S. 2). Verhandlungsparteien können hierbei Einzelpersonen sein oder auch Gruppen, Organisationen oder Nationen. Durch den Eintritt in die Verhandlung erhoffen sich die Parteien, dass die Konflikte im Sinne ihrer Interessen bezüglich einzelner Verhandlungsgegenstände gelöst werden können. Verhandlungen können dabei einen oder mehrere Verhandlungsgegenstände umfassen.

So verhandelten beispielsweise die Konfliktparteien im Rahmen des Dayton-Friedensvertrags über die Aufteilung Bosniens und Herzegowinas in eine serbische und eine kroatisch-muslimische Teilrepublik. Bei dieser Aufteilung stand die Begrenztheit des Territoriums und das damit verbundene Verteilungsproblem im Vordergrund. Jede Partei strebte danach, so viel Territorium wie möglich für sich zu beanspruchen. Die Fachliteratur spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Nullsummenspiel, da zusätzlicher Wert für die eine Partei nur durch Kosten der anderen Partei entstehen kann (vgl. Thompson 1990, S. 101).

Häufig sind Verhandlungen jedoch komplexer und beinhalten mehrere Verhandlungsgegenstände gleichzeitig. So wurde im Dayton-Abkommen neben der territorialen Aufteilung etwa auch über den Namen und weitere verfassungsrechtliche Grundlagen des Staates Bosnien und Herzegowina verhandelt. Auch wenn Verhandlungen mit zunehmender Anzahl an Verhandlungsgegenständen komplexer werden, nehmen dadurch gleichzeitig die Möglichkeiten zu, für alle Parteien zufriedenstellende Einigungen herbeizuführen. Durch die Kooperation der Verhandlungsparteien bei der Bearbeitung der Gegenstände kann sich der gemeinsame Nutzen erhöhen und sogenannte »Win-Win«-Lösungen erzielt werden. Die Fachliteratur nennt dies »integrative Verhandlungen« (Kelman 2006, S. 22). Verglichen mit der Aufteilung eines Kuchens, geht es bei integrativen Verhandlungen darum, den Kuchen zu vergrößern und anschließend möglichst gerecht zu verteilen, so dass alle Parteien mehr davon bekommen und zufrieden auseinander gehen.

Den Kuchen vergrößern

Oftmals starten wir in Verhandlungen mit der Annahme, dass die andere Konfliktpartei hinsichtlich der einzelnen Verhandlungsgegenstände die gleichen Präferenzen hat wie wir. Dabei ist es jedoch häufig so, dass die Verhandlungsparteien die einzelnen Verhandlungsgegenstände unterschiedlich stark präferieren (vgl. Thompson 1990, S. 101). Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften beispielsweise über Löhne, Wochenstunden und Betriebsrenten verhandeln, könnte der Fall eintreten, in dem die Gewerkschaften höhere Löhne kürzeren Arbeitszeiten vorziehen, während den Arbeitgebern die Erhöhung der Wochenstunden wichtiger ist als die Ersparnis bei den Löhnen.

Wenn mehrere Verhandlungsgegenstände verhandelt werden und für diese je unterschiedliche Präferenzen bestehen, können Tauschgewinne erzielt werden (vgl. Froman und Cohen 1970, S. 181). Für unser Beispiel bedeutet dies, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften auf eine Arbeitszeiterhöhung und eine Anhebung der Löhne einigen. Durch gegenseitige Zugeständnisse werden die Präferenzen beider Parteien berücksichtigt. So machen die Arbeitgeber Zugeständnisse bei den Löhnen, die für sie niedrigere Priorität haben, aber für die Gewerkschaften von zentraler Bedeutung sind. Im Gegenzug wird erwartet, dass die Gewerkschaften den Arbeitgebern bei den Arbeitszeiten entgegenkommen, die für die Gewerkschaften eher zweitrangig sind, jedoch hohe Priorität für die Arbeitgeber haben.

Im Kern beruht dieser Ansatz auf dem psychologischen Prinzip der sogenannten Reziprozität – dem Gesetz der Gegenseitigkeit. Wenn uns unser Gegenüber etwas Gutes tut, sind wir bemüht, unser Haben-Konto auszugleichen und eine Gegenleistung zu erbringen (vgl. Brett, Shapiro und Lytle 1988, S. 411). Prinzipiell gilt: je mehr Verhandlungsgegenstände auf dem Tisch liegen, desto eher bestehen Austauschmöglichkeiten.

Damit die vorhandenen Potentiale genutzt werden können, ist es dann aber wichtig, die einzelnen Verhandlungsgegenstände zusammen als Paket und nicht getrennt voneinander zu betrachten (vgl. Weingart, Bennett und Brett 1993, S. 505). Würden Arbeitgeber und Gewerkschaften sich beispielsweise erst bei den Arbeitszeiten einigen und danach über die Löhne verhandeln, würden sie womöglich die Gelegenheit für einen Tauschgewinn versäumen.

Werden neben den individuellen Präferenzen auch noch die zugrundeliegenden Interessen der Parteien berücksichtigt, haben die Beteiligten üblicherweise einen höheren Nutzen als bei einer 50-50 Kompromisslösung (vgl. Bazerman, Mannix und Thompson 1988, S. 205). Zur Veranschaulichung ein bekanntes Beispiel aus der Verhandlungsforschung (vgl. Follet 1940, S. 36): Zwei Schwestern streiten sich um eine Orange. Nach langem Hin und Her einigen sie sich schließlich darauf, die Orange in der Mitte zu halbieren. Während die eine Schwester das Fruchtfleisch ihrer Hälfte verwendet, um einen Saft zu pressen, nimmt die andere Schwester die Schale ihrer Hälfte, um einen Kuchen zu backen. Während also der Kompromiss – die Orange zu teilen – auf den ersten Blick eine gute und faire Einigung darstellt, hätten die Schwestern jeweils einen größeren Gewinn erzielt, hätten sie erkannt, dass ihre Interessen nicht entgegengesetzt, sondern miteinander kompatibel waren. So hätte die eine das ganze Fruchtfleisch und die andere die ganze Schale haben können. Das Beispiel verdeutlicht, wie durch interessenorientiertes Verhandeln ein Nutzen für beide Verhandlungsparteien erzielt werden kann.

Die Frage nach dem „Warum“

Damit Interessenunterschiede genutzt werden können, ist es notwendig diese erst einmal zu erkennen. Der Informationsaustausch zwischen den Parteien ist hierbei eine wesentliche Voraussetzung (vgl. Thompson 1990, S. 111). Hätten die Schwestern sich beispielsweise gegenseitig die Frage gestellt:
„Warum brauchst du die Orange?“, hätten sie relativ schnell feststellen können, dass es bessere Lösungen gibt, als die Orange in der Mitte zu teilen. Im Fokus der Verhandlung sollte daher nicht das Feilschen um Positionen, sondern das Verhandeln über Interessen stehen. Während Positionen einfache Aussagen darüber sind, was eine Person will („Ich will die Orange haben“) beziehen sich die Interessen auf die zugrundeliegenden Gründe hinter der Position („Ich möchte Orangensaft trinken“ und „Ich würde gerne einen Kuchen backen“). Interessen sind also die Treiber, die Aufschluss darüber geben, warum eine Person eine bestimmte Position einnimmt (vgl. Fisher und Ury 1981, S. 42). Durch eine Position kann ein Interesse befriedigt werden, aber eine Position ist nicht zwangsläufig der einzige oder beste Weg, dies zu tun. Kurz gesagt: Positionen sind verhandelbar, Interessen nicht.

Zu oft fokussieren sich Verhandlungsparteien rein auf Positionen, was zur Folge haben kann, dass die zugrundeliegenden Interessen unbefriedigt oder sogar unerkannt bleiben. So wird das integrative Potential einer Verhandlung häufig gar nicht erst erkannt. Ein gegenseitiges Verständnis dafür, was sich die Gegenseite von der Verhandlung erhofft, ist daher essenziell, um Win-Win Lösungen zu erzielen.

Der beste Weg, die Bedürfnisse der Gegenpartei zu identifizieren, ist, viele offene Fragen zu stellen, die nach dem „Warum?“ fragen (z. B. „Warum ist das für Sie wichtig?“). Fragen wie
„Was haben Sie sich vorgestellt?“ sind im Vergleich dazu eher wenig nützlich, da sie nach den Positionen fragen und nicht nach den dahinterliegenden Interessen. Das Beispiel der Schwestern, die sich um eine Orange streiten, stellt auf ziemlich vereinfachte Weise dar, dass es sich lohnt, nach den Interessen einer Verhandlungspartei zu fragen. Doch auch historische Beispiele zeigen, dass interessenbasiertes Verhandeln der Schlüssel zu einer Einigung sein kann. Während der Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel im Jahr 1979 war zunächst keine der Parteien bereit, die Sinai-Halbinsel, die zwischenzeitlich von Israel besetzt war, aufzugeben. Die Frage nach dem „Warum?“ machte den Verhandlungsparteien deutlich, dass Ägypten die Souveränität über sein eigenes Staatsgebiet wichtig war, während Israel Sorge hatte, dass bei einer erneuten Konfliktsituation ägyptische Panzer nach Israel vordringen könnten. Die Lösung bestand darin, die Sinai-Halbinsel an Ägypten zurückzugeben und die Zone zu entmilitarisieren. Auf diese Weise fanden beide Verhandlungsparteien nach Jahren des Konflikts kompatible Interessen (Souveränität, Sicherheit) hinter gegensätzlichen Positionen (vgl. Fisher und Ury 1981, S. 43).

Kommunikation und Vertrauen als Grundbausteine

Ein reger Informationsaustausch ist wichtig für die Erarbeitung gemeinsamer Ziele, funktioniert jedoch nur, wenn die richtigen Informationen geteilt werden. Nur wenn alle Verhandlungsparteien ihre wahren Ziele und Interessen offen kommunizieren, lassen sich unterschiedliche Interessen und Präferenzen nutzen. Der Grundstein für die Zusammenarbeit zwischen Verhandlungsparteien lautet daher: Vertrauen. Ohne einen vertrauensvollen Umgang werden Parteien kaum ihre wahren Interessen offenlegen – aus Angst, dass die Gegenseite dieses Wissen missbrauchen könnte (vgl. De Dreu, Giebels und Van de Vliert 1998, S. 406). Vertrauenswürdigkeit wird dabei über transparenten Informationsaustausch hergestellt. Konfliktparteien, die transparent sind, werden meist damit belohnt, dass es ihnen ihre Verhandlungspartner gleichtun. Menschen neigen dazu, auf die Handlungen anderer mit ähnlichen Handlungen zu reagieren: Wenn andere mit uns kooperieren und mit Respekt behandeln, reagieren wir in gleicher Weise (vgl. Malhotra und Bazerman 2007, S. 90). Konfliktparteien müssen allerdings nicht gleich zu Beginn alle Interessen und Ziele offenbaren. Viel eher geht es um einen gemeinsamen Prozess, in dem beide Parteien Schritt für Schritt gegenseitig Informationen miteinander teilen.

Zuhören und verstehen

Aktives Zuhören, bei dem sich der Zuhörende dem Sprechenden mit einer offenen und empathischen Grundhaltung zuwendet, trägt ebenfalls zum Aufbau von Vertrauen bei. Zuhören ermöglicht es uns, zwischen den Zeilen zu lesen und vermittelt dem Sprechenden Kooperationsbereitschaft. Neben dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung stellt der Perspektivwechsel eine weitere Verhandlungsstrategie dar, um mehr über die Präferenzen und Interessen einer Verhandlungspartei zu erfahren. Verhandlungsparteien, die eine hohe Fähigkeit aufweisen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, verstehen dessen zugrundeliegenden Interessen besser und können dies nutzen, um höheren Nutzen für alle Parteien zu erzielen (vgl. Trötschel et al. 2011, S. 774). Bei vielen Verhandlungen handelt es sich nicht um einmalige Austauschbeziehungen, sondern um Zusammenkünfte über einen längeren Zeitraum. Ein Verhandlungsklima, das auf Vertrauen und offener Kommunikation beruht, ist besonders wichtig für die langfristige, soziale Beziehung der Verhandlungsparteien. Auch wenn es vielleicht in manchen Situationen kurzfristig vielversprechender erscheinen mag, nicht zu kooperieren und einen schnellen Gewinn einzufahren, wird langfristig genau das Gegenteil erreicht und die Beziehung zum Verhandlungsgegenüber gefährdet.

Die Aufteilung des Kuchens

Erfolgreiches Verhandeln besteht jedoch nicht nur darin, sprichwörtlich gemeinsam einen möglichst großen Kuchen zu backen, sondern sich hinterher auch ein möglichst großes Stück davon zu sichern. Verhandlungen sind demnach immer ein Zusammenspiel von Kooperation und Wettbewerb. Neben der Wertschöpfung gehört auch die Wertverteilung dazu. Der Gedanke des integrativen Verhandelns besteht darin, dass die Parteien in diesem Stadium der Verhandlung bereits eine kooperative Arbeitsbeziehung aufgebaut haben, die ihnen das Verteilen des Kuchens erleichtert. Eine »Win-Win«-Lösung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass beide Parteien einen Nutzen erzielen und niemand als Verlierer*in aus der Verhandlung hervorgeht. Die Größe des Gewinns jeder Partei variiert jedoch, abhängig davon, wie der Kuchen aufgeteilt wird, nachdem er vergrößert wurde. Je mehr Optionen bzw. Stücke allerdings auf dem Tisch liegen, desto einfacher werden sich die Parteien einigen.

Frieden verhandeln?

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass viele soziale Konflikte durch Verhandlungen gelöst werden können. Sofern die Verhandlung integratives Potential besitzt, kann durch einen kooperativen Verhandlungsstil, bei dem die Parteien gemeinsam an der Realisierung ihrer Ziele arbeiten, der Wert für alle Parteien erhöht werden. Ein gegenseitiges Verständnis für die Bedürfnisse, Interessen und Präferenzen des jeweils Anderen ist dabei entscheidend, um den Verhandlungsspielraum zu erweitern und Tauschgewinne zu erzielen. Eine offene Kommunikation, die auf gegenseitigem Vertrauen und Transparenz beruht, fördert außerdem den Informationsaustauch und den Aufbau von langfristigen Beziehungen. Der Leitsatz für integrative Verhandlungen lautet demnach: Teamarbeit statt Wettbewerb.

Literatur

Bazerman, M. H.; Mannix, E. A.; Thompson, L. L. (1988): Groups as mixed-motive negotiations. In: Lawler, E.J., Markovsky, B. (Hrsg.): Advances in Group Processes Vol. 5. Greenwich: JAI Press, S. 195-216.

Brett, J. M.; Shapiro, D. L.; Lytle, A. L. (1998): Breaking the bonds of reciprocity in negotiations. In: Academy of Management Journal 41(4), S. 410-424.

De Dreu, C. K.; Giebels, E.; Van de Vliert, E. (1998): Social motives and trust in integrative negotiation: The disruptive effects of punitive capability. In: Journal of Applied Psychology 83(3), S. 408-422.

Fisher, R.; Ury, W. (1981): Getting to yes: Negotiating agreement without giving in. New York, NY: Penguin Books.

Follet, M. P. (1940): Constructive conflict. In: Metcalf, H.C.; Urwick, L. (Hrsg:): Dynamic administration: The collected papers of Mary Parker Follet. New York: Harper and Row, S. 30-49.

Froman Jr, L. A.; Cohen, M. D. (1970): Compromise and logroll: Comparing the efficiency of two bargaining processes. In: Behavioral Science15(2), S. 180-183.

Kelman, H. C. (2006): Interests, relationships, identities: Three central issues for individuals and groups in negotiating their social environment. In: Annu. Rev. Psychol. 57, S. 1-26.

Malhotra, D.; Bazerman, M. (2007): Negotiation genius: How to overcome obstacles and achieve brilliant results at the bargaining table and beyond. Bantam.

Pruitt, D. G.; Carnevale, P. J. (1993): Negotiation in social conflict. Pacific Grove: Thomson Brooks/Cole Publishing Co.

Thompson, L. (1990): Negotiation behavior and outcomes: Empirical evidence and theoretical issues. In: Psychological Bulletin 108(3), S. 515-532.

Trötschel, R. et al. (2011): Perspective taking as a means to overcome motivational barriers in negotiations: When putting oneself into the opponent’s shoes helps to walk toward agreements. In: Journal of Personality and Social Psychology 101, S. 771-790.

Weingart, L. R.; Bennett, R. J.; Brett, J. M. (1993): The impact of consideration of issues and motivational orientation on group negotiation process and outcome. In: Journal of Applied Psychology 78(3), S. 504-517.

Marie-Lena Frech ist wiss. Mitarbeiterin am Forschungszentrum für Digitale Transformation an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie forscht zu menschlichem Erleben und Verhalten in Urteils- und Entscheidungssituationen.

Zurück zu den Wurzeln

Zurück zu den Wurzeln

Frieden als Herausforderung für Studium und Lehre in den Naturwissenschaften

von Jürgen Scheffran

Verglichen mit der Situation vor 40 Jahren hat sich die naturwissenschaftliche Friedenslehre geändert. Stand zunächst die Verflechtung von Naturwissenschaft und Krieg im Vordergrund, so wurde zunehmend naturwissenschaftlich-technisches Wissen genutzt, um rüstungsbezogene Fragen zu analysieren und friedenspolitische Alternativen zu entwickeln. Auf Grundlage eigener Erfahrungen zeichnet Jürgen Scheffran nach, wie die Beschäftigung mit Frieden, Konflikten, Aufrüstung und Abrüstung in die Lehre und das Studium der Naturwissenschaften kam.

Dass die wissenschaftlich-technische Entwicklung nicht nur die Mühseligkeit menschlicher Existenz erleichtern soll (Brecht), sondern auch die Menschheit gefährdet, war schon Albert Einstein bewusst. Vor einer studentischen Abrüstungsversammlung Anfang der 1930er Jahre stellte er fest: „Die letzten Generationen haben uns in der hochentwickelten Wissenschaft und Technik ein überaus wertvolles Geschenk in die Hand gegeben, das Möglichkeiten der Befreiung und Verschönerung unseres Lebens mit sich bringt […]. Dies Geschenk bringt aber auch Gefahren für unsere Existenz mit sich, wie sie noch niemals schlimmer gedroht haben.“ (Einstein 1934, S. 48f.) Er folgerte daraus das ethische Postulat für die zivilisierte Menschheit und die aktive Teilnahme an der Lösung des Friedensproblems. Solche Zusammenhänge zu vermitteln, war in der naturwissenschaftlichen Ausbildung und Lehre lange ein Tabu.

Anfänge im Kalten Krieg

Während des Physikstudiums vor vier Jahrzehnten an der Universität Marburg wurde mir die Ambivalenz des eigenen Faches bewusst. Angesichts komplexer globaler Herausforderungen, von der Umweltzerstörung bis zur Kriegsgefahr, wurde es dringlich, Fragen zu Umwelt, Frieden und Komplexität in Studium, Lehre und Forschung zu integrieren. Um die damals „voraussehbare Realität“ neuer Bedrohungen zu vermeiden, erwuchs die Notwendigkeit, mit verschiedenen Fachgebieten zusammen zu arbeiten und zu lernen.

Zu Beginn der 1980er Jahre wurde die Stationierung neuer Atomraketen in Europa zum alles beherrschenden Thema, und die Friedensbewegung erfasste auch die Hochschulen. Da damals eine naturwissenschaftliche Friedenslehre nicht zum Studium gehörte, waren studentische Initiativen ein Weg zum selbst­organisierten Lernen. Ein Schlüsselerlebnis war für mich das Seminar »Physik und Rüstung«, das im Sommersemester 1982 und im folgenden Wintersemester am Marburger Fachbereich Physik auf Initiative von Studierenden und mit Unterstützung durch Prof. Olaf Melsheimer durchgeführt wurde. Damit wollten wir erreichen, dass gesellschaftspolitische Inhalte wie die Friedensfrage und die Gefahren des nuklearen Wettrüstens zur normalen Physikausbildung gehören.

Das Seminar kann als erster Versuch einer naturwissenschaftlichen Friedensbildung gelten, um bei den Studierenden das Verständnis physikalischer Grundlagen der Rüstungstechnik zu entwickeln und die Verantwortung der Wissenschaft zu thematisieren. Themen des Seminars waren: Wissenschaft und Krieg in der Geschichte und die Erklärung der »Göttinger 18«; Nuklearwaffen und Neutronenbombe; Folgen des Atomkriegs und Elektromagnetischer Impuls (EMP); Cruise Missiles, Pershing II und SS20 sowie Laserwaffen, Überwachungs- und Informationssysteme (vgl. Physik & Rüstung 1982/83). Das »merkwürdige Schweigen« über die Verflechtung von Physik und moderner Kriegführung zeigte uns ein Artikel von Woollett (1980):
„Die Hälfte aller Physiker und Ingenieure machen Forschung und Entwicklung; davon die Hälfte ist mit Forschung und Entwicklung für Rüstungszwecke beschäftigt.“ Es wurde deutlich, dass Naturwissenschaft und Technik sich von einer »Produktivkraft« zu einer »Destruktivkraft« entwickelten (Scheffran 1982/83).

Um ähnliche Seminare zur Friedensbildung an anderen Universitäten zu ermöglichen, wurden unsere ausgearbeiteten Vorträge in einem Band zusammengefasst, zum Teil in Handarbeit gedruckt und so bis 1983 in drei Auflagen mehr als 10.000 Exemplare bundesweit verteilt – mit Unterstützung durch das »Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung« sowie die Fachschaft Physik in Karlsruhe. An vielen Hochschulen fanden Lehrveranstaltungen zu Wissenschaft und Rüstung statt, und beim Kongress der »Mainzer 23« im Juli 1983 kamen rund 3.000 Menschen zusammen. Ihr Interesse wurde verstärkt durch die sich zuspitzende Nachrüstungsdebatte und die sogenannte »Star-Wars«-Rede von US-Präsident Ronald Reagan vom 23. März 1983, der die Wissenschaft aufrief, ein Abwehrsystem gegen Nuklearraketen zu errichten. Die Debatte über diese »Strategic Defense Initiative« (SDI) beherrschte die folgenden Jahre und wurde beim Göttinger Kongress gegen die Weltraumrüstung 1984 thematisiert wie auch 1986 beim Hamburger Kongress »Wege aus dem Wettrüsten«. Diese größeren Foren brachten die friedenspolitische Debatte nicht nur in den Naturwissenschaften in Gang, sondern mit verschiedenen Akzenten auch in anderen Disziplinen. Dies veranlasste Paul Schäfer in der ersten Ausgabe dieser Zeitschrift W&F 1983 die
„Veränderung der Wissenschaftskultur und Institutionalisierung“ zu fordern sowie den „Aufbau eines Systems wissenschaftlicher Anerkennung von Leistungen, die sich auf die Friedensproblematik beziehen. Einbringung der Probleme in Forschungsprogramme, Curricula, Kongresse, Förderungsgremien. Bildung neuer Organisationen“ (Schäfer 1983).

Verstetigung naturwissenschaftlicher Friedensaktivitäten

Tatsächlich gab es in den folgenden Jahren zahlreiche interdisziplinäre Lehrveranstaltungen, die die meisten Fächer umfassten und viele Studierende und Lehrende in die Diskussion von Friedensfragen einbanden. Zeitweise fanden bundesweit über 20 Ringvorlesungen zur »Verantwortung für den Frieden« statt, mit über 200 Vorträgen. Durch die Gründung lokaler und fachbezogener Organisationen für den Frieden (Medizin, Naturwissenschaften, Psychologie, etc.) erfolgte eine Verstetigung. Naturwissenschaftliches Wissen über Krieg und Frieden wurde der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, z. B. über die Reichweite und Zielgenauigkeit von Raketen, die Überprüfbarkeit von Atomwaffentests oder die Machbarkeit und Risiken von SDI.

Ranga Yogeshwar äußerte 1984 in W&F die Hoffnung, bei den Friedensvorlesungen könne es sich um den möglichen „Beginn einer breiten Bewegung an den Hochschulen“ handeln, vielleicht eine neue Form des „Studium Generale“ (Yogeshwar 1984). Die Verantwortungs- und Friedensthematik müsse Teil des regulären Unterrichts und Lehrstoffs sein.

Für viele Studierende und Lehrende war es überraschend, die engen Verbindungen zwischen ihrer Ausbildung und der Forschung für militärische Zwecke festzustellen. Es sei schwierig, „sich einen Forschungsbereich vorzustellen, der nicht mit militärischen Bedürfnissen in Zusammenhang gebracht werden kann“ (Gonsior 1984). Dies betraf besonders Orte wie Stuttgart, die durch eine Konzentration natur- und ingenieurwissenschaftlichen Einrichtungen gekennzeichnet waren (Nitsch 1985) – und oft bis heute sind. Solche Erkenntnisse förderten den Widerstand gegen die Militarisierung der Wissenschaft, was sich in der »Darmstädter Verweigerungsformel« ebenso zeigte wie in Erklärungen tausender Wissenschaftler*innen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in den USA und der Bundesrepublik.

Die wachsende Expertise zu Friedensfragen bereitete den Boden für die naturwissenschaftliche Friedensforschung, u.a. durch ein Stipendienprogramm der VW-Stiftung über Rüstungskontrolle. Daraus ergab sich die Möglichkeit der Förderung meiner Physik-Promotion in Marburg zur modellgestützten Untersuchung von Raketenabwehr, Abrüstung und Stabilität, die Ende 1989 abgeschlossen wurde, zeitgleich mit dem zu Ende gehenden Kalten Krieg. Aus dem Stipendienprogramm wurde ab 1988 eine institutionelle Förderung naturwissenschaftlich orientierter Forschungsgruppen in Darmstadt, Hamburg, Bochum und Kiel, die die sozialwissenschaftliche Friedens- und Konfliktforschung ergänzte. Aus dem fachbereichsübergreifenden Bündnis von Lehrenden an der Uni Marburg wurde auf Initiative des Soziologen Ralf Zoll das Zentrum für Konfliktforschung gegründet.

Etablierung der naturwissenschaftlichen Friedenslehre

1988 wechselte ich zur »Interdisziplinären Forschungsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit« (IANUS) an die TU Darmstadt, in Erwartung, den Fokus mehr auf Abrüstung und globale Herausforderungen zu richten. Die mit der Rüstungskonversion und dem UN-Gipfel zur Nachhaltigkeit 1992 in Rio verbundenen Hoffnungen auf eine Friedensdividende wurden durch neue Konflikte und Aufrüstung zerstört. Damit verbundene Friedensthemen fanden Eingang in die interdisziplinäre Forschung und Lehre bei IANUS.

Die neuen Forschungsgruppen vernetzten sich bundesweit (Kronfeld et al. 1993) und gründeten 1996 den »Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit« (FONAS), mit dem Ziel, die mathematischen, natur- oder technikwissenschaftlichen Arbeiten über Abrüstung, internationale Sicherheit und Frieden in Forschung, Lehre und Politikberatung zusammenzuführen (Neuneck 1999). Zu den zahlreichen Themen gehörten die Früherkennung, Ambivalenzanalyse und Eindämmung technologischer Rüstungsdynamik; Vorschläge für Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle, Abrüstung, Konversion und Verifikation; Analyse und Modellierung komplexer Systeme, globaler Umweltveränderungen und internationaler Sicherheit.

Studierende und Auszubildende sammelten praktische Erfahrungen auch im Arbeitskreis »Physik und Abrüstung« bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sowie in internationalen Netzwerken wie den »Pugwash Conferences«, der auf Nachwuchsförderung orientierten »Summer School on Science and Global Security« oder im »International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility« (INES/INESAP).

Etappen der Etablierung und Professionalisierung naturwissenschaftlicher Friedensforschung und -lehre waren die Förderung durch die 2000 gegründete Deutsche Stiftung Friedensforschung, die Einrichtung einer Stiftungsprofessur 2004 für das Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF), der Darmstädter Informatik-Lehrstuhl »Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit« (PEASEC) und die Physik-Juniorprofessur »Nukleare Verifikation und Abrüstung« an der RWTH Aachen. Damit verbunden war die Einrichtung friedensbezogener Masterprogramme und Lehrveranstaltungen an den Universitäten von Hamburg, Marburg, Hagen, Darmstadt und Aachen, die zahlreichen Studierenden und dem wissenschaftlichen Nachwuchs vielfältige Facetten des forschenden Friedenslernens und der Ambivalenzanalyse eröffneten.

Über die Jahre entwickelte sich auch ein entsprechendes Angebot an Lehrbüchern, das Naturwissenschaften und Friedensthemen verknüpfte, z. B. „Physik, Militär und Frieden“ (Forstner/Neuneck 2018), „Information Technology for Peace and Security“ (Reuter 2019) sowie „Naturwissenschaft, Rüstung, Frieden“ (Altmann et al. 2017). Letzteres vermittelt friedensrelevantes Basiswissen in vier naturwissenschaftlichen Disziplinen (Physik, Chemie, Biologie, Informatik). Für ein naturwissenschaftliches Lehrangebot werden darin verschiedene Lernziele angestrebt:

  • grundlegende naturwissenschaftliche Begriffe und Arbeitsweisen;
  • Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik für Rüstung und Krieg, Abrüstung und Frieden;
  • damit verbundene wissenschaftstheoretische und gesellschaftliche Grundsatzfragen;
  • Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung, unter Einbeziehung ethisch-normativer Regeln.

Interdisziplinäre Verbindung von Umwelt und Frieden

Im Lauf der Zeit spielte die interdisziplinäre Verknüpfung natur- und sozialwissenschaftlicher Friedensthemen eine zunehmende Rolle, was sich auch in meiner eigenen Biographie zeigte. Neben der Beschäftigung mit der Rüstungstechnik untersuchte ich seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend globale Sicherheits-­Herausforderungen wie Umwelt, Energie und Klima, ab 2001 am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und 2004-2009 in der ACDIS-Forschungsgruppe an der University of Illinois. Hier durfte ich an der gut besuchten Vorlesung »Nuclear Weapons, Nuclear War & Arms Control« mitwirken, zusammen mit den Physikern Frederic Lamb, Jeremiah J. Sullivan und zeitweise Martin Kalinowski. Mit ihrem Start im Jahr 1982 ist dies die am längsten laufende Vorlesung dieser Art in den USA und weist auf die Parallelen der Entwicklungen in den USA und Deutschland hin.

Durch den Wechsel 2009 auf die Geographie-Professur für »Klimawandel und Sicherheit« an der Universität Hamburg ergab sich ein vielfältiges Lehrspektrum an der Schnittstelle umwelt- und sicherheitspolitischer Themen – die aus interdisziplinären Perspektiven betrachtet wurden, von Klima- und Ressourcenkonflikten bis zu Konfliktmodellen und biologischen Grundlagen der Friedensforschung. Hier konnten sich zahlreiche Studierende als Teil ihrer berufsqualifizierenden Ausbildung mit Friedensthemen beschäftigen.

Seit den Anfängen hat sich die Landschaft naturwissenschaftlicher Friedenslehre erheblich geändert. Die damals konstatierte
„vorraussehbare Realität“ ist längst manifest geworden und führt zu immer neuen Krisen, in denen sich die nukleare Bedrohung mit anderen Risiken verbindet, was eine interdisziplinäre Betrachtung erfordert. Die Belegung friedensbezogener Lehrveranstaltungen wurde zur Normalität, auf Kosten der Eigeninitiative und der kritischen Auseinandersetzung. Jüngere Entwicklungen wie die von der »NatWiss«-Initiative forcierte Zivilklausel-Bewegung an den Universitäten oder die Zusammenarbeit von Fridays for Future und Scientists for Future brachten frischen Wind in die Landschaft und mobilisierten Studierende und Lehrende für Lehrveranstaltungen, fast wie seinerzeit die Friedensbewegung.

Die kritische Beschäftigung mit der Ambivalenz der Wissenschaft bleibt wichtig, um die Wurzeln nicht zu vergessen (Scheffran 2018). Bis heute steht für viele Studierende die Begeisterung über ihr Fach im Vordergrund, während die Beschäftigung mit den Konsequenzen wie Krieg, Gewalt und Umweltzerstörung verunsichert. Diese Konfrontation ist auch weiter notwendig – ein Plädoyer für eine vertiefte und etablierte Friedenslehre auch und gerade in den Naturwissenschaften. Bis heute ist das keine Selbstverständlichkeit.

Literatur

Altmann, J. et al. (2017): Naturwissenschaft – Rüstung – Frieden. Basiswissen für die Friedensforschung. Wiesbaden: Springer.

Einstein, A. (1934) Mein Weltbild. Hrsg. Seelig, C. (2005), Zürich: Europa-Verlag.

Forstner, Ch.; Neuneck, G. (Hrsg.) (2018): Physik, Militär und Frieden. Physiker zwischen Rüstungsforschung und Friedensbewegung. Wies­baden: Springer Spektrum.

Gonsior, B. (1984): Den Frieden lehren. W&F 5/1984.

Kronfeld, U. et al. (Hrsg.) (1993): Naturwissenschaft und Abrüstung. Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen. Münster: Lit-Verlag.

Neuneck, G. (1999): Eine kurze Geschichte von FONAS. FONAS Newsletter 1, S. 3-10.

Nitsch, J. (1985): Friedensforum Stuttgarter Wissenschaftler. W&F 3/1985.

Physik & Rüstung (1982/1983) Physikalische Aspekte rüstungstechnologischer Entwicklungen. Seminar am Fachbereich Physik, Universität Marburg, Auflage 1/2/3.

Reuter, Ch. (Hrsg.) (2019): Information technology for peace and security. IT applications and infrastructures in conflicts, crises, war, and peace. Wiesbaden: Springer Vieweg.

Schäfer, P. (1983): Entrüstete Wissenschaft? W&F 1/1983.

Scheffran, J. (1982/83): Zum Verhältnis von Wissenschaft und Krieg in der Geschichte. In: Physik und Rüstung, S. 6-65.

Scheffran, J. (2018): Militarisierung oder Zivilisierung? Ambivalenz der Wissenschaft in der Krise. W&F 2/2018.

Woollett, E.L. (1980): Physics and modern warfare: the akward silence. In: Amer. J. Phys. 48(2), S. 104-111.

Yogeshwar, R. (1984): Den Frieden lehren. W&F 4/1984.

Jürgen Scheffran ist Geographie-Professor für »Klimawandel und Sicherheit« im Klimacluster an der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von W&F.