Präfigurative Friedenspsychologie

Präfigurative Friedenspsychologie

Eine Agenda für die Klimakrise

von Frank Eckerle1

Welche Rolle spielt die Friedenspsychologie bei der Bewältigung von gesellschaftlichen Konflikten zur Anpassung an den Klimawandel? Ausgehend von Ulrich Wagners Beitrag (2023) schlage ich vor, dass Friedenspsychologie sich den politischen Widerstand zu eigen macht. Darauf aufbauend skizziere ich Bausteine einer präfigurativen (d.h. die gewünschten Verhältnisse vorwegnehmenden) Friedenspsychologie, welche sich vom wissenschaftlichen Mainstream ab- und den drängendsten gesellschaftlichen Problemen zuwendet.

Der Klimawandel schreitet rasant voran. Die Temperaturen der Ozeane brachen im August 2023 alle Rekorde und wurden bereits im Januar 2024 nochmal überboten (Goar 2024). Im April 2024 wurden nun zum elften Mal in Folge alle Hitzerekorde gerissen, die seit Aufzeichnungsbeginn gemessen wurden (NOAA 2024). Dabei ist die Hitze nicht das einzige Problem. Sechs von neun planetaren Grenzen wurden im Jahr 2023 überschritten, dazu zählen z.B. der Frischwasserverbrauch, die Menge menschengemachter Neueinträge ins Ökosystem, wie Mikroplastik oder radio­aktiver Müll, sowie die Geschwindigkeit des Artensterbens (Richardson et al. 2023). Hauptsächlich verantwortlich für diesen Überschuss sind die reicheren Länder der Erde (O’Neill et al. 2018).

Trotz der vielen großen Klima- und Umweltproteste der letzten Jahre und der gesteigerten öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit für das Thema, scheint das Problem des Überschreitens planetarer Grenzen jedoch nicht kleiner, sondern größer zu werden (z.B. wurde vor 15 Jahren noch nicht zu viel Frischwasser genutzt). Dabei sind das Wissen über den menschengemachten Klimawandel und die Gefahren, die sich dadurch für unsere Gesellschaften ergeben, alles andere als neu (Dixson-Declève et al. 2022). Die Ursachen für diese Krisen sind in kapitalistischen und neo-kolonialen Produktionsverhältnissen angelegt, sodass der Versuch, die imperiale Lebensweise grün anzustreichen, wenig vielversprechend scheint (Lang et al. 2024). Anders ausgedrückt: Solange keine grundsätzliche Transformation stattfindet, wird es nicht ausreichen, einfach Kohle und Öl durch Kobalt und Lithium zu ersetzen.

Denn der sogenannte »grüne Extraktivismus« bedroht die Umwelt durch die Intensivierung des Abbaus von Lithium und Kobalt – und zwar nicht nur im Kongo und in Chile, sondern auch in Europa, z.B. Serbien (Baletic 2024) und Finnland (Vidal 2014), sowie in den letzten vom Menschen unberührten Regionen des Ozeans (Crane et al. 2024). Es gibt auch bereits erste Beispiele aus Europa, die zeigen, wie bei der Erschließung neuer Minen die Sorgen der Betroffenen umgangen und diese unterschwellig beeinflusst werden (Dunlap und Riquito 2023).

Ein weiteres Problem besteht darin, dass durch die Umstellung auf regenerativ erzeugten Strom der Energiehunger der Städte nicht mehr in der direkten Umgebung gestillt werden kann. Am wachsenden Widerstand gegen Windkraftanlagen und andere grüne Transformationsprojekte auf dem Land, können wir bereits das Konfliktpotenzial erahnen, welches daraus entsteht. Dies führt die Umwelt- und Sozialpsychologie in ein moralisches Dilemma: Soll sie dabei helfen, die Widerstände auf dem Weg zum grünen Wachstum aus dem Weg zu räumen? Oder muss sie selbst zum Teil des Widerstands gegen ein »Weiter-so« werden, indem sie das Prinzip des unbegrenzten Wachstums hinterfragt?

Gibt es richtige Psychologie im Falschen?

Dieses Dilemma hebt hervor, dass es wichtig ist zu hinterfragen, welche Ziele Wissenschaft verfolgt bzw. verfolgen sollte. Wagner schrieb hierzu in W&F, dass „[d]ie Angemessenheit von Zielen […] sich in der Regel nicht empirisch ermitteln [lässt], sie folgen vielmehr aus ethisch-moralischen Überlegungen und demokratischen politischen Entscheidungen“ (ebd. 2023, S. 34). Ich stimme mit dieser Perspektive größtenteils überein, da auch eine Technokratie (also eine Regierungsform, die vornehmlich auf Basis vermeintlich neutraler wissenschaftlicher Erkenntnisse handelt) keine befreite Gesellschaftsform wäre. Allerdings erhebe ich zwei zentrale Einwände, oder besser: Ergänzungen.

Zunächst ist der Anspruch, etwas „empirisch zu ermitteln“, für die Psychologie nicht trivial. Dies geht über die auch von Wagner (ebd., S. 32) angesprochene Replikationskrise (das Problem, dass sich viele klassische Forschungsergebnisse in neuen, besser ausgerüsteten Studien nicht wiederfinden lassen) in der Psychologie hinaus. Denn es herrscht alles andere als Einstimmigkeit darüber, was aus dieser Krise zu lernen sei. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die fehlende Replikationsfähigkeit zentraler psychologischer Befunde zum Anlass nehmen, um die wissenschaftliche Qualität der in der Psychologie verbreiteten Methoden zu kritisieren und eine noch größere Rigorosität (oder Strenge) im Forschungs- und Publikationsprozess zu fordern (z.B. Shrout und Rodgers 2018). In dieser Position wird der Wetteinsatz darauf also verdoppelt, dass man sich nah genug an objektive Wahrheiten annähern können wird, indem die Standards der vorhandenen Forschungsmethoden verbessert werden.

Auf der anderen Seite stehen die Autor*innen der Position, die eine Verdrängung und weitere Abwertung von ohnehin schon marginalisierten Methoden des Erkenntnisgewinns fürchten, wenn nur noch »westlich« definierte wissenschaftliche Standards in der psychologischen Forschung als »Wissenschaft« qualifizieren (Abo-Zena et al. 2022). In einer verwandten Position wird für eine erkenntnistheoretische Neuorientierung geworben, welche zum Beispiel stärker in den Vordergrund rückt, dass psychologisches Wissen und psychologische Prozesse immer in Interaktion mit der Umwelt (ent-)stehen (für mehr Details, siehe Power et al. 2023). Anders ausgedrückt: Durch die Verbreitung neuer Erkenntnisse wirkt psychologische Wissenschaft auf die Gesellschaft ein und verändert somit ihren eigenen Untersuchungsgegenstand (Gergen 1973). Die gescheiterten Versuche, Ergebnisse früherer Forschung zu replizieren, könnten also auch darauf zurückgehen, dass sich die Spielregeln verändert haben und Menschen heute anders »ticken« als damals. Dass diese Diskussionen aktuell verstärkt geführt werden, ist ein wichtiges Zeichen für die »Gesundheit« psychologischer Forschung.

Darüber hinaus ist meiner Meinung nach die Frage nach der »Angemessenheit von Zielen« nicht nur ethisch-moralischen Überlegungen und politischen Entscheidungsprozessen zu überlassen, sondern sie spielt auch ganz konkret in Forschung und Praxis eine wichtige Rolle. Für die Umweltpsychologie läuft dies auf das Hinterfragen des ihr zugrundeliegenden Menschenbilds hinaus (Prilleltensky 1997): Sind Menschen von Natur aus nicht in der Lage, sich an die komplexen Anforderungen der Klimakrise anzupassen und müssen daher, sozusagen von oben herab, zu »angemessenem« Verhalten verleitet werden (wie z.B. beim Konzept des »Nudging« [Anstupsens])? Oder sind diese Handlungsbarrieren am Ende weniger in der menschlichen Psyche zu finden, als im neoliberal gefärbten Blick des Forschungsfeldes, welches dazu tendiert, strukturelle Rahmenbedingungen bei der Analyse individuellen Verhaltens auszublenden? Die Antwort auf diese Frage hat konkrete Auswirkungen darauf, welche Art von Forschung man betreibt.

Unter Beachtung dieser beiden Ergänzungen, möchte ich in Antwort auf Wagners (2023) Frage, wie Friedenspsychologie aussehen soll, vorschlagen: Friedenspsychologie muss den Mut aufbringen, in die von ihr untersuchten Menschen zu vertrauen. Wenn wir anerkennen, dass menschliche Gesellschaften sich ständig neu erfinden, um sich an ihre Umgebung anzupassen (siehe Graeber und Wengrow 2021), dann sollte nicht die Steuerung menschlichen Verhaltens, sondern die Befreiung menschlicher Gesellschaften das Ziel sein. Diese zentrale Idee der Befreiungspsychologie (Martín-Baró 1996) fußt auf der Erkenntnis, dass die Förderung gleichberechtigten Zugangs und gerechter Teilhabe Grundbedingungen für menschliches Wohlbefinden sind (Prilleltensky 2012). Diese emanzipatorische Idee können wir nutzen, um präfigurative Proteste zu verstehen, die in der Psychologie bisher kaum Beachtung finden, und das Potenzial von Präfiguration im Kontext der Friedenspsychologie analysieren.

Präfiguration verstehen

Präfiguration, im Sinne der Sozial- und Politikwissenschaften, bezeichnet die Vorwegnahme erstrebenswerter gesellschaftlicher Verhältnisse im Hier und Jetzt. Diese Vorwegnahme ist zwar einerseits zum Scheitern verurteilt, da der gewünschte zukünftige Zustand ja in Wirklichkeit noch nicht eingetreten ist und darum viele Kräfte dem Vorhaben entgegenwirken werden. Andererseits ist das Scheitern selbst zentraler Teil des freudigen Experimentierens mit Alternativen (Malherbe 2023). Man könnte Präfiguration also als eine Art gesellschaftliche Alchemie bezeichnen: Sie wird niemals Gold erfinden und doch ist sie unsere beste Chance, durch neugierige Neukombination des Bekannten neue Potenziale zu entdecken.

Beispiele für präfigurative Aktionen gibt es zuhauf. Sie sind oft dezentral organisiert, wie die »Transition Towns«-Bewegung, welche lokale Gruppen unterstützt, die sich vor Ort für eine Verbesserung der Lebensqualität in den Städten einsetzen. Oft bewegen sich präfigurative Aktionen am Rande des Gesetzes und fordern damit gesellschaftliche Normen heraus, wie zum Beispiel die Besetzung des Hambacher Forsts durch die Gruppe »Ende Gelände«. Gewalt ist aber ausgeschlossen, denn Präfiguration, verstanden als direkte politische Aktion, hat immer eine konstruktive Komponente. Es geht also nicht (nur) um das (Zer-)Stören von Bestehendem, sondern vor allem um das Praktizieren von Neuem. Dies unterscheidet sie z.B. von den Aktionen der »Letzten Generation« aber auch vom Ökofaschismus, gerade weil letztere Bewegungen nicht fortschrittlich, sondern regressiv sind, da sie bereits Gelerntes verraten und es wider besseren Wissens noch einmal probieren (siehe Jaeggi 2023).

Wie können solche gesellschaftlichen Experimente jedoch jemals etwas verändern? Präfiguration ist tatsächlich nur ein (aber ein wichtiges) Puzzlestück im politischen Prozess, neben institutionalisierter Politik und indirekteren Formen des Protests, wie z.B. Kundgebungen (Schiller-Merkens 2022). Soziale Systeme sind dazu da, Stabilität zu wahren, und daher von Natur aus widerstandsfähig gegen ein Aufbegehren nach sozialen Veränderungen. Dementsprechend tritt Veränderung infolge von Protesten nur dann ein, wenn diese das System ausreichend stören und so „aufbrechen“ (Leach et al. 2024). Ein wichtiger Abwehrmechanismus sozialer Systeme gegen Veränderung ist die in ihnen herrschende und von ihnen vorausgesetzte normative Annahme, dass der Ist-Zustand alternativlos oder wenigstens das geringste Übel sei.

Präfiguration kann genau hier ansetzen. Denn durch die »freche« Praktizierung von Alternativen können diese einen Kontrapunkt zur wahrgenommenen Alternativlosigkeit des Ist-Zustands setzen, ein neuer Zustand des „nicht nicht aber noch nicht“ (Swain 2019). Zusammengefasst kann Präfiguration also dabei helfen, neue Gesellschaftsideen zu entwickeln, diese durch das Ausprobieren zu veranschaulichen und letztendlich die Gefahr reduzieren, dass das gefährliche Dehnen des Ist-Zustands als alternativlos gegenüber dem Rückgriff auf bereits gescheiterte Experimente erscheint.

Grundpfeiler einer präfigu­rativen Friedenspsychologie

Aus dem Obigen ergeben sich drei Grundpfeiler einer Agenda für präfigurative Friedenspsychologie:

  • Erstens sollte die Institution der Friedenspsychologie den Mut haben, präfigurative Zwischenräume vorzubereiten. Hier kommt Herausgeber*innen von Journals ganz besondere Verantwortung zu. Denn sie können den Platz für Forschungsansätze und -methoden schaffen, die nicht dem Mainstream entsprechen. Nicht-kommerzielle Open-Access-Journals sowie frei verfügbare und partizipative Wissensdatenbanken (z.B. Wikipedia, archive.org) sind ebenfalls langlebige präfigurative Projekte mit starker wissenschaftlicher Anbindung. Darüber hinaus kommt dem Professorium eine besondere Macht und damit Verantwortung zu, Gelegenheiten für studentische Präfiguration zu schaffen und zu schützen.
  • Zweitens sollte präfigurative Friedenspsychologie sich neugierig der Findung von Lösungsideen für akute gesellschaftliche Probleme zuwenden. Dies heißt auch, sich ein wenig von Popper’schen Traditionen des Falsifizierens zu lösen und stattdessen aktiv am politischen Prozess mitzuwirken. Ein aktuelles Beispiel solchen Forschens kommt von Nick Malherbe (2023), der Debatten über die Rolle des Staates in prekären anar­chistischen Gemeinschaftsprojekten in Süd­afrika untersucht hat. Darüber hinaus kann auch die öffentliche politische Positionierung wissenschaftlichen Personals dabei helfen, gemeinschaftliche Werte zu schützen. Die jüngste Affäre um die Listenführung über kritische Wissenschaftler*innen beim BMBF zeigt eindrucksvoll, dass das Unterzeichnen offener Briefe durchaus emanzipatorisches Potenzial hat.
  • Drittens kann präfigurative Friedenspsychologie auf kreative Weise gesellschaftliche Utopien (mit-)entwickeln und testen. Diese können im öffentlichen Raum durch partizipative Forschung ethnografisch erforscht oder auch im Labor unter kontrollierten Bedingungen geprüft werden. Wichtig dabei ist die bewusste Unterscheidung zwischen dem Ziel der Verhaltenssteuerung und dem Ziel der Verhaltensbefreiung. Präfigurative Friedenspsychologie könnte also zum Beispiel untersuchen, welche Rahmenbedingungen kreatives und experimentierfreudiges politisches Verhalten fördern, sowie die Gruppenprozesse analysieren, die zu diesen Phasen der Selbstermächtigung führen. Beispiele aus aktueller Forschung sind Untersuchungen zur Auswirkung der kognitiven Verfügbarkeit „grüner Utopien“ (Daysh et al. 2024) und zu den mobilisierenden Effekten kollektiver Wirksamkeitserwartungen und positiver Emotionen (Landmann und Naumann 2024).

Das Stärken dieser Grundpfeiler wird naturgemäß auf viel institutionalisierten Gegenwind stoßen. Insbesondere junge Wissenschaftler*innen brauchen Publikationen und Zitationen für ihre wissenschaftliche Karriere. Sie müssen daher besonders überlegen, inwiefern sie mit ihren Forschungsideen den Mainstream herausfordern wollen, und haben wenig Zeit für Experimente. Sie profitieren darum enorm von Unterstützung aus professoralen Rängen, sowie von intensiver Vernetzung. Aber auch außerhalb der universitären Strukturen gibt es Möglichkeiten für Friedenspsycholog*innen sich einzusetzen, zum Beispiel in sogenannten »Solidarity Academies« (etwa: Solidarische Akademien). Dies sind akademische Gegenräume, die sich z.B. im Rahmen des Protests gegen die Gewalt gegen Kurd*innen und deren Repression an Universitäten gründeten und ihnen akademisches Leben und Lernen ermöglichen. Auch zahlreiche indigene Universitäten, wie zum Beispiel »Ixil University« in Guatemala oder »Te Wānanga o Aotearoa« in Neuseeland/Aotearoa, ermöglichen emanzipatorische Bildung in Gegenbewegung zu kolonialer Hegemonie. Von diesen Beispielen kann man viel über die Wirkmacht von Kollektiven lernen, die sich nicht versuchen, in den Staat einzufügen, und stattdessen identifizierte Leerstellen eigenmächtig füllen.

Fazit

Wie soll Friedenspsychologie aussehen? In diesem Beitrag habe ich einige Beobachtungen und Argumente zum Wert einer präfigurativen Friedenspsychologie zusammengestellt, wobei ich mich insbesondere auf die Anwendungsbereiche der Sozial- und Umweltpsychologie konzentriert habe. Nun ist alles vorbereitet für den Versuch einer knappen persönlichen Antwort: Friedenspsychologie muss unbequem und hoffnungsvoll sein. Sie darf sich nicht scheuen, eine politische Ausrichtung zu haben, da diese sowieso unvermeidbar ist. Und sie sollte den zentralen Wert der partizipativen Parität für die gesellschaftliche Befreiung immer im Blick behalten. Diese Form »aktivistischer Wissenschaft« wird sicher kontrovers aufgenommen werden. Aber dies ist genau der Knackpunkt: Friedenspsycholog*innen müssen nicht unbedingt friedliche Psycholog*innen sein.2 Stattdessen sollten sie sich trauen, den Widerstand in Widerstandsfähigkeit groß zu schreiben.

Anmerkungen

1) Ich danke Tijana Karić, Ulrich Wagner, J. Christopher Cohrs, Helen Landmann, David Scheuing und Stefanie Hechler für ihre hilfreichen Kommentare und Anregungen zu einer frühen Version dieses Beitrags.

2) Diese rhetorische Zuspitzung verdanke ich Tijana Karić.

Literatur

Abo-Zena, M. M.; Jones, K.; Mattis, J. (2022): Dismantling the master’s house: Decolonizing “Rigor” in psychological scholarship. Journal of Social Issues 78(2), S. 298-319.

Baletic, K. (2024): Chinese mining giant expands in Serbia despite pollution fears. BalkanInsight, 11.4.2024.

Crane, R.; Laing, C.; Littler, K.; Moore, K.; Roberts, C.; Thompson, K.; Vogt, D.; Scourse, J. (2024): Deep-sea mining poses an unjustifiable environmental risk. Nature Sustainability, DOI: 10.1038/s41893-024-01326-6.

Daysh, S.; Thomas, E. F.; Lizzio-Wilson, M.; Bird, L.; Wenzel, M. (2024): “The future will be green, or not at all”: How positive (utopian) and negative (dystopian) thoughts about the future shape collective climate action. Global Environmental Psychology 2, e11153.

Dixson-Declève, S.; Gaffney, O.; Ghosh, J.; Randers, J.; Rockström, J.; Stoknes, P. E. (2022): Earth for all: Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach ‘Die Grenzen des Wachstums’. München: oekom.

Dunlap, A.; Riquito, M. (2023): Social warfare for lithium extraction? Open-pit lithium mining, counterinsurgency tactics and enforcing green extractivism in northern Portugal. Energy Research & Social Science 95, 102912.

Gergen, K. J. (1973): Social psychology as history. Journal of Personality and Social Psychology 26(2), S. 309-320.

Goar, M. (2024): Ocean temperatures reach impressive and worrying record levels. Le Monde, 1.2.2024.

Graeber, D.; Wengrow, D. (2021): The dawn of everything: A new history of humanity. New York: Farrar, Straus and Giroux.

Jaeggi, R. (2023): Fortschritt und Regression. Berlin: Suhrkamp.

Landmann, H.; Naumann, J. (2024): Being positively moved by climate protest predicts peaceful collective action. Global Environmental Psychology 2, e11113.

Lang, M.; Manahan, M. A.; Bringel, B. (Hrsg.) (2024): The geopolitics of green colonialism: Global justice and ecosocial transitions. London: Pluto Press.

Leach, C. W.; Ferguson, S. T.; Teixeira, C. P. (2024): Protest now: A systems view of 21st century movements. Group Processes & Intergroup Relations, 13684302241245660.

Malherbe, N. (2023): Returning community psychology to the insights of anarchism: Fragments and prefiguration. Journal of Social and Political Psychology 11(1), S. 212-228.

Martín-Baró, I. (1996): Writings for a liberation psychology. Cambridge: Harvard University Press.

NOAA (2024): April 2024 was Earth’s warmest on record. National Oceanic and Atmospheric Administration, Pressemitteilung, 14.5.2024.

O’Neill, D. W.; Fanning, A. L.; Lamb, W. F.; Steinberger, J. K. (2018): A good life for all within planetary boundaries. Nature Sustainability 1(2), S. 88-95.

Power, S. A., Zittoun, T., Akkerman, S., Wagoner, B., Cabra, M., Cornish, F., Hawlina, H., Heasman, B., Mahendran, K., Psaltis, C., Rajala, A., Veale, A., & Gillespie, A. (2023): Social Psychology of and for world-making. Personality and Social Psychology Review 27(4), S. 378-392.

Prilleltensky, I. (1997): Values, assumptions, and practices: Assessing the moral implications of psychological discourse and action. American Psychologist 52(5), S. 517-535.

Prilleltensky, I. (2012): Wellness as fairness. American Journal of Community Psychology 49(1-2), S. 1-21.

Richardson, K., et al. (2023): Earth beyond six of nine planetary boundaries. Science Advances 9(37), eadh2458.

Schiller-Merkens, S. (2022): Social transformation through prefiguration? A multi-political approach of prefiguring alternative infrastructures. Historical Social Research / Historische Sozialforschung 47(4), S. 66-90.

Shrout, P. E.; Rodgers, J. L. (2018): Psychology, science, and knowledge construction: Broadening perspectives from the replication crisis. Annual Review of Psychology 69, S. 487-510.

Swain, D. (2019): Not not but not yet: Present and future in prefigurative politics. Political Studies 67(1), S. 47-62.

Vidal, J. (2014): Mining threatens to eat up northern Europe’s last wilderness. The Guardian, 3.9.2014.

Wagner, U. (2023): Wir brauchen Friedenspsychologie! Aber wie soll die aussehen? W&F 4/2023, S. 32-34.

Frank Eckerle ist promovierter Sozialpsychologe. In seiner Promotion (angeleitet von J. Christopher Cohrs und Maja Kutlaca) beschäftigte er sich mit dem Thema, inwiefern Moralität Menschen mit sozialen Privilegien zu politischer Solidarität motivieren kann. Diese schloss er 2023 an der Philipps-Universität Marburg ab. Seit Juni 2024 arbeitet er als PostDoc an der Universität Klagenfurt.

Beitragsreihe Forum Friedenspsychologie

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Dieser Text ist Teil einer fünfteiligen Serie »Friedenspsychologie in unfriedlichen Zeiten« des FFP, die mit Stefanie Hechler und Thomas Kessler in Ausgabe 2/2024 begonnen hat. Die Autor*innen der Reihe präsentieren in ihren Texten ihre je eigenen Visionen und Impulse für die Friedenspsychologie.

Die Reihe soll auch in 2025 fortgesetzt werden. Bei Interesse bitte mit dem Forum Friedenspsychologie in Kontakt treten: forum@friedenspsychologie.de

Mehr zum FFP: friedenspsychologie.de

Radikal gewaltfrei

Radikal gewaltfrei

Zu den Wirkungsbedingungen disruptiver Proteste

von Jannis J. Grimm

Bewegungen weltweit wenden unterschiedliche Ausprägungen von zivilem Ungehorsam an, die zum Teil mit hegemonialen Formverständnissen von Protest brechen und ein radikales Element bergen. Gleichzeitig ist die Bewertung dieser Proteste geformt von liberalen Lesarten historischer Vorbilder. Radikaler und disruptiver Protest wird dadurch oft als Gegenpol zu gewaltfreiem und demokratischem Protest missverstanden. Doch eine historische Bestandsaufnahme zeigt, dass diese Unterscheidung weder zutreffend ist, noch geeignet, um über die Legitimität von zivilen Widerstandskämpfen zu entscheiden. Für die gesellschaftliche Wirksamkeit von Protest kann sie allerdings dramatische Auswirkungen haben.

Protest sieht nicht überall gleich aus und wirkt auch nicht überall auf dieselbe Art und Weise. Was in einem anderen Kontext als gewaltfreier Massenwiderstand gefeiert wird, würde hierzulande häufig als extrem disruptiv oder sogar gewaltsam und deshalb als illegitim verstanden. Hierfür liefern Volksaufstände wie 2022/23 im Iran oder 2010/11 in der arabischen Welt1 gute Beispiele, welche zwar überwiegend von friedlichem Protest bestimmt waren, jedoch allesamt auch mit teils sehr gewaltsamen Aktionen einhergingen – von Straßenschlachten, über Brandanschläge auf Regierungsgebäude und Polizeistationen, bis hin zu bewaffneter Gegenwehr. Der Zweck heiligt diese Mittel, mag man nun argumentieren und auf den autoritären Regimekontext verweisen, innerhalb dessen diese Proteste stattfanden und den selbige zu beseitigen suchten. Doch wenn dem so wäre, woher käme dann die Entrüstung über die »Klimakleber«, die mit deutlich weniger konfrontativen Mitteln im Grunde ja nur auf eines der größten Probleme unserer Zeit aufmerksam machen? Oder über die Proteste in Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung, welche sich mit überwiegend friedlichen Mitteln vor allem gegen eine seit Jahrzehnten fortbestehende Besatzungssituation richten und auf eine konsequente Anwendung des Völkerrechts pochen?

Prämissen des gewaltfreien Widerstands

Die unterschiedliche Wahrnehmung von sozialer Mobilisierung weltweit konfrontiert Aktivist*innen wie Protestforscher*innen mit der Frage, unter welchen Bedingungen disruptiver Protest – also Spielarten des zivilen Widerstands, welche mit Erwartungshaltungen an die Form von Protesten brechen und bei denen durch bewusste Störungen der öffentlichen Ordnung oder Unterbrechung alltäglicher Abläufe auf Anliegen aufmerksam gemacht werden soll – die Ziele sozialer Bewegungen befördert. Welches Verhältnis besteht also zwischen Disruption, Gewalt(-freiheit), Radikalität und sozialem Wandel? Ist Protest, um wirksam zu sein, auf maximale Irritations- und Störwirkung angewiesen, oder wird sein Potenzial hierdurch mitunter begrenzt? Ab wann werden zivilgesellschaftliche Akteure und ihre direkten Aktionen als zu radikal oder sogar als gewaltsam wahrgenommen und dadurch Mobilisierungspotenziale begrenzt?

Die medialen Kontroversen um die »Letzte Generation« und die Solidaritätsproteste mit Palästina haben diese Fragen hierzulande ins Zentrum der sozialen Bewegungsforschung gerückt. Sie bilden einen guten Ausgangspunkt, um die im Kontext historischer Massenbewegungen entwickelten Theorien des zivilen Widerstands und ihre Prämissen mit Blick auf Proteste der Gegenwart kritisch zu beleuchten.

Wie wenig andere Bewegungen stützte sich die Letzte Generation zur Legitimation ihrer Taktiken ganz explizit auf Theorien des zivilen Ungehorsams, und auch eine Reihe von Palästina-Solidaritätsgruppen zitieren die Arbeiten historischer Vordenker*innen des zivilen Widerstands, darunter vor allem Gene Sharp, Brian Martin und Erica Chenoweth. Ersterer inspirierte vor allem den Begriff des „politischen Jiu-Jitsu“ (Sharp 1973), der als grundlegender Wirkungsmechanismus zivilen Widerstands angenommen wird. Die Idee: Wenn es gelingt, durch gewaltfreie kollektive Aktionen überzogene Gegenreaktionen zu provozieren, ohne dass diese überzeugend legitimiert werden, dann schwächt dies die moralische Autorität derjenigen, die Repression ausüben. Wie beim Jiu-Jitsu nutzt man also die Energie des politischen Gegners für sich. Der moralische Schock, den die Öffentlichkeit über unverhältnismäßige Gewaltanwendung empfindet, so die Annahme, wird zum Mobilisierungsmechanismus.

Brian Martin (2007) prägte hierfür den Begriff des „backfire“, das heißt: Repression geht nach hinten los, erzeugt das Gegenteil des intendierten Effekts. Den empirisch belastbarsten Beleg für den von Sharp und Martin postulierten Wirkungszusammenhang lieferten schließlich Erica Chenoweth und Maria Stephan (2011). Mit ihrem NAVCO-Datensatz zu den Erfolgsbedingungen gewaltfreier und gewaltsamer Mobilisierungskampagnen im letzten Jahrhundert legten sie den Grundstein für das damals kontraintuitive, heute aber kaum noch hinterfragte Dogma von der Überlegenheit friedfertigen Protests gegenüber bewaffnetem Widerstand. Zwar hat diese Annahme in den jüngsten Jahren Kritik erfahren (Onken et al. 2021, für eine kritische Bestandsaufnahme unterschiedlicher Datenbanken zu quantitativer Bewegungsforschung siehe auch Nennstiel in dieser Ausgabe, S. 12) und ist jenseits von Volksaufständen in autoritären Kontexten nur schwach belegt, doch prägt sie weiterhin das Kalkül von Protestakteuren weltweit, die durch zivilen Ungehorsam gesellschaftlichen Wandel anstoßen wollen.

Aufmerksamkeit: Zur Notwendigkeit von Disruption

Die Arbeiten von Chenoweth und ihren Vorreiter*innen stellten eindrucksvoll frühere Paradigmen von der Effizienz bewaffneter Aufstandsbewegungen auf den Kopf: Historisch gesehen weisen gewaltfreie Kampagnen gegenüber gemischten und gewalttätigen eine annähernd doppelt so hohe Erfolgsrate auf, indem sie Loyalitätsbrüche innerhalb des Establishments erzeugen und die Kosten von Repression in die Höhe treiben. Dass diese Mechanismen auch bei kleineren sozialen Bewegungen greifen, setzt indes zumindest eine Grundbedingung voraus: Sie müssen überhaupt erst einmal als relevant wahrgenommen werden. Massenproteste erzeugen allein aufgrund ihrer hohen Beteiligung und ihres Medienechos zumeist ein gewisses Ausmaß an Disruption. Vor diesem Hintergrund liegt für Chenoweth und Co. auch der Schluss nahe, dass soziale Bewegungen alle Praktiken, die als gewaltsam interpretiert werden könnten, besser unterlassen sollten, um ihren Erfolg nicht zu gefährden. Demgegenüber haben es kollektive Aktionen unterhalb der Schwelle von Massenprotest deutlich schwerer, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie sind daher, ganz im Gegenteil, gerade auf Disruption angewiesen, um überhaupt eine Reaktion zu erzeugen.

Ebenso ist Chenoweths These, dass auch „radikale Flanken“ (Haines 2013) von Bewegungen ihren Protest gemäß den gesellschaftlichen Bedingungen für die Akzeptanz von Protest gestalten müssten, für solche kleineren Protestformen nur schwer haltbar – gerade, wenn man bedenkt, dass soziale Bewegungen den Diskurs über die Grenzen legitimen Widerstands mitprägen und durch ihr Handeln immer wieder neu formen, wie nicht zuletzt auch die historischen Vorreiter des zivilen Widerstands zeigen. Protestierende müssen hierfür dahin gehen, wo es einer Gesellschaft »weh tut« – und setzen sich damit auch dem Risiko aus, als gewaltsam empfunden zu werden.

Dies ist die Logik von zivilem Ungehorsam und radikalem Protest. Bürger*innen nehmen hier in Abgrenzung zu anderen Formen des Protests den Bruch von Gesetzen in Kauf, was eine höhere Risikobereitschaft voraussetzt. Dies geschieht meist in Form von direkter Aktion – also Maßnahmen wie Besetzungen, Boykotte, Nichterfüllung oder Sabotage, die darauf abzielen, durch direkt zugefügte Kosten unmittelbaren politischen Einfluss auf Gegenspieler*innen oder die breitere Gesellschaft zu nehmen. Ein Mindestmaß an Disruption ist dabei essenziell, vor allem bei themenspezifischen Protesten. Nur so verhindern Protestierende, schlichtweg ignoriert zu werden. Robin Celikates zufolge hängt die Wirkung gerade von zivilem Ungehorsam in entscheidendem Maße davon ab, wie effektiv das Konfrontationsmoment ist, das er erzeugt. Protest „kann nur dann als symbolischer Protest funktionieren, wenn er Momente der realen Konfrontation beinhaltet, Praktiken wie Blockaden und Besetzungen, die manchmal auch Gewaltelemente enthalten“ (Celikates 2016, S. 43).

Eine solche Verquickung von Disruption und zivilem Ungehorsam als einem zentralen Pfeiler demokratischer Praxis mag zunächst überraschen, läuft sie doch der allgemeinen Debatte zuwider, die vor allem vor der normativen Schablone liberaler Demokratievorstellungen geführt wird. Darin wird legitimer Protest zumeist auf legale und angemeldete Demonstrationen im Rahmen des geltenden Versammlungsrechts reduziert, oder aber in Anlehnung an liberale Auffassungen von zivilem Ungehorsam auf einen symbolischen Regelbruch mit appellativem Charakter an eine demokratische Mehrheitsgesellschaft. Doch wird diese gängige Sichtweise des zivilen Ungehorsams, welche über konfrontative Taktiken hinwegblendet, der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht. Disruption bis hin zu Sachbeschädigung und Blockaden sind seit je her ein wesentlicher Bestandteil des zivilen Widerstands, etwa der indischen Freiheitsbewegung um Gandhi, der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King Jr. und der Suffragetten, kommen aber auch in gegenwärtigen Bewegungen wie »Occupy«, »Black Lives Matter« oder auch »Extinction Rebellion« und »Letzte Generation « in unterschiedlicher Ausprägung vor.

Candice Delmas plädiert vor diesem Hintergrund ganz explizit dafür, nicht nur »zivile« Protestformen als legitim wahrzunehmen, sondern auch »unzivile«, einschließlich Sabotage, der Zerstörung von Eigentum, der Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung, verdeckter Guerilla-Aktionen, oder ungeplanter kollektiver Mobilisierungsformen wie Riots (Delmas 2018). Sie stellt die problematische Vorstellung von der Neutralität des Status quo und die Fehlannahme, es gäbe doch immer andere, zivilere und weniger disruptive Wege, Dissens auszudrücken, in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Legitimation von zivilem Ungehorsam. Viele von Gewalt Betroffene, so Delmas, verfügten de facto über gar kein anderes Mittel, um auf soziale Missstände hinzuweisen – und schon gar nicht über effektivere. Eine prinzipielle Delegitimierung ihres Widerstands gelte es daher abzulehnen. Vielmehr sei für Bewegungen des zivilen Ungehorsams vor allem charakteristisch, dass es ihnen nicht nur darum gehe, ein bestehendes System der Ungerechtigkeit zu reformieren, sondern es grundlegend umzuwälzen. Ihre prinzipielle Ablehnung von Gewalt stellt dabei nicht etwa nur einen moralischen Appell an das Gewissen der schweigenden Mehrheit dar. Vielmehr setzen Bürgerrechtsaktivist*innen einem als gewaltsam und unmoralisch empfundenen System eine höhere eigene Moral entgegen.

Die jüngere kritische Forschung stellt vor diesem Hintergrund vor allem den antikolonialen Charakter von zivilen Widerstandsbewegungen heraus (Pineda 2022; Souza dos Santos 2024; Chabot und Vint­hagen 2015). Sie wirft dabei eine alternative Sichtweise auf: Ziviler Ungehorsam wird hier gefasst als eine transnationale und weltbildende Aktivität, die immer schon globale koloniale oder neokoloniale Herrschaftsstrukturen adressierte. So verstanden wird die binäre Unterscheidung zwischen Protest in demokratischen und nicht-demokratischen Staaten in Frage gestellt, die von liberalen Theorien des zivilen Ungehorsams vorangetrieben wird (Çıdam et al. 2020) – und damit die grundlegende Annahme, dass in diesen unterschiedlichen Regimekontexten eben auch unterschiedliche Formen des Widerstands legitim sind.

Diese alternative Konzeptualisierung des zivilen Ungehorsams erlaubt uns insbesondere, ungehorsame Praktiken in den Blick zu nehmen, die in demokratischen Gesellschaften stattfinden, ihren moralischen Appell aber nicht an diese Gesellschaften, sondern an eine transnationale Gemeinschaft richten – etwa militante anarchistische Netzwerke gegen Grenzen, Solidaritätsbewegungen mit staatenlosen Völkern oder internationale Boykottbewegungen. Darüber hinaus schließt sie auch disruptive Protestpraktiken außerhalb liberaldemokratischer Regime ein, die an eine lokale oder globale moralische Resonanzstruktur appellieren – von feministischem und queerem Aktivismus im Kontext patriarchaler Gesellschaften, über transnationale kurdische »Survivance«-Praktiken (Burç et al. 2022), bis hin zum illegalen Pflücken traditioneller Kräuter durch palästinensische Frauen als einer alltäglichen Widerstandshandlung gegen die israelische Besatzung (Manna 2022).

Verzicht auf Gewalt allein reicht nicht

Disruption ist also nicht nur rechtfertigbar, sondern essenziell. Gleichzeitig bildet Gewaltlosigkeit aber eine Voraussetzung für die von Sharp und Martin thematisieren Wirkungsmechanismen zivilen Ungehorsams – ein Dilemma? Nicht unbedingt. Denn vor diesem Hintergrund sind die Trainings in Deeskalation und Aggressionskontrolle zu verstehen, denen sich Bewegungen des zivilen Widerstands seit Generationen bewusst unterziehen. Ungehorsame sollen dadurch befähigt werden, entwürdigende Behandlung und im Zweifel auch physische Leiderfahrung zu ertragen. Denn Gegengewalt riskiert, den politischen Kampf direkt auf ein Spielfeld zu tragen, auf dem repressive Akteur*innen meist besser aufgestellt sind und über ein Monopol auf legitime Gewaltanwendung verfügen. Überdies verlieren zivilgesellschaftliche Akteure bei Gewaltanwendung in den Augen der Öffentlichkeit schnell die moralische Oberhand.

Denn gewaltsame Selbstverteidigung oder Vergeltung gegen brutale Repression untergräbt das moralische Schockempfinden und erzeugt im besten Fall den Eindruck eines Konflikts auf Augenhöhe, im schlechtesten rechtfertigt es noch schärfere Repressionen. Auch die langfristigen Effekte von zivilem Ungehorsam werden dadurch untergraben. Ziviler Ungehorsam will nicht nur Gesetze reformieren, sondern auch moralische Veränderungen bei seinem Publikum bewirken (Brownlee 2004). Christian Volk (2022) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass ziviler Ungehorsam als Beitrag zur Demokratisierung der sozialen Ordnung interpretierbar sein muss. Entscheidend ist dafür nicht zwangsläufig, dass Protest rein symbolischer Natur sein muss, oder »zivilisiert« bleibt. Sondern, so Robin Celikates (2016), dass er sich vor allem einer militärischen Logik verschließt, welche auf die Vernichtung eines (imaginierten) Feindes abzielt. Ist dies nicht der Fall, wird das Spiel mit der Moral riskant und läuft Gefahr, in einer Art sekundärem »backfire«-­Effekt, seinerseits nach hinten loszugehen und Protestbewegungen zu schaden. Die Frage ist insofern „ob die konkrete Aktion, die konkrete Protestbewegung so gestrickt ist, dass sie die Selbstlegitimierung, die mit dem Begriff einhergeht, auch erfüllt“ (Volk und Grimm 2023).

Ein gutes Beispiel hierfür boten zuletzt die Studierendenproteste an Berliner Universitäten gegen den Krieg in Gaza. Dort wiederholte sich ein Ausschnitt der Debatte um die »Klimakleber«, ob die Art des Protests den Anliegen der Protestierenden schadet. Anders als während der Straßenblockaden steht bei den Antikriegsdemonstrationen aber nicht primär das taktische Repertoire (also Hörsaalbesetzungen, Protestcamps etc.) im Vordergrund. Im Gegensatz zu den Klimaprotesten orientieren sich die Antikriegsdemonstrationen sehr viel stärker an konventionellen Protesttaktiken. Ihre Sit-ins und Demonstrationen sind größtenteils als angemeldete oder auch als spontane Demonstrationen verfassungsrechtlich von der Versammlungsfreiheit gedeckt, als kollektive Aktionen handelt es sich bei ihnen nicht um Gesetzesübertretungen. Der Gewaltvorwurf, der ihnen dennoch entgegengebracht wird, entzündet sich daher auch nicht an der Protestform, sondern vor allem an der Symbolik der Bewegung, die von Teilen der Gesellschaft als gewaltverherrlichend (oder zumindest relativierend) wahrgenommen wird.

Insbesondere die Reproduktion des roten Dreiecks, mit dem in Hamas-Propagandavideos Ziele der Qassam-Brigaden markiert werden, als Graffiti wurden in der deutschen Öffentlichkeit als Sympathiebekundung mit dem palästinensischen bewaffneten Kampf sowie als unverhohlene Drohung an Protestgegner verstanden. Die roten Dreiecke brachten auf Instagram zwar oberflächliche Zustimmung (Likes) von einem transnationalen Publikum, im unmittelbaren lokalen Kontext der Proteste untergruben sie aber den moralischen Anspruch der Demonstrierenden, verkomplizierten die Skandalisierung von Polizeigewalt bei der Räumung von Protestcamps und unterminierten letztlich das größere Anliegen der Demonstrierenden. Während die Blockaden von XR, der Letzten Generation oder der britischen Gruppe »Just Stop Oil« Ressentiments gegen die Gruppen selbst produzierten, aber das gesamtgesellschaftliche Problembewusstsein für den Klimawandel steigerten, stellte sich so ein indirekter Effekt bei den Gaza-Protesten nicht ein, da ihr Anliegen immer wieder in Sprache und Symbolik eingebettet war, die innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Resonanzstrukturen keinen Anschluss fanden.

Performative Gewaltfreiheit und Legalität allein reichen also nicht aus, um nicht als gewaltsam wahrgenommen zu werden. Das Beispiel zeigt insofern eindrucksvoll, wie selbst die Legitimität von »zivilisierten« Formen des Protests durch dessen Inhalt und Symbolik konterkariert werden können. Der auch durch mediale Skandalisierung verbreitete Eindruck, die Palästina-Proteste folgten einem dichotomen Freund-Feind-Schema, untergrub im Kontext der Studierendenproteste die breiteren Solidarisierungseffekte, auf welche die Demonstrierenden hofften. Mit Ausnahme der nicht inhaltlichen Solidaritätsbekundungen von Dozent*innen, die das Grundrecht auf Protest an Universitäten verteidigten, blieb der moralische Schock über Polizeigewalt auf dem Campus begrenzt. Auch ein positiver „radikaler Flankeneffekt” (Haines 2013) blieb aus. Hiermit beschreiben Protestforschende den Sympathiezuwachs für moderate Protestakteure, den radikale Taktiken bewirken können: Wenn man den Anliegen radikaler Akteure zustimmt, nicht aber ihren Methoden, kann dies das Engagement moderaterer Akteure für dasselbe Anliegen aufwerten. Diese werden fortan im Kon­trast zu den Radikalen als der vernünftigere Gegenpol wahrgenommen. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Öffentlichkeit klar zwischen beiden Flanken entscheiden kann. Dies war bei den Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg nicht der Fall, wo sich moderatere Protestierende vielerorts nicht explizit von kontroversen Aktionen distanzierten – entweder, um den internen Zusammenhalt der ohnehin stark unter Beschuss stehenden Bewegung nicht zu gefährden, oder auch, da vielen die Einordnung der Bewegungssymbolik als »gewaltsam« im Kontext der Völkerrechtsverletzungen und der extremen Gewalt in Gaza schlichtweg unpassend schien.

Form follows function

Das Beispiel zeigt indes, dass beim Nachdenken über Wirkungsbedingungen von disruptiven Protesten eine getrennte Betrachtung von moralischen und strategischen Fragen sowie eine Berücksichtigung ihres sozialen und geografischen Wirkungskontexts wichtig ist. Es mag richtig sein, dass die Skandalisierung gewisser Aspekte konkreter Protestaktionen – Sachbeschädigung, Graffiti, Verständnis für bewaffneten Kampf etc. – als »Gewalt« stark konstruiert ist. Auch mag sie in keinem Verhältnis stehen zu den Missständen, die der Protest zu adressieren sucht. Ebenfalls mag richtig sein, dass diese Missstände ohne solche medienwirksamen Elemente möglicherweise gar keine Aufmerksamkeit erhalten und dass ohne disruptiven Widerstand ein sehr gewaltvoller Status quo erhalten bleibt – im Kontext der Klima-Proteste das Ausbleiben effektiver Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung; im Kontext der Gaza-Proteste, dass weiter deutsche Waffen an eine Kriegspartei geliefert werden.

Doch ändert dies auf einer praktischen Ebene wenig an der negativen Resonanz gewisser Protestformen in einem sozialen Kontext, der eben jene Missstände ausblendet. Zu Ende gedacht: Disruption und sogar Gewalt mögen – wenn auch nicht ethisch – als Mittel bisweilen sogar durch einen Zweck rechtfertigbar sein. Aber diese Rechtfertigungsgrundlage zerbröckelt sofort, wenn die Mittel aufgrund ihres gesellschaftlichen Wirkungskontextes gar nicht in der Lage sind, diesem Zweck zu dienen. Oder schlimmer, wenn sie anderweitige Bemühungen zur Adressierung eben jener Missstände kompromittieren.

In diesem Falle ginge dann auch beim Versuch, durch provozierte Gegenreaktionen über Bande zu spielen, der Ball ins Leere. Repressionen können dann immer noch Protestteilnehmer*innen in ihrem individuellen Engagement bestärken, oder als kollektive Erfahrungen den Gruppenzusammenhalt einer Bewegung festigen. Aber sie zementieren dabei oft auch Grenzziehungen und bewegungsinterne Narrative, die Bewegungs-Outsider kaum noch mitnehmen und eine breitere gesellschaftliche »Rekrutierung« erschweren. Selbst Robin Celikates (2016), der die Notwendigkeit konfrontativer Momente für die Wirkungsweise von zivilem Ungehorsam betont, unterstreicht, dass Proteste nur dann als breitenwirksame Konfrontationen funktionieren, wenn sich seine Teilnehmer*innen der unabdingbaren symbolischen Dimension ihres Handelns bewusst werden – der Tatsache also, dass Protest immer auch eine Inszenierung ist, die eine Bühne braucht und ein Publikum sucht. Die gesellschaftliche Kontroverse um die Besetzung des Theaterhofs der Freien Universität Berlin zeigt, wie wörtlich diese Metapher zu verstehen ist. Am Ende entscheidet das Publikum darüber, wie gut die Show war.2

Unbeabsichtigte Folgen, begrenzte Kontrolle

Grundsätzlich bringen radikale Aktionen immer auch sekundäre Dynamiken mit sich. Hierzu zählt das Ausbrennen einer Bewegung, wenn immer mehr Mitstreitende von Repression oder Diffamierung belastet sind und jene, die selbst nicht betroffen sind, eine immer größere Organisationslast schultern müssen. Zudem binden juristische Auseinandersetzungen um Gesetzesübertritte im Kontext radikaler Aktionen die ohnehin meist knappen Ressourcen. Auch die Rekrutierung neuer Unterstützer*innen, um Abreibungseffekte zu kompensieren, wird durch fortgesetzte Repression erschwert. Darüber hinaus machen jene, die durch disruptive Taktiken eine überzogene Gegenreaktion auslösen, oft die schmerzliche Erfahrung, dass die provozierten Repressionen besser funktionieren als gedacht, indem sie Organisationsstrukturen zerschlagen, Sympathisant*innen abschrecken und langanhaltende Medienbilder bzw. Vorurteile prägen.

Dies erleben Bewegungen in autoritären Kontexten wie Ägypten, wo ein Massaker der Armee gegen islamistische Demonstrierende nicht etwa Solidaritätseffekte erzeugte, sondern den Weg für eine autokratische Restauration ebnete (Grimm 2022). Aber sie erleben es auch in demokratischen Zusammenhängen wie nach dem G20-Gipfel in Hamburg, als die Bilder brennender Barrikaden im Schanzenviertel den öffentlichen Diskurs zu den Gipfelprotesten prägten und damit der Skandalisierung von Polizeigewalt den Wind aus den Segeln nahmen (Malthaner und Teune 2023) – was sich bis heute beispielsweise in der weitgehend unkritischen Berichterstattung über die »Rondenbarg-Prozesse« als Aburteilung politischer Gewalttäter*innen zeigt, anstatt Taktik und Strategie der Polizei kritisch zu befragen.

Schließlich ist auch bewegungsinterne Radikalisierung als ein Effekt von Konfrontationen gut belegt, d.h. eine Hinwendung von Betroffenen zu Einstellungen, die bisherige politische Denk- und Handlungsmuster radikal in Frage stellen und mit den gängigen Erwartungen an das Verhalten von Protestbewegungen brechen. Dies kann durch eine Hinwendung zu physischer Gewaltanwendung geschehen, wie die Genese dutzender bewaffneter Widerstandsbewegungen – nicht zuletzt auch in der deutschen Geschichte – eindrucksvoll belegt. Die Fragmentierung anfangs friedfertiger Bewegungen und die Entstehung von bewaffneten Gruppen infolge staatlicher Repression, etwa während des arabischen Frühlings (Della Porta et al. 2018), zeigen die Herausforderungen für prinzipiell gewaltfreie Bewegungsakteure, solchen Tendenzen effektiv entgegenzuwirken.

Radikalisierung muss sich aber nicht zwingend in der Legitimierung von Gewalt als Mittel des politischen Kampfes äußern. Im Gegenteil kann gerade die Entscheidung, gewaltfrei zu bleiben, viel radikaler sein als der Griff zur Waffe, wie die Forschung zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aufzeigt. In einem Kontext, der geprägt war von gewaltsamer Unterdrückung, Ausbeutung und der klandestinen Gewalt rassistischer Milizen, stellte gerade die Schwarze Friedfertigkeit einen Bruch mit den etablierten Konfliktmodi dar (Pineda 2021). Radikalisierung lässt sich in dieser Perspektive also vor allem als eine gegenhegemoniale Tendenz beschreiben – eine Definition, mit dem sich auch viele gegenwärtige radikale Bewegungen besser fassen lassen als über ihr Verhältnis zu physischer Gewalt. Beliebte journalistische Nachfragen nach dem Radikalisierungspotenzial sozialer Bewegungen – etwa nach der »Klima-RAF« – gehen insofern auch am Ziel vorbei. Denn man müsste antworten: Radikalisierung ja, aber Gewalt nein – radikal gewaltfrei eben.

Fazit: Das transformative Potenzial radikaler Proteste

Gewaltzuschreibungen sind in gesellschaftlichen Debatten schnell bei der Hand, um Protest zu delegitimieren (Grimm et al. 2023). Gleichzeitig benennen theoretische Stichwortgeber*innen, wenn es um die Erfolgschancen radikaler Proteste geht, Gewaltlosigkeit als sine qua non des zivilen Ungehorsams. Vor diesem Hintergrund erfordert ein Nachdenken über Wirkungsbedingungen von Protesten, dass die Mechanismen aufgearbeitet werden, nach denen diese Gewaltzuschreibungen erfolgen – und bewegungsinterne wie innerwissenschaftliche Selbstreflexion darüber, unter welchen Bedingungen diese Zuschreibungen gesellschaftlich unkritisch übernommen werden, um Proteste als »radikal« zu diskreditieren.

Aktionen des zivilen Ungehorsams und die Disruptionen, die sie erzeugen, sind bewusst darauf ausgerichtet, sedimentierte Vorstellungen und Ordnungsmechanismen der Realität zu destabilisieren, durch die soziale Missstände reproduziert werden. Sie zielen darauf ab, ihr Publikum zu treffen, herauszufordern und es mit der Frage zu konfrontieren, was es bereit ist zu tun, um diese Missstände zu adressieren. Die Störung und der Schock-Effekt, den sie erzeugen, sind (meist) nicht die Folge einer schlecht durchdachten Strategie, sondern Teil der Aktion. Ziel ist es, eine als absurd empfundene gesellschaftliche Situation zu beleuchten: Etwa die Tatsache, dass die Proteste für einen Waffenstillstand im Nahen Osten mehr mediales Echo erzeugen als das Leid in Gaza; oder dass unsere Gesellschaft um die Dringlichkeit der Klimakrise weiß, aber keinen massiven politischen Kurswechsel einfordert.

Die Wahrnehmung von direkten Aktionen, radikalem Protest, zivilem Ungehorsam – auch die Wahrnehmung von Sachbeschädigungen (großer und kleiner) und der Übertretung von Grenzen ist stark kontextabhängig. Was als Disruption gelesen und empfunden wird, hängt wesentlich von den Skandalisierungsnarrativen und institutionellen Logiken einer Gesellschaft und ihrer Herrschaftsapparate ab, nicht allein von der Protestpraxis an sich. Es hängt auch davon ab, wie viele Menschen durch diese Aktionen kritisiert werden und wie stark sie mit hegemonialen Meinungs- und Handlungsmustern brechen. Disruptive Proteste, die uns kollektiv in die Verantwortung nehmen oder den Spiegel vorhalten – uns konfrontieren mit unserem individuellen Beitrag zum Klimawandel oder mit den Dissonanzen zwischen der deutschen Staatsräson und dem Bekenntnis zu einer völkerrechtszentrierten Weltordnung – haben es grundsätzlich schwerer als themenspezifische Mobilisierung mit engem Adressat*innenkreis.

Klar ist jedoch, dass gerade diese Formen des Protests eine wichtige demokratische Impulsfunktion ausüben, indem sie die Gesellschaft herausfordern und Themen auf die Agenda setzen, die innerhalb institutionalisierter demokratischer Arenen unzureichend Gehör finden. Dieses transformative Potenzial von radikalem gewaltfreiem Protest gilt es zu erkennen, statt zivilgesellschaftliche Anliegen aufgrund ihrer Form oder Symbolik abzulehnen, ohne sich mit ihren Inhalten auseinanderzusetzen.

Anmerkungen

1) vgl. W&F 4/2011 »Arabellion«

2) Unter diesem Gesichtspunkt passen auch die anfänglichen Aktionen der Letzten Generation, die sogenannten Bildattacken, perfekt in eine Kultureinrichtung: Zu anderen Zeiten hätten man sie möglicherweise sogar als Performance Art gefeiert.

Literatur

Brownlee, K. (2004): Features of a paradigm case of civil disobedience. Res Publica 10(4), S. 337-351.

Burç, R.; Schneider N.; Sekinger U. (2022): «Berxwedan jiyan e» – «Widerstand ist Leben». Widerspruch 78(1), S. 17-28.

Celikates, R. (2016): Rethinking civil disobedience as a practice of contestation. Beyond the liberal paradigm. Constellations 23(1), S. 37-45.

Chabot, S.; Vinthagen S. (2015): Decolonizing civil resistance. Mobilization: An International Quarterly 20(4), S. 517-532.

Chenoweth, E.; Stephan M.J. (2011): Why civil resistance works. The strategic logic of nonviolent conflict. Columbia: Columbia University Press.

Çıdam, C.; Scheuerman W.E.; Delmas, C.; Pineda, E.; Celikates, R.; Livingston, A. (2020): Theorizing the politics of protest. Contemporary debates on civil disobedience. Contemporary Political Theory 19(3), S. 513-546.

Della Porta, D.; Donker, T.H.; Hall, B.; Poljarevic, E.; Ritter, D. (Hrsg.) (2018): Social movements and civil war. When protests for democratization fail. London: Routledge.

Delmas C. (2018): A duty to resist. Oxford: Oxford University Press.

Grimm, J. (2022): Contested legitimacies. Repression and revolt in post-revolutionary Egypt. Amsterdam: Amsterdam University Press.

Grimm, J.; Salehi, M.; Franzki, H. (2023): Vorschläge für eine situierte Forschungsperspektive auf Gewalt(freiheit) im Kontext sozialer Mobilisierung. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 36(2), S. 205-227.

Haines, H.H. (2013): Radical flank effects. In: Snow, D.; Della Porta, D.; Klandermans, B.; McAdam, D. (Hrsg.): The Wiley-Blackwell encyclopedia of social & political movements. Malden: Wiley-Blackwell, S. 1048-1049.

Malthaner, S.; Teune, S. (Hrsg.) (2023): Eskalation. G20 in Hamburg, Protest und Gewalt. Hamburg: Hamburger Edition.

Manna, J. (2022): Foragers. 2K Video, 64min. URL: jumanamanna.com/Foragers.

Martin, B. (2007): Justice ignited. The dynamics of backfire. Lanham: Rowman & Littlefield.

Onken, M.; Shemia-Goeke, D.; Martin, B. (2021): Learning from criticisms of civil resistance. Critical Sociology 47(7-8), S. 1191-1203.

Pineda, E. (2021): Seeing like an activist. Civil disobedience and the civil rights movement. Oxford: Oxford University Press.

Pineda, E. (2022): Beyond (and before) the transnational turn. Recovering civil disobedience as decolonizing praxis. Democratic Theory 9(2), S. 11-36.

Sharp, G. (1973): The politics of nonviolent action. Boston: P. Sargent.

Souza dos Santos, E. (2024): On militant democracy, (un)civil disobedience, and the right to resistance. DOI: dx.doi.org/10.2139/ssrn.4765599.

Volk, Ch. (2022): Protest und Demokratie. Vorlesung gehalten am 12.12.2022 im Rahmen der Ringvorlesung „Auseinandersetzungen über und in liberale(n) Ordnungen: Zur Kritik und Zukunft des liberalen Skripts.“, FU Berlin, URL: youtube.com/watch?v=LNFkQU6nXI0.

Volk, Ch.; Grimm, J. (2023): Über den demokratischen Gestus von Aktionen des zivilen Ungehorsams im Regime der Unruhe. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 36(2), S. 298-313.

Dr. Jannis Julien Grimm leitet die Forschungsgruppe »Radical Spaces« am Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung (INTERACT) der Freien Universität Berlin.

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Zu diesem Artikel bringt unser Partnerpodcast »Fokus Frieden« im Oktober eine Folge. Hier vorab schon in die Podcast-Serie reinhören: www.podcast.de/podcast/1513467/fokus-frieden

In Zeiten dystopischer Weltzustände

In Zeiten dystopischer Weltzustände

Migration als demokratische Chance

von Bahar Oghalai und Maria Hartmann

Globale Zukunftsperspektiven lassen sich nicht ohne eine Analyse von Migration entwickeln. Nicht zuletzt für friedensutopische Überlegungen müssen wir Gründe und Dynamiken der Migration von Menschen ins Zentrum unserer Analyse stellen – zeigen sich doch die Auswirkungen globaler Krisen und Konfliktlinien darin wie in einem Brennglas. Konfliktlinien in postmigrantischen Gesellschaften können sich aus Identitätsfragen, Rassismus und dem ungleichen Zugang zu Ressourcen sowie politischer Teilhabe ergeben. Der Beitrag erörtert die möglichen demokratischen Chancen, die sich aus diesen Konflikten ergeben können.

Die Welt stehe vor einer »Zeitenwende«. So formulierte es die deutsche Bundesregierung im Februar 2022, damals noch vor dem Hintergrund der gerade begonnenen Invasion Russlands in die Ukraine (Bundesregierung 2022). Wenn wir auf den Zustand der Welt schauen, drängt sich in der Tat das Gefühl auf, das Maß des Erträglichen sei überschritten, eine »Zeitenwende« unumgänglich. Eingestellt hat sich der prophezeite Zustand der »Wende« jedoch bisher nicht. Beschreiben lässt sich der globale Ist-Zustand vielmehr als Zustand der Verzweiflung im Angesicht multipler Krisen, in dem sich (Post-)Pandemie, Krieg, Verwüstung unseres Klimas und ein neuer Autoritarismus kreuzen.

In einem solchen Status quo lassen sich zentrale Zukunftsperspektiven auf Konflikt und Frieden für diesen Globus nicht ohne eine Analyse von Migration verstehen. Nicht zuletzt für friedensutopische Überlegungen müssen wir Gründe und Dynamiken des Wanderns, des Gehens, (An-)Kommens und Bleibens von Menschen ins Zentrum unserer Analyse stellen. Migration ist nicht nur ein zentraler Kulminationspunkt für Konflikte unserer Zeit – sondern auch für ihre demokratischen Utopien.

Vor der Migration – real-dystopische Weltzustände

Es sind die globalen Migrationsbewegungen, die zu einem Spiegel der real-dystopischen Weltzustände werden: Die Zahl der Menschen, die weltweit aufgrund von Kriegen, Umweltkatastrophen und Verfolgung fliehen müssen, hat einen Höchststand erreicht. Laut dem jüngsten Global Trends Report des UNHCR waren Ende 2022 weltweit 108,4 Mio. Menschen auf der Flucht.1 Ende 2022 gab es 19 Mio. mehr Geflüchtete als Ende 2021, was einem Anstieg von 21 Prozent entspricht. Dies ist der größte Anstieg in einem einzelnen Jahr, den das UNHCR bisher zu verzeichnen hatte (UNO Flüchtlingshilfe o.J.).

Wir müssen uns dabei vergegenwärtigen, dass für die Migrierenden selbst Migration selten das erste und bevorzugte Mittel im Umgang mit solchen Zuständen ist. Erinnern wir uns an die Revolutionen des letzten Jahrzehnts, die sich in der gesamten Region Westasien/Nordafrika (WANA) ereigneten, dann wollten die Protestierenden vielmehr vor Ort tiefgreifende gesellschaftliche und politische Transformationen herbeiführen, um ihre Gesellschaften lebenswerter zu gestalten. Was 2010 in Tunesien begann und sich zuletzt erneut mit aller Deutlichkeit im Iran zeigte, ist ein Kreislauf andauernden Wiederaufflammens von Protesten für ein besseres Leben und deren gewaltsamer Niederschlagung seitens autoritärer Staaten. Die Aufstände zeigen, dass die Veränderung ihrer Herkunftsgesellschaften für ungezählte Menschen höchste Priorität hat. Wird die Migration zu ihrer letzten Antwort auf autoritäre Herrschaft und Staatsterror, liegt dies an der Stagnation der Situation vor Ort. Autoritarismus und Menschenrechtsverletzungen gehören zu den Hauptursachen für zunehmende Zwangsmigration.

Es sind jedoch nicht nur autoritäre, zum Teil offen faschistische Zustände, vor denen Menschen fliehen: Ursache der zunehmenden Migrationsbewegungen sind zu einem beträchtlichen Teil auch die Folgen der sich verschärfenden Klima­krise. Die globale Erderwärmung stellt eine existenzielle Bedrohung dar, sie vernichtet heute bereits ganze Lebensräume und verschärft Konflikte, die von ökonomischen und politischen Krisen herrühren, für die maßgeblich die Länder des Globalen Nordens verantwortlich sind.

Es kommen immer weiter sich zuspitzende ökonomische Krisen und eine desaströse Sicherheitslage hinzu, die auf (staats-)politische Instabilität zurückzuführen sind. Mit Blick auf die WANA-Region trägt dabei der Globale Norden Mitschuld an einer tiefgreifenden Destabilisierung, welche die Jahre nach 2001 aus heutigem Blick zu verlorenen Jahrzehnten werden ließ (Helberg 2021). Das zugleich jüngste und schlagendste Beispiel für das Scheitern der gegenwärtigen Weltordnung und ihres »Krieges gegen den Terror« liefern der Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban im August vor zwei Jahren. Vor allem für die Menschen in der WANA-Region hatte der Anti-Terror-Krieg katastrophale Folgen, von Konfliktdynamiken im Irak über jene in Syrien bis nach Ägypten und darüber hinaus. Er bestimmte die innenpolitische Entwicklung in vielen Ländern, verstärkte Repression, Korruption und Menschenrechtsverletzungen (ebd). Weder hat er für mehr Demokratie und Menschenrechte gesorgt, noch für mehr Stabilität.

Dystopische Verhältnisse wie die in der WANA-Region finden sich auch in vielen anderen Regionen der Welt – sie treiben die Zwangsmigration weiter voran. Dabei sind sowohl Klima- als auch Finanzkrisen und, wenn auch indirekt, die Entstehung und der Machterhalt autoritärer Regime historisch mit dem Kolonialismus, dem Aufstieg des globalen Kapitals und der Industrialisierung eng verflochten (Ituen und Kennedy-Asante 2019). Postkoloniale und kapitalismuskritische Stimmen weisen schon lange auf die historische Verstrickung des Globalen Nordens mit der derzeitigen Situation hin. So betonen kritische Klimaforscher*innen unter dem Streitbegriff der »Klimagerechtigkeit« den Mangel an Verantwortungsübernahme des Globalen Nordens für die Folgen des Klimawandels. Während der historische Globale Norden (USA, industrialisiertes Europa und Japan) Hauptverursacher eines Großteils der bisher ausgestoßenen Treibhausgase ist, sind die Länder des Globalen Südens viel stärker von den negativen Auswirkungen des Klimawandels betroffen (Andert et al 2021).

Während der Migration – Gewalt und Autonomie

Mit Blick auf die herrschende Migrationspolitik in Europa kann allerdings nicht von einer »Zeitenwende« gesprochen werden. Seit Jahrzehnten ist die stetig verschärfte Abschottungspolitik die forcierte Antwort der EU und ihrer Grenzregime auf die Migrationsbewegungen aus den real-dystopischen Zuständen im Rest der Welt (Andersson 2016). So kritisiert die Migrations- und Grenzregimeforschung seit über einem Jahrzehnt den gewaltvollen Abwehrmechanismus im Umgang mit Migrationsbewegungen, mit dem die europäischen Staaten sich nicht nur in eine zutiefst menschenrechtsverachtende und anti-humanistische, sondern auch in eine strategielose Vorgehensweise hineinmanövriert haben. Tatsächlich zeigt die empirische Erkenntnis, dass zunehmend rigide und militarisierte Grenzregime Menschen nicht von der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben abhalten werden, das sie insbesondere in Europa zu finden hoffen (Prokla 2016, Trilling 2021). Der Sommer der Migration 2015 war dabei nicht wie oft bezeichnet ein Sommer der Krise, sondern der Moment, in dem sich der politische Anspruch eines Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit und Unversehrtheit für die fliehenden Menschen nicht in der Krise befand.

Wenn wir die heutigen Migrationsbewegungen eingebettet in ihre Entstehungsbedingungen aus den real-dystopischen Weltzuständen von Klimakrise, Autoritarismus und Krieg betrachten, dann ist Migration nicht nur als eine Bewegung von Menschen von einem Ort zum anderen, sondern auch als ein Akt des Widerstands gegen unerträgliche Lebensbedingungen und soziale Verhältnisse zu verstehen. Deshalb sind Migrationsbewegungen, wie einschlägige Arbeiten der kritischen Grenzregimeforschung bereits herausgearbeitet haben, keine lediglich territorialen, sondern auch soziale Bewegungen als Reaktion auf eine externalisierte Krise (Hess und Schmidt-Sembdner 2021). Während Europa zu einem beträchtlichen Teil für die Entstehung dieser Krisen (mit-)verantwortlich ist, hat es lange Zeit erfolgreich seine Folgeverantwortung ignoriert (Braunsdorf 2016). Es ist die Autonomie, die von Migration ausgeht, die diese Herrschaftsverhältnisse herausfordert (Transit Migration Forschungsgruppe 2007). Sie erschwert die Externalisierung von Krisen in andere Regionen der Welt und trägt diese Krisen an die Grenzen der Europäischen Union und in die europäischen Einwanderungsgesellschaften. So ist spätestens seit dem sogenannten Sommer der Migration von 2015 nicht mehr von der Hand zu weisen, dass jene Krisen, die Menschen »dort« zur Migration zwingen, unmittelbare Folgen für das »Hier« haben (medico international und GEW 2023).

So verstanden sind Migrant*innen widerständige Akteur*innen, die sich sowohl in ihren Herkunftsländern als auch während ihrer Migration beispielsweise an den EU-Außengrenzen auch dann autonom gegen autoritäre, gewaltvolle und ungerechte Verhältnisse zur Wehr setzen, wenn Widerstand und Autonomie nicht ausdrücklich Bestimmungsgründe ihres Handelns sind (ebd). In einem Europa, das in den letzten Jahren selbst in einer Krise steckt und vom Aufstieg rechter Politik, verschwörungstheoretischen Verwirrungen und neuen anti-emanzipatorischen Ideologien gezeichnet ist, ist es die Ankunft von Migrant*innen, die den Status Quo herausfordert – und gleichzeitig als identifiziertes »Übel« diskursiv produziert wird. Sie bringt Aushandlungsprozesse um Macht, Anerkennung und Teilhabe hervor, die europäische Gesellschaften langfristig verändern und prägen und so zu »postmigrantischen« Gesellschaften werden lassen (Foroutan 2016).

Nach der Migration – (Neu-)Aushandlung als demokratische Chance

Trägt die Migration nicht nur das nicht mehr zu externalisierende Krisenhafte, sondern auch das Widerständige in europäische Gesellschaften hinein, dann birgt eben die Widerständigkeit ihrer Autonomie nach unserer Analyse eine demokratiepolitische Chance. Provoziert Migration unumgänglich Polarisierungen, dann bringt sie darin immer auch neue Positionierungen und Allianzbildungen zwischen verschiedenen Gruppen unterschiedlicher sozialer Kämpfe hervor. Hierdurch wird Migration zum Motor einer »Gesellschaft neuer Aushandlungen«. Laut Naika Foroutan entstehen in Gesellschaften, die von Migration und kultureller Vielfalt geprägt sind, vielfältige Spannungen und Konflikte. Diese postmigrantischen Konfliktlinien können sich aus Identitätsfragen, dem in Gesellschaft eingeschriebenen Rassismus, auch dem ungleichen Zugang zu begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen und zu politischer Teilhabe ergeben. In­härenter Bestandteil dieser Konfliktlinien ist die dialektische Aushandlung des versprochenen Gleichheitsanspruchs demokratischer Gesellschaften, der jedoch ein selektiver und unerfüllter ist (Foroutan 2019).

In der Vergangenheit konnten wir feststellen, dass die Dynamiken, die Migration in die Gesellschaft hineinträgt, herkunftsübergreifende soziale Bewegungen fördern. Laut den Migrationsforscher*innen Bojadžijev und Liebelt (2014) geht von der Widerständigkeit dieser Migrationsbewegungen auch das Potential aus, auf Kämpfe um Geschlechterverhältnisse, politische Teilhabe und Bürger*innenschaft einzuwirken. Diese neuen Widerstandsbewegungen können politische Implikationen haben, Solidarität und Identität fördern, Veränderungen in Herkunfts- und Zielländern bewirken und transnationale Verflechtungen prägen. Allerdings dürfen sie dabei nicht nur in ihren jeweils individuell bewussten Entscheidungen und Absichten isoliert, sondern müssen maßgeblich als eine kollektive Aktion und soziale Dynamik betrachtet werden. Diese Dynamik wird von verschiedenen gesellschaftlichen Akteur*innen beeinflusst, die auf die emanzipatorische Veränderung von Gesellschaften und politischen Systemen abzielen (Bojadžijev und Liebelt 2014, S. 341-344). Von einem prozessualen, agonistischen Demokratieverständnis ausgehend, demzufolge demokratische Willensbildung und Entscheidung durch den konfliktiven Austrag ausgehandelt werden (Mouffe 2014), birgt Migration eben durch die Erzeugung eines Zustands der Unbestimmtheit und Unruhe die Chance, eine zutiefst demokratie-erzeugende Kraft zu sein. Weder das Widerständige an der Autonomie der Migration noch das der postmigrantischen Aushandlung sollte dabei als emanzipatorisch-revolutionäres Heilsversprechen missverstanden werden, sondern als eine Chance der Infragestellung bestehender Ordnungen und eine Öffnung der Zustände, die sich emanzipatorisch entwickeln können, sofern sie als solche genutzt werden.

Dabei ist es unserer Analyse nach nicht bloß der Akt der Migration, aus dem die Widerständigkeit für neue gesellschaftliche Kämpfe entsteht. In den Blick zu nehmen sind vielmehr die Brücken, die eine Verbindung zwischen dem Moment der Migration und den Kämpfen in den Herkunftskontexten herstellen (Hartmann und Oghalai i.E. 2023). Von zentraler Bedeutung sind dabei die spezifischen Kontinuitäten von Erfahrungen in den Diasporas der Dissidenz: Menschen, die autoritären Regimen entfliehen, verfügen als dissidentisch-diasporische Subjekte häufig durch ihre komplexen Erfahrungen in Konfrontationen mit autoritärer Staatsgewalt, im Widerstand gegen Repression und Menschenrechtsverletzungen auf der einen und durch die Erfahrungen der Migration und Ankunft auf der anderen Seite über eine besondere gesellschaftspolitische Analyseperspektive. Jene ist in der Lage, die Komplexität und Verwobenheit heutiger global-lokaler Herrschaftsverhältnisse in besonderem Maß zu erfassen. Gerade wenn es um Menschenrechts- und Demokratiefragen geht, wird diese Analysefähigkeit in der Konfrontation mit der Migrationserfahrung und der diasporischen Gesellschaftsposition, die von Marginalisierung und Diskriminierung seitens der Dominanzgesellschaft geprägt ist, geschärft.

Maßgeblich kann dieses komplexe widerständige Bewusstseins- und Wissensarchiv über globale Unrechts- und Herrschaftszustände dann werden, wenn es gerade in den europäischen Ankunftsgesellschaften im Kampf gegen die aufkeimende globalisierte Rechte zur Geltung kommen darf. Dissidentisch-diasporisches Wissen kann Analysen, Diskurse und Wissen der Zivilgesellschaften zwischen dem Hier und dem Dort verketten und zwischen ihnen vermitteln. Im Kampf gegen rechts-autoritäres Gedankengut wird postmigrantisches Erfahrungswissen damit zum zentralen emanzipatorischen Gegenelement. Utopisch gesprochen wäre es dann die Demokratie der Aushandlungsgesellschaft, die in der Lage ist, dieses Wissen nutzbar und sichtbar zu machen.

Am Ende, so schließen wir, wird sich Europa der Auseinandersetzung mit dem krisenhaften Globalzustand nicht länger entziehen können. Wir befinden uns in einer Zeit, die geprägt ist von aufstrebenden faschistischen Kräften, aber gleichzeitig auch von einem postmigrantischen Willen zum Widerstand. Dieser kann seinen Ursprung außerhalb Europas haben, sich aber hier fortsetzen – dann jedenfalls, wenn diese in sich längst postmigrantische Gesellschaft sich den dissidentisch-diasporischen Wissensbeständen öffnet und deren Erfahrung politisch anerkennt. Genau gesehen stellt dieser Widerstand sogar die einzige realistische Chance dar, dem real-dystopischen Zustand der Welt emanzipatorisch zu begegnen. Er kann die »Zeitenwende« einläuten, nach der diese Welt ruft.

Anmerkung

1) Zahl einschließlich Geflüchtete, Asylsuchende, Binnenvertriebene und andere Personen, die internationalen Schutz benötigen. Vgl. W&F 3/2023, S. 23.

Literatur

Andersson, R. (2016): Schuss in den Ofen. Warum Kriegsschiffe die Flüchtlingskrise nicht lösen können. IPG Journal. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Andert, M; Helleckes, H.; Kunz, C.; Mertens, M. (Hrsg.) (2021): Überall Klima, nirgendwo Gerechtigkeit? Zu den verschiedenen Dimensionen der Klimakrise. Fridays for Future Tübingen, Broschüre (Januar 2021).

Bojadžijev, M.; Liebelt, C. (2014): Cosmopolitics. Migration als soziale Bewegung: Von Bürgerschaft und Kosmopolitismus im globalen Arbeitsmarkt. In: Nieswand, B.; Drotbohm, H. (Hrsg.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 325-346.

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Die Bundesregierung (2022): Reden zur Zeitenwende. Bundeskanzler Olaf Scholz. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, September 2022.

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Hartmann, M.; Oghalai, B. (i.E. 2023): Jenseits von Migration. Zur Wiedergewinnung des Diasporabegriffs. movements – Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 7(2/2023) (im Erscheinen).

Helberg, K. (2021): Wie der “Krieg gegen den Terror“ den Nahen und Mittleren Osten destabilisiert. Qantara.de, 13.09.2021.

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Mouffe, C. (2014): Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp.

Prokla Redaktion (2016): Ökonomie der Flucht und der Migration. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 46(183), S. 172-180.

Transit Migration Forschungsgruppe (2007): Turbulente Ränder – Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript.

Trilling, D. (2021): Europa steht an einem Scheidepunkt. Übersetzter Beitrag aus The Guardian, Der Freitag, 11.11.2021.

UNO Flüchtlingshilfe (o.J.): Zahlen & Fakten zu Menschen auf der Flucht. Online unter: uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen.

Bahar Oghalai ist Sozialwissenschaftlerin und promoviert zu Politisierungsbiografien migrantischer Feministinnen aus dem Iran und der Türkei an der Universität Koblenz-Landau. Sie ist außerdem Dozentin an der Alice-Salomon-Hochschule und publiziert regelmäßig zu den Themen Feminismus und Migration mit einem besonderen Fokus auf Westasien/Nordafrika.
Maria Hartmann forscht, arbeitet und engagiert sich politisch zu Fragen von transnationaler Solidarität und Diaspora-Aktivismus im Kontext der neuen emanzipatorischen Bewegungen in Westasien/ Nordafrika. Sie promoviert am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg zum Thema syrische Diaspora und Dissidenzerfahrung als geteilte Erinnerung in der postmigrantischen Gesellschaft.

Haushalts-Déjà-vu

Haushalts-Déjà-vu

Heute und vor 40 Jahren: Weniger Geld für Soziales, Spendierhosen für die Streitkräfte

von Herbert Wulf

Mit der »Zeitenwende« wird der militärischen Priorität im Haushalt fast alles untergeordnet. Trotz drängender sozialer Probleme steigt, wie schon früher, der Haushalt für die Bundeswehr. Neben den Steigerungen des regulären Haushalts gibt es ein »Sondervermögen« von 100 Mrd. €. Es ist ein Mythos, dass der Zustand der Streitkräfte aufgrund mangelnder Finanzen so miserabel ist. Vielmehr sind Bürokratie, Überteuerung deutscher Waffen und Fixierung auf Hochtechnologie die Ursache. Solange es keine solide friedens- und sicherheitspolitische Diskussion gibt, wird sich hieran kaum etwas ändern.

Wenige Tage nach Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz die »Zeitenwende«. Da die Grundfesten der europäischen Sicherheitspolitik erschüttert waren, musste der Schalter sofort umgelegt werden. Die von ihm konstatierte Vernachlässigung der Bundeswehr sollte revidiert werden, um endlich die der NATO zugesagte Verpflichtung einzuhalten, 2 % des Bruttosozialproduktes für die Streitkräfte auszugeben. Um dieses Ziel zu erreichen und gleichzeitig die im Grundgesetz verankerte »schwarze Null« zu halten, müssen leider andere Ausgaben gekürzt oder zumindest in Grenzen gehalten werden: Kindergrundsicherung, Demokratieförderung, Pflege, Entwicklungshilfe usw. Überall wird gespart und gekürzt, nur nicht beim Etat der Bundeswehr.

Ist das das Resultat der propagierten »Zeitenwende«? Soll diese Politik die Probleme Deutschlands lösen: die wirtschaftliche Schwäche, den schleppend umgesetzten Klimaschutz, Wohnungsnot, Bildungsnotstand, Krankenhausdefizite, die beschämend langsame Digitalisierung?

Déjà-Vu: Rüstung und Sozialabbau vor 40 Jahren

Liebe Leser*innen, hier unkommentiert sechs Zitate aus dem allerersten Heft von Wissenschaft und Frieden im Jahr 1983, also vor genau 40 Jahren:

„Kürzungen im Verteidigungshaushalt vorzunehmen und soziale und wirtschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, mangelnde Studienplätze, zu große Klassen in den Schulen, steigende Gesundheitskosten, Wohnungsnot, Energieversorgungsengpässe, Unterentwicklung in der dritten Welt usw., durch kräftige Ausgabenerhöhungen bei den zuständigen Ressorts anzupacken – diese Möglichkeit wird in den westlichen Industrieländern von der politischen Führung nirgendwo ernsthaft in Erwägung gezogen.“

„In der Bundesrepublik ist die Umschichtung knapper staatlicher Mittel zugunsten des Militärapparates keine pessimistische Zukunftsahnung, sondern Realität.“

Für Rüstung „mußten immer wieder zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt werden. Finanziert wurden die drei außerplanmäßigen Erhöhungen […] durch Kürzungen vor allem in den Haushalten Verkehr, Arbeit und Soziales, Forschung und Entwicklung; Rüstungsmehrausgaben schlagen sich also auch bei uns unmittelbar in gekürzten Ausgaben in anderen Bereichen nieder.“

„Der Haushalt ‚Verteidigung‘ stieg überdurchschnittlich. Von Kürzungen wie gelegentlich in der Presse behauptet – kann keine Rede sein…“

„Während die Politik des Sozialabbaus bei gleichzeitiger Aufrüstung in den USA meist mit einer offensiven Ideologie von den Konservativen vertreten wird, ging man in der Bundesrepublik zunächst verschämt daran, Sozialleistungen und Arbeitslosenunterstützung zu kürzen und sprach verharmlosend von der Beseitigung bestimmter Auswüchse. Inzwischen wird aber auch bei uns das ‚Anspruchsdenken‘ gegeißelt und ‚Opferbereitschaft‘ verlangt, um die Rahmenbedingungen für einen Aufschwung zu schaffen.“

„Auch heute geht es also um mehr als eine oberflächliche ‚Sparpolitik‘; eine staatlich geförderte Haushaltsstrategie dient der Pflege des privatwirtschaftlichen Wachstums mit der Betonung von Großtechnologie, Rüstung und internationaler wirtschaftlicher Expansion. Daß durch diese Politik das soziale System verletzt und die Lebensqualität der Bevölkerung verschlechtert wird, ist in den Hintergrund gedrängt worden.“ (alle zitiert nach Wulf 1983)

Manche der Aussagen und Analysen klingen wie Echtzeit 2023. Die Parallelen zu heute sind offensichtlich.

Zeitenwende oder Panikpolitik?

Anfang September 2023 debattierte der Bundestag den Haushaltsentwurf 2024. Bereits im Vorfeld hatte Finanzminister Christian Linder eines deutlich gemacht: Eine weitere Umverteilung zugunsten des Sozialstaates dürfe es nicht mehr geben. Bei der beschlossenen Kindergrundsicherung handele es sich um die letzte sozialpolitische Reform für die nächsten Jahre. Eine kritische Kolumne in der Süddeutschen Zeitung bringt die Essenz dieser Politik auf den Punkt: „Die mickrigen Beträge für Kindergrundsicherung sind eine Schande. Wer die Sozialpolitik einfriert, friert die Demokratie ein […]. Das Ergebnis dieser Debatte ist ärmlich: Der Betrag, der für diese Sicherung nach langem Hin und Her in der Ampelkoalition ausgegeben werden soll, verhöhnt den Namen ‚Grundsicherung‘ – es sind 2,4 Milliarden. Damit wird gesichert, dass alles so bleibt, wie es ist: Die armen Kinder bleiben am Rand der Gesellschaft.“ (Prantl 2023) Auch beim Klimaschutz fehlen die Mittel und die Bundesregierung verheddert sich im Streit über den richtigen Weg.

Der militärischen Priorität wird im Haushalt für die kommenden Jahre fast alles untergeordnet. Bei Kürzungen ist der Verteidigungsetat ausdrücklich ausgeschlossen (BMF 2023). Es beginnt schon mit dem Namen »Sondervermögen Bundeswehr«. Außerhalb des regulären Haushaltes 100 Mrd. € für die Bundeswehr bereitzustellen und diese weitgehend kreditfinanzierte Maßnahme als »Vermögen« zu bezeichnen, kann man getrost als Orwellschen »Neusprech« bezeichnen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist durch den Krieg Russlands eine dringende Notwendigkeit. Auch die Bundeswehr, als Rückgrat der Verteidigung, bedarf der Reform und neuer strategischer Ausrichtung (vgl. Unterseher in dieser Ausgabe). Doch dies vor allem durch mehr Geld in Angriff zu nehmen, führt zur Verschwendung knapper Ressourcen. Jetzt ist vorrangig eine friedenspolitische und strategische Debatte über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr nötig, nicht aber eine riesige Geldspritze.

Natürlich kann die Bundeswehr mehr finanzielle Mittel gebrauchen, um Panzer, Hubschrauber, Schiffe, Kampfflugzeuge oder Drohnen zu beschaffen. Aber für welchen Zweck? Um weiterhin Auslands­einsätze zu ermöglichen oder sie effizienter zu gestalten? Die Auslandseinsätze sind nach den Erfahrungen in Afghanistan und Mali gescheitert. Geht es jetzt um den in unserer Verfassung verankerten Auftrag zur Landesverteidigung? Um die Ostflanke der NATO? Um Solidarität mit der Ukraine? Und soll dies im Rahmen einer auch militärisch unterfütterten Rolle der EU passieren, wie schon länger vom französischen Präsidenten Macron gefordert wird? Oder geht es etwa sogar zusammen mit den USA um den Stopp der chinesischen Marineaktivitäten im Südchinesischen Meer? Oder gegen die Iraner in der Straße von Hormus, wenn »unsere« Ölversorgung bedroht werden sollte? Angesichts der völlig neuen sicherheitspolitischen Lage muss zunächst einmal das Aufgabenspektrum der Bundeswehr geklärt sein, bevor Geld mit vollen Händen ausgegeben wird (Wulf 2022).

Es gibt überhaupt keinen Grund, überstürzt ein so riesiges »Sondervermögen Bundeswehr« zu initiieren. Der Krieg in der Ukraine wird dadurch keinen Tag früher enden und die Neuausrichtung der Bundeswehr geschieht ebenso wenig kurzfristig.

Wider die Mythen

Aber, so heißt es, die Bundeswehr ist unterfinanziert; sie wurde kaputt gespart. Kampfflugzeuge sind nur bedingt einsatzfähig, U-Boote tauchen nicht, die schon lange avisierten Fregatten werden nicht ausgeliefert, Hubschrauber und Lufttransportkapazitäten sind Mangelware. Ersatzteile fehlen an allen Ecken und Enden. Die Maschinengewehre taugten nicht bei den hohen Temperaturen in Afghanistan und Mali. Es fehlt an warmer Kleidung und Zelten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dies ist aber nicht eine Folge fehlender Finanzierung.

Die deutschen Ausgaben für Verteidigung (nach NATO-Kriterien) stiegen seit 2014 von 34,7 Mrd. € auf 57,7 Mrd. € im Jahr 2022 (vgl. NATO 2023a, S. 157). Das ist ein satter Anstieg um 66 % in acht Jahren. Es ist ein Mythos, dass die Bundeswehr schlecht ausgerüstet ist, weil sie zu wenig Geld bekommt. Im Haushalt 2024 ist für die Bundeswehr eine Erhöhung des Etats um 1,7 Mrd. € vorgesehen. „Aus dem Sondervermögen Bundeswehr stehen darüber hinaus rund 19,2 Milliarden Euro bereit.“ (BMVG 2023)

Mangelnde Finanzen sind nicht das eigentliche Problem, sondern verkrustete Strukturen bei der Beschaffung, strukturelle Defizite bei Entwicklung, Produktion und Beschaffung und erhebliche zeitliche Verzögerungen bei der Auslieferung der bestellten Waffen.

Beispiele zum Beleg dieser miserablen Lage gibt es allenthalben. Die Probleme des Lufttransportflugzeugs A400 sind ein Paradebeispiel für verzögerte und überteuerte Lieferung, zudem unterhalb der zugesagten Leistungen. Seit sich das Parlament erstmals mit dem Transportflugzeug befasste, hat sich das Vorhaben um mehr als zwölf Jahre verzögert. Noch immer sind die Flugzeuge nicht ausgereift, ein Armutszeugnis für den Hersteller. Dies ist nicht das einzige Gerät, mit dem sich die Luftfahrtindustrie verhoben hat und damit die Bundeswehr in Schwierigkeiten bringt. Deutliche Parallelen zeigen sich beim deutsch-französischen Transporthubschrauber NH90. Das Verteidigungsministerium bezifferte 2018 die durchschnittlichen zeitlichen Verzögerungen bei Großprojekten auf fünf Jahre und drei Monate.

Dieser Zustand hat sich anscheinend durch die »Zeitenwende« überhaupt nicht verändert. Der jüngste »Schildbürgerstreich« (wie ihn die Tagesschau am 26.9.2023 bezeichnete) ist der Kauf digitaler Funkgeräte, die für 1,3 Mrd. € von einem deutschen Hersteller beschafft wurden, obwohl nicht gewährleistet ist, dass die Geräte in den vorgesehenen Fahrzeugen überhaupt eingebaut werden können.

Zweifellos bedarf also die Bundeswehrbeschaffung dringend einer gründlichen Reform. Sie ist auch schon mehrfach angekündigt worden. Doch die bisherigen Reformvorhaben wurden nur kümmerlich umgesetzt. Es gibt vor allem drei Gründe für die Misere der Bundeswehr:

(1) Bürokratische Strukturen verkomplizieren und verzögern die Beschaffungsabläufe. Rund 11.000 Mitarbeiter*innen arbeiten beim Bundesamt für Beschaffung der Bundeswehr. Mitte 2023 betrug die Zahl der Soldat*innen (Berufs- und Zeitsoldat*innen sowie Wehrdienstleistende) 181.000. Ein Verhältnis von einem Mitarbeiter des Beschaffungsamtes für 16 Soldat*innen. Vielleicht könnte man hier den Rotstift ansetzen.

(2) Beschaffung überteuerter deutscher Waffen: Es hat zwar oft Bekenntnisse zur Auswahl der besten Systeme für die Bundeswehr gegeben. In der Praxis wurde aber immer darauf geachtet, dass deutsche Firmen möglichst bei der Auftragsvergabe berücksichtigt werden, auch wenn dann bei der Leistungsfähigkeit der Systeme, bei den Terminen der Auslieferung und auch beim Preis Kompromisse gemacht werden mussten.

(3) Rüstungsbarock: Bei der Beschaffung von Rüstung existiert ein Hang zur Verwendung von Hochtechnologie, ein Trend, der in den USA und der dortigen Rüstungswirtschaft auch als »over engineering«, »gold plating« oder als »Rüstungsbarock« beschrieben wird (Kaldor 1981). Immer mehr Technologie wird in ein Waffensystem gepackt. Dies geschieht einerseits, weil die Streitkräfte auf dem neuesten Stand der Technik sein möchten, und andererseits, weil die Rüstungsindustrie zur Selbstüberschätzung der eigenen technologischen Leistungsfähigkeit neigt. Das Ergebnis: Wegen der immer neuen technologischen Anforderungen »muss« die Industrie den ursprünglich anvisierten Preis des Waffensystems anheben. Michael Brzoska spricht vom „Hang zum Unmöglichen“ und konstatiert neben der Interessenallianz auch „Interessenkollisionen zwischen Militär und Rüstungsindustrie“ (Brzoska 2020, S. 158).

Das 2 %-Ziel: Tanz um das goldene Kalb

Fehlende Finanzen sind, wenn überhaupt, also nur ein Teil des Problems. Deshalb ist es auch falsch, jetzt den Schwur zu tun, in Zukunft das 2 %-Ziel der NATO nicht nur einzuhalten, sondern zu übertreffen. Das ist Symbolpolitik.

Es ist grundsätzlich falsch, eine volkswirtschaftliche Größe wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zum zentralen Kriterium verteidigungs- und sicherheitspolitischer Entscheidungen zu machen. In der Logik dieses 2 %-Ziels liegt das sicherheitspolitisch absurde Ergebnis, dass in einer florierenden Wirtschaft dieses Ziel schwer zu erreichen ist, bei wirtschaftlichem Niedergang aber fast automatisch erzielt wird. Als Satiriker könnte man fragen: Hatte die Ampelregierung beim Versprechen an die NATO etwa den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands im Blick?

Deutlich wird diese Absurdität am Beispiel Griechenland. Das Land erreichte 2018 mit Verteidigungsausgaben in Höhe von 2,3 Prozent das NATO-Ziel locker, obwohl der Haushalt für die Streitkräfte in den Jahren davor schrumpfte. Inzwischen gibt Griechenland 3,0 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Streitkräfte aus (vgl. NATO 2023b, S. 3). Das Schrumpfen der Wirtschaft war in Griechenland eben noch ausgeprägter als die Kürzungen im Verteidigungsetat während der Krise. Das 2 %-Ziel ist daher ein untaugliches Kriterium für sachorientierte sicherheitspolitische Entscheidungen. Es ist ein Fetisch. Der Fraktionsvorsitzende der SPD Rolf Mützenich formulierte im Juli 2019: Es ist „ein Tanz ums goldene Kalb.“ (Wulf 2019).

Der richtige Weg wäre, die heutigen und mögliche künftige Herausforderungen und Gefährdungen zu benennen und die zur Abwehr erforderlichen Kapazitäten aufzubauen. Dies mag zwar erforderliche Ausrüstung für die Bundeswehr mit einbeziehen, fokussiert dann aber nicht nur militärische Kapazitäten. Dies setzt aber eine strategische und friedenspolitische Debatte voraus, die nicht mit der bloßen Verabschiedung einer Nationalen Sicherheitsstrategie erledigt ist. Hieraus ergibt sich dann auch der finanzielle Rahmen, der gegebenenfalls unter oder auch über 2 % des Bruttoinlandsproduktes liegen kann. Jetzt aber wird das Pferd von hinten aufgezäumt: Zuerst werden Finanzmittel bereitgestellt, um dann anschließend zu entscheiden, wozu sie eingesetzt werden sollen.

Mehr Geld ist nicht gleich mehr militärische Leistungsfähigkeit oder Effizienz. Die Höhe des Haushaltes oder des Prozentsatzes am BIP sagen überhaupt nichts über die militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte aus. Plakativ ausgedrückt: Mehr Geld ist nicht gleich mehr Sicherheit. Bei aller Dramatik der Ereignisse seit Februar 2022 sollte man jetzt nicht in Panik oder Schockstarre Entscheidungen treffen. Ausgaben für die Streitkräfte stellen noch keine wirksame Sicherheitspolitik dar. Es ist für den Zusammenhalt und die Sicherheit unserer Gesellschaft im Inneren und für die Kooperation im Äußeren keine kluge und überzeugende Politik, im sozialen Bereich und in friedens- und entwicklungspolitischen Haushaltstiteln zu kürzen.

Literatur

Brzoska, M. (2020): Mythos: „Die Bundeswehr ist schlecht ausgerüstet, weil sie zu wenig Geld bekommt“. Die Friedens-Warte 92(3-4), S. 157-161.

Bundesministerium der Finanzen (BMF) (2023): Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2024 und Finanzplan bis 2027. Für eine verantwortungsvolle und zukunftsorientierte Finanzpolitik: Ausgaben priorisieren, Investitionen stärken. Pressemitteilung 09/2023, 5.7.2023.

Bundesministerium der Verteidigung (BMVG) (2023): Verteidigungsetat 2024 wächst um 1,7 Milliarden Euro – NATO-Quote wird erreicht. Aktuelles, 06.07.2023.

Kaldor, M. (1981): Rüstungsbarock. Das Arsenal der Zerstörung und das Ende der militärischen Techno-Logik. Berlin: Rotbuch.

NATO (2023a): The Secretary General’s Annual Report 2022. Brüssel.

NATO (2023b): Defence Expenditure of NATO Countries (2014-2023). Pressemitteilung, 7.7.2023.

Prantl, H. (2023): Kinder sind wichtiger als die schwarze Null. Süddeutsche Zeitung, 1. September 2023.

Wulf, H. (1983): Sozialabbau und Rüstung. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1/1983, S. 11ff.

Wulf, H. (2019): Das goldene Kalb der AKK. IPG-Journal, 25.7.2019.

Wulf, H. (2022): Panikpolitik. IPG-Journal, 15.3.2022.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC). Er ist heute Fellow am BICC und am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Essen/Duisburg. Er war von 2001 bis 2008 Vorsitzender von W&F.

Nachgefragt: Wie ist das mit den Zivilklauseln?

Nachgefragt: Wie ist das mit den Zivilklauseln?

Interview mit Falk Bornmüller (Universität Jena)

von David Scheuing

Die Zivilklauselbewegung hat an deutschen Hochschulen einiges bewirkt – an über 60 Hochschulen gibt es Zivilklauselbeschlüsse. Doch vielfach versauern diese Beschlüsse unwirksam durch mangelnde Institutionalisierung, hochschulpolitische Interessen einer Vielzahl an Akteur*innen und zu geringer Normbegründung. In seinem Buch »Zivile Wissenschaft« hat Falk Bornmüller den Prozess der nachhaltigen Umsetzung einer Zivilklausel analysiert und spezifische Bedingungen für die Hochschullandschaft identifiziert.

David Scheuing für W&F: Herr Bornmüller, Sie haben gerade ein schmales, aber pralles Büchlein zu Zivilklauseln an deutschen Hochschulen veröffentlicht. Seit Mitte 2022 wird bundesweit aber wieder über das Aussetzen von Zivilklauseln debattiert. In Zeiten der »Zeitenwende« wären diese nicht mehr aktuell, heißt es in Debattenbeiträgen. Warum brauchte es jetzt ein solches Buch?

Bornmüller: Ich denke, es braucht dieses Buch, weil das Anliegen nach wie vor aktuell ist. Ich habe mich ja in sehr komprimierter Form damit auseinandergesetzt, ein schmales Büchlein, das noch lesbar ist, wo aber viel drinsteckt. Ich habe mich damit beschäftigt, weil es mich interessiert hat, was denn aus den Initiativen zur Einführung von Friedens- und Zivilklauseln an Hochschulen konkret werden kann. Ich fand das sehr interessant, dass diese vor allem von studentischen Gruppen getragenen Initiativen oft leider nicht den Erfolg haben, den sie eigentlich haben sollten. Da ich das Anliegen von Zivilklauseln inhaltlich teile, habe ich mich dann gefragt, wie ein solcher Prozess eigentlich funktionieren könnte. Und als Mitarbeiter einer Hochschule, der täglich mit dieser Institution zu tun hat und von ihr immer wieder überrascht wird, habe ich mich dann gefragt, ob in diesem Zusammenhang das Unterfangen einer Zivilklausel nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein muss. Vor allem, wenn man eine Verbindlichkeit für eine gesamte Institution, die in sich so heterogen ist und wo Entscheidungen eigentlich eher Ausdruck des Konsenses sind, den alle noch gerade so mittragen können – wie also in einer solchen Organisation eine für alle so starke Verbindlichkeit wie die normative Forderung einer Zivilklausel überhaupt durchgesetzt werden kann.

W&F: Es soll also als eine Form von Handreichung verstanden werden?

Bornmüller: Da war ich etwas hin- und hergerissen, als ich das Buch verfasst habe. Also nicht im Sinne eines Ratgebers, „macht es genau so“. Was ich an diesem Fall der TU Darmstadt herausgearbeitet habe, scheint mir aber zumindest gute Hinweise zu geben, was möglich ist. Es ist keine Blaupause, um so zu einer Zivilklausel zu gelangen. Ich wollte vor allem zeigen: die Organisation von Hochschule ist komplex, aber die Hinweise in diesem Fall können helfen, sich für die je eigene Hochschulsituation zu überlegen, was die vor Ort wichtigen Voraussetzungen sind. Und da gibt es schon so einige Dinge, die man Ratschlag gebend mit auf den Weg geben könnte.

W&F: Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen »Zivil-« und »Friedensklauseln«. Weshalb und worin liegen überhaupt die Unterschiede? Ist dies auch für die Praxis relevant?

Bornmüller: Nun, nicht nur sprachlich, sondern auch normensetzend macht dies deutliche Unterschiede – und wir können schon sehen, dass wir ein weites Spannungsfeld haben zwischen allgemeinen Friedensbekenntnissen, etwa in den Präambeln von universitären Grundordnungen, bis hin zu sehr spezifischen Formulierungen von Zivilklauseln mit konkreten Regelungen. Eher allgemeine Friedensklauseln benennen oft etwas sehr Richtiges – beispielsweise die Zielorientierung des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen –, aber sie benennen gleichzeitig nicht konkret, was dies nun bedeutet und ganz spezifisch, was dies für eine Universität und das Handeln ihrer Mitglieder bedeutet. Hier meine ich, dass eine Zivilklausel den Friedensklauselgedanken in sich trägt, aber eben eine sehr spezifische Formulierung findet, um diese Verpflichtung auch operationalisierbar, handhabbar und durchsetzbar zu machen. Das ist in Darmstadt sprach- und normensensibel sehr gut gelungen. Hier würde ich mir für die Zivilklausel-Initiativen auch wünschen, dass sie sich gezielt überlegen, was denn eine Formulierung ist, die diese Durchsetzbarkeit bietet, gerade mit Blick auf die Akteur*innen, die daran dann später zwangsläufig mit beteiligt sein werden.

W&F: Muss dann jede Zivilklausel auf jeden Kontext spezifisch anders formuliert werden? Oder gibt es schon »Mindestelemente«, die eine durchsetzbare Zivilklausel ausmachen?

Bornmüller: Ich habe mich da im Buch mit der Bewertung etwas zurückgehalten, aber wo Sie jetzt so direkt fragen: Ich glaube, die Darmstädter Zivilklausel ist in der Hinsicht eigentlich schon mustergültig. Gerade wenn Sie sich vor Augen führen, wie dort »Ziele« und »Zwecke« und deren Zusammenhang genau aufgeschlüsselt werden, und wie der Entscheidungsprozess vorausgedacht ist. Das bietet einen guten Orientierungsrahmen für das, was andere Zivilklauseln auch mitbringen müssten. Und weil die Darmstädter Klausel nicht zu konkret formuliert ist, bietet sie die richtige Balance zwischen notwendiger Allgemeinheit, so dass sie für viele Anwendungsfälle passt, und zugleich einer spezifischen Anwendbarkeit.

W&F: Sie schildern auch die Vorbedingungen an der TU Darmstadt. Dazu zählen Sie unter anderem die spezifische Historie der Darmstädter Verweigerungsformel, zentrale Persönlichkeiten unter den Professor*innen und die Institutionalisierung der Forschungsgruppe »IANUS«. Sind das Bedingungen, die der Zivilklausel eigentlich automatisch einen »Homerun« ermöglicht haben?

Bornmüller: Naja, ich würde sagen: sowohl als auch. Es hat sich schon herausgestellt, dass das nicht einfach so ein »Homerun« war, sondern dass der Prozess tatsächlich auch herausfordernd war. Aber es war insofern natürlich ein günstiger und ermöglichender Kontext, dass eben diese Akteure zu dieser Zeit da waren und dass es dieses Interesse gab. Wichtig war aber auch, dass es – obwohl das mit einer solchen Untersuchung nur schwer fassbar ist – diese »Universitäts- oder Organisationskultur« gab, die offenbar dazu beigetragen hat, dass man sich in den Gremien oder den Arbeitsgruppen offenbar sehr wertschätzend, konstruktiv, an der Sache interessiert und fair auseinandergesetzt hat. Es ist klar, dass das natürlich nicht ohne Widerstände, auch anfängliche Skepsis, vonstatten ging. Aber dass es dann doch im Interesse aller war, dieses Anliegen zur Sache aller zu machen, das hat schon auch etwas mit den Vorbedingungen in Darmstadt zu tun. Das sind natürlich Faktoren, die sich schwer steuern lassen – Stichwort Ratgeberliteratur: Das Umfeld, das die Instrumente einer Zivilklausel nicht nur ermöglicht, sondern auch fördert. Also man kann das auch ohne solche Förderung versuchen, aber wenn die Gremien sich im Kreis drehen oder die Leute, die in den Gremien sitzen, nicht willens sind, sich darauf einzulassen, dann sind Sie in einem solchen Umfeld fast schon zum Scheitern verurteilt. Darmstadt war hier einfach ein gut bereitetes Feld. Und ein bisschen Glück war auch dabei: Der Impuls für die Zivilklausel in Darmstadt kam in einer Zeit, in der die politische Welle der Zivilklausel-Prozesse von 2009-2010 gerade schon wieder am Abebben war – und dennoch hat man sich an der Universität zusammengesetzt und sich dem Prozess in Ruhe gewidmet. Selbst als der akute Druck weg war, galt immer noch die Entscheidung, „dass wenn wir es machen, dann machen wir es richtig“ – und dann ist man fünf Jahre am Ball geblieben.

W&F: Ich würde gerne nochmal auf diese Bedingungen eingehen. In Ihrem Buch lassen Sie viel die »konstruktiven« Parteien sprechen, wenn man einer solchen Einteilung folgen mag. Aber an zwei oder drei Stellen kommt eine Person zu Wort, die für die »radikale« Flanke der Studierendenschaft steht, die nochmal deutlich macht, was möglich sein könnte als Maximalforderung. Ist Ihres Erachtens eine radikale Flanke notwendig, um diesen Prozess für eine Zivilklausel überhaupt in Gang zu bringen?

Bornmüller: Auf jeden Fall. Und gerade auch immer wieder als Mahnung. Mir geht das auch nicht mehr aus dem Kopf: Durch meine Daten konnte ich den Fall Darmstadt so lesen, dass der Prozess durchgezogen wurde und jetzt dieses Verfahren existiert – Fall abgeschlossen. Aber ist die Zivilklausel jetzt akut in Darmstadt überhaupt noch ein Thema? Diese Studierende wies darauf hin, dass es eigentlich mal die Intention gab, dass immer wieder auch die Diskussion an der Hochschule geführt werden sollte, was diese Zivilklausel mit der Hochschule macht, wo und wie sie immer wieder neu herausgefordert ist. Dass also immer wieder ein Verständigungsprozess stattfinden soll über diese normative Verbindlichkeit, die man sich auferlegt hat – auch für einen selbstkritischen Blick, nach dem Motto: „Werden wir den an uns selbst gesetzten Ansprüchen eigentlich überhaupt noch gerecht?“ Und wenn wir daran Zweifel haben, woran liegt das?

W&F: Sehr beeindruckend für den*die Leser*in ist, dass da ein Prozess von über vier Jahren angegangen wird und durchgehalten wird. Wissen Sie etwas dazu, wie mit Frustrationen in diesem langen Prozess umgegangen wurde, um das überhaupt durchzuhalten? Das spricht ja schon dafür, dass es da zumindest ein gutes Frustrations- oder Stimmungsmanagement gegeben haben muss.

Bornmüller: Ja, also ich vermute, dass es ein gutes Frustrations- und Stimmungsmanagement gegeben haben muss – das kam auch in den Interviews immer wieder zwischen den Zeilen durch: Der einhellige Tenor war, nochmal Stichwort »Universitätskultur«, dass man sich auch über kontroverse, strittige Punkte hinweg in einem fairen Austausch verständigt hat und dass es Usus war, dass sich da alle Statusgruppen auf Augenhöhe über Sachthemen verständigt haben, es also diese Dialogkultur offenbar schon gab. Klar, dass es da auch mal hoch herging, aber nicht in einer Weise, dass die Gremien dann auseinandergeflogen sind. Man war sozusagen an der Sache dran und in der Sache hart, aber in einer Form, die immer noch beschlussorientiert war. Das ist schon etwas, das die von mir interviewten Akteure auch wertschätzen im Vergleich zu anderen Universitäten.

W&F: Ein nicht unerklecklicher Teil von Hochschulen hat schon Zivilklauseln. Gleichzeitig geraten diese oft in Vergessenheit – Sie schreiben, dass selbst an der TU Darmstadt eine einstmalige Formel vor Beginn dieses Prozesses schon wieder in Vergessenheit geraten war. Wenn die in Vergessenheit geraten, sind das alles zahnlose Tiger?

Bornmüller: Da kann ich jetzt auch keine so klare Antwort geben, wie es damit steht. Eher anekdotisch kann ich sagen, was ich im Freundeskreis zu hören bekam, als ich von dieser Forschung erzählt habe: „Zivilklausel, was ist das eigentlich?“ Es gab viele Leute im akademischen Kontext, die erst mal nicht wussten, was eine Zivilklausel ist. Und vielen war dann entsprechend nicht bekannt, dass es auch an ihrer Hochschule eine Zivilklausel gibt. Das spricht, glaube ich, für ein Problem: Mit der Einführung einer Zivilklausel, die dann irgendwo in der Grundordnung oder in einem anderen Dokument steht, kann die direkte Verwandlung in einen »Papiertiger« verbunden sein. Es ist dann eben keine »gelebte Zivilklausel«, wenn man so möchte. Ich bin mir da auch nicht sicher, ob – und das soll kein Angriff sein – die Zivilklausel-Initiativen da manchmal etwas zu kurz denken, was das beabsichtigte Ergebnis ihrer Initiative ist. Denn es reicht eben nicht, dass die Klausel in einer Grundordnung steht, die kaum einer liest. Das war in Darmstadt zumindest zwei, drei Schritte weitergedacht. Die wollten das gerne so einführen, dass es sichtbar ist und dass man um dieses Prüfverfahren nicht drum herumkommt. Also ja, natürlich sollte es noch viel mehr Zivilklauseln geben an Hochschulen, wo es noch keine gibt. Aber gerade auch an Hochschulen, die sich bereits eine Zivilklausel gegeben haben, da sollte in den Bemühungen nicht nachgelassen werden – auch von den Initiativen, damit Zivilklauseln eben nicht zu Papiertigern werden.

W&F: Sie weigern sich zwar so ein bisschen, das jetzt als Blaupause zu verstehen, aber mich würde schon interessieren: Was wären denn die zentralen Impulse aus Ihrer Forschung, die die heutige Zivilklauselbewegung, so wie sie jetzt existiert, mindestens mitnehmen müsste, um effektiver zu sein?

Bornmüller: Ja, schwierig. Also zunächst einmal, dass eine Zivilklausel elaboriert genug und vor allem verfahrensorientiert sein sollte, so dass damit eben auch die Wirksamkeit zumindest grundsätzlich möglich ist. Zweitens, dass es – und das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt – eine hochschulinterne oder universitätsweite Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt. Also dass die Diskussion darüber wirklich wachgehalten wird.

W&F: …beispielsweise durch solche Hearings, wie in Darmstadt…

Bornmüller: …ja, genau. Ich konnte das jetzt im Nachhinein nicht mehr eruieren, wie viele Interessierte dann tatsächlich an diesen Hearings teilgenommen haben. Aber zumindest gab es dieses öffentliche Format und alle waren herzlich eingeladen zu kommen, ihre Meinung zu äußern, Vorschläge zu machen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, und in Darmstadt wurde es so gemacht. Das gilt dann aber natürlich auch für später, wenn die Zivilklausel verabschiedet ist: Diese muss eigentlich viel mehr im Diskurs sein, die Hochschule sollte sich auch ständig ein bisschen daran reiben, um sich sozusagen immer wieder selber zu kitzeln.

Und ein dritter Punkt ist – auch auf die Gefahr hin, jetzt in so einen Ratgebersprech zu verfallen – tatsächlich, dass bei allen Akteur*innen eine gewisse Sensibilität da sein muss für alles das, was in diesem Prozess eine Rolle spielt: Sich zu überlegen, was heißt es, sich eine solche normative Verbindlichkeit aufzuerlegen? Was heißt es, inhaltlich und strukturell bei der Planung und Durchführung von Forschungsprojekten, bei der Antragstellung für Drittmittel eine Zivilklausel berücksichtigen zu müssen? Und was heißt das mit Blick auf die spezifische Situation an der Hochschule, an der man so etwas umsetzen möchte?

W&F: Was würden Sie denn jetzt knapp zehn Jahre nach der Einführung sagen: Hat die Zivilklausel dazu geführt, die TU Darmstadt wirklich aktiv zu entmilitarisieren und zivil zu gestalten?

Bornmüller: Da kann ich keine entschiedene Antwort geben. An einer Stelle am Ende der Studie schreibe ich, dass es schon eine bemerkenswerte Tatsache ist, dass die Zahl der Fälle, über die die Ethikkommission entscheidet, wirklich im einstelligen Bereich liegt. Da ist dann die Frage: Hat die Zivilklausel zu einer Entmilitarisierung geführt? Ist es tatsächlich angekommen und universitätsweit so Konsens, dass niemand überhaupt auf die Idee kommt, ein Forschungsprojekt anzugehen, das mit der Zivilklausel nicht konform ist? Das wäre eine Schlussfolgerung, die man daraus ziehen könnte.

Eine andere wäre aber – und auch darauf brachte mich die »radikale« Stimme – dass wir auch sehen müssen, dass es zum Beispiel Fraunhofer-Institute als eine Art »An-Institute« gibt. Und die fallen formal nicht unter die Darmstädter Zivilklausel. Ich kann mir gut vorstellen, dass eventuell das eine oder andere – zumindest mit Blick auf die für die Zivilklausel relevanten Dimensionen kritisch zu bewertende – Projekt dann eher mal an ein Fraunhofer-Institut ausgelagert wird. Formell würde dann an der TU diese Art von Forschung, die mit der Zivilklausel nicht vereinbar ist, nicht stattfinden, aber sie würde eben trotzdem an der TU stattfinden, weil das Fraunhofer-Institut eng angebunden ist. Vor diesem Hintergrund wären da zumindest leise Zweifel angebracht, ob diese Entmilitarisierung tatsächlich so durchgängig erfolgreich war.

Nochmal eine ganz andere Möglichkeit wäre, dass es auch schon vor Einführung der Zivilklausel eigentlich gar keine kontro­versen Forschungsprojekte gab, die dann mit der eingeführten Zivilklausel als militärische oder kriegsförderliche Forschung hätten angesehen werden können. Es könnte auch sein, dass die TU Darmstadt schon vorher eine ziemlich zivile und entmilitarisierte Hochschule war. Das wäre vielleicht mal eine eigene Untersuchung wert.

Am Ende bleibt, dass an der TU Darmstadt – ich würde schon sagen: einigermaßen vorbildlich – eine Zivilklausel eingeführt wurde. Die Akteur*innen vor Ort haben gezeigt, wie das gehen kann, haben sich Gedanken gemacht, mit langem Atem und mit institutionellem Verständnis. Dennoch sollte man nicht immer das Maximum von einer Zivilklausel-Einführung erwarten. Wenn am Ende im Großen und Ganzen eine zivile Hochschule steht, in der über dieses Thema gesprochen wird, ist das schon mal gut. Und vielleicht lässt sich mit dieser Perspektive konstruktiver arbeiten als mit der strengen Frage danach, ob eine Hochschule nun wirklich absolut nichts mehr tut, was möglicherweise militärisch relevant sein könnte.

Falk Bornmüller ist als Referent für Lehrerbildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig und forscht u.a. zu Themen der Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftspolitik.

Bild von Buch

Falk Bornmüller (2023): Zivile Wissenschaft. Theorie und Praxis von Friedens- und Zivilklauseln an deutschen Hochschulen. Bielefeld: transcript, ISBN: 978-3-8376-6477-5, 134 S., 45 €.

Konfliktsensible Netzwelt?

Konfliktsensible Netzwelt?

Für eine Transformation des digitalen Raums

von Cora Bieß

Durch den digitalen Strukturwandel hat sich das Zusammenleben von Menschen massiv verändert. Auch wesentliche Dimensionen der Sozialisierung vieler Menschen finden mehr und mehr online statt. Damit verbunden ist auch die Austragung von Konflikten. Die digitale Welt ist also ein Konfliktkontext. Die interaktiven Kommunikations- und Dialogräume der digitalen Plattformen bieten einerseits Chancen für Partizipation, Vernetzung und Inklusion, andererseits sind sie der Ort neuartiger Gewaltphänomene und können Konfliktdynamiken befeuern. Hier soll nun eine machtkritische Konfliktsensibilität im und für den digitalen Raum formuliert werden.1

Die Vernetzung durch digitale Angebote ist gigantisch: In Sekundenschnelle sind Menschen – scheinbar gleich wo auch immer auf dem Planeten − miteinander verbunden, Informationen ausgetauscht oder auch Unklarheiten ausgeräumt (von Unebenheiten in Lieferketten bis hin zu politischen Missverständnissen). Der digitale Raum stellt insofern ein Novum dar, als dass er in seiner überregional einheitlichen Infrastruktur auch eine scheinbare Uniformität des Angebotes schafft. Da Plattformen wie TikTok oder Instagram und Facebook weltweit genutzt werden können und die Bedienformen im Frontend unabhängig von der Region ähnlich sind− also die Apps, Programme und Browserausgaben unabhängig vom analogen Standort in ihrer Gestaltung und Funktion gleich aussehen − bietet »das Internet« einen vermeintlich homogenen Kontext.

Onlinekommunikation verbindet …

Onlinekommunikation, als Bestandteil eines Konfliktkontextes nun als »Connector« betrachtet, bietet die Chance, (internationale) Netzwerke aufrechtzuerhalten. Durch Onlinekommunikation können fast in Echtzeit Informationen und Wissensbestände ausgetauscht werden, die zu Perspektivenvielfalt über verschiedene analoge Kontexte hinweg führen. Außerdem bietet die Onlinekommunikation eine niedrigschwellige Möglichkeit, mit einem großen Publikum zu interagieren. Die Reichweite der verschiedenen Zielgruppen kann durch Onlinekommunikation erhöht werden. Sie ermöglicht beispielsweise auch die (partielle) Teilnahme von Menschen mit Gehbehinderungen, die keine weiten Wege in nicht barrierefreie Gebiete auf sich nehmen können. Die verbindenden Faktoren sind hier also die Strukturen, die eine Einbeziehung und Beteiligung über nationale, physische und körperliche Grenzen hinweg ermöglichen. Dies kann auch zur Krisen- und Konfliktintervention hilfreich sein – auf verschiedene Weisen:

  • Dokumentation und Beobachtung: Gewaltphänomene können relativ einfach dokumentiert und beobachtet werden. Beispiele dafür sind die quelloffene und Community-zentrierte Mapping,- Monitoring- und Mobilisierungssoftware »Ushahidi« (damit können Lageberichte zu Krisensituationen erstellt werden) oder das »Phoenix«-Programm der NGO »Build Up«. Mit Phoenix werden partizipative Social-Media-Analysen erstellt, die von Friedensaktivist*innen und Konfliktmediator*innen in konkreten Konfliktbearbeitungssituationen als Teilhabetools genutzt werden können.
  • Schutzraum für Minderheitengruppen: Der digitale Raum kann als Schutzraum dienen, in dem sich beispielsweise oppositionelle Gruppen in autoritären Systemen aufgrund der Anonymität sicherer vernetzen können. In Ländern, in denen zum Beispiel die Rechte von LGBTQIA+ stark eingeschränkt sind, bietet der digitale Raum eine Möglichkeit zum Austausch über Verbote und Restriktionen hinweg. Die quelloffene Software »Consul« beispielsweise kann zu partizipativen Zwecken eingesetzt werden, um so minorisierten Gruppen in Konfliktregionen Zugang zu gesellschaftlichen Diskursen und zur Teilhabe ermöglichen. Dadurch kann der digitale Raum für Konfliktsituationen oder -verhältnisse als verbindender Ort ermöglichende Funktionen entfalten (siehe auch die breiten Debatten um den »Arabischen Frühling« als »Social-Media-Revolution«).
  • »Digitales Nachleben«: Erinnerungen an historische Ereignisse, die Ursache für aktuelle Konfliktsituationen sind, können durch die Artikulation von Zeitzeug*innen wachgehalten werden. Sogenannte »Deepfake«-Technologie kann auch invers verwendet werden, um verfolgte Gruppen zu schützen, wie der Dokumentarfilm »Welcome to Chechnya« zeigte, in dem die Verwendung von KI-generierten Gesichtsdoppelungen zum Einsatz kam. Regisseur David France wollte seinen Einsatz der Deepfake-Technologie als »Deep True« verstanden wissen, da die Verfolgten so in der Lage waren, ihre Wahrheit zu erzählen, ohne ihre Identität im Exil verraten zu müssen. Für das benötigte Bild- und Videomaterial wurden Freiwillige gebeten, ihr Gesicht »zu leihen«. Solche Ansätze werden in Zukunft noch einfacher zugänglich werden. Denkbar ist es daher, dass Kriegsverbrechen, Genozide oder andere Gewalttaten im digitalen Raum in Echtzeit der Weltöffentlichkeit zugänglich werden können, bei gleichzeitigem Opferschutz.

Onlinekommunikation spaltet…

Die einheitliche globale Infrastruktur zentraler Plattformen kann aber gleichzeitig auch als Spalter (»Divider«) wirken, da hinter diesen globalen Plattformen große Tech-Unternehmen stehen, die zunehmend an Macht und Einfluss gewinnen. Die Monopolstellung einzelner Global Player wie Meta, Microsoft, Alphabet, Amazon und Bytedance zentriert deren Macht als Plattformbetreiber*innen im internationalen Markt der Meinungen, Angebote und Möglichkeiten. Entscheidungen, die hier getroffen werden, haben schnell Auswirkungen auf viele Milliarden Menschen über politische Systeme hinweg.

Die Mehrheit der Plattformentwickler*innen und -betreiber*innen befindet sich im Globalen Norden − aber diese Plattformen werden global genutzt. Da Technik nicht neutral ist, sind Annahmen und Werte des Globalen Nordens in die Infrastruktur dieser Plattformen eingeschrieben, die folglich durch die Nutzung dieser Plattformen Auswirkungen auf die Weltbevölkerung haben. Neben dem Entwicklungsprozess haben auch die Plattformbetreiber*innen einen großen Einfluss auf die Nutzer*innen in ihrer Praxis. Die Plattformbetreiber*innen bestimmen, mit welchem Verhaltenskodex eine Nutzung ihres Angebots erlaubt ist – und hier weichen kulturelle und soziale Verständnisse, aber auch juristische Definitionen von freier Meinungsäußerung durchaus drastisch voneinander ab. Da die Unternehmen für die Moderation der Inhalte zuständig sind, beeinflussen deren (Nicht-)Entscheidungen Diskurse maßgeblich. Am Beispiel von TikTok sind hier die Phänomene »Shadowbanning« und »Shadowpromoting« zu nennen.

Shadowbanning funktioniert wie die Verwendung von Wortfiltern, wobei Inhalte mit den davon betroffenen Hashtags zwar nicht gelöscht werden, aber nicht mehr unter diesen Schlagwörtern zu finden sind. Anbieter*innen wie TikTok haben dadurch die Macht zu beeinflussen, welche Gruppen einen hegemonialen Platz im politischen Diskurs einnehmen (diese können durch umgekehrt funktionierendes »Shadowpromoting« unterstützt werden) und welche (durch »Shadowbanning«) marginalisiert werden. Diese externe Einflussnahme auf den Diskursraum ist den Nutzer*innen jedoch oft nicht bewusst und die dahinterstehenden Machtstrukturen können durch die mangelnde Transparenz der Inhaltsmoderation auf den Plattformen verschleiert werden. Diese Intransparenz wiederum verunmöglicht den gleichwertigen Zugang zu Diskursen in der Onlinekommunikation (vgl. Köver 2020; Meineck 2022).

Neben der Macht der Plattformbetreiber*innen spielt auch die Macht staatlicher Akteur*innen eine relevante Rolle als Divider, insbesondere in autoritären Staaten, in denen Internetshutdowns die Mobilisierung und Vernetzung der Zivilgesellschaft verhindern sollen, wie beispielsweise im Iran 2022. Daneben können staatliche Akteur*innen auch die Infrastrukturen des Netzes gezielt nutzen, um für ihre (auch gewaltvolle) Position zu werben, ohne direkt erkennbar aufzutreten (so beispielsweise im Fall der Rolle der myanmarischen Generäle im Völkermord an den Rohingya und dem dortigen Einfluss der Plattform Facebook).

Weitere technisch bedingte Faktoren, die als Konflikttreiber wirken können, sind:

  • Echokammern und Filterblasen: In Echokammern werden Aussagen verstärkt, indem Gleichgesinnte sich gegenseitig ihre Meinungen wie ein Echo immer wieder bestätigen, während der Kontakt zu abweichenden Meinungen abnimmt. So kann der Eindruck entstehen, dass andere Aussagen nicht existieren und ein Diskursverlauf »alternativlos« erscheint. Filterblasen hingegen entstehen aufgrund von algorithmischen, personalisierten Informationen für die Nutzer*innen. Beides kann Auswirkungen auf gruppendynamische Meinungsbildungsprozesse haben, da Hegemoniales häufiger angezeigt wird.
  • Desinformationskampagnen: Das Friedensgutachten 2023 beschreibt, wie sie Vertrauensverlust hervorrufen, zum Beispiel können sie, „im Zusammenhang mit Behauptungen über den Gebrauch oder geplanten Einsatz von Massenvernichtungswaffen, Strukturen und Institutionen der Rüstungskontrolle beschädigen oder zerstören“ (BICC et al. 2023, S. 97). Desinformation kann als »Divider« auch die internationalen Beziehungen gefährden, denn „in jüngster Zeit lässt sich […] eine zunehmende Zahl von Desinformationsbemühungen auf der Ebene des offiziellen diplomatischen Diskurses beobachten“ (ebd.).
  • Beschleunigte Kommunikation: Inhalte können innerhalb von Sekunden kopiert oder verändert und mit einem großen Publikum geteilt werden. So steigt die Gefahr, dass verletzende Kommentare spontan und unreflektiert gesendet werden und sich unkontrolliert verbreiten oder auch Nachrichten(-bestandteile) entkontextualisiert in dritten Räumen zu extremer Konfliktverschärfung führen (»Kandel«-Effekt). Die unüberschaubare »Mitleser*innenschaft« im digitalen Raum macht es immer schwieriger, die Folgen des eigenen Verhaltens abzuschätzen. Verletzungen gegenüber dritten Personen können damit aber auch sehr viel schneller aus der direkten Verantwortung von einzelnen geraten.

Anonymität bietet zudem die Möglichkeit, kriminelle Aktivitäten unentdeckt durchzuführen. Außerdem ist die Hemmschwelle, im digitalen Raum beleidigende, diskriminierende oder rassistische Inhalte anonym weiterzugeben, viel niedriger als die gleichen Taten von Angesicht zu Angesicht in der analogen Welt zu begehen. Die fehlende direkt erlebbare physische Verletzlichkeit des Opfers sowie das Fehlen von Mimik und Gestik erschweren die Resonanz, weshalb Mitgefühl und Empathie oft wenig gezeigt wird. Somit kann Anonymität nicht nur als »Connector«, sondern auch als »Divider« dienen.

Oben wurden die Mittel der Dokumentation und Überwachung von Konflikten als mögliche »Connector«-Dimension beschrieben, gleichzeitig können so auch Konflikte verschärft werden. Überwachung wirkt als »Divider«, wenn Tracking zum Beispiel zur Verfolgung von Friedens- oder Menschenrechtsaktivist*innen genutzt wird. Zudem besteht die Gefahr, dass sensible oder personenbezogene Daten durch Hackerangriffe an Dritte weitergegeben werden. Dies ist gerade für Peace-Tech-Unternehmen eine Herausforderung, weil sie gezielt angegriffen werden können. Gefahren bestehen beispielsweise darin, dass persönliche Daten bei partizipativen Umfragen abgefragt werden und der Schutz der beteiligten Akteur*innen im Falle eines Hackerangriffs nicht mehr gewährleistet werden kann.

Hinzu kommt das veränderte Verständnis von Zeit und Raum in der digitalen Welt. Da bereits in Vergessenheit geratene Inhalte in der digitalen Welt ohne großen Aufwand plötzlich wieder auftauchen können, können Menschenrechts- oder Friedensaktivist*innen auch noch viele Jahre später bedroht sein, deren Schutz vordergründig jedoch mitunter nur in der gegenwärtigen Situation im Fokus stand. Diese Gefahr spielt also bereits in der Dokumentation eine zentrale Rolle und kann Aktivist*innen davon abhalten, sich an partizipativen Ansätzen zu beteiligen, da eine Folgenabschätzung in die Zukunft auch aufgrund der ständigen Weiterentwicklung der digitalen Räume nicht vollständig möglich ist.

Weitere »Divider« sind neue Gewaltphänomene wie Doxing, Sexting, Cybermobbing, Hass und Hetze, Selbstgefährdungswettbewerbe oder Doomscrolling, die Menschen konkreter (Selbst-)Gefährdung aussetzen, ihnen direkte Gewalt antun oder auch bestehende Machtasymmetrien reproduzieren oder zu neuen Asymmetrien beitragen.

Wie lässt sich nun in den bestehenden Strukturen des Internets und in ihrer Fortentwicklung eine Trendwende bei der Gestaltung und Rahmung des digitalen Raums schaffen, und wie kann eine machtkritische Konfliktsensibilität gestärkt werden?

Herrschaftskritische Transformation der Infrastruktur

Eine machtkritische Konfliktsensibilität im digitalen Kontext hinterfragt die in den Strukturen und Systemen enthaltenen hegemonialen Praktiken und Formen der epistemischen Gewalt (Quintero und Garbe 2013). Es ist daher wichtig zu reflektieren, wann und in welcher Form Rassismus und andere Formen der Diskriminierung in Algorithmen kodifiziert werden. Dabei sind sowohl die Ursachen algorithmenbasierter Diskriminierung als auch die Handlungsoptionen zum Schutz vor Diskriminierung bei der Weiterentwicklung von Plattformen zu berücksichtigen (Orwat 2019).

Um eine positive Veränderung im Coding- beziehungsweise allgemeinen Entwicklungsprozess digitaler Strukturen und Systeme zu stärken, bedarf es inter- und transdisziplinärer sowie diverser Entwicklungsteams. In diesem Prozess braucht es laut Babaii und Tajjiki (2020) zudem ein ausgewogenes Genderverhältnis. Parallel bedarf es der Entwicklung dezentral organisierter, gepflegter und gehosteter Plattformen, in denen auch Menschen aus dem Globalen Süden mit mehr Einfluss und stärkerer Lenkungsrichtung besser vertreten sind. Dies gilt auch für die verstärkte Beteiligung von BIPoC und der LGBTQIA+-Gemeinschaft sowie von Kindern und Jugendlichen. Die Gestaltung digitaler Softwaresysteme sollte folglich multiperspektivisch erfolgen. Ansätze wie »Ethics By Design« bieten hierfür Orientierung. Dies erfordert allerdings auch eine kritische Reflexion über den Einfluss globaler Tech-Unternehmen auf diese Prozesse.

Im Internet sind nicht alle gleich…

Die Anwendung und Nutzung des digitalen Raums ist politisch. Es muss daher reflektiert werden, wer Zugang hat, wer die Möglichkeit hat, daran teilzunehmen und wer davon ausgeschlossen ist. Gemeinsame Kommunikation, gemeinsame Haltungen und gemeinsames Handeln, aber auch Bildung, Partizipation und Engagement können gestärkt werden, wenn der digitale Raum inklusiv gestaltet ist. Bonami und Lujan Tubio (2016) beschreiben beispielsweise, wie Inklusion in Brasilien gestärkt werden kann, indem marginalisierten Gruppen ein gleichberechtigter Zugang zu Dienstleistungen sowie zu sozialen und politischen Räumen ermöglicht wird.

Ein Ende dem digitalen Kolonialismus

Satyajeet Malik (2022) spricht von digitalem Kolonialismus und beschreibt damit wie westliche Tech-Unternehmen systematisch Aufgaben der »Content«-Moderation oder Datenkennzeichnung in Länder des Globalen Südens auslagern.2 Die verantwortlichen Menschen vor Ort werden weder angemessen bezahlt noch wird für ihr psychisches Wohlbefinden gesorgt (ebd.). Gerade im Bereich der »Content«-Moderation sind die Betroffenen oft massiven Gewaltdarstellungen ausgesetzt, ohne dass sie psychosoziale Unterstützung bei der Verarbeitung der visuellen Gewaltdarstellungen erhalten.

Eine umfassende Moderation von Inhalten auf Plattformen ist einerseits wichtig, um Gewalt zu verhindern und zu intervenieren, indem die Inhalte frühzeitig identifiziert und gelöscht werden. Dies darf jedoch nicht zu einer Reproduktion globaler Machtasymmetrien führen, indem dieser Aufgabenbereich an unterbezahlte Akteur*innen aus dem Globalen Süden ausgelagert wird.

Cyberkoloniale Strukturen weisen somit Überschneidungen mit kolonialen Kontinuitäten auf. Vor diesem Hintergrund muss diskutiert werden, wie algorithmische Gerechtigkeit und kritische Kodierungspraktiken umgesetzt werden können, die eine intersektionale Analyse digitaler Medien und Technologien berücksichtigen. Nicht die Gewinnmaximierung von Tech-Firmen durch die systematische Auslagerung dieser Arbeit in Niedriglohnländer sollte das Ziel sein, sondern eine globale Gewaltreduzierung für alle beteiligten Akteur*innen. Hass und Hetze sind dann wiederum meist sehr kontextspezifisch, so dass es auch nicht sinnvoll oder umgekehrt gar gewaltförderlich ist, wenn die globale Moderation von Inhalten in dritte Kontexte an Menschen mit keinen oder rudimentären Sprachkenntnissen ausgelagert wird. Notwendig ist eine fachliche Ausbildung von der gesellschaftlichen (ethnischen, politischen, sprachlichen, u.a.) Diversität entsprechenden Content-Moderator*innen in allen Ländern, verbunden mit deren angemessener traumasensibler Unterstützung und therapeutischer Supervision.

Neue und sichere Räume ermöglichen

Es ist aus Sicht einer machtkritischen Konfliktsensibilität dringend notwendig, eine kritische Haltung gegenüber Rassismus und Diskriminierung im digitalen Raum zu stärken und Privilegienbewusstsein zu fördern, um die Machtteilung in Form von Gegenrede, Schutz und Unterstützung für Betroffene zu stärken. Hier könnten Privilegienchecks, wie z.B. von Peggy McIntosh (1989), für den digitalen Kontext weiterentwickelt werden. Konkrete Praxisangebote für Gegenrede, Schutz und Unterstützung müssen trainiert und niedrigschwellig zugänglich sein, wie beispielsweise »Online-Streetwork« und Trainings für Zivilcourage (BICC et al. 2023, S. 136). Darüber hinaus wäre es denkbar, Safe(r)Space-Konzepte in Kombination mit Verhaltenskodizes, Ombudspersonen und Awareness-Teams auf Social Media Plattformen einzuführen, um sichtbare Anlaufstellen für Betroffene von Rassismus und Diskriminierung zu schaffen.

Wie oben festgehalten, ist der digitale Raum keinesfalls für alle gleich und gleich zugänglich – dies führt auch zu unterschiedlicher Konfliktwahrnehmung und -auswirkung. Für eine konfliktsensible Gestaltung des digitalen Raums, die koloniale Kontinuitäten berücksichtigt und auf Gewaltminderung ausgerichtet ist, sind daher »föderal« je Plattform unterschiedliche Regulierungsansätze denkbar, die sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen in einem breiten partizipativen Gestaltungsprozess orientieren. Es wäre wünschenswert, politisch, aber auch handlungspraktisch einer immer stärkeren Monopolisierung durch große Technologieunternehmen entgegenzuwirken. Dezentrale Non-Profit-Tech-Unternehmen, wie die hier vorgestellten Plattformen3 »Ushahidi«, »Phoenix« oder »Consul«, aber auch alternative Messengersysteme, Kollaborationstools, Speicher und weitere dezentrale Anbieter*innen, die eine solche konfliktsensible Zugänglichkeit schaffen, könnten stärker genutzt und finanziell unterstützt werden. So könnten machtkritisch partizipative, quelloffene und nutzer*innenorientierte Plattformen gestärkt werden, in denen sicherere digitale Räume entstehen können. Auch für die weitere digitale Gemeinwesenarbeit braucht es kreative Ideen für eine »Alphabetisierung« gewaltfreier Konfliktbearbeitung. Solche Ideen und Entwicklungen sind notwendig, wenn die Netzwelt gewaltärmer werden soll.

Anmerkungen

1) Der Beitrag baut auf meinem bereits erschienenen Artikel »Konfliktsensibilität machtkritisch gestalten« auf, in dem eine entsprechende Reformulierung des »Do No Harm«-Ansatzes beschrieben wurde (vgl. W&F 1/2023, S. 37-40).

2) Die Auslagerung von Arbeitsketten in den Globalen Süden ist Ausdruck kolonialer Kontinuitäten. Denn auch heute bedeutet es, dass wie zur Zeit des Kolonialismus „die Arbeit der Menschen in den Kolonien die wichtigste Rolle bei der Schaffung von Wohlstand für die Kolonialmächte“ spielt (Malik 2022).

3) Diese wurden auf dem »Markt der Möglichkeiten: Peace Tech stellt sich vor« der diesjährigen Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung vorgestellt. Siehe Tagungsbericht, S. 59f

Literatur

Babaii, S.; Tajiki, R. (2020): Strategies to increase the role of women in the development of digital technologies. Journal of Science & Technology Policy 13(2), S. 71-84

BICC; HSFK; IFSH; INEF (Hrsg.) (2023): Noch lange kein Frieden: Friedensgutachten 2023. Bielefeld: transcript.

Bonami, B.; Lujan Tubio, M. (2016): Digital inclusion, crowdfunding, and crowdsourcing in Brazil: A Brief Review. In: Passarelli, B.; Straubhaar, J.; Cuevas-Cerveró, A. (Hrsg.): Handbook of research on comparative approaches to the digital age revolution in Europe and the Americas. IGI Global, S. 77-100.

Kettemann, M. (2023): Dezentral, dynamisch, demokratisch: Sind föderierte Plattformen wie Mastodon besser? Bundeszentrale für politische Bildung, Digitale Tools und Technik im Bildungsalltag, 18.4.2023.

Köver, C. (2020): Shadowbanning: TikTok zensiert LGBTQ-Themen und politische Hashtags. Netzpolitik.org, 9.9.2020.

Malik, S. (2022): Globale Arbeitsketten der westlichen KI. Reihe zum digitalen Kolonialismus. Netzpolitik.org, 6.5.2022.

McIntosh, P. (1989): White privilege. Unpacking the invisible knapsack. Peace and Freedom Magazine (WILPF Philadelphia, PA), July/August 1989, S. 10-12.

Meineck, S. (2022): Geheime Regeln: TikTok hat das Wort ‚Umerziehungslager‘ zensiert. Netzpolitik.org, 10.2.2022.

Orwat, C. (2019): Diskriminierungsrisiken durch Verwendung von Algorithmen: eine Studie, erstellt mit einer Zuwendung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Baden-Baden: Nomos.

Quintero, P.; Garbe, S. (2013): Kolonialität der Macht: De/Koloniale Konflikte: zwischen Theorie und Praxis. Münster: Unrast-Verlag.

Witness (2020): Identity protection with deepfakes: ‘Welcome to Chechnya’ director David France. Online verfügbar: youtube.com/watch?v=2du6dVL3Nuc.

Cora Bieß ist Referentin im Projekt »Friedensarbeit verändern − Rassismus- und machtkritisches Denken und Handeln in der Zivilen Konfliktbearbeitung« bei der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Redakteurin des Kinderportals frieden-fragen.de.

Wessen Körper, wessen Rechte?

Wessen Körper, wessen Rechte?

Konflikte um Selbstbestimmung als akutes Demokratieproblem

von Ulrika Mientus

Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung sind zum selbstverständlichen Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung avanciert. Inwiefern bergen sie jedoch Zündstoff für innergesellschaftliche Konflikte, die eine Thematisierung in W&F rechtfertigen? Die historische Langzeitperspektive kann hier helfen und einerseits aufzeigen, was die Aushandlung von Geschlecht, Sexualität und Reproduktion mit Gewalt und Konflikt in der deutschen Gesellschaft zu tun haben. Andererseits wird deutlich, welchen Einfluss diese Aushandlungsprozesse auf das demokratische Miteinander im Hier und Jetzt haben und insofern dringend einer Reflexion bedürfen.

Ist nicht über sexuelle Identitäten und Geschlechter, über damit einhergehende und sie begründende Macht- und Gewaltverhältnisse alles gesagt? Haben nicht die Frauenbewegungen seit dem ausklingenden 19. Jahrhundert, die Behindertenrechtsbewegung, der Aktivismus von Schwarzen, BIPoC und aus der LGBTQIA+ Community zur Genüge vor Augen geführt, dass Menschenrechte als Rechte aller Menschen umgesetzt werden müssen? Hat Carolin Emcke (2019, S. 91) nicht recht, wenn sie schreibt: „Manchmal kommt mir die Kritik an Ungleichheit und Diskriminierung nurmehr unoriginell vor – schließlich wiederholen wir das, was Generationen vor uns, mit anderen Erfahrungen und anderen Begriffen, bereits formuliert haben.“

Ist nicht schon alles gesagt?

Das Sprechen über und die Umsetzung von sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung scheint heute in Deutschland eine Selbstverständlichkeit zu sein. Im November 2016 wurde mit der Reform des §177 Strafgesetzbuch (StGB) erstmals die Maxime »Nein heißt Nein!« im deutschen Strafrecht verankert, so dass nun der erkennbare Wille der*des Betroffenen gegen die sexuelle Handlung bzw. die fehlende Möglichkeit, einen Willen zu bilden, als Maßstab für die strafrechtliche Beurteilung sexueller Handlungen fungiert. Zwei Jahre später – im Januar 2019 – folgte die Reform des §219 StGB zum sogenannten Werbeverbot für Abtreibungen, dessen Streichung monatelang gefordert worden war, um die Informationsrechte (ungewollt) schwangerer Personen garantieren zu können, ohne die beteiligten Ärzt*innen hierfür zu kriminalisieren. Und schließlich steht die Ablösung des diskriminierenden Transsexuellengesetzes (TSG) durch ein Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag bevor. Diese (straf-)rechtlichen Reformen sind das Ergebnis langwieriger und konfliktreicher Aushandlungsprozesse über Geschlecht, Sexualität und Autonomie und verweisen exemplarisch auf einen gesellschaftlichen Wahrnehmungswandel in Bezug auf Körper und deren Verfügbarkeiten.

Zugleich sind die Grenzen dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeiten evident: Die Entscheidungshoheit über eine Abtreibung wird mit ihrer Kriminalisierung in §218 StGB nach wie vor der schwangeren Person entzogen. Ernsthafte und damit effektive staatliche Schutzkonzepte bezüglich sexueller und sexualisierter Gewalt insbesondere für Frauen, homosexuelle, trans und non-binäre Personen lassen auf sich warten (vgl. Notz 2022). Und die Verabschiedung des sogenannten Selbstbestimmungsgesetzes wird mit Mythen über die Gefährlichkeit von trans Personen unnötig belastet und verzögert. Blickt man über den deutschen Tellerrand hinaus, zeigt sich zudem, dass einmal erkämpfte Rechte zur Disposition gestellt, beschnitten oder gar zurückgenommen werden können. Doch nicht nur das: während einerseits Rechte erkämpft und normalisiert werden, formieren sich andererseits vehemente Abwehrkräfte. So sind Frauen, trans und non-binäre Menschen heute deutlich sichtbarer vertreten, politisch aktiv und wirtschaftlich erfolgreich. Gleichzeitig sind sie einem ungewohnten Hass ausgesetzt, der sich dank neuer Technologien ungehemmter entladen kann.1 Um diese ambivalente Gleichzeitigkeit zu beschreiben, sprach Susanne Kaiser (2023) jüngst in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« nicht zu Unrecht von einem feministischen Paradoxon.

Begleitet werden diese Momente der Infragestellung, der Verzögerung oder gar Zurücknahme durch eine – auch medial aufgeladene – Polarisierung der Gesellschaft: diametral stehen jene (rechts-)konservativen Verteidiger:innen einer imaginierten, zu bewahrenden natürlichen und/oder gottgegebenen Geschlechterordnung den von ihnen als »woke« diskreditierten Verfechter:innen sexueller und reproduktiver Selbstbestimmungsrechte gegenüber.2 Im Kern geht es dabei um nichts weniger als die Frage, für wen die Allgemeine Menschenrechtserklärung, ihr europäisches Pendant sowie die Grundrechte im Grundgesetz formuliert sind: Wer zählt als Mensch, dessen Würde unantastbar ist? Welche Leben gelten als schützenswert? Welche als weniger betrauernswert?3

Damit stellt sich die Frage, welche Folgen es für jene hat, deren Existenzen zur Disposition gestellt werden. Wie wirkt sich ihr Ausschluss zunächst auf individueller Ebene aus? Und welche Auswirkungen auf das gesellschaftliche Miteinander hat die Grenzziehung zwischen jenen, die von den Menschenrechten adressiert werden und auf ihre Verwirklichung vertrauen können, und jenen, die um Anerkennung als Träger:innen von Menschenrechten kämpfen und auf ihre Verwirklichung nur hoffen dürfen. Der Blick in die Geschichte kann helfen, diese Auswirkungen sichtbar zu machen, um darauf aufbauend die Aktualität ebenso wie die Brisanz für das demokratische Miteinander offenzulegen.

Was hat das mit Gewalt zu tun? Ein Blick zurück!

Gewaltverständnisse

Das 20. Jahrhundert ist geprägt von einem enormen Wahrnehmungswandel von Gewalt, den Svenja Goltermann (2020) aus wissensgeschichtlicher Perspektive auf vier Entwicklungen zurückführt. Erstens lasse sich eine Delegitimierung von Gewalt beobachten, die zunächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa in den Sozialwissenschaften positiv mit Machtvorstellungen verknüpft war, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jedoch zunehmend im Sinne einer Verletzung thematisiert und dadurch negativ konnotiert wurde. Parallel hierzu fand, zweitens, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Aufwertung von individueller Erfahrung statt, die die Figur des Opfers von Gewalt in der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung überhaupt erst plausibel machte (s. auch Goltermann 2017). Hierfür war, drittens, neues medizinisch-psychiatrisches Wissen notwendig, das die Annahmen von der individuellen Belastungsfähigkeit und damit den Verletzungsbegriff signifikant erweiterte. Die für die Friedens- und Konfliktforschung sicherlich bekannteste Zäsur bildete 1980 die Aufnahme der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung in das US-amerikanische Klassifikationssystem für psychische Krankheiten. Viertens griffen internationale Organisationen wie die UN, die WHO, UNICEF und die ILO Gewalt als gesundheitliches und nicht zuletzt auch ökonomisches Problemfeld auf, inkludierten dabei die private Ebene in die Auseinandersetzung mit Gewalt und verschafften so ihrer Thematisierung auf internationalem Parkett Relevanz (vgl. Goltermann 2020, S. 31ff.).

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat sich nicht nur das Sprechen über Gewalterfahrungen massiv verändert, insofern es überhaupt erst ermöglicht wurde. Zudem wurde der Blick geweitet auf Ungleichheitsstrukturen und individuelle wie auch kollektive Diskriminierungserfahrungen. Unser zeitgenössisches Gewaltverständnis ist daher nicht beschränkt auf physische Handlungen, sondern schließt Sprechakte ebenso ein wie Strukturen der Missachtung und verweigerten Anerkennung des Gegenübers (vgl. Butler 2015). In Bezug auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung zeigt sich dies exemplarisch an der – keineswegs selbstverständlichen oder notwendigen – politischen und rechtlichen Regulation von Elternschaft, Sexualität und geschlechtlicher Identität vom ausklingenden 19. Jahrhundert bis heute.

Regulation von Elternschaft, Sexualität und geschlechtlicher Identität

Politische und rechtliche Maßnahmen im Bereich sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung (re-)produzieren Geschlechternormen, mit denen anerkennungswürdige Identitäten, Körper und Lebensweisen definiert und damit immer auch nicht anerkennungswürdige ausgegrenzt werden. Dies lässt sich an den Themen Abtreibung, Zwangssterilisation und TSG skizzieren.

Seit über 150 Jahren findet sich in §218 StGB das bekannteste und umstrittenste Instrument zur Regulation von Leben und Körpern: die Kriminalisierung der Abtreibung. Auf Basis dieses Paragraphen entschieden bis 1976 überwiegend männliche Ärzte über rechtmäßige Gründe zur Beendigung einer Schwangerschaft ((sozial-)medizinische Indikation). Seither wird der schwangeren Person zwar eine zeitlich begrenzte Entscheidungsgewalt über ihren Körper zugestanden (Fristenlösung), von voller Mündigkeit kann jedoch angesichts einer Zwangsberatung nicht gesprochen werden. Und so schwebt über dem Ausleben der Sexualität bestimmter Personen das Damoklesschwert einer Infragestellung ihrer Entscheidungsfähigkeit, die überhaupt erst durch eine vergeschlechtlichte Sexualmoral plausibel wird.

Steht hier zunächst die Definitionshoheit über die körperliche Integrität zur Disposition, verletzten Zwangssterilisationen zugleich die Körper und die Würde einer Person. Als Instrument der Geburtensteuerung wurden sie seit dem ausklingenden 19. Jahrhundert von Eugeniker:innen unterschiedlicher politischer Couleur gefordert und auch in demokratischen Staaten bis weit in die 1970er Jahre durchgeführt. Im Deutschen Reich erließen die Nationalsozialisten 1933 das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN), mit dem zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben differenziert wurde, wobei die Beurteilung durch Ärzte und Richter erfolgte. Getarnt als gesundheitspolitische Maßnahme für den »Volkskörper« folgten eugenisch motivierte Zwangssterilisationen ableistischen, sexistischen, klassistischen und rassistischen Logiken4, deren Wirkmächtigkeit in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten durch Aufarbeitungsbemühungen (vielfach auch von Betroffenenverbänden) mühsam sichtbar gemacht wurde. Als NS-Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) gelten Zwangssterilisierte indes bis heute nicht, da die Eingriffe in den 1950er und 1960er Jahren – als das BEG verabschiedet wurde – als gesellschaftlich wünschenswerte und für das Individuum nicht weiter beeinträchtigende Operationen galten. Dass mit den Zwangssterilisationen ein Unwerturteil über die Betroffenen gesprochen wurde, mit dem Stigmatisierungen verbunden waren, die die beruflichen, wirtschaftlichen und romantischen Biographien beeinträchtigten, wurde ignoriert. Stattdessen gab es parallel zu den BEG-Beratungen Entwürfe für ein neues Sterilisationsgesetz.

Die westdeutsche Geschichte der Zwangssterilisationen war hiermit nicht beendet, sondern setzte sich für Menschen mit Behinderung und trans Menschen fort. Nachdem die Krüppelbewegung die Anerkennung der sexuellen Entfaltung von Menschen mit Behinderung erkämpfte, wurden Zwangssterilisationen insbesondere an Mädchen und Frauen mit dem Label »geistig behindert« durchgeführt.5 Diese Eingriffe wurden von den Ärzt:innen unter anderem mit dem Schutz der Betroffenen vor sexuellen Übergriffen begründet – geschützt wurden jedoch nicht die Betroffenen, sondern die Gesellschaft vor ihrer potentiellen Mutterschaft (vgl. Schenk 2016).6

Auch die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung von trans Menschen wird bislang verletzt. Mit Inkrafttreten des TSG 1981 wurde überhaupt erst eine gesetzliche Regelung für die Änderung des Geschlechtseintrages geschaffen, die jedoch bis 2008 die Scheidung von verheirateten Personen sowie bis 2011 die Unfruchtbarmachung der Betroffenen voraussetzte. Nach wie vor erfordert das TSG zudem ein Begutachtungsverfahren, das trans Menschen pathologisiert und stigmatisiert, während die Deutungshoheit letztlich in die Hände von Richter:innen und Mediziner:innen gelegt wird (vgl. Ewert 2018).

Die genannten Beispiele verweisen darauf, dass Regierungen entscheiden, welche Elternschaft, welche Partner:innenschaft, welche Sexualität und welche Körper als gesellschaftlich wünschenswert gelten. Unter dem Deckmantel juristischer und medizinischer Plausibilitäten werden Körper unterschiedlich reguliert, angreifbar und verwundbar gemacht. Doch welche Folgen hat dies individuell und kollektiv?

Folgen für das demokratische Miteinander

Eine derartige Regulation von sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung hat unmittelbare Auswirkungen auf Individuen: Identitäten, Körper und die eigene Art, zu sein, wird hinterfragt, abgewertet, verletzbar gemacht und durch physische Eingriffe beschnitten. Dies geschieht auf staatlicher Ebene, indem etwa durch das GzVeN und das TSG definiert wird, wessen Leben wie lebenswert ist. Begünstigt werden dadurch Stigmatisierung und Diskriminierung, die Scham und Gewalt produzieren können. So beschrieben NS-Zwangssterilisierte eine internalisierte Scham über das verhängte Unwerturteil, die ein öffentliches Sprechen über die Ereignisse und damit einen effektiven Kampf um Anerkennung für die überwiegende Mehrheit der Betroffenen verunmöglichte. Dabei begünstigt eine rechtliche Stigmatisierung gesellschaftliche Vorurteile, die Gewalterfahrungen wahrscheinlicher machen, wie die Häufigkeit digitaler, physischer und psychischer Gewalt gegen homosexuelle und trans Menschen zeigt (vgl. Lüter et al. 2022).

Für Betroffene kann dies heißen, die eigene Identität trotz allem finden zu müssen, sich in der Gesellschaft trotz allem bewegen zu lernen. Angesichts der Verbreitung der Gewalt an Frauen spricht Franziska Schutzbach auch von einer internalisierten Habachtstellung und permanenten Gefahrenabschätzung als Mechanismen, die Mädchen und junge Frauen zu entwickeln lernen und die – neben anderen sexistischen Strukturen – eine Erschöpfung produzieren (Schutzbach 2021). Wenn auf diese Weise und vor allem durch die ungleiche Verteilung von Selbstbestimmungsrechten die Erschöpfung bestimmter Personen in Kauf genommen wird, dann hat dies auch unmittelbare gesellschaftliche Konsequenzen.

Wenn Personen(-gruppen) Ressourcen und Kräfte aktivieren müssen, um zu existieren oder für ihre Existenz zu kämpfen, bleiben am Ende des Tages keine oder signifikant weniger Ressourcen für andere politische Themen. Damit geht es aber nicht mehr nur um die ungleiche Verteilung von Anerkennung, sondern auch um eine daraus resultierende Ungleichverteilung von Ressourcen, mit denen sich Personen in die demokratische Gesellschaft einbringen können. Damit erweist sich die verweigerte sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung Einzelner als demokratisches Problem aller (vgl. Bücker 2022, S. 267-306). Und so heißt es trotz allem, den Worten Emckes zu folgen:

„Aber nur weil eine Ungerechtigkeit schon lange besteht, ist sie nicht weniger ungerecht. […] Aus der bloßen Dauer von Ressentiment und Diskriminierung ergibt sich nicht ihre Richtigkeit. Insofern bleibt ihre Kritik (leider) dringlich und aktuell.“ (Emcke 2019, S. 91)

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu für den deutschsprachigen Raum die im Herbst erscheinenden Bücher der Juristinnen Christina Clemm (2023) und Asha Hedayati (2023).

2) »Woke« als konservativer Kampfbegriff ist aus den rechten und rechtsextremen US-amerikanischen Debatten in den deutschen Diskurs übergeschwappt. Dabei handelt es sich um eine Aneignung des Begriffs aus Teilen der Schwarzen Kultur, in der woke den Prozess des Gewahrwerdens insbesondere von rassistischer Diskriminierung, aber auch von Sexismus und Klassismus beschreibt.

3) Mit dieser Frageperspektive weist Judith Butler daraufhin, dass Leben unterschiedlich gelten: so gleichen sich die Körper zwar in ihrer Verletzbarkeit, werden aber unterschiedlich verwundbar gemacht. Folgerichtig müssen daher die Prozesse der Bewertung und die „strukturelle Verwundbarmachung“ (Govrin 2022, S. 72) in den Blick genommen werden.

4) Ableismus beschreibt die Reduktion auf den (nicht-)behinderten Körper und die mit ihm assoziierten Fähigkeiten, auf deren Basis Menschen beurteilt und auf-/abgewertet werden. Analog dazu adressiert Klassismus die Reduktion einer Person auf ihre (antizipierte) soziale Herkunft oder Position. Mit der Analyse ableistischer und klassistischer Verhältnisse werden Herrschafts- und Unterdrückungssysteme sichtbar, die eine Hierarchisierung, Abwertung und Ausgrenzung von Menschen voraussetzen und reproduzieren.

5) Unter dem bewusst provokativen Schlagwort „Jedem Krüppel seinen Knüppel“ gründete sich in Bremen 1978 die erste selbsternannte Krüppelgruppe. Über die Republik verteilt organisierten sich fortan Menschen mit Behinderung, um ihre Diskriminierung öffentlich sichtbar zu machen und die Durchsetzung ihrer Grundrechte zu erkämpfen.

6) 1992 wurde mit der Reform des Betreuungsgesetzes zumindest ein rechtlicher Rahmen für die Unfruchtbarmachung geschaffen.

Literatur

Bücker, T. (2022): Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Berlin: ullstein.

Butler, J. (2015): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Butler, J. (2023): Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Clemm, C. (2023): Gegen Frauenhass. Berlin: Hanser.

Emcke, C. (2019): Ja heißt ja und …. Frankfurt a.M.: Fischer.

Ewert, F. (2018): Trans.Frau.Sein. Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung. Münster: edition assemblage.

Goltermann, S. (2017): Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Frankfurt a.M.: Fischer.

Goltermann, S. (2020): Gewaltwahrnehmung. Für eine andere Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert. Mittelweg 36(2), S. 23-46.

Govrin, J. (2022): Politische Körper. Von Sorge und Solidarität. Berlin: Matthes&Seitz.

Hedayati, A. (2023): Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen allein lässt. Hamburg: rowohlt.

Kaiser, S. (2023): Das feministische Paradoxon. Der brutale Backlash gegen die Emanzipation. Blätter für deutsche und internationale Politik, 67(5), S. 65-74.

Lüter, A. et al. (2022): Berliner Monitoring trans- und homophobe Gewalt. Schwerpunktthema transfeindliche Gewalt. Berlin.

Notz, G. (2022): Gewalt gegen Frauen. Immer noch ist das Private nicht politisch. W&F 1/2022, S. 22-24.

Schenk, B.-M. (2016): Behinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik (1960er bis 1990er Jahre). Frankfurt a.M.: Campus Verlag.

Schutzbach, F. (2021): Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. München: Droemer.

Kommentar

Omnipräsent … und dennoch vertagt

Wo bleiben Antworten auf patriarchale Gewalt?

Es war ein heißer Julitag in Berlin, als das Bundeskriminalamt (BKA), die Bundesfamilienministerin und die Bundesinnenministerin den Lagebericht zu häuslicher Gewalt in Deutschland 2022 und den bedrückenden Anstieg der Taten um 8,5 % im Vergleich zum Vorjahr vorstellten. Die Zahl der Fälle von Partnerschaftsgewalt stiegen sogar um 9,1 % auf 157.818 Fälle – und das sind nur die gemeldeten. Dabei sind über 80 % der Opfer weiblich, rund 78 % der Täter männlich. Wie Bundesfamilienministerin Lisa Paus konstatierte, erfuhren im letzten Jahr pro Stunde 14 Frauen Gewalt. 133 Frauen wurden 2022 von ihrem (Ex-)Partner ermordet.

Patriarchale Gewalt, so könnte man meinen, ist auf (inter-)nationalem Parkett in aller Munde, wird als gesamtgesellschaftliches Problem ernstgenommen und angegangen. Doch was setzt die Bundesregierung ihr entgegen? Was tut sie, um der Istanbul-Konvention gerecht zu werden, die hierzulande seit 2018 umgesetzt werden muss?

Auf der Pressekonferenz wurde die Durchführung einer Dunkelfeldstudie bekannt gegeben, deren erste Ergebnisse für 2025 erwartet werden. Zudem sollen Hilfsangebote für Gewaltbetroffene weiter gefördert und ausgebaut werden. Bereits der wenige Tage zuvor veröffentliche Entwurf für den Bundeshaushalt 2024 hat gezeigt: zwar werden die Mittel für die »Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen« nicht gekürzt, aber im Wesentlichen bleibt sie auf die Unterstützung gewaltbetroffener Personen beschränkt. Das ist – ohne Frage – eine notwendige und angesichts von bundesweit 14.000 fehlenden Frauenhausplätzen auch keine banale Angelegenheit. Gleichwohl scheint der Präventionsbegriff im Bereich der patriarchalen Gewalt nach wie vor einer erstaunlichen Verkürzung auf (potentielle) Opfer zu unterliegen. Aber Frauenhäuser, Beratungsstellen und Hilfetelefone sind keine Prävention, sind nicht Maßnahmen zur Gewaltvorbeugung, sondern lediglich Erste-Hilfe-Leistungen bei drohender oder erlebter Gewalt. Ruht sich eine Gesellschaft auf diesen Maßnahmen aus, nimmt sie die Gewalt fahrlässig und billigend in Kauf.

Dass dies der Fall ist, zeigt exemplarisch der neueste Bericht der UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Reem Alsalem. Mit deutlichen Worten kennzeichnete sie den Umgang von Familiengerichten mit gewaltbetroffenen Müttern und Kindern als Menschenrechtsverletzung, weil Gewalttätern regelmäßig trotz allem der Umgang mit Kindern zugestanden und damit die Sicherheit der Frauen und Kinder gefährdet wird. Auch in Deutschland.

Dies berichten regelmäßig die Anwältinnen Christina Clemm und Asha Hedayati aus ihrer Alltagspraxis in Sozialen Medien, um das Problem sichtbarer zu machen. Nicht einmal nachdem Gewalttäter auffällig wurden, weiß die Gesellschaft also Antworten zu formulieren, die diese Taten angemessen sanktionieren und vor allem die Betroffenen schützen. Stattdessen wird die Sicherheit der Opfer unter Rückgriff auf pseudowissenschaftliche Entfremdungskonzepte und misogyne Mythen zugunsten der Interessen der Täter gefährdet, wie die Frauenhauskoordinierung e.V. kritisiert.

Das Beispiel zeigt: es braucht ein Umdenken. Patriarchale Gewalt und ihre strukturellen Ursachen müssen benannt werden; Toxische Männlichkeitskonstrukte müssen problematisiert werden; Vermeintliche Einzelfälle müssen als gesamtgesellschaftliches Problem adressiert werden. Es reicht nicht, dass die Ministerinnen mit ihrem Lagebild „jeden aufrütteln“ wollen und die entscheidenden Fragen dann nicht stellen. Denn wo sind die Täter in ihrer Präventionsstrategie? Es reicht einfach nicht, dass wir uns fragen, ob wir Betroffene kennen. Wir müssen uns endlich fragen, ob wir die Täter kennen. Wer sind sie? Warum hören sie nicht auf? Und wo bleibt das Konzept für eine Gesellschaft, in der sich Frauen nicht mehr schützen müssen?

Ulrika Mientus

Ulrika Mientus war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Marburg, wo sie ihr Promotionsprojekt über die Opferverbände der NS-Zwangssterilisierten und »Euthanasie«-Geschädigten zum Abschluss bringt. Sie ist Dozentin in der außerschulischen politischen Bildung und Redaktionsmitglied von W&F.

»Nulltoleranz gegen Clan-Kriminalität«

»Nulltoleranz gegen Clan-Kriminalität«

Rassistische Polizeirazzien in Shisha-Bars

von Maraike Henschel und Joschka Dreher

Das Thema ist ein dominanter Dauerbrenner: organisierte »Clan-Kriminalität«. Beinahe täglich kommt es zu schwerbewaffneten Polizeirazzien an migrantisch markierten Orten in Berlin, Frankfurt, Essen und anderen Städten. Obwohl kritische Stimmen laut werden, die die Rechtmäßigkeit der Razzien und das harte Vorgehen in Frage stellen, bleibt das polizeiliche Eindringen in den Ort der Shisha-Bar alltägliche Routine. Dieses Vorgehen hat Konsequenzen – für die Menschen, die davon betroffen sind, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Der Beitrag entfaltet diese Konsequenzen und wirft einen Blick auf Veränderungspotential.

Seit einigen Jahren avanciert das Thema sogenannter »Clan-Kriminalität« zum politischen, medialen und popkulturellen Dauerbrenner, zum öffentlichen Spektakel (Bartosz und Fröhlich 2021; NDR 2021; Serien »4 Blocks« oder »Dogs of Berlin«; siehe etwa Al-Zein 2020). Dabei scheint es als würde Deutschland von organisierter »Clan-Kriminalität« beherrscht. Die Polizei sieht sich zum Handeln veranlasst und stilisiert den „Kampf gegen Clan-Kriminalität“ (BDK 2020) zu einem Schwerpunktthema. Der »administrative Ansatz«, das jüngste Instrument der Behörden, erweitert durch die interbehördliche Zusammenarbeit von Jugendämtern, Finanz- und Ordnungsbehörden die Zugriffsmöglichkeiten für die Polizei und weicht rechtsstaatliche Grenzen auf (Rauls und Feltes 2020a).

Nicht nur kommt es zu einer Kriminalisierung migrantischen Lebens in Deutschland, sondern auch zu einer Markierung migrantischer Räume als Ziele rechter Gewaltakte und einer Prekarisierung migrantischen Lebens. Im Kontext des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau ist dies bedrohliche Realität geworden: So verweisen neueste Untersuchungen des Forschungsclusters »Forensic Architecture«, das sich auf digitale Rekonstruktion von Abläufen in Gewaltsituationen spezialisiert hat, darauf, dass die in der Shisha-Bar »Arena Bar« Ermordeten hätten fliehen können, wenn der Notausgang nicht im Zuge einer polizeilichen Razzia verschlossen worden wäre (Forensic Architecture 2021).

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie die »Initiative 19. Februar Hanau« oder »Kein Generalverdacht« prangern diese rassistischen Stigmatisierungen ganzer Menschengruppen zunehmend öffentlich an. Das Thema »Clan-Kriminalität« wird damit zum Brennglas gesellschaftlicher Deutungskämpfe um die Legitimität polizeilicher Praktiken und rassistischer Polizeigewalt.

Methode und Forschungsperspektiven

Die nachfolgenden Ergebnisse basieren auf einer qualitativen Forschung, die analysierte, inwieweit die Razzien im Zuge einer »Politik der tausend Nadelstiche« den migrantisch markierten kriminellen Raum und Körper produzieren und welche Konsequenzen hieraus für rassifizierte Körper und Orte folgen. Unsere Positionierung als weiße Forschende ohne rassistische Gewalterfahrung stellte uns zunächst vor die Frage nach dem Umgang mit diesen Privilegien. Erstens galt es den dominanten Sicherheitsdiskurs herauszufordern, strukturelle Lücken im Forschungsumfeld kritisch zu reflektieren und marginalisiertes Wissen aus einer Verbündeten-Position heraus sichtbar zu machen. Zweitens nahmen wir eine kritische Position als Verbündete ein und stellten die polizeilichen und gesellschaftlichen Rassifizierungsmechanismen im Rahmen der »Clan-Kriminalität« ins Zentrum unserer Arbeit. So führten wir Interviews mit aktivistischen Expert*innen, die wir aufgrund eigener Betroffenheit und/oder ihrer Rolle als Advokat*innen Betroffener auswählten.

Historisch gewachsene Ausgrenzungspolitik

Um die heutige Debatte um »Clan-Kriminalität« zu verstehen und historisch einordnen zu können, bedarf es der Kontextualisierung in eine historisch gewachsene Ausgrenzungspolitik des Staates. Dazu zählt auch ein Verständnis von der Flucht- und Migrationsgeschichte vieler Betroffener. Der Bürger*innenkrieg im Libanon (1975-1990) zwang tausende Menschen in die Flucht. Zu der Gruppe der Geflüchteten gehörten unter anderem Palästinenser*innen und Kurd*innen, die meist schon in zweiter Generation ohne Staatsbürger*innenschaft im Libanon lebten. Als solche hatten sie weder einen Zugang zu sozialrechtlichen Absicherungen noch zu gesellschaftlicher Teilhabe. In Deutschland angekommen erwartete die Menschen eine erneute Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft, die sich bis heute im rechtlichen Status der Duldung materialisiert. Zwar setzt die Duldung die Abschiebung für Personen mit ungeklärter Identität für einen bestimmten Zeitraum aus. Doch die Menschen befinden sich quasi illegal (§95 Abs. 1 und 2 AufenthG) in Deutschland und sind verpflichtet, einen Identitätsnachweis (§48 Abs. 1 und 3 AufenthG) zu erbringen. Trotz jahrelangem Aufenthalt in Deutschland kann die Abschiebung erfolgen, wenn die geduldete Person sich nicht „rechtstreu verhalten hat“ (§53 Abs. 2 AufenthG). Die Bedingungen unter denen Menschen mit einem Duldungsstatus leben sind zudem von vielen Einschränkungen und Sanktionen geprägt: alle drei bis sechs Monate muss der Aufenthaltstitel erneuert werden, es besteht Residenzpflicht (Wohnortnahme am zugewiesenen Ort, §56 AsylG, §61 AufenthG), in den meisten Fällen wird von der Ausländerbehörde ein Arbeits- und Ausbildungsverbot ausgesprochen und die Behörde kann Kürzungen der ohnehin geringen Sozialleistungen aufgrund (vermeintlich) fehlender Bemühungen bei der Passbeschaffung durchsetzen (vgl. Boettner und Schweitzer 2020, S. 350). Im Falle der aus dem Libanon Geflüchteten erhielt nicht nur die erste Generation den Status der Duldung, sondern auch die Kinder und Enkelkinder »erbten« die Duldung ihrer Eltern (Schweitzer 2020, S. 365).

Hinzu kam die in den 2000ern aktiv geführte Hetzkampagne“ (Flüchtlingsrat 2001, S. 2) gegen libanesische Bürger*innenkriegsflüchtlinge. So wurde der Gruppe der arabisch-sprechenden Kurd*innen unterstellt, dass sie falsche Angaben gemacht hätten und eigentlich türkischer Herkunft seien. Diese Vorwürfe mündeten in einem Generalverdacht, im Zuge dessen konservative Politiker*innen forderten, die Menschen mit ungeklärter libanesischer Identität zu verfolgen und sofort abzuschieben: „und wenn wir sie mit dem Flugzeug abwerfen“ (Ludger Hinsen, CDU, zit. n. Flüchtlingsrat 2001, S. 88). Zur Aufdeckung der vermeintlich echten Staatsbürger*innenschaft wurde die rassistische Methode der geographischen DNA-Kategorisierung gewählt, um anhand der DNA-Ergebnisse die vermeintliche Abstammung der Familien aus der Türkei sowie damit ihre fehlende Asylberechtigung »beweisen« zu wollen (Schweitzer 2020, S. 366).

Gesellschaftliche Segregation

Die Expert*innen betonten in den Interviews, dass die politische, mediale und polizeiliche Darstellung der aktiv betriebenen »ethnischen Abschottung« der vom »Clan-Diskurs« betroffenen Familien eine falsche Bewertung der Umstände sei. Vielmehr müsse man von einer gewollten staatlichen „Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik“ (I, Zeile 162f.) sprechen.

Der Ausschluss vom Arbeitsmarkt führt in den meisten Fällen zu einer Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Auch wenn Einzelne eine Arbeitserlaubnis erhalten, so sehen sie sich dennoch mit verschiedenen Schließungsmechanismen und Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert. Oft werden Menschen mit einem »Clan-markierten« Nachnamen pauschal in „Sippenhaft“ (IV, Zeile 140; V, Zeile 230) genommen. Ihnen wird unterstellt sie seien Teil bzw. zumindest Sympathisanten einer kriminellen Struktur ‚arabischer Familien-Clans‘“ (Schweitzer 2020, S. 369). Dadurch werden die Betroffenen als »fremd« und »anders« markiert. Die verschiedenen Ebenen der Segregation sind eng mit einem rassistischen „Zugehörigkeitsregime“ (Rommelspacher 2011, S. 31), das gesellschaftliche In- und Exklusion regelt, verbunden. Die Folgen dieser Exklusionsmechanismen treten dann zutage: Zum einen stärkten die diversen Exklusionsmomente für einige den Bezug zum eigenen Familiensystem, da nur dieses aufgrund historischer und struktureller Unsicherheit ein beständiges soziales Netzwerk und Zugehörigkeit bot. Zum anderen schuf die Platzierung außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges für einige – wenige – die Grundlage für illegale Erwerbstätigkeiten und Kriminalität (Boettner und Schweitzer 2020, S. 349f.).

Welches Wissen, welche Macht?

Um zu verstehen wie es zur Manifestierung des »Clan-Diskurses« kommt, muss die Wissensformation kritisch beleuchtet werden. Da die Kriminologin Dorothee Dienstbühl von den Interviewpartner*innen als treibende wissenschaftliche Figur identifiziert wurde, lohnt sich ein Blick in die umstrittene polizeiliche Handreichung »Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung« (Dienstbühl und Richter 2020). Hierin wird das »Clan-kriminell« markierte Andere in den „islamischen Kulturkreis“ (2020, S. 4) verwiesen. In diesem abgegrenzten Raum würden die Familien nach Prinzipien [leben], die hunderte Jahre alt [seien]“ (ebd.). Anstatt zu differenzieren, legitimiert das Handbuch einen pauschalen Generalverdacht und die damit einhergehende Stigmatisierung ganzer Familien. So seien die „[kriminellen] Denkmuster häufig auch bei [unschuldigen] Familienmitgliedern verankert“ (ebd.). Dies macht deutlich, dass Kriminalität hier als Wesensart der Menschen und damit als naturgegeben angesehen wird (vgl. kritisch dazu: Terkessidis 2004, S. 98). Dadurch wird eine rassifizierende Kategorisierung vollzogen, die das Andere als essenzielle Einheit skizziert und gegenüber dem vermeintlich Eigenen abwertet (vgl. Attia 2012, S. 8). Anstatt strukturelle Kontexte einzelner Straftaten zu berücksichtigen, wird in einem späteren Abschnitt daran appelliert herauszufinden was die Ehre des Anderen verletzt, [denn dies] ist eine vom Stammeswesen übernommene Kriegsstrategie“ (Dienstbühl und Richter 2020, S. 12). Die Gegenüberstellung des vermeintlich entwickelten, modernen Staates und des kriegerischen, weniger entwickelten Stammes hat dezidiert kolonial-rassistische Anklänge und reiht sich in orientalisierende Diskurse ein.

Die Broschüre gibt zwei Vorschläge zur sogenannten Ehrverletzung: Reizfaktoren für Clan-Mitglieder seien Hunde und weibliche Polizeibeamtinnen (vgl. ebd., S. 14). Das angebliche Rollenverständnis vermeintlicher »Clan-Mitglieder« würde die Frau dem Mann unterordnen und eine Frau in Uniform würde „dem gelebten Weltbild der Clans diametral gegenüberstehen“ (ebd.). Damit wird patriarchale Gewalt bei dem zuvor konstruierten muslimisch markierten Anderen im außen verortet und kulturalisiert (Shooman 2016, S. 10).

Als Wissenschaftlerin wird Dorothee Dienstbühl eine Definitionsmacht zu eigen, die über die Generierung einer vermeintlichen Gefahr von »Clan-Familien« (vgl. IV, Zeile 34ff.; II, Zeile 36ff.) die Mobilisierung der Polizei in den Raum der Shisha-Bar und weitere Orte zu legitimieren versucht. Die „gemachte Angst“ (I, Zeile 264ff.) verfolge laut den Expert*innen damit auch den Zweck, Ressourcen und weitere Zugriffsmöglichkeiten für die Polizei zu erlangen und auch die eigene Karriere weiter voranzutreiben (vgl. I, Zeile 92ff.; vgl. IV, Zeile 447ff.). Diese enge Zusammenarbeit zwischen Sozialwissenschaftler*innen und Sicherheitsbehörden wird in Deutschland unhinterfragt hingenommen, während es etwa in den USA seit dem Vietnamkrieg innergesellschaftliche und politische Debatten über ethische Grenzen bezüglich der Verwobenheit von Forschung, Geheimdiensten und Militär gibt (vgl. Hirschfeld 2015).

Expansion der Exekutive

Entgegen polizeilicher und medialer Narrative von organisierter »Clan-Kriminalität« werden im Rahmen der Razzien vor allem unverzollter Shisha-Tabak oder Verstöße gegen Brand- und Jugendschutz geahndet (Feltes und Rauls 2020b, S. 374). Tatsächlich handelt es sich damit primär um Ordnungswidrigkeiten, Verstöße gegen Gewerbeauflagen oder in seltenen Fällen kleinere Straftaten. Die mediale Inszenierung der Einsätze, die vielen beteiligten (teils schwerbewaffneten) Ordnungsbehörden, verdachtsunabhängige Kontrollen von rassifizierten Gästen sowie das Absperren ganzer Lebensbereiche wie Stadtteile, Straßenzüge oder Shisha-Bars stehen damit in keinem Verhältnis zu den konkret vorgefundenen Delikten. Auf diesem Weg kommt es zu einer „gezielte[n] Produktion eben dieser Bilder“ (I, Zeile 406ff.) von kriminellen und gefährlichen Räumen, entlang derer sich polizeiliches Handeln formiert und gegen rassifizierte und markierte Menschen und Orte richtet (z.B. Ausweisung von Gefahrengebieten) (Belina und Wehrheim 2020, S. 98; Hunold et al. 2021, S. 23f.). Die Polizei definiert damit zunehmend wer und „was überhaupt strafbar ist“ (II, Zeile 401f.) und wie die Straftaten zu bekämpfen sind (Belina 2018, S. 121; Golian 2019, S. 180).

Sie ist im Rahmen der Gewerbekontrollen, um die es vordergründig geht, eigentlich nicht als Hauptakteurin, sondern lediglich im Rahmen der Amtshilfe – neben Ordnungsamt, Zoll oder Steuerfahndung – beteiligt (Rauls und Feltes 2021, S. 102f.). Das Gewerberecht ist dabei sozusagen der Türöffner“ (IV, Zeile 235) in Bereiche, die der Rechtsstaat eigentlich schützt, verbunden mit der Hoffnung vor Ort bei irgendwem einen Straftatbestand festzustellen (Rauls und Feltes 2021, S. 102). Die rechtsstaatliche Unterscheidung der Polizeiaufgaben in Straf- und Gefahrenabwehrrecht wird durch dieses Vorgehen zugunsten der Exekutive aufgeweicht. Im Gegensatz zum Strafrecht, das frühestens nach dem Versuch einer Straftat zur Anwendung kommt, lässt sich das Gefahrenabwehrrecht nämlich bereits im Falle einer durch die Ordnungsbehörden vor Ort definierten Bedrohungslage anwenden (ebd., S. 102).

Diese Gewerbekontrollen sind nicht per se verfassungswidrig, jedoch erfüllen sie nicht das notwendige Kriterium der Verhältnismäßigkeit. Gemessen an den Ordnungswidrigkeiten, um die es vordergründig geht, kommt es standardmäßig zu überzogener physischer und psychischer Polizeigewalt, racial profiling und der Nutzung von verwaltungsrechtlichen Hintertüren (ebd., S. 8; vgl. bejahend: Dienstbühl 2020). Die polizeiliche Inszenierung vom „Kampf gegen die Clans“ (Bund Deutscher Kriminalbeamter 2020) institutionalisiert letztlich illiberale und rassifizierte Polizeiarbeit als tägliche Verwaltungsroutine. Grundlegende Bürger*innenrechte von migrantisch und muslimisch markierten Personen, wie die Unschuldsvermutung oder die körperliche Unversehrtheit, werden durch diese verdachtsunabhängigen Kontrollen strukturell ausgehebelt.

Polizei prägt Gesellschaft

Die Produktion krimineller Räume ist kein exklusiv lokaler Prozess wie die örtlich begrenzten Polizeieinsätze vielleicht zunächst suggerieren. Tatsächlich ist »die Shisha-Bar« durch die medial inszenierten Polizeieinsätze längst zu einem durch Angst und Unsicherheit markierten Ort geworden. Dabei wird eine breitere weiße Öffentlichkeit adressiert und die vermeintliche Bedrohung entfaltet auch auf nationaler Ebene (weitab vom tatsächlichen Einsatzort) eine Wirkung. Dies kann durchaus als Strategie der Polizei verstanden werden, um ein allgemeines Sicherheitsproblem zu konstruieren. Hierdurch verändert sich der Blick der Dominanzgesellschaft nicht nur auf als migrantisch markierte Orte wie die Shisha-Bar, sondern auf ganze Stadtteile und Bevölkerungsgruppen. Letztlich verräumlicht die Polizei auf diesem Wege eine rassifizierende Sicherheitspolitik, um gezielt Kontrollbefugnisse über migrantische Körper auszuweiten.

Tatsächlich geht es also längst nicht mehr nur um Repression und Ausgrenzung. Stattdessen versteht die Polizei ihre Aufgabe zunehmend als „Umerziehungsprozess“ (Dienstbühl und Richter 2020, S. 18). Die Shisha-Bar ist einer der wenigen quasi alkoholfreien Konsum- und damit Rückzugsräume für muslimisch und migrantisch markierte Menschen. Daher fungieren die Polizeieinsätze, die im Rahmen des administrativen Ansatzes insbesondere das Nichtraucherschutzgesetz als Zugriff nutzen, maßgeblich als Instrument, um marginalisierte Gruppen der Gesellschaft entlang dominanter Gesellschaftsvorstellungen zu disziplinieren (Pattillo 2007, S. 295-298). Die Polizei definiert damit zunehmend die Gesellschaft insgesamt. Der viel verbreitete Slogan »Nulltoleranz gegen die Clan-Kriminalität« wird in dieser Lesart also zu »Nulltoleranz für nicht-weißes Leben«.

Reform! Defund! Abolish!

Zwar gibt es vereinzelt Versuche die Polizei zu reformieren und rassistischer Polizeigewalt zu begegnen (etwa die Ausgabe von Quittungen in Berlin, die den Grund einer Personenkontrolle benennen oder sogenannte unabhängige Polizeibeauftragte), dennoch blieb selbst der erste Schritt in eine solche Richtung bislang aus: eine unabhängige Untersuchung zu rassistischen Einstellungen und Praktiken innerhalb der Polizei in Deutschland. Ein Blick nach England zeigt, dass eine Kombination aus Druck von der Straße, Anerkennung des Problems, Wille zur Problemlösung und Einbindung betroffener Gemeinschaften tatsächlich einen positiven Effekt haben kann. So gibt es seit 2018 das unabhängige Büro zur »Untersuchung von polizeilichem Handeln (IOPC)«. Echte Unabhängigkeit sieht hier – anders als in den Debatten um Polizeibeauftragte in Deutschland – unter anderem vor, dass der*die Vorsitzende des IOPC unter keinen Umständen Polizist*in gewesen sein darf. Außerdem gibt es ein selbstständiges (forensisches) Ermittlungsteam.

Und dennoch häufen sich Berichte über den weiterhin tief verwurzelten Rassismus in der britischen Polizei (Süddeutsche Zeitung 2023; ZDF.de 2023; Zeit Online 2023). Aus diesem Grund fordern Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen gemeinsam unter dem Slogan »Defund the Police«, vor allem die breite finanzielle Umverteilung von sicherheits- zu sozialpolitischen Ressourcen.1 Neben dieser wichtigen Forderung muss auch der Handlungs- und Ermessensspielraum der Polizei stark eingeschränkt werden, um die exekutive Deutungshoheit über kriminelle Räume und Gruppen aufzubrechen. So sollte die Polizei nicht selbst Gefahrenorte benennen dürfen, um diese anschließend zu polizieren. Und auch das Gefahrenabwehrrecht mit dem die Polizei in geschützte Rechtsräume eindringt bedarf einer gründlichen Revision.

Das letztendliche Ziel all dieser Reformen sollte jedoch die Überwindung der Institution Polizei sein, im Sinne des Abolitionismus. Eine Institution, deren gesamte Historie und Gegenwart durchzogen von Rassismen2 ist und deren ureigene Aufgabe die Aufrechterhaltung von Herrschaft über marginalisierte Gruppen ist, lässt sich nicht reformieren. Es benötigt daher einen tiefgreifenden systemischen und gesellschaftlichen Wandel, um die Transformation von Konflikten und Gewaltmomenten kommunal, restaurativ und nachhaltig zu organisieren.

Anmerkungen

1) Ein Beispiel für einen möglichen Trägerverein alternativer und nicht-strafender Konflikttransformationen wäre das Kompetenzzentrum für Kommunale Konfliktbearbeitung in Salzwedel, die uns den Anstoß für die Forschungsarbeit gaben.

2) Auch andere intersektional zu denkende Diskriminierungen wie Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Klassismus sollten für eine breite Analyse polizeilicher Praktiken in den Fokus gerückt werden.

Literatur

Al-Zein, M. (2020): Der Pate von Berlin: Mein Weg, meine Familie, meine Regeln. München: Droemer Knaur.

Attia, I. (2012): Privilegien sichern, nationale Identität revitalisieren. Journal für Psychologie 21(1), o.S. (1-31).

Bartosz, P.; Fröhlich, A. (2021): Kampf gegen Clankriminalität in Berlin Justiz zieht Immobilie einer Remmo-Strohfrau ein. Tagesspiegel, 20.08.2021.

Belina, B. (2018): Wie Polizei Raum und Gesellschaft gestaltet. In: Loick, D. (Hrsg.): Kritik der Polizei. Frankfurt: Campus Verlag, S. 119-133.

Belina, B.; Wehrheim, J. (2020): ‘Danger zones’. How policing space legitimizes policing pace. In: do Mar Castro Varela, M.; Ülker, B. (Hrsg.): Doing tolerance. Urban interventions and forms of participation. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, S. 95-114.

Boettner, J.; Schweitzer, H. (2020): Der Name als Stigma. Sozial Extra 44(6), S. 349-353.

Bund Deutscher Kriminalbeamter (2020): Organisierte Kriminalität: Der Kampf gegen die Clans. Homepagebeitrag, 24.9.2020.

Dienstbühl, D.; Richter, F. (2020): Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung. In: Polizei Essen – BAO Aktionsplan CLAN.

Flüchtlingsrat (2001): Staatenlose KurdInnen aus dem Libanon. Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen 78/79(4+5/01), S. 2; 88-90.

Forensic Architecture (2021): Racist terror attack in Hanau: The Arena Bar. Visuelle Rekonstruktion und Video, Homepage.

Golian, S. (2019): Spatial Racial Profiling. Rassistische Kontrollpraxen der Polizei und ihre Legitimationen. In: Wa Baile, M.; Dankwa, S. O.; Naguib, T.; Purtschert, P.; Schilliger, S. (Hrsg.): Racial Profiling. Bielefeld: transcript, S. 177-195.

Hirschfeld, B. (2015): Ethnologie im Kriegseinsatz. Die Geschichte einer Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Geheimdiensten und Militär. IMI-Studie 10/2015. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung e.V.

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NDR (2021): Niedersachsen: Knapp 2.000 Fälle von Clankriminalität, 19.07.2021.

Pattillo, M. E. (2007): Black on the block. The politics of race and class in the city. Chicago: University of Chicago Press.

Rauls, F.; Feltes, T. (2020a): Der administrative Ansatz zur Prävention und Bekämpfung von Kriminalität am Beispiel des Vorgehens gegen »Rockerkriminalität«. Wird das Strafrecht durch das Verwaltungsrecht ausgehebelt? Die Polizei 2020/3, S. 85-92.

Rauls, F.; Feltes, T. (2020b): „Clankriminalität“ und die „German Angst“. Sozial Extra 44(6), S. 372-377.

Rauls, F.; Feltes, T. (2021): Clankriminalität. Aktuelle rechtspolitische, kriminologische und rechtliche Probleme. Neue Kriminalpolitik 33(1), S. 96-110.

Rommelspacher, B. (2011): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, C.; Mecheril, P. (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.

Schweitzer, H. (2020): Kriminalität und Kriminalisierung arabischer Familien in Essen. Sozial Extra 44(6), S. 364-371.

Shooman, Y. (2016): Antimuslimischer Rassismus – Ursachen und Erscheinungsformen. Düsseldorf: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA).

Süddeutsche Zeitung (2023): Londoner Polizei ist laut Untersuchung sexistisch und rassistisch, 21.03.2023.

Terkessidis, M. (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld: transcript.

ZDF.de (2023): Londoner Polizei „rassistisch und homophob“, 21.03.2023.

Zeit Online (2023): Britische Polizei zwang Schwarze Kinder häufiger zu Leibesvisitationen, 27.03.2023.

Maraike Henschel studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Gewalt, Gender, Migration und Antirassismus.
Joschka Dreher studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Grenzregime, Politische Gewalt und die WANA-Region. Er arbeitete u.a. an der Friedensakademie Landau.

Beide sind derzeit am Zentrum für Konfliktforschung im Projekt »Transformations of Political Violence« angestellt.

Klimakrise und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Klimakrise und gesellschaftlicher Zusammenhalt

von Axel Salheiser und Christoph Richter

Es ist gewiss keine Übertreibung, den industriegemachten Klimawandel und seine Folgen als größte globale Herausforderung der Gegenwart zu bezeichnen – und dies gilt insbesondere für die damit verbundenen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der demokratischen Kultur. Radikal rechte Parteien und Bewegungen wie die AfD profitieren von multiplen Krisendynamiken und haben die Klima- und Energiepolitik als ein weiteres Aktionsfeld ihres Kulturkampfes erschlossen. In diesem Beitrag stehen jedoch die Einstellungen und Wahrnehmungen der Bevölkerung im Fokus, die den gesellschaftlichen Konflikt um eine ökologische Transformation grundieren und flankieren.

Oberflächlich betrachtet erscheint die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer ökologischen und sozioökonomischen Gesellschaftstransformation relativ unumstritten; bereits die Debatten über die Umsetzung konkreter Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele fördern jedoch enormes gesellschaftliches Konfliktpotential zu Tage. Spätestens in der Konkretion spezifischer Maßnahmen offenbaren sich zahlreiche Sollbruchstellen im gesellschaftlichen Diskurs, ganz besonders dort, wo sie den Status Quo der Ressourcen- und Machtverteilung im Kern betreffen. Insbesondere die Energiekrise nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und in jüngster Zeit die kontroversen Diskussionen um die Gesetzesvorhaben der Bundesregierung (»Heizungsgesetz«) haben das erhebliche Konfliktpotenzial und den hohen Komplexitätsgrad der Problematik aufgezeigt. Zwar scheint sich die jetzige Debatte, die von populistischen Negativ-Kampagnen durch Medien des Springer-Konzerns, die AfD und andere Rechtsaußenprotagonist*innen, aber auch von Teilen der demokratischen Parteien begleitet wurde, bisher noch nicht negativ auf Maßnahmenakzeptanz und Klimaschutzeinstellungen niederzuschlagen (vgl. Planetary Health Action Survey 2023).1 Dennoch zeichnen sich – von der Regierungsverdrossenheit, über das Umfragehoch der rechtsradikalen AfD bis hin zur Übernahme von rechtspopulistischen Anti-Klimanarrativen (u.a. »Klimaterroristen«, »Klimadiktatur«) durch die Mitte der Gesellschaft – Kipppunkte im öffentlichen Diskurs ab, die neben dem Klimaschutz auch den demokratischen Zusammenhalt ganz unmittelbar betreffen. Die Kollision unterschiedlicher, teilweise einander klar widersprechender Interessen, Wahrnehmungen, Deutungen, Einstellungen und Handlungsdispositionen in der Gesellschaft in Bezug auf Politikfelder, die mit der Klimathematik mittelbar und unmittelbar verbunden sind, stellen den gesellschaftlichen Zusammenhalt bereits jetzt auf eine noch nie dagewesene Belastungsprobe.

Wieso die Klimapolitik zentral für die Demokratie ist

Gelingt es nicht zeitnah, Bevölkerungsmehrheiten für substanziellen Klimaschutz zu gewinnen, droht neben dem meteorologischen auch das demokratische Klima nachhaltig Schaden zu nehmen.

Gelingt in der Klimafrage keine Konsensfindung, die effektive Maßnahmen des Klimaschutzes ermöglicht, droht nicht nur ein Scheitern der Klimaschutzziele mit kaum absehbaren Folgen, sondern auch eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung. Die Sozial- und Systemintegration von Teilen der Bevölkerung sowie die soziale Kohäsion zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Milieus gerät im Zuge notwendiger Transformationsprozesse unter steigenden Druck. Diese umfassende Infragestellung des Status Quo der gesellschaftlichen Ressourcen- und Machtverteilung kann sowohl individuelle als auch kollektive Verunsicherungen und Statusverlustängste hervorrufen bzw. verstärken. Damit wird klimaschutzskeptischen Haltungen Vorschub geleistet werden, während sich gleichzeitig Möglichkeitsfenster eröffnen, um Unzufriedenheit und Statusverlustängste auch von Seiten antidemokratischer Bewegungen zu mobilisieren. Insbesondere Krisen und als krisenhaft wahrgenommene gesellschaftliche Ereignisse werden von antidemokratischen und rechtsextremen Akteur*innen als Gelegenheitsstrukturen genutzt, um ihre gesellschaftliche Anschlussfähigkeit zu erhöhen (Heitmeyer 2018). Es muss daher bedenklich stimmen, dass eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem Agieren politischer Verantwortungsträger*innen in der Klima- und Energiepolitik die Repräsentations- und Legitimationskrise liberaler Demokratien maßgeblich zu vertiefen scheint. Radikal rechte Parteien und Bewegungen, allen voran die AfD, profitieren hiervon und mobilisieren auch verstärkt den Bereich der Klima- und Energiepolitik als ein weiteres Aktionsfeld ihres Kulturkampfes von rechts – nach der Euro-, der Migrations- und der Coronapolitik. Generalistische Eliten- und Systemkritik fällt auf einen fruchtbaren Boden, wenn Deutungen verfangen, die eine Nichtbeachtung der Interessen durch die politischen Eliten oder sogar ein planvoll schädigendes Handeln eben dieser postulieren. Doch die Mobilisierung von Wähler*innen für »Widerstand gegen die aktuelle Politik« ist nur die Spitze eines Eisbergs, der die Konflikte um die Konsequenzen der Klimakatastrophe, die damit verbundenen kulturellen Auseinandersetzungen und drohenden materiellen Verteilungskämpfe in unserer Gesellschaft symbolisiert.

In der Klimafrage sind deshalb die Verarbeitung multipler Krisenerfahrungen, politische Krisenkommunikation und die Wahrnehmungen und Beurteilungen durch die Bevölkerung von höchster Relevanz. Die Kernfrage, zu der wir im Folgenden empirische Befunde vorstellen, ist daher: In welchem Umfang werden die Klimapolitik und die daraus abgeleiteten Maßnahmen akzeptiert? Welche individuellen Merkmale zeigen Effekte auf die Akzeptanz, welchen Einfluss haben soziale Inklusion, Responsivität und Selbstwirksamkeit? Gleichzeitig stellt sich im Hinblick auf multiple Krisenerfahrungen und deren individuelle Verarbeitung die Frage, wie diese miteinander verbunden werden und inwiefern sich Akteur*innen der antidemokratischen und verschwörungsideologischen Rechten hier gesellschaftliche Anknüpfungspunkte bieten.

Empirische Befunde zur Akzeptanz von Klimapolitik

Repräsentative Bevölkerungsbefragungen in Deutschland zeigen seit langem den Trend auf, dass eine wachsende Mehrheit den Klimawandel als zentrale Herausforderung unserer Zeit wahrnimmt und folglich eine auf Klimaschutz orientierte Politik grundsätzlich unterstützt. Bis zu 70 % der deutschen Bevölkerung unterstützen die Energiewende, etwa 8 % lehnen sie ab (Teune et al. 2021, S. 8). Allerdings ist das Meinungsbild bei genauerem Hinsehen von markanten Ambivalenzen geprägt – vor allem, was die Wahrnehmung und Beurteilung konkreter Maßnahmen zum Klimaschutz sowie bestimmte Aspekte einer ökologischen Energiewende anbetrifft. Nur 10 % seien mit der Umsetzung zufrieden. 56 % beklagten dagegen eine zu geringe Beteiligung der Bürger*innen und 49 % meinten: „Die soziale Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke“ (ebd.). Auch wenn die grundlegenden wissenschaftlichen Befunde zur Klimakrise nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Reusswig et al. 2021, S. 270f.) lediglich von rund 9 % angezweifelt werden, existiert ein nicht unerheblicher Anteil von Personen, die sich »klimawandelskeptisch« äußern und ihre Ablehnung gegenüber der Klimapolitik zum Ausdruck bringen. Derartige Einstellungen werden durch allgemein populistische Einstellungen markant verstärkt – vor allem durch das Misstrauen in politische Eliten und Institutionen – und außerdem durch rechtsextreme Einstellungen (ebd.). Das knüpft an zahlreiche nationale und internationale Forschungsbefunde an (vgl. Quent et al. 2022). Hohe Relevanz besitzt auch das Ausmaß (subjektiv empfundener) sozialer Integration bzw. Inklusion, weil damit unterschiedliche Grade der individuellen und kollektiven Vulnerabilität und Sensibilität für die Klimawandelfolgen verknüpft sein können (Arthurson und Baum 2015). Zusätzlich werden die Beurteilung der Klimaproblematik und die Bereitschaft, Klimaschutzmaßnahmen zu unterstützen, dadurch beeinflusst, inwiefern sich Menschen eine generelle Selbstwirksamkeit (»self-efficacy«) zuschreiben (Loy et al. 2020).

Die Wahrnehmungen und Beurteilungen sind also stark durch politische und mediale Diskurse überformt, partiell vorurteilsgeleitet – und weisen damit Anschlusspunkte für gezielte Verunsicherung, Desinformation und Propaganda auf. Diese wiederum dürfte bei jenen besonders verfangen, die sich selbst als Verlierer*innen des Transformationsprozesses sehen, beispielsweise aufgrund relativ ungünstiger Bildungs-, Einkommens- und Erwerbschancen (Hövermann et al. 2022).

Konjunktur von Politik- und Demokratieskepsis

Die Befunde einer von uns selbst in Auftrag gegebenen repräsentativen Befragung der deutschen Bevölkerung, die im Zeitraum August-Dezember 2021 durchgeführt wurde, ließen bereits vermuten, dass sich die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um die ökologische Transformation nach der Corona-Krise wesentlich verstärken werden (Salheiser et al. 2022). Diese Daten wurden wohlgemerkt erhoben, noch bevor die gegenwärtig anhaltende Energiekrise begann. Bemerkenswert hoch waren damals die Zustimmungswerte zur Aussage: „Die Beschränkungen in der Corona-Pandemie sind nur ein Probelauf für geplante staatliche Zwangsmaßnahmen infolge der Klimapolitik“, in der Anschlüsse an verschwörungsideologische, antidemokratische Deutungen einer absichtsvoll herbeigeführten Krise zur Unterdrückung der Bevölkerung erkennbar werden. 17 % der insgesamt 2.509 Befragten stimmten dieser Aussage voll oder überwiegend zu, weitere 22 % antworteten mit „teils-teils“. Mehr als ein Viertel der Befragten hielt nach eigener Aussage auch die Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels für übertrieben oder sogar völlig sinnlos. Jede*r Fünfte meinte: „Die Auswirkungen des Klimawandels werden übertrieben dargestellt.“ Ebenfalls jede*r Fünfte bezweifelte, dass eine „grundsätzliche Reform unseres Wirtschafts- und Sozialsystems“ notwendig sei, um den Klimawandel wirksam zu bekämpfen. Bei der Verbreitung solcher »klimadiskursskeptischer« Einstellungen sind signifikante Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten zu beobachten, außerdem zwischen Stadt- und Landbevölkerung sowie den verschiedenen Alters-, Geschlechts-, Bildungs- und Berufsgruppen. Unter statistischer Drittvariablenkontrolle bleibt der West-Ost-Unterschied stabil und relativ markant. Ein weiterer wichtiger Befund ist, dass individuelle Einstellungen zur Integration innerhalb der Gesellschaft Haltungen zum Klimaschutz erkennbar beeinflussen. Personen, die sich als sozial stärker eingebunden erleben, und solche, die von positiven Effekten ihres Handelns auf politische Prozesse überzeugt sind, stimmen seltener klimadiskursskeptischen und -maßnahmenkritischen Haltungen zu.

Unsere Befunde sind ambivalent: Einerseits unterstützen große Befragtengruppen weitergehende Klimaschutzmaßnahmen und erkennen auch eine Notwendigkeit für Wirtschafts- und Sozialreformen im Zuge einer ökologischen Gesellschaftstransformation. Andererseits sind die relativ hohen Anteile der Befragten zu konstatieren, deren Ansicht nach die „Beschränkungen in der Corona-Pandemie […] nur ein Probelauf für geplante staatliche Zwangsmaßnahmen infolge der Klimapolitik“ sind. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass hier ausschließlich eine verschwörungsideologische Indoktrinierung zum Ausdruck kommt. Vielmehr scheinen viele Bürger*innen tatsächlich die Sorge zu hegen, dass die im Zuge des Klimawandels anstehenden Veränderungen von Produktions-, Konsum- und Lebensweisen mit empfindlichen Einschränkungen von Grundrechten einhergehen werden, was allerdings populistischen, antidemokratischen Akteur*innen ideale diskursive Anknüpfungspunkte bietet.

Herausforderung einer sozial­ökologischen Transformation

Klimadiskursskeptische bzw. -maßnahmenkritische Einstellungen treten in Ostdeutschland stärker auf, mutmaßlich dadurch begünstigt, dass negative oder zumindest höchst ambivalente Transformationserfahrungen durch den »Wendeprozess« sich flächendeckend ins kollektive Bewusstsein eingeschrieben haben. Verstärkende Effekte haben die Wahrnehmung gesellschaftlicher Marginalisierung sowie die Wahrnehmung fehlender Responsivität durch die Politik. Dies verdeutlicht: Zusätzlich zu den sozioökonomischen und sozialstrukturellen Differenzialen, denen in der Klimapolitik stärker Rechnung getragen werden sollte, bestehen sehr große Herausforderungen für die politische Kommunikation. Dabei muss neben einer glaubhaften Politik des sozialen Ausgleichs auch die Vermittlung inklusiver und partizipativer Diskurs- und Beteiligungsangebote verstärkt werden und vor allem ein Fokus auf den verbreiteten Vorbehalten und Sorgen der Bevölkerung angesichts der ungewissen ökologischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung liegen.

Hier gilt es Vertrauen in demokratische Akteur*innen, Institutionen und Prozesse zu stärken und wieder zurückzugewinnen, nicht zuletzt um verschwörungsideologischen und rechtspopulistischen Narrativen – wie dem einer „geplanten“ Corona- oder Klima-»Diktatur« – und der von ihnen vorangetriebenen Polarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Das aktuell größte Einfallstor für den radikal rechten Anti-Klimaschutzpopulismus besteht in der unkritischen Übernahme derartiger Narrative und Politikansätze im Spektrum der etablierten demokratischen Parteien.

Die eingangs skizzierten gesellschaftlichen Konfliktdynamiken, die sich zunehmend in den Sphären der öffentlichen Kommunikation, der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik sowie der alltäglichen Lebenspraxis (beispielsweise in den aggressiven Reaktionen im Zusammentreffen mit Klimaprotestierenden) niederschlagen, müssen und können eingehegt werden, indem Demokratie als partizipativer und inklusiver Prozess der Aushandlung kollektiver Ziele und kollektiven Handelns neu belebt wird. Appelle an die demokratische Teilhabe werden allerdings nur dort Gehör finden können, wo sie mit Formen der materiellen und sozialen Teilhabe korrespondieren. Sowohl die demokratische Politik als auch die demokratische Zivilgesellschaft muss dafür effektivere und attraktivere Angebote schaffen.

Vor allem aber muss die aktuelle Krisenpermanenz zum Ausgangspunkt für einen demokratischen, produktiven Streit um tragfähige Visionen für eine lebenswerte, nachhaltige und gerechte Zukunft unter Einschluss möglichst vielfältiger Positionen und gesellschaftlicher Gruppen werden. Dabei gilt es, der (radikal rechten) Untergangsrhetorik, Rückwärtsgewandtheit, Verdrossenheit und dem Pessimismus entgegenzuwirken und dabei möglichst viele Menschen zu erreichen.

Anmerkung

1) Im Zeitraum Herbst 2022 bis 01.05.2023 zeigten sich in wiederholten repräsentativen Befragungen zum Klimaschutzverhalten und der Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen relativ hohe Zustimmungswerte ohne nennenswerte Veränderungen im Zeitverlauf.

Literatur

Arthurson, K.; Baum, S. (2015): Making space for social inclusion in conceptualising climate change vulnerability. Local Environment 20(1), S. 1-17.

Loy, L.; Hamann, K.; Reese, G. (2020): Navigating through the jungle of information. Informational self-efficacy predicts climate change-related media exposure, knowledge, and behaviour. Climatic Change 163(4), S. 2097-2116.

Heitmeyer, W. (2018): Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung. Berlin: Suhrkamp.

Hövermann, A.; Kohlrausch, B.; Voss, D. (2022): Anti-democratic attitudes: The influence of work, digital transformation and climate change. WSI Policy Brief, No. 66.

Planetary Health Action Survey (2023): Ergebnisse aus dem wiederholten querschnittlichen Monitoring von Wissen, Risikowahrnehmung, Vertrauen, Einstellungen und Verhalten in der Klimakrise. Online unter: projekte.uni-erfurt.de/pace/

Quent, M.; Richter, C.; Salheiser, A. (2022): Klimarassismus. Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende. München: Piper.

Reusswig, F.; Küpper, B.; Rump, M. (2021): Propagandafeld: Klima. In: Zick, A.; Küpper, B. (Hrsg): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Bonn: Dietz, S. 262-281.

Richter, C.; Wächter, M.; Reinecke, J.; Salheiser, A.; Quent, M.; Wjst, M. (2021): Politische Raumkultur als Verstärker der Corona-Pandemie? Einflussfaktoren auf die regionale Inzidenzentwicklung in Deutschland in der ersten und zweiten Pandemiewelle 2020. ZRex 2/2021, S. 1-39.

Salheiser, A.; Richter, C.; Quent, M. (2022): Von der ›Corona-Diktatur‹ zur ›Klima-Diktatur‹? Einstellungen zu Klimawandel und Klimaschutzmaßnahmen – Befunde einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung. FGZ Working Paper, Nr. 5. Leipzig: Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt.

Teune, S.; Rump, M.; Küpper, B.; Schatzschneider, J.; Reusswig F.; Lass, W. (2021): Energiewende? – ja! Aber… Kritik und Konflikte um die Energiewende im Spiegel einer Bevölkerungsbefragung. DEMOKON– Research Paper II. Potsdam/Mönchengladbach.

Axel Salheiser, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena sowie Sprecher des Teilinstituts Jena des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ).
Christoph Richter, M.A., forscht am IDZ Jena in einem FGZ-Projekt zum Zusammenhang von extrem rechter Mobilisierung und der globalen Klimakrise sowie zur extrem rechten Mobilisierung in der Corona-Pandemie.

Innergesellschaftliche Konflikte

Innergesellschaftliche Konflikte

Versuch einer systematischen Skizze

von Lotta Mayer

Konflikte in einer Gesellschaft zu thematisieren, kann oberflächlich schnell geschehen – doch was bedeutet es, sich dieser Frage systematisch zu widmen? Welches Wissen der Friedens- und Konfliktforschung kann helfen, den Blick »nach innen« zu wenden und dabei nicht rein selektiv und eklektisch zu arbeiten? Der Beitrag versucht eine Ordnung entlang verschiedener Typologien, um ein systematisches Fragen nach innergesellschaftlichen Konflikten zu erleichtern.

Deutschland und Konflikt. Konflikte in Deutschland. Der Einfluss von Konflikten in Deutschland auf Konflikte in anderen Ländern und vice versa. Ganz zu schweigen von: Die Wahrnehmung(en) von Konflikten anderswo in Deutschland. Die Wahrnehmung von Konflikten in Deutschland in der Öffentlichkeit anderer Länder. Und all das: Gegenwärtig. Historisch (wie weit zurück?). Zukünftig. Direkt. Indirekt. Für verschiedene Typen, Verlaufsformen, Phasen, Aspekte von Konflikten. Und was überhaupt heißt hier »Deutschland« – »Der Staat«? Oder »die Gesellschaft«? Und wer wiederum ist das, wenn man die Fiktionen eines unitarischen Staates und einer homogenen Gesellschaft aufgibt?

Schon dieser kurze Abriss, mehr semantische Spielerei als Analyse, zeigt, wie komplex das Thema ist, das »Wissenschaft und Frieden« sich in der vorliegenden Ausgabe vorgenommen hat. Dies gilt selbst dann, wenn der Schwerpunkt klar auf innergesellschaftlichen Konflikten in Deutschland liegt und die übrigen Bezüge nur kursorisch hergestellt werden. Dies impliziert, dass die Beiträge notwendigerweise nur ausgewählte Konflikte und Aspekte herausgreifen können – eine systematische Erfassung ergäbe ein dickes Handbuch, keinen Zeitschriftenband. Der vorliegende Beitrag will daher versuchen, den umfassenden und systematischen Zusammenhang zu skizzieren, in den sich die Beiträge der Ausgabe einordnen lassen. Typologisierende Ansätze mögen zwar etwas sperrig und bei knapper Darstellung auch nicht übermäßig angenehm zu lesen sein, aber sie ermöglichen es, begrifflich präzise zu fassen, worüber man überhaupt redet, bevor man in die tiefergehende Analyse einsteigt.

Dies bedeutet, die breite Frage nach den möglichen Verbindungen zwischen »Deutschland« und »Konflikt« ins Zentrum zu stellen, auch wenn sie nur in ganz groben Zügen beantwortet werden kann. Dazu eignen sich weniger Konflikttheorien, da diese entweder auf bestimmte Formen von Konflikten oder bestimmte Aspekte einer Analyse fokussieren, als vielmehr Typologien. Dabei bedarf es der Kombination von Konflikttypologien einerseits und Typologien unterschiedlicher Rollen von Akteur:innen in Konflikten andererseits. Dies ermöglicht es, die großen Linien möglicher Verbindungen dennoch mit einer gewissen Differenziertheit zu ziehen und dabei wenigstens Anschlussmöglichkeiten für einige der zahlreichen Fragen aufzuzeigen, die unbehandelt bleiben müssen.

Was heißt hier Konflikte?

Konflikte können grob verstanden werden als von den Trägergruppen als unvereinbar interpretierte Bedeutungskonstruktionen in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand, die im Handeln und in der Interaktion miteinander ausgetragen werden (Mayer 2019, S. 141ff.). Hier lassen sich verschiedene Arten von »Typologien« unterscheiden. Die im Folgenden herangezogenen Typologien beschränken sich dabei allesamt erstens auf Konflikte, die als Meso- oder Makrokonflikte bezeichnet werden können, d.h. sich zwischen sozialen Gruppen bzw. sozialen und politischen Entitäten vollziehen. Zweitens soll es nur um Konflikte gehen, die als »politisch« in einem breiten Sinn bzw. als »soziale Konflikte« im Sinne von »gesellschaftlich« bezeichnet werden können, d.h. bei denen es um Fragen nach der allgemeinverbindlichen Regelung des Zusammenlebens geht. Dies umfasst Fragen nach der Gestaltung des politischen Institutionensystems, Fragen nach durch formelle oder informelle Normen geregelten Gruppenverhältnissen (etwa: Geschlechterbeziehungen) oder auch Verteilungsfragen. Drittens soll der Begriff des Konflikts auf die direkte Auseinandersetzung zwischen Kollektiven beschränkt sein; indirekte Verhältnisse wie Konkurrenz bleiben außen vor.

Wer handelt und wo?

Eine zentrale Frage bei der Behandlung innerstaatlicher Konflikte1 ist, wer handelt und wo. Diese Unterscheidung verbindet die grundlegenden Akteursmerkmale der Konfliktparteien (Staat vs. nichtstaatliche:r Akteur:in) mit dem relationalen Aspekt des »wer gegen wen«, d.h. der Konstellation der Konfliktparteien, und bezieht dabei auch den Aspekt der Territorialität als konstitutiv für die Unterscheidung transnationaler Konflikte mit ein. Dabei ist sowohl einerseits die Verortung der Konfliktparteien selbst als auch der Ort ihres jeweiligen Handelns differenziert zu betrachten. Denn lässt es sich mit Sicherheit ausschließen, dass der Konfliktaustrag zweier Konfliktparteien auf einem dritten Territorium nicht doch letztendlich ein innergesellschaftlicher Konflikt ist? Ein Beispiel dafür könnten Auseinandersetzungen über kulturpolitische Veranstaltungen zwischen verschiedenen Gruppen einer Diaspora in dritten Staaten sein.

Eine weitere Differenzierung innerstaatlicher und transnationaler Konflikte ergibt sich daraus, ob in ihnen jeweils ein oder mehrere nichtstaatliche Akteur:innen dem Staat als gegnerische Konfliktparteien gegenüberstehen (klassische innerstaatliche Konflikte) oder aber mehrere nichtstaatliche Akteur:innen miteinander in Konflikt stehen (»nichtstaatliche Konflikte« – vgl. u.a. HIIK 2003, S. 8; Sundberg et al. 2012). Ebenso ist zu fragen, ob − idealtypisch gesprochen − die nichtstaatlichen Konfliktparteien gänzlich unabhängig agieren oder proxies eines Staates sind. Dies gilt nicht nur bei Konflikten, die auf den ersten Blick der klassischen Konstellation »Rebellengruppe gegen ›ihren‹ Staat« zu entsprechen scheinen, sondern auch da, wo eine nichtstaatliche Gruppe durch »Selbstverteidigungsmilizen« oder andere paramilitärische Gruppen bekämpft wird.

Quer dazu steht eine Unterscheidung, die ebenfalls den Blick auf die Konfliktparteien und deren Konstellation richtet (und üblicherweise nur für kriegerische Konflikte vorgenommen wird, aber problemlos allgemein auf Konflikte übertragbar ist): die zwischen dyadischen Konflikten, d.h. Konflikten, die der alltagsweltlichen Vorstellung zweier gegnerischer Parteien entsprechen, und multi-party conflicts (wegweisend Gochman und Maoz 1984). In dem Moment, in dem sich drei Konfliktparteien gegenüberstehen, sind andere Konstellationsstrukturen möglich als die klassisch-dyadische: Ganz so, wie für den konflikttheoretisch wegweisenden Soziologen Georg Simmel die Gesellschaft erst mit dem Dritten anfängt (vgl. Simmel 1992, S. 117ff.), wird es konfliktsoziologisch mit der Anwesenheit einer dritten Konfliktpartei (zu Dritten in anderen Rollen siehe unten , S. 9) erst richtig spannend.

Triadische Konstellationen sind dabei nur der Beginn der möglichen Komplexität. Je mehr Konfliktparteien involviert sind, desto komplexere Konstellationen und desto häufigere, dynamischere Positionswechsel von Konfliktparteien sind möglich, bis hin zum Hobbes’schen »all against all«.

Mit Blick auf die Charakteristika der Konfliktparteien selbst ist der Autorin kein Versuch einer systematischen Typologie bekannt; daher sei hier auf eine Reihe von (idealtypischen) Unterscheidungsmerkmalen verwiesen, die in der Konfliktforschung und/oder soziologischen Charakterisierungen sozialer Gruppen vorgenommen werden (vgl. Tabelle 1, S. 8). Dabei ist zu betonen, dass auch Akteur:innen, die als »staatlich«, »organisiert« oder »homogen« charakterisiert sind, allenfalls zu heuristischen Zwecken, aber nicht ihrem »Wesen« nach, als unitarisch begriffen werden dürfen. Auch »der Staat« als Akteur ist ein komplexes Gefüge aus Organisationen, die wiederum je intern nicht unitarisch sind − und in denen keineswegs nur formal gesetzte Regeln handlungsleitend sind. Kombiniert man diese Unterscheidungen und füllt sie inhaltlich, so erhält man so unterschiedliche Akteurstypen wie »politische Parteien«, »Sicherheitsbehörden«, »soziale Bewegungen«, »terroristische Gruppen« oder »Rebellenarmeen«.

Tabelle 1: Nicht abschließende Sammlung idealtypischer Charakteristika von Konfliktparteien

staatlich

vs.

nichtstaatlich

organisiert

vs.

unorganisiert

formal

vs.

informell

hierarchisch

vs.

nicht-hierarchisch

hinsichtlich des Verhältnisses ihrer Mitglieder bzw. organisationalen Subeinheiten zueinander

homogen

vs.

heterogen

hinsichtlich ihrer personellen Zusammensetzung

stabil

vs.

fluide

in ihrer inneren und/oder äußeren Form einerseits, hinsichtlich ihrer Mitglieder andererseits

scharf nach außen ­abgegrenzt

vs.

nach außen offen

»partikularistisch«

vs.

»universalistisch«

hinsichtlich ihrer Rekrutierung, vgl. Parsons’ »pattern variables« (Parsons 1951, insbes. S. 143)

Kleingruppe

vs.

Großgruppe

»Vergemeinschaftung«

vs.

»Vergesellschaftung«

im Sinne Max Webers
(d.h. grob gesagt: emotionale und wertbasierte Verbindungen zwischen den Gruppenmitgliedern vs. rein interessenbasierter Zusammenschluss)

klandestin

vs.

offen agierend

bewaffnet

vs.

nicht bewaffnet

Quelle: Eigene Darstellung der Autorin.

Themen, Gegenstände und »cleavages«

Quer zu all den bisher gemachten Unterscheidungen steht die Klassifikation danach, worum es eigentlich geht in Konflikten − worüber bzw. weshalb Konfliktparteien sich streiten. Auf der konkretesten bzw. oberflächlichsten Ebene richtet sich der Blick damit auf die Themen, um die die diskursive Auseinandersetzung der Konfliktparteien kreist bzw. die Gegenstände, auf die sich ihre Aneignungs- oder Kontrollversuche fokussieren. Hier bedarf es zum einen der klassifizierenden Abstraktion im Sinne von »Typologien der Konfliktgegenstände« und zum anderen des Blicks auf tieferliegende Konfliktlinien oder »cleavages«. Konfliktthemen und -gegenstände müssen letztlich als arbiträrer und entsprechend oft wechselnder Ausdruck dieser »cleavages« verstanden werden (zu letzterem Blumer 1988, S. 243). Einen Überblick über aus der Theorie bekannte Typologisierungen bietet Tabelle 2.

Tabelle 2: Konfliktgegenstände nach dem HIIK

1

»internationale Macht«, »nationale Macht« und »regionale Vorherrschaft«, d.h. Machtkonflikte in zwischenstaatlichen, »klassisch« innerstaatlichen und »nicht-staatlichen« Konflikten

2

Autonomie und Sezession, d.h. Konflikte um Selbstbestimmung (innerstaatlich)

3

System/Ideologie, d.h. Konflikte um Glaubensfragen oder die Ausrichtung des politischen Systems

4

Konflikte um (Sicherung von, Zugang zu) materielle Ressourcen

Dabei können Gegenstände auch in Verbindung miteinander auftreten − etwa ein Konflikt um nationale Macht, der verbunden ist mit der Auseinandersetzung um die Gestaltung des politischen Systems, oder ein Autonomiekonflikt mit Ressourcendimension.

Quelle: Systematisierung der HIIK-Methodologie für das Konfliktbarometer (HIIK 2023) durch die Autorin.

Diese Gegenstände lassen sich zumindest idealtypisch in die deutlich abstraktere Unterscheidung von Alfred O. Hirschman (1994) einordnen, der »teilbare« und »unteilbare« Konfliktgegenstände unterscheidet. Entlang dieser Differenz lassen sich, so Hirschman, (vereinfacht gesagt) »Interessenkonflikte« einerseits und sehr grundsätzliche Konflikte wie etwa Wertkonflikte unterscheiden. Sie unterscheiden sich in Eskalationsanfälligkeit und Lösbarkeit: Wertkonflikte neigen viel stärker zu einem konfrontativen, vielleicht auch gewaltsamen Austrag als Interessenkonflikte, da nur letztere kompromissförmig lösbar sind.

Derart bildet Hirschmans Unterscheidung schon einen Kern einer Theorie von Konflikt in modernen Gesellschaften. Die Verbindung zwischen einer Klassifikation von Konfliktgegenständen und einer Konflikt(ursachen)theorie wird am deutlichsten in der Unterscheidung sozialer »cleavages« oder Konfliktlinien, die die Wahlforscher Martin Seymour Lipset und Stein Rokkan (1967) entwickelten (siehe Tabelle 3). Wenn diese Trennlinien politisiert werden, werden sie zu genuinen Konfliktlinien (Kriesi et al. 1995). Die Eskalationsanfälligkeit dieser Konflikte hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Trennlinien »cross-cutting« oder kongruent sind, d.h. in welchem Maß sich hier verfestigte Lager ausbilden, die themen- und gesellschaftsbereichsunabhängig immer mehr trennt als vereint, oder ob die Trennlinien nur situativ relevant werden (vgl. Coser 1956, S. 78ff.).

Tabelle 3: Gesellschaftliche »Cleavages«

traditionell

Arbeit vs. Kapital (Marx)

Zentrum und Peripherie

Kirche und Staat

Stadt und Land

aktuell

»Materialisten vs. »Postmaterialisten«

»Somewheres« vs. »Anywheres«

Quelle: Zusammenstellung der Autorin nach Lipset und Rokkan (1967), Inglehard (1977) und Goodhard (2017)

Was wissen wir zu Konfliktaustrag und -verlauf?

Die wichtigste typologische Unterscheidung, die auf Prozessmerkmale abhebt und dabei hinreichend abstrakt zur Charakterisierung unterschiedlichster Konfliktformen ist, zielt auf die Frage der Gewaltsamkeit des Austrags (im Sinne einer engen, »physischen« Gewaltdefinition). Gewaltsame und nichtgewaltsame Handlungen bestehen zumeist nebeneinanderher bzw. in komplexer Verbindung miteinander. »Gewaltsamer Austrag« bedeutet nicht, dass nur gewaltsame Handlungen stattfinden (vielmehr wird gerade in Kriegen häufig zeitgleich gekämpft und verhandelt); und grundsätzlicher sind die nichtgewaltsamen Konflikte nicht zwingend konfrontativer Natur (etwa: Druck, Drohungen, Einschüchterung). Vielmehr können Konflikte sogar vollständig kooperativ im Sinne der gemeinsamen Suche nach einer Lösung oder wenigstens einem guten Umgang mit der Differenz ausgetragen werden (Mayer 2019, S. 195ff.).

Auf dieser Basis lassen sich dann zum einen unterschiedliche Intensitäten der Gewaltanwendung unterscheiden: Hier werden üblicherweise Kriege von in geringerem Maße gewaltsamen Konflikten unterschieden, wobei die präzisen Definitionen bzw. Operationalisierungen erheblich variieren.2 Teilweise werden dabei noch Unterscheidungen danach vorgenommen, ob in einem (dyadisch gedachten) Konflikt beide Seiten Gewalt anwenden oder nur eine (»one-sided violence«, Eck und Hultmann 2007). Die im Bereich der quantitativ orientierten Konfliktforschung wohl präziseste Unterscheidung bietet hier das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) (Schwank et al. 2016), das zwischen nur sporadisch gewaltsamen und hochgewaltsamen Konflikten unterscheidet und letztere in begrenzte Kriege und Kriege differenziert.

Bringt man die oben skizzierten strukturellen mit diesen prozessorientierten Unterscheidungen zusammen, ermöglicht dies nicht nur eine multidimensionale und temporalisierte Charakterisierung konkreter Konflikte (und potentiell auch eine anspruchsvollere, inhaltlich gesättigte Typologie). Sie erlaubt auch, systematisch nach dem Zusammenhang zwischen strukturellen Merkmalen, wie den Eigenschaften und Konstellationen von Konfliktparteien, und prozessualen Merkmalen des Konflik­taustrags und -verlaufs zu fragen − und zwar über die bisher bekannten Erkenntnisse hinaus, die immer nur auf eine strukturelle Dimension bezogen sind (beispielsweise eine höhere Eskalationsneigung von Konflikten um unteilbare Gegenstände oder innerstaatlicher im Vergleich zu zwischenstaatlichen Konflikten, vgl. u.a. Schwank 2012, Hasenclever 2002).

Rollen im Konflikt

Um die Frage nach der Involviertheit »Deutschlands in Konflikte« differenziert beantworten zu können, ist es nun noch ebenso erforderlich, verschiedene idealtypische Rollen von Akteur:innen im Kontext von Konflikten zu unterscheiden. Konstitutiv für Konflikte sind dabei (nur) die Konfliktparteien. An Konflikten beteiligt können aber zahlreiche andere Akteur:innen als verschiedenste Dritte in unterschiedlichen Dritten-Rollen sein, insbesondere Unterstützer:innen und Sympathisant:innen, Mediator:innen bzw. Intervenierende und Beobachter:innen (vgl. Mayer 2019, S. 160ff.). Im Kern dieser Unterscheidung stehen analytisch betrachtet zwei Achsen der Differenz, die üblicherweise implizit bleiben: zum einen und zentral der Grad der Involviertheit, zum anderen mit präzisierender Funktion die Parteilichkeit oder Unparteilichkeit bzw. die Art des Interesses am Konfliktgegenstand. Die Frage nach den Rollen, die konkrete Akteur:innen in bestimmten Konflikten einnehmen, steht quer zu den struktur- und prozessbezogenen Charakteristika von Konflikten.

Wenn etwa das Überlagern von Konfliktgegenständen und cleavages mit Rollen von Akteur:innen systematisch betrachtet wird, wird ersichtlich, dass zwischen den verschiedenen Konflikten, in die der deutsche Staat oder deutsche Akteur:innen in unterschiedlichsten Rollen involviert sind, einerseits und eben diesen Rollen andererseits Zusammenhänge bestehen können. Hiernach wäre ebenfalls systematisch zu fragen: Resultieren etwa aus Konflikten, die »Deutschland« − sei es als Kolonialstaat, sei es als Profiteur ungleicher terms of trade, etc. – strukturell mitverursacht hat, Externalitäten für »Deutschland« (wie etwa: Fluchtbewegungen), die wiederum einerseits intervenierendes Handeln »Deutschlands« (etwa: humanitäre Hilfe) und andererseits Konflikte innerhalb Deutschlands (weil Teile der Gesellschaft und einige politische Parteien Geflohene als negative Externalität definieren) sowie bzw. daraus wiederum Konflikte mit anderen Staaten (etwa: um die Verteilung von Geflohenen in der EU)? Derart wird wiederum ersichtlich, weshalb die ganz enge Frage nach innerstaatlichen Konflikten in Deutschland eines breiten Fokus auf der Grundlage systematischer typologischer Unterscheidungen bedarf: Nur so kommen die genannten Zusammenhänge in den Blick, und nur so wird die Analyse eine umfassende statt einer unbewusst selektiven, die entsprechend riskiert, zu systematisch verzerrten Resultaten zu gelangen.

Innerdeutsche Konflikte

Die oben vorgenommenen Unterscheidungen erlauben es, einen einigermaßen systematischen Blick auf Konflikte in Deutschland zu werfen, der über eine rein assoziative Zusammenstellung hinausgeht, ohne gleich das (über-)ehrgeizige Ziel einer vollständigen Erfassung zu verfolgen. Die große Vielfalt der möglichen Konfliktparteien einerseits in Verbindung mit der oben getroffenen Einschränkung auf politische bzw. gesellschaftliche Konflikte andererseits legt es nahe, für diese Zusammenstellung gesellschaftliche cleavages ins Zentrum zu stellen. Schließlich sind sie per definitionem Differenzen, die geeignet sind, dass aus ihnen relativ persistente und für größere Bevölkerungsteile relevante Konflikte erwachsen.

Angesichts der offenen Frage, inwiefern die »alten« cleavages noch relevant sind und welche neuen gegebenenfalls zu beachten wären (vgl. Tabelle 3), empfiehlt es sich nach Ansicht der Autorin, statt von den in der Debatte üblicherweise verhandelten Linien in einem ersten Schritt von den in der soziologischen Sozialstruktur- bzw. Ungleichheitsforschung etablierten Unterscheidungsstrukturen sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Schichtung auszugehen. Dies sind Alter; Geschlecht (auch als non-binäre Kategorie); sexuelle Orientierung; Stadt vs. Land; Religion bzw. Konfession; Migrationshintergrund sowie die Unterscheidung in sozio-ökonomische Klassen oder Schichten in Abhängigkeit von Vermögen bzw. Kapital, Einkommen und Bildungsgrad oder der Unterscheidung verschiedener Milieus oder Lebensstile.3 An letztere lässt sich − nicht in enger Kopplung, aber doch im Sinne von Affinitäten − die Frage nach der politischen Orientierung anschließen, die wiederum in derselben Weise mit der Positionierung zu jeweils konkreten politisch und gesellschaftlich mehr oder weniger umstrittenen Themen einhergeht.

Davon ausgehend lässt sich dann zum einen in einer Art Bestandsaufnahme fragen, welche cleavages denn aktuell als Themen Gegenstand öffentlich ausgetragener innerdeutscher Konflikte sind, zwischen welchen Akteur:innen (Individuen, Gruppen, Organisationen) sie kontrovers verhandelt bzw. gar gewaltsam ausgetragen werden. Die derzeit gesellschaftlich, teils auch politisch wohl am erhitztesten diskutierten Themen betreffen insbesondere Migration (zum einen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und solchen ohne, was sich sowohl in so abstrakten Themen wie Debatten um das Staatsbürgerschaftsrecht als auch in konkreten Themen wie etwa dem der »Clankriminalität« manifestiert (siehe dazu den Beitrag von Dreher und Henschel), zum anderen hinsichtlich der »Steuerung« von künftiger Migration nach Deutschland), Geschlecht (sowohl hinsichtlich des »klassischen« Themas der Gleichberechtigung von Mann und Frau als auch hinsichtlich der Akzeptanz von non-binären, inter- oder transsexuellen Menschen), und nach der vollen Gleichberechtigung von nicht-heterosexuellen Menschen insbesondere bei reproduktiven Rechten (siehe dazu den Beitrag von Mientus). Bei diesen Themen sind die Kontrahent:inn en häufig relativ deckungsgleich, sodass hier die Frage gestellt werden kann, ob sich eine Achse der Polarisierung identifizieren lässt (vgl. den Beitrag von Richter und Salheiser).

Zum anderen lässt sich fragen, welche Themen dies eigentlich sein sollten, und wieso sie es eben gerade nicht sind. »Latente« Konflikte zeichnen sich schließlich gerade dadurch aus, dass sie öffentlich eben nicht prominent verhandelt werden. Konflikt- und vielleicht auch gesellschaftstheoretisch ist das umso spannender, je stärker aufgrund der strukturellen Gegebenheiten zu erwarten wäre, dass die fraglichen Themen tatsächlich offene Konflikte konstituieren. Insofern ist es beispielsweise bemerkenswert, dass die in Deutschland im OECD-Vergleich eher große Einkommens- und insbesondere Vermögensungleichheit zwar durchaus wissenschaftlich und auch in den Qualitätsmedien behandelt wird, aber nicht dazu führt, dass bislang die cleavage zwischen Vermögenden und Nicht-Vermögenden (v.a. kapitallosen Werkstätigen) zur Mobilisierungslinie und wichtigen Konfliktlinie würde – wohl nicht zuletzt aufgrund der öffentlichen Unterschätzung des tatsächlichen Ausmaßes an Ungleichheit (vgl. Busemeyer et al. 2023). Jenseits von Tarifkonflikten und der gelegentlich aufflammenden Debatte über Vermögens- und Erbschaftssteuern bleibt das Thema weitgehend latent, erst recht in seiner ganz grundsätzlichen Dimension der Frage nach dem Verhältnis von Staat, Markt und Gesellschaft. Zudem positionieren sich in diesen Auseinandersetzungen auffällig viele Menschen nicht entsprechend ihrer »objektiven» ökonomischen Interessen (vgl. u.a. Beckert 2017).

Bei diesen Konflikten stellt sich dann die Frage, welche Rolle (Konfliktpartei? Unterstützer? Mediator? Beobachter? Unwissender?) dabei »der Staat« oder vielmehr welche staatlichen Instanzen (im Gröbsten: Exekutive, Judikative und Legislative) spielen, und zwar gegebenenfalls in ihrer Veränderung im Zeitverlauf − und welche Dynamiken wiederum daraus erwachsen sowohl innerhalb des jeweiligen Konflikts als auch hinsichtlich von Auswirkungen auf andere bestehende Konflikte und soziale Akteur:innen sowie auf die Entstehung neuer Konflikte und Konfliktparteien. Das resultierende Gesamtbild dürfte nicht nur hochkomplex, sondern durchaus auch sehr widersprüchlich sein.

Anmerkungen

1) Der Terminus »innerstaatlich« meint dabei im Kern dasselbe wie der »innergesellschaftlich«, wobei jedoch ersterer den Vorzug der klaren Abgrenzung hat – was »eine Gesellschaft« sei und wo ihre Grenzen verlaufen, ist schließlich sowohl theoretisch als auch empirisch deutlich schwieriger zu beantworten als die Frage danach, was ein Staat ist und wo dessen Grenzen seien. Da derart die Abgrenzung von innerstaatlich und transnational erheblich erschwert ist, wird im Folgenden von »innerstaatlichen« Konflikten die Rede sein.

2) Idealtypisch stehen sich hier beispielsweise die 1.000 dem Kampf zuordenbaren Toten des »Correlates of War Project« (vgl. Reid Sarkees 2010) und komplexere Definitionen wie das des HIIK (Schwank et al. 2016, S. 6ff) gegenüber.

3) Hier wäre zu beachten, dass diese teils als Alternative zu Klassen- oder Schichtkonzepten konstruiert und teils systematisch mit ihnen in Verbindung gebracht werden.

Literatur

Beckert, J. (2017): Neid oder soziale Gerechtigkeit? Die gesellschaftliche Umkämpftheit der Erbschaftssteuer. Aus Politik und Zeitgeschichte 23-25, S. 23-29.

Blumer, H. (1988 [1958]): The Rationale of Labor-Management Relations. In: Lyman, S.; Vidich, A. J. (Hrsg.): Social Order and the Public Philosophy. An Analysis and Interpretation of the Work of Herbert Blumer. Fayetteville: University of Arkansas Press, S. 234-269.

Busemeyer, M. R., et al. (2023): Eingetrübte Aussichten: Das Konstanzer Ungleichheitsbarometer belegt die Wahrnehmung zunehmender Ungleichheit. Policy Paper Nr. 12, Konstanz, Exzellenzcluster »The Politics of Inequality«.

Coser, L. A. (1956): The Functions of Social Conflict. Glencoe: The Free Press.

Eck, K.; Hultman, L. (2007): Violence Against Civilians in War. Journal of Peace Research 44(2), 
S. 233-246.

Gochman, Ch.; Maoz, Z. (1984): Miltitarized Interstate Disputes 1816-1976. Procedures, Patterns and Insights. Journal of Conflict Resolution 28(4), S. 585-614.

Goodhart, D. (2017): The Road to Somewhere: The New Tribes Shaping British Politics. London: Penguin books.

Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) (2003): Conflict Barometer 2003. URL: hiik.de/konfliktbarometer/bisherige-ausgaben.

Hasenclever, A. (2002): Sie bewegt sich doch. Neue Erkenntnisse und Trends in der quantitativen Kriegsursachenforschung. Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9(2), S. 331-364.

Hirschman, A. O. (1994): Social Conflicts as Pillars of Democratic Market Society. Political Theory 22(2), S. 203-218.

Kriesi, H. et al. (1995): New Social Movements in Western Europe. London: UCL Press Limited.

Mayer, Lotta (2019): Konfliktdynamiken – Kriegsdynamiken. Zur Konstitution und Eskalation innergesellschaftlicher Konflikte. Bielefeld: transcript.

Parsons, T. (1985): The Social System, New York: The Free Press.

Sarkees, M. R. (2010): The COW Typology of War: Defining and Categorizing Wars (Version 4 of the Data). URL: correlatesofwar.org.

Schwank, N. (2012): Konflikte, Krisen, Kriege. Die Entwicklungsdynamiken politischer Konflikte seit 1945. Baden-Baden: Nomos.

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Simmel, G. (1992 [1908]): Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe. In: Rammstedt, O. (Hrsg.): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Georg-Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 11. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 63-159.

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Lotta Mayer ist Nachwuchsgruppenleiterin am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg und wissenschaftliche Referentin im Arbeitsbereich Frieden der FEST Heidelberg. In ihrer 2019 bei transcript erschienen Dissertation »Konfliktdynamiken – Kriegsdynamiken« entwickelte sie eine interaktionistische Theorie der Konstitution und Eskalation innergesellschaftlicher Konflikte.