Konflikt – und was hat das mit uns zu tun?

Konflikt – und was hat das mit uns zu tun?

Mit der öffentlichkeitswirksamen Verhaftung von vermutlichen Rechtsterrorist*­innen aus dem Reichsbürger*innenspek­trum rückte erst vor wenigen Monaten ein Konflikt in Deutschland um die Legitimität der politischen Ordnung wieder mit einem Paukenschlag ins »Licht der Öffentlichkeit«. Mit einem Großaufgebot der Polizei wurden Liegenschaften durchsucht und prominente Festnahmen sickerten schnell durch. Doch wo einerseits die juristischen Aufarbeitungen zunächst abseits der Öffentlichkeit stattfinden und andererseits die öffentliche Neugierde sich im Wesentlichen auf die emotionalen Personenstories der Verhafteten oder die konkreten Vorbereitungspläne erstreckte, gerieten die darin liegenden gesamtgesellschaftlich relevanten Konfliktlinien, vor allem um die empfundene Legitimität der politischen Ordnung, schnell wieder aus dem Fokus.

Ganz ähnlich tendiert auch die deutschsprachige Friedens- und Konfliktforschung im Gros dazu, diesen Konflikten weniger Aufmerksamkeit zu schenken und sich vor allem innergesellschaftlichen Konflikten außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu widmen. Dies betrifft auch uns bei W&F – thematisierten wir doch vor fast zehn Jahren zuletzt Konfliktlagen im »Globalen Norden« (Heft 1/2014).

Mit diesem Heft richten wir daher einen kritischen, wenn auch notwendig unabgeschlossenen Blick auf die vielschichtigen Konfliktlagen in unserer eigenen Gesellschaft. Dies soll keineswegs bedeuten, dass sich durch das Studieren dritter Kontexte kein wertvolles Wissen für Konflikttransformationen hierzulande erhalten ließe. Aber es ist notwendig, den Blick auch nach »innen« zu wenden. Die Relevanz zeigt das Konfliktbarometer 2022 des HIIK (vgl. S. 38ff.), das jährlich Staaten in Bezug auf ihre politischen Konflikte untersucht. Es ordnet Deutschland immerhin mit der Intensität »3« ein – von insgesamt »5« Formen von »gewaltsamen Krisen«. Klar wird mit dieser Perspektive, dass Ausbrüche von Gewalt in Deutschland keine Einzelfälle sind, sondern vielmehr frühzeitig als Konfliktlagen in der Gesellschaft anerkannt, bearbeitet und transformiert werden müss(t)en.

Eine der wenigen konfliktwissenschaftlichen Betrachtungen, die das Geschehen hierzulande in den Blick nehmen, sind die sogenannten »Mitte-Studien« der Friedrich-Ebert-Stiftung. Diese untersuchen die demokratiegefährdenden Einstellungen in der deutschen Bevölkerung und heben hervor, dass sich rechtspopulistische Einstellungen in den letzten Jahren verfestigt haben sowie in der Mitte angekommen sind. Die Gefahr einer diskursiven Normalisierung und Homogenisierung von nationalistischen und menschenfeindlichen Positionen in der Gesellschaft ist darin klar benannt.

Die Herausforderung mit der Beschäftigung mit Konflikten in der Gesellschaft ist die augenscheinliche Latenz vieler Konflikte, ihr vermeintliches »Unter-der-Oberfläche-treiben«. Immer wieder, wie im obigen Fall der Rechtsterrorist*innen, richtet sich die gesellschaftliche Aufmerksamkeit erst dann auf einzelne Ereignisse, wenn die Gewalt sichtbar wird – die Konfliktstrukturen, ihre Treiber und ihre Dynamiken aber bleiben weitgehend unangetastet. Dies erhöht auch gleichzeitig die Gefahr, den Zeitpunkt für notwendige Aushandlungsprozesse unter demokratischen Bedingungen zu übersehen. Zudem sind diese Konflikte längst nicht für alle Menschen, gerade nicht für Betroffene, »latent«, gar »unsichtbar«. Sich mit Konflikten in Gesellschaft zu beschäftigen, bedeutet auch, zu fragen, wessen Perspektiven, Kritik, Notrufe für wichtig und anerkennenswert erachtet werden. Denn in der Nichtbeachtung von Konfliktlinien kommen innergesellschaftliche Diskrimi­nierungs- und Machtverhältnisse zum Ausdruck – wie unsere Autor*innen eindrucksvoll zeigen. Durch den Analyserahmen, den der erste Beitrag von Lotta Mayer aufspannt, wird sichtbar, dass es auch um die Frage gehen muss, welche Konflikte thematisiert gehören – und welche aus welchen Gründen nicht thematisiert werden.

Die in diesem Heftschwerpunkt versammelten Beiträge zeigen exemplarisch einige dieser Konfliktlagen und mögliche Transformationspotentiale auf. Es ließen sich nun nahtlos Beispiele zu Klassismus, Armut und Ungleichheit, zu Rassismus und Sexismus, zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Konflikten um die politische Ordnung anschließen. Doch wozu?

Wir meinen, dass es friedenslogisch unabdingbar ist, eine Gesellschaft zu gestalten, in der es selbstverständlich wird, die eigene Involviertheit in Konfliktlagen zu hinterfragen und zu verändern; dass dies alltäglich sowohl strukturell (durch die Organisierung unseres Zusammenlebens) als auch individuell (als Haltungsfrage) ermöglicht wird; und dass sich durch die Sichtbarkeit der strukturellen und machtpolitischen Zwänge auch diese Gewalt transformieren und in Bearbeitung bringen lässt.

Mit diesem Heft wollen wir daher eine vertiefte Auseinandersetzung anregen, sich einen neuen Blick für die uns umgebenden Konflikte und eine Bereit­schaft anzueignen, anders hinsehen zu wollen. Dafür wünschen Ihnen eine anregende und diskussionswürdige ­Lektüre,

Ihre Melanie Hussak, Ulrika Mientus und David Scheuing

Sicherheit in unsicheren Zeiten

Sicherheit in unsicheren Zeiten

von Thomas Würdinger

Unsicherheit und Verunsicherung mögen subjektive Empfindungen sein, oftmals relativ zum sozialen Status. Sie sind aber auch kollektive Perzeption. Als solche können sie enorme Sprengkraft für das soziale Gefüge und das demokratische Miteinander entfalten. Vor allem in unsicheren Zeiten von sozial-ökologischer Transformation, Klimawandel, Corona und Ukraine-Krieg. Dieses Stakkato deutet darauf hin, worauf Sicherheit – oder genauer: die »Herstellung« von Sicherheit – in globalen Zusammenhängen nicht reduziert werden kann: militärische Schlagkraft.

Der Krieg Russlands gegen die Ukra­ine unterminiert die ohnehin fragile Ernährungssicherheit im Globalen Süden. Hierzulande hängen soziale Sicherheit und Energieversorgungssicherheit eng zusammen. Stufe 3 des »Notfallplan Gas« dräut über den Köpfen von Verbraucher*innen und Industriebetrieben. Bange Blicke richten sich auf die Wartung der Nord-Stream-1-Pipeline. Zahlreiche Branchen sorgen sich um unsichere Lieferketten, ausbleibende Energielieferungen und fehlende Rohstoffe. Die Inflation steigt rasant, das dicke Ende droht vielen Menschen mit der noch ausstehenden Nebenkostenabrechnung. Bereits heute können sich zu viele Menschen elementare Dinge des täglichen Bedarfs nicht leisten. Unausgegorene Tankrabatte helfen da nicht weiter. Die IG Metall fordert deshalb eine Übergewinnsteuer für Krisengewinne, einen Gaspreisdeckel und eine sozial gerechte Entlastung aller Haushalte.

Deutlich wird daran zugleich die Notwendigkeit, politischem Handeln ein erweitertes Verständnis von Sicherheit zugrunde zu legen. Sicherheits- und Friedenspolitik muss die komplexen Wechselverhältnisse verschiedener Risiken adressieren können. Herausforderungen in der Energie- und Rohstoffversorgung müssen dabei ebenso berücksichtigt werden wie globale Handelsbeziehungen und Lieferketten, die Auswirkungen des Klimawandels ebenso wie das Diktum sozialer Sicherheit. Das wirft mehr Fragen als Antworten auf. Welches Verhältnis zu Russland, aber auch zu China und anderen nicht gerade lupenreinen Demokraten wollen und können wir künftig pflegen? Auf welchen internationalen Institutionen, Organisationen und Normen kann eine wiederzubelebende Architektur für kooperativen Frieden und Sicherheit ruhen? Wie positionieren sich Deutschland und die Europäische Union im Gefüge geopolitischer Spannungen? Das zu erfragen und miteinander auszuhandeln mag denjenigen zuwider sein, die in unsicheren Zeiten auf Eindeutigkeit und den durchgreifenden Mut der Eliten setzen oder Führung bestellen.

Die friedenspolitische Debatte und ihre Protagonist*innen täten mit Blick auf die skizzierten Wechselverhältnisse jedoch gut daran, Selbstvergewisserung statt Besserwisserei zu üben. So sehr diese Einsicht wie ein wohlfeiles Mantra anmuten mag: Es braucht Diskurs – wider simplifizierenden Populismus, angebliche Alternativlosigkeit und spaltende Rhetorik. Es geht um mehr als um die unsägliche Frage nach »Sieg« oder »Niederlage«, es gibt zahlreiche Schattierungen zwischen einer Beschränkung auf zivilen Ungehorsam und der Lieferung schwerer Waffen. Unsicherheit, Unschärfe, Widersprüche, sie werden die politische Debatte weiter prägen. Umso wichtiger ist der produktive und wertschätzende Austausch unterschiedlicher Positionen und Argumente. Diese kommunikative Auseinandersetzung um Sicherheit sollte zur Entscheidung(-sfindung) gehören, gerade in unsicheren Zeiten. Entscheidungsunsicherheit sollte opportun sein. Sie ist nachvollziehbar – muss allerdings auch kommuniziert werden. Es ist ein Plädoyer für eine diskursive Zeitenwende.

Klar sind für den schreibenden Gewerkschafter hingegen die Haltung und wesentliche Leitplanken in der sicherheits- und friedenspolitischen Debatte: Grundsätze wie die Achtung von Menschenrechten, das Selbstbestimmungsrecht, Minderheitenschutz, die Wahrung demokratischer Grundrechte und das Ziel sozialer Gerechtigkeit sind nicht verhandelbar. Eine dauerhafte Steigerung des Etats für Rüstung und Verteidigung auf ein willkürlich erscheinendes Zwei-Prozent-Ziel lehnen die Gewerkschaften ab. Zudem gilt: Wer ein Sondervermögen für die Bundeswehr auf den Weg bringen kann, der sollte vor einem Sondervermögen für den sozialen Frieden nicht zurückschrecken. Wer in der aktuellen Gemengelage weiteren Entlastungen vorschnell eine Absage erteilt oder über 600 Mio. Euro für den sozialen Arbeitsmarkt kürzt, um weiterhin dem goldenen Kalb der Schuldenbremse zu frönen, braucht sich über Gegenwind nicht beschweren. So wird in unsicheren Zeiten jedenfalls keine Sicherheit vermittelt.

Thomas Würdinger ist Ressortleiter Grundsatzfragen beim Vorstand der IG Metall. In dieser Funktion ist er Mitglied des Arbeitsausschusses »Abrüsten statt Aufrüsten«.

Gewalt gegen Frauen

Gewalt gegen Frauen

Immer noch ist das Private nicht politisch

von Gisela Notz

In der übergroßen Mehrheit der Fälle erleben Frauen häusliche Gewalt durch Männer. Dies weist auf große strukturelle Probleme hin und kann nicht mit einer vermeintlichen »Devianz« einzelner Männer erklärt werden. In diesem Beitrag soll es vor allem um die Gewalt gegen Frauen, insbesondere in Partnerschaft und Familie, gehen und darum, warum das Private immer noch nicht politisch ist. Beleuchtet wird die Rolle der Frauen(haus)bewegung und ihr Einfluss auf das politische Handeln zur Ahndung dieser Taten. Abschließend geht es um mögliche Ansätze der Gewaltprävention, die über die verbale Aufgeschlossenheit gegenüber dem Thema hinaus gehen.

Direkte personale Gewalt gegen Frauen ist immer eingebettet in gesellschaftliche, strukturelle und kulturelle Machtverhältnisse. Sowohl kulturelle als auch strukturelle Gewalt können Formen personaler Gewalt beeinflussen, ziehen diese aber nicht automatisch nach sich. Personale Gewalt in Partnerschaft und Familie zeichnet sich daher oft durch ungleiche Machtverteilung zwischen den Ausübenden, meist Männern, und den Betroffenen, meist Frauen, aus.

Die häufigste Form von personaler Gewalt findet im häuslichen Bereich statt. Wobei es sich bei einem Großteil der Täter um den Ehemann bzw. männlichen Lebensgefährten des Opfers handelt. Häusliche Gewalt erleben Frauen jeden Alters, aller Einkommens- und Bildungsschichten sowie ethnischer Herkunft. Lesbische, bisexuelle Frauen, trans- oder intergeschlechtliche Personen sind aufgrund ihrer Mehrfachdiskriminierung oft verstärkt Gewalt ausgesetzt. Dass zwei Drittel aller Frauen in den Frauenhäusern Migrantinnen sind, hat vielerlei Gründe: Sie sind verhältnismäßig ärmer, haben oft keine eigenen sozialen Netzwerke, unterliegen ohnehin Diskriminierungen, z. B. auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, und haben oft kein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Besonders in Lagern (sogenannten »Sammelunterkünften«) sind sie einem hohem Gewaltrisiko ausgesetzt.

Auch häusliche und strukturelle Gewalt sind, vor allem wenn Frauen aufgrund der familistischen Systeme ökonomisch auf die Unterstützung von Männern angewiesen sind, eng miteinander verknüpft. Ebenso spielen kulturelle Aspekte sowohl bei einheimischen als auch bei Gewalttätern, die aus anderen Ländern kommen, eine Rolle, indem sie Taten als »kulturell legitimiert« erscheinen lassen. Laut der Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) für das Jahr 2020 lag die Zahl der Fälle partnerschaftlicher Gewalt in der BRD bei 148.031, 80,5 % der Opfer waren Frauen. Jede vierte Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt (vgl. BAFzA). 139 Frauen wurden im selben Jahr durch (Ex-)Partner getötet. Das heißt, alle zweieinhalb Tage geschieht ein Femizid, ein Mord von Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Hinzu kommen 220 versuchte Femizide. Femizide werden häufig als Familiendrama, Ehrenmord, Trennungstötung, Eifersuchtsdrama etc. heruntergespielt. Das verharmlost, dass Männer »ihre« Frauen ermorden, weil sie glauben, das Recht dazu zu haben. Sie morden vor oder nach Trennungen, weil die Frauen schwanger sind, weil Frauen eigene berufliche Erfolge haben oder eigene Wege gehen wollen. Das Dunkelfeld ist bei allen Straftaten erheblich.

Häusliche Gewalt ist sowohl körperlich als auch seelisch deshalb besonders belastend, weil sie dort stattfindet, wo Frauen und Kindern Schutz und Geborgenheit versprochen wird, und weil sie von einem Mann ausgeht, dem Frauen aufgrund der gängigen Familien- und Paarideologie vertrauen. Um fortgesetzte gewalttätige Übergriffe zu verhindern, ist eine Frau oft gezwungen, sich den Bedürfnissen des Mannes anzupassen, sich seinen Forderungen unterzuordnen, ihren eigenen Lebensraum einzuengen und sogar aufgrund von Schuld- und Schamgefühlen vor sich selbst zu verleugnen. Viele Täter sind „ganz normale Männer“, auch sie kommen aus allen sozialen Schichten (Fiedler 2019), geben sich in der Öffentlichkeit freundlich und hilfsbereit und sind auf den ersten Blick nicht als gewalttätige Menschen erkennbar.

Das Private ist immer noch nicht politisch

Gewalt in der Partnerschaft oder im »sozialen Nahraum«, also in der viel gelobten Familie, ist trotz dieser Verhältnisse und trotz einiger gesetzlicher Änderungen nach wie vor nicht die Gewaltform, der die Öffentlichkeit oberste Priorität einräumt; obwohl sie die häufigste ist, bleibt sie oft verborgen. Familienpolitik stand im Jahr der Bundestagswahlen für alle Parteien im Fokus, nicht nur für die »neuen Rechten«. Davon, dass Familie auch Ort der Gewalt und Unterdrückung ist, wird jedoch bis heute kaum gesprochen. „Wenn Sie Gewalterfahrungen suchen, gleich ob als Opfer oder als Täter, gründen Sie am besten eine Familie“, ist das Fazit, das Kai Bussmann, Professor für Strafrecht an der Universität Halle-Wittenberg, zweifellos zynisch aus seinem Berufsleben zieht und das in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde (Siegmund-Schultze 2010). Bussmann versichert: „Es gibt in unserer hochzivilisierten Gesellschaft keinen unsichereren Ort als die Familie.“ Die Gewaltkriminalität in Deutschland sei insgesamt rückläufig. Aus dem öffentlichen Raum sei sie jedoch erfolgreicher verdrängt worden als aus dem privaten Bereich. Vom „Schlachtfeld Familie“ sprechen Gewaltforscher*innen in den USA (Ebd.).

Dass überhaupt eine Debatte um Gewalt gegen Frauen und ihre Täter losgetreten wurde, ist ein Verdienst der Frauenbewegungen der 1970er-Jahre; bis dahin war sie ein Tabu. Die Frauen holten das Thema aus der Privatsphäre heraus, enttabuisierten es und gaben den betroffenen Frauen die Möglichkeit zur Artikulierung. Dazu gehörten auch die Kampagnen zur teilweise erfolgreichen Kriminalisierung von Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt (Notz 2002, S. 133ff.) sowie die feministische Kritik an der Zwangsheterosexualität.

Die Frauen(haus)bewegung

In den sich in vielen Städten bildenden Frauengruppen wurde ein kollektiver Lernprozess darüber eingeleitet, dass ökonomische und soziale Benachteiligungen und Gewalt gegen Frauen kein persönliches Schicksal, sondern ein öffentliches Politikum seien, das es anzuprangern und zu verändern gelte. Frauen kämpften für das Selbstbestimmungsrecht bei Schwangerschaft, gegen Misshandlung und Gewalt gegenüber Frauen und Kindern und problematisierten die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung im Berufsleben und in der Familie. Die neu geschaffenen Frauenräume dienten nicht nur der individuellen Verbesserung der Situation der Betroffenen, sondern sie wurden als Orte und Zentren für feministische Gesellschaftsveränderung begriffen. Frauen sahen sich nicht in erster Linie als Opfer, sondern als handelnde Subjekte, denen es gelang, ihre Räume für nicht-akademische Schichten zu öffnen.

Die Frauenhausbewegung machte mit Blick auf die Rolle und die Beurteilung der Täter auch darauf aufmerksam, dass patriarchalische gesellschaftliche Verhältnisse keine Entschuldigung für gewalttätige Verhaltensweisen von Männern sein können und dass jeder Mann, auch wenn er in einer frauenverachtenden Umgebung lebt, als Individuum für sein eigenes Verhalten gegenüber Frauen verantwortlich ist.

Gewalt sollte nicht nur politisch bekämpft werden, sondern für von Partnergewalt betroffene Frauen und ihre Kinder sollte eine Alternative zu ihrer von Gewalt, Bedrohung und Demütigung geprägten Lebenssituation geschaffen werden. Frauen sollten Gewalt nicht mehr in den Familien aushalten müssen, sondern Beratungsstellen und Zufluchtsorte vorfinden, die sie davor schützen, nach Misshandlungen zurück zu den misshandelnden Partnern gehen zu müssen.

Mit den 1975 zunächst in Köln und Berlin und dann auch in anderen Städten nach harten Kämpfen eröffneten autonomen Frauenhäusern sollten Zufluchtsräume geschaffen werden, in denen betroffene Frauen Trauer, Zorn und Wut artikulieren konnten sowie Schutz und Hilfestellung bekamen, um über neue Lebensformen außerhalb der Kleinfamilie nachzudenken. Aus den autonomen Projekten wurden Einrichtungen, die in den Kommunen und Landkreisen wegen ihrer kompetenten und engagierten Arbeit mehr und mehr geschätzt wurden. Leider spiegelt sich diese Wertschätzung in den seltensten Fällen in der Finanzierung wider. Das anhaltende Ringen um finanzielle Ressourcen für die Arbeit bindet die Kräfte der aktiven Frauen und raubt ihnen Ressourcen. Allein in der Bundesrepublik suchen jährlich 34.000 Frauen und Kinder in 360 Frauenhäusern und 25 Zufluchtswohnungen mit 6.800 Plätzen Schutz (Statista 2021).

Trotz steigender Zahl von Hilfsbedürftigen ist die Zahl der Frauenhäuser aufgrund finanzieller Notlagen rückläufig. Im Jahr 2004 existierten noch 400 Frauenhäuser in Deutschland. Auch heute sind die Frauenhäuser überfüllt und unterfinanziert. Für Frauen, die sofortige Hilfe benötigen, gibt es keinen Platz. Das ist vor allem deshalb ein Skandal, weil zahlreiche Studien einen Anstieg von häuslicher Gewalt in der Corona-Pandemie bestätigen.

Was tut die Politik?

Es ist ein Verdienst der Frauen(haus)bewegung, dass politische Gremien das Thema »Gewalt gegen Frauen und Kinder« aufgreifen mussten. Einige Maßnahmen und Gesetzesänderungen zugunsten der Opfer von Gewalt folgten. Wie viele der Taten systematisch nicht erfasst werden konnten und aber auch nicht sollten, spiegelt idealtypisch der Fortgang der Beratungen zur Vergewaltigung in der Ehe. Zunächst fehlte überhaupt erst einmal die konzeptionelle Einsicht in das Vorliegen einer strafbaren Tat. Es dauerte bis zum 1. Juli 1997, als nach heftigen emotionsgeladenen Debatten im Deutschen Bundestag und gegen die Stimmen der CDU/CSU Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde und seither wie jede andere Vergewaltigung als Verbrechen gilt. Bis dahin war das Selbstbestimmungsrecht der Frau in der Ehe mit dem Jawort am Standesamt außer Kraft gesetzt. Das war eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers: Als Vergewaltiger wurde in der Bundesrepublik nur bestraft, wer sein Opfer mit Gewalt zum „außerehelichen Beischlaf“ zwang. „Mit uns nie“, hatte der CSU-Politiker Edmund Stoiber noch 1990 bei den Koalitionsverhandlungen erklärt, als FDP-Politiker vorschlugen, die Vergewaltigung in der Ehe zu bestrafen (Steinke 2017). Der Trauschein wirkte wie ein Freibrief und half, Straftaten nicht wie solche zu bewerten und zu verurteilen. Die Täter waren systemisch geschützt. Leider belegen auch heutige Dunkelfeldstudien, dass ein Großteil der Sexualstraftaten in der Ehe weiterhin nicht zur Anzeige kommt. Entgegen dem geltenden Straf- und Zivilrechts findet sich noch immer die Behauptung, Vergewaltigung in der Ehe könne es gar nicht geben, da eine ständige sexuelle Bereitschaft Bestandteil des Ehevertrags sei (Deutscher Bundestag 2008, S. 8).

Internationale Frauenverbände setzen sich seit Jahrzehnten für einen besseren Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt ein. Deutschland hat sich mit 44 weiteren Staaten mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention des Europarates im Jahr 2011 dazu verpflichtet, Frauen vor Gewalt durch den Partner zu schützen und häusliche Gewalt zu bekämpfen.

Mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen hatte die Bundesregierung im Dezember 1999 ein Konzept für alle Ebenen der Gewaltbekämpfung vorgelegt (BMFSF 1999). Sie wollte deutlich machen, dass es um strukturelle Veränderungen gehen muss, nicht mehr wie bisher um vereinzelte, punktuelle Maßnahmen, die die Komplexität des Gewaltgeschehens außer Acht lassen. Einige gesetzgeberische Maßnahmen – das betrifft z. B. häusliche und sexuelle Gewalt sowie Frauenhandel – sind bereits verbessert worden. Das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) vom Januar 2002 enthält eine Anspruchsgrundlage für die – zumindest zeitweise – Überlassung einer gemeinsam genutzten Wohnung, wenn die verletzte Person mit dem Täter einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt führt. Das einschlägige Verfahrens- und Vollstreckungsrecht wurde so überarbeitet, dass die betroffenen Opfer schnell und einfach zu ihrem Recht kommen können. Auch dieses Gesetz wäre ohne den Kampf der Frauenbewegung nicht verabschiedet worden. Für diese war es von Anfang an paradox, dass es die Misshandelten waren, die ihre Wohnung aufgeben sollten, um Schutz vor ihren Peinigern zu finden.

Inzwischen sind mehr als zwei Jahrzehnte ins Land gegangen. Die seit dem 8. Dezember 2021 regierende Familienministerin Anne Spiegel (Bündnis90/Die Grünen) will »Gewalt gegen Frauen« zu einem großen Schwerpunkt ihrer Arbeit machen. Die neue rot-gelb-grüne Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, die weitere Umsetzung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und ihren Kindern voranzutreiben. Gemeinsam mit Ländern und Kommunen sollen mehr Plätze in Frauenhäusern geschaffen werden.

Die verbale Aufgeschlossenheit reicht nicht

Die Hoffnung der westdeutschen Frauen(haus)bewegungen, es lasse sich ein Geschlechterverhältnis ohne Besitzansprüche, ohne überkommene Rollenvorstellungen und ohne Gewalt in den »privaten« Beziehungen herstellen, hat sich bis heute nicht erfüllt.

Seit Beginn der Maßnahmen zur Beschränkung der Ausbreitung von Covid-19 warnen Beratungsstellen, Frauenhäuser und Frauenorganisationen vor den Auswirkungen der Isolation und fehlenden Kommunikations- und Schutzmöglichkeiten für Frauen und Kinder im häuslichen Gewaltraum. Tatsächlich hat die Corona-Krise das Gewaltproblem noch einmal verschärft. Das wird meist auf enorme Herausforderungen durch den Zwang in der Familie zu bleiben, Stresssituationen durch Homeoffice und die geschlossenen Betreuungs- und Kommunikationsstrukturen zurückgeführt, die besonders Familien in belasteten Lebenslagen treffen würden.

Die verbale Aufgeschlossenheit gegenüber dem Problem »Gewalt gegen Frauen« reicht nicht. Es geht um die Institutionalisierung eines wirksamen Kampfes dagegen. Dabei muss auch die Familie als struktureller Tatort in den Blick genommen werden, die durch die fundamentalen Abhängigkeitsverhältnisse entlang der hierarchisch angelegten Geschlechter- und Generationenverhältnisse männliche Dominanz und Machtmissbrauch fördert und gewalttätige Übergriffe zulässt (Notz 2015). Es gilt, Lebensformen zu propagieren und zu fördern, in denen niemand ausgebeutet, unterdrückt, oder seinen eigenen Interessen widersprechend behandelt wird.

Literatur

Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA): Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen. hilfetelefon.de.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) (1999): Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, Berlin.

Deutscher Bundestag (2008): Wissenschaftliche Dienste: Vergewaltigung in der Ehe. Strafrechtliche Beurteilung im europäischen Vergleich, Berlin,WD 7 – 307/07.

Fiedler, L. (2019): „Papa ist ein ganz Lieber, nur manchmal wird er zum Monster“. DIE ZEIT, 25.11.2019.

Notz, G. (2015): Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes, Stuttgart: Schmetterling.

Notz, G. (2002): „Ich kann mit dir machen, was ich will. Du gehörst mir“. Widerspenstige Frauen sollten zu allen Zeiten „gezähmt“ werden. In: Nagelschmidt, I. u.a. (Hrsg.): Menschenrechte sind auch Frauenrechte. Leipzig: Universitätsverlag, S. 133-154.

Siegmund-Schultze, N. (2010): Häusliche Gewalt. Schlachtfeld Familie. Süddeutsche Zeitung, 19.05.2010.

Steinke, R. (2017): Als Vergewaltigung in der Ehe noch straffrei war. Süddeutsche Zeitung, 04.07.2017.

Gisela Notz, Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin-Kreuzberg. Sie ist Autorin zahlreicher Veröffentlichungen, Mitglied der Redaktion von Lunapark21 und des Beirats des BdWi.

Narcas

Narcas

Frauen als Täter*innen im mexikanischen Drogenkrieg

von Sylvia Karl

Frauen werden ebenso wie Männer zu Täter*innen. Dies zeigen viele Forschungen zu Kriegen und Konflikten. Entgegen dem weitläufigen Bild von Frauen als Opfer ist es meist eine bewusste und strategische Entscheidung der Frauen, in gewalttätige Strukturen einzutreten. Ein Einblick in die Motivationen und das Handeln von Täter*innen im mexikanischen Drogenkrieg soll einen Diskussionsbeitrag zur Problematik der verzerrten Wahrnehmung von Frauen als Täter*innen liefern und darüber hinaus eine eher unsichtbare Seite des mexikanischen Drogenkrieges zeigen.

Mein Geschäft ist töten und Drogen verkaufen1, soll Melissa Margarita Calderón Ojeda, bekannt als La China, oft gesagt haben. Auf Fotos in den sozialen Medien zeigt sich die 1984 geborene Mexikanerin mit zwei Sturmgewehren AK47 in jeweils einer Hand. Sie wurde im Jahr 2008 zur Kommandantin von Los Damasco, einem Tötungskommando des mächtigen Sinaloa-Kartells von El Chapo Guzmán. Im Jahr 2015 gründete sie ihre eigene bewaffnete Organisation und schuf sich damit das Sinaloa-Kartell als Feind. In nur drei Monaten kontrollierte sie die von verschiedenen Drogenkartellen umkämpfte nordmexikanische Stadt La Paz in Baja California. Sie war verantwortlich für zahlreiche Morde, ließ Leichen zerstückeln oder in Geheimgräbern verscharren. Ende 2015 wurde sie verhaftet und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Von mexikanischen Medien wird sie beschrieben als eine der brutalsten Sicarias (Auftragsmörderin) und Narcas (Drogenhändlerin), vor der sogar die männlichen Narcos Angst hätten, als schöne Chefin von Sicarios oder als sadistisches, irres Monster.

Solche Narrative und Beschreibungen gab es auch für andere Narcas. Ein weiteres Beispiel ist Claudia Ochoa Felix (1987-2019), die ebenfalls Kommandantin eines Exekutionsarms des Sinaloa-Kartells war. Genannt die »Königin von Los Antrax«, zeigte sie sich in sozialen Medien mit ihren mit Edelsteinen dekorierten Waffen, in luxuriösen Villen und Autos und präsentierte dem Schönheitsideal der patriarchal-sexistischen Welt entsprechend ihren durch Operationen geformten Körper. Sie wurde im Jahr 2019 tot in einem Hotelzimmer aufgefunden. In einer für sie nach ihrem Tod komponierten Drogen-Ballade heißt es: „Ich war eine starke Guerrillera!“ 2

Immer noch mag es erstaunen, dass Frauen derartige Gewalttaten durchführen, Exekutionskommandos anführen oder Befehle zum Zerstückeln und Verschwindenlassen von Leichen geben. Diese zwei Beispiele weiblicher Täter*innen im mexikanischen Drogenkrieg sind jedoch keineswegs Ausnahmen. Im Gegenteil, sie zeigen nur einen kleinen Ausschnitt zahlreicher Frauen in mexikanischen Drogenkartellen, die seit jeher jenseits vorherrschender femininer Stereotype agieren und das traditionell männlich transportierte Bild der mexikanischen Narcos aufbrechen. Sie widersprechen damit vor allem dem immer noch weit verbreiteten Bild der friedlichen Frau und des aggressiven Mannes.

Die Rollen von Frauen in der Narco-Welt

Die mediale Öffentlichkeit und auch eine Vielzahl an wissenschaftlichen Studien zum mexikanischen Drogenkrieg und der organisierten Kriminalität zeichnen eine männlich dominierte Welt, in der Frauen zumeist zwei ganz spezifische Rollen zukommen: Zum einen sind sie Opfer der Gewalttaten der Narcos – die hohe Zahl an Femiziden und die aktuelle »Krise der Verschwundenen«, in der unter den Opfern viele Frauen sind, stellen ohne Zweifel eine der gravierendsten humanitären Tragödien in Mexiko dar, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann (vgl. dazu Karl 2022). Zum anderen wird auf jene Frauen fokussiert, die als hypersexualisierte, passive Objekte der Begierde als Liebhaberinnen und Ehefrauen an der Seite von Macho-Drogenbossen stehen. Allerdings gibt es auch zahlreiche andere Rollen von Frauen in der Drogenwelt, die weniger öffentlich sichtbar sind. Lassen wir diese unsichtbar, können wir nur einen Teil dieses Konfliktfelds verstehen.

Frauen sind seit Beginn des Drogenhandels am Anfang des 20. Jahrhunderts im mexikanischen Drogengeschäft tätig: als Kleinbäuerinnen und Produzentinnen von Marihuana oder Schlafmohn, als Drogenschmugglerinnen, als Auftragsmörderinnen, Geldwäscherinnen oder auch als Anführerinnen von mächtigen, transnationalen Drogennetzwerken. Letztere sind vor allem La Nacha oder Lola La Chata, aktiv in den 1930er bis 1950er Jahren, welche bis heute gültige (Gewalt-)Strategien und Allianzen begründeten (vgl. Carey 2014). Die im deutschen Exil lebende mexikanische Journalistin Anabel Hernández (2021) fordert in ihrem Buch zu Frauen in der organisierten Kriminalität, dass auch mehr Frauen und Töchter der aktuellen Drogenbosse in Mexiko vor Gericht gebracht werden sollten. Sie sind es, die entgegen der öffentlichen Meinung oft eine komplexe und fundamentale Rolle in diesem System spielen, indem sie für Gewalttaten (mit-)verantwortlich sind und diese durch mächtige familiäre Netzwerke perpetuieren. Aktuelles Beispiel ist Emma Coronel, die im Jahr 2021 verurteilte und inhaftierte Ehefrau von El Chapo Guzmán vom Sinaloa Kartell.

Im Gegensatz zu den historischer Frauenfiguren im mexikanischen Drogenhandel, die sich als Geschäftsfrauen verstanden, eher im Hintergrund und mit Vorsicht mächtige (transnationale) Netzwerke aufbauten und sich nie zu Gewalttaten bekannten – obwohl sie zahlreiche anordneten – gibt es seit einigen Jahren ein neues soziales Phänomen: Es gibt zwar (noch) keine Zahlen, aber immer mehr junge Frauen werden zu Sicarias und führen Tötungskommandos an, die aus männlichen und weiblichen Täter*innen bestehen und im Auftrag der großen Kartelle handeln. Sie zeigen sich in dieser Rolle als Täter*innen in den sozialen Medien und inszenieren sich als selbstbewusste, gewalttätige und mächtige Frauen mit ihren Waffen. Es sind Frauen wie La Tosca vom Kartell der Zetas, Rosalinda vom Cártel Jalisco Nueva Generación oder die zu Beginn erwähnte La China.3 Was sind die Beweggründe dieser Frauen, in das gewalttätige Feld der Drogenökonomie einzusteigen und die Interessen des jeweiligen Kartells mit der Waffe zu verteidigen? Und warum schockieren uns ihre Gewalttaten und Selbstrepräsentationen mehr als jene von Männern?

Mütter, Monster, Huren: Täter*innen und feministische Konfliktforschung

Wenn wir uns mit Täter*innen beschäftigen, müssen wir auch Widersprüche und Ambivalenzen zulassen. Eine dieser Ambivalenzen ist die häufige Annahme, auch von feministischen Stimmen, dass die Fokussierung auf Frauen als Täter*innen und Männern als Opfer die Errungenschaften emanzipatorischer Befreiungsbewegungen von Frauen untergraben könnte. Aber genau das Gegenteil würde damit erreicht werden, nämlich das Aufbrechen der Stereotype der passiven, friedlichen Frau und des aggressiven, gewalttätigen Mannes und eine realitätsgetreuere Beschreibung des gesamten Konfliktfeldes. Frauen werden paradoxerweise durch die Beschreibung als ebenso gewalttätig handelnde Täter*innen wie Männer von stereotypen Frauenbildern befreit und als ebenbürtige Akteur*innen positioniert. Denn: Frauen können ebenso gewalttätig agieren wie Männer friedlich sein können (vgl. Sjoberg und Gentry 2007).

Allerdings hinkt die öffentliche Wahrnehmung hinterher, Frauen als Täter*innen zu begreifen. So tauchen auch in Mexiko problematische und realitätsverzerrende Phänomene auf, wenn etwa fast jede aufgefundene Frauenleiche automatisch von den Behörden als Opfer eines Mannes und daher als Femizid in die Statistiken eingeht. Diese ermordete Frau kann jedoch Narca und somit Täter*in gewesen sein, die zum Opfer einer anderen Sicaria eines verfeindeten Drogenkartells wurde. Diese Besorgnis äußerte etwa die Mexikanerin Rosa Obdulia in einem Kommentar im Jahr 2021 zu einem Video der jungen Sicaria »La Cholita« vom Drogenkartell Carteles Unidos, die den Anführer eines verfeindeten Drogenkartells provozierte. Kurz darauf wurde die Sicaria entführt und als verschwunden gemeldet: „Ich hoffe nur, dass sie nicht in die Femizid-Statistiken aufgenommen wird, wenn sie ihre Leiche finden.4

Warum ist es immer noch so schwer, Frauen als Täter*innen zu begreifen? Gender und die Konstruktion von bestimmten weiblichen Rollen- und Charakterzuschreibungen spielen hier eine wichtige Rolle. Es dauerte einige Zeit, bis die meisten männlichen Täter, vor allem nach dem Nationalsozialismus, als ganz gewöhnliche Menschen und nicht als Psychopathen begriffen wurden. Während Gewalttaten von Männern zwar als nicht legitim, aber als weitgehend normal beschrieben werden, werden Gewalttaten von Frauen immer noch als überaus schockierend empfunden. Caron Gentry und Laura Sjoberg (2007) geben interessante Einblicke in ihrer Analyse zahlreicher Kriege und Konflikte, in denen Frauen als Täter*innen agierten. Seien es nun KZ-Aufseher*innen in der NS-Zeit, weibliche Selbstmordkommandos im Nahen Osten, US-amerikanische Soldatinnen in Abu Ghraib, serbische Täter*innen im bosnischen Genozid oder Täter*innen in Ruanda – es sind stets drei vorherrschende Narrative, mit denen gewalttätige Frauen beschrieben werden: als Mütter, Monster oder Huren. Das Mutter-Narrativ sieht gewalttätige Frauen stets in Abhängigkeit zu einem Mann, den sie beschützt, verteidigt und dem sie loyal ist. Das Monster-Narrativ beschreibt gewalttätige Frauen als psychisch krank, als inhuman und als keine richtigen Frauen. Dieses Narrativ spricht den Frauen jegliches rationales Verhalten oder ideologische Motivationen ab. Das Huren-Narrativ gibt der dämonischen weiblichen Sexualität die Schuld an ihrem abnormen Verhalten.

All diese Narrative sprechen Täter*innen eigenständiges Handeln und bewusste Entscheidungen ab, und oft werden sie auch als Opfer von Männern dargestellt, die zu Gewalttaten gezwungen werden. Eine Tatsache, die natürlich oftmals zutrifft, aber nicht immer. Frauen als Täter*innen können ebenso wie Männer gleichzeitig oder über die Zeit hinweg multiple Rollen einnehmen: als Opfer, Täter*in, Retter*in oder Widerstandskämpfer*in. Dies haben auch zahlreiche Forschungen der feministischen Konfliktforschung etwa zum Holocaust, zum Genozid in Ruanda oder zu Ex-Jugoslawien gezeigt (vgl. Brown 2020).

Die oben genannten Mütter-Monster-Huren-Narrative werden herangezogen, da in den meisten kulturellen Kontexten das Bild der Frau als friedlich, fürsorglich und passiv vorherrscht. Gewalttätige Frauen brechen mit diesen weiblichen Stereotypen und werden daher immer noch als böser und dämonischer im Vergleich zu gewalttätigen Männer wahrgenommen, obwohl dies keineswegs den Tatsachen entspricht. Im Fall der gewalttätigen Narcas werden diese drei Narrative ebenfalls bedient. Sie werden in den Medien im Gegensatz zu den männlichen Narcos viel öfter zur Sensation gemacht und in Verbindung zu ihrer Rolle als Frau beschrieben: als sadistische, irre Monster, als Huren, als schönste Killerinnen der Welt, als Opfer eines Narco-Mannes, den sie beschützen wollte oder dessen Geschäfte sie fortführte. Betrachten wir jedoch nun die Beweggründe, warum Frauen zu gewalttätigen Narcas werden, sehen wir, dass es meist bewusste Entscheidungen waren, die wir nur durch die Analyse von individuellen Täter*innenbiographien erkennen können.

Die Perspektive der Täter*innen

In der anthropologischen Konfliktforschung stehen seit jeher die handelnden Menschen auf einer lokalen Ebene eines Konfliktes im Zentrum der Forschung. Sie richtet den Blick auf die Mikroebene eines von Gewalt geprägten Feldes und versucht die Perspektive der handelnden Individuen und Gruppen einzunehmen, ohne das Handeln moralisch zu bewerten. Sie fokussiert vordergründig auf Motivationen, lokale sozio-kulturelle Werte und das Selbstverständnis der individuellen Akteur*innen, um ein möglichst differenziertes Verständnis von Gewaltkontexten zu erlangen. Betrachtet man zudem einzelne Täter*innen-Biographien, können wichtige Einblicke in die Handlungsoptionen gewonnen werden, die Rückschlüsse auf individuelle und strukturelle Bedingungen der Täter*innenschaft ermöglichen (vgl. Nordstrom 2007).

Um nun das Handeln der Narcas zu verstehen, kann etwa das Konzept der sozialen Navigationen von Mats Utas (2005) herangezogen werden. Mats Utas forschte zu weiblichen Täter*innen in Rebellengruppen in Sierra Leone. Dabei bezeichnete er nicht nur das gesamte Handlungsspektrum der Täter*innen in einem spezifischen Gewaltkontext als soziale Navigationen, sondern inkludierte damit auch die biographischen Hintergründe, die individuellen Beweggründe und die sozialen Netzwerke, die sie aufbauten, um sich Vorteile zu verschaffen. Mats Utas beobachtete, dass für viele marginalisierte Frauen die bewusste Entscheidung zur freiwilligen Teilnahme an gewalttätigen Strukturen eine Form von Empowerment bedeutete.

Die Möglichkeit der persönlichen Ermächtigung ist auch ein zentraler Beweggrund, warum viele Frauen in Mexiko freiwillig Teil eines Drogenkartells werden (vgl. Campbell 2008). Da es nicht einfach ist, sich in den dominanten patriarchalen Strukturen Mexikos als finanziell unabhängige Frau auf legalem Weg Respekt und Macht zu verschaffen, bedarf die Erlangung von Unabhängigkeit meist guter finanzieller Ressourcen, einer Ausbildung und einer angemessenen sozialen Vernetzung. Doch wie auch aus anderen Kontexten bekannt, entstehen durch Kriege Gewaltmärkte, die vielen Frauen in patriarchalen Systemen mit festen Genderrollen neue Handlungsspielräume, finanzielle Ressourcen und relative Unabhängigkeit von dominanten Männern eröffnen. Auch Narcas navigieren in einem lukrativen Konfliktfeld. Es ist dies ein sozialer, ökonomischer und kultureller Raum in der Grauzone von Legalität und Illegalität, in der Drogenhändler*innen eigene Verhaltenscodes und Werte schaffen. Die kriminellen Tätigkeiten der Narc@s werden in diesem kulturellen Raum aus deren Perspektive als legitim und für ihre Anhänger*innen als erstrebenswert erachtet. Was als kriminell und illegal wahrgenommen wird, verändert sich so im Auge der Betrachter*innen, wie auch Studien zu anderen Gewaltkontexten zeigen (vgl. Parnell und Kane 2003, Nordstrom 2007).

La vida loca

Armut ist keine Erklärung für Täter*innenschaft. Armut, soziale Marginalisierung, fehlende Ausbildungs- und Jobmöglichkeiten begünstigen allerdings im Fall der meisten hier beschriebenen Frauen den Eintritt in die Welt der Narc@s. Viele dieser Narcas wuchsen entweder bereits in Familien auf, die im Drogengeschäft in den unterschiedlichsten Hierarchiestufen tätig sind, oder kommen durch Freund*innen oder Ehemänner in Kontakt mit einem Drogenkartell. Oftmals kommen sie aber auch damit in Berührung, weil es im sozialen Umfeld ihres Dorfes oder Stadtviertels ein attraktives ökonomisches Angebot der dort agierenden Drogenkartelle gibt. Der ökonomische Aspekt und die soziale Verankerung der Narc@s in Mexiko ist daher zentral für das Verständnis der Teilnahme in einem Drogennetzwerk. Schätzungen zufolge sind Drogenkartelle mittlerweile zum fünftgrößten Arbeitgeber Mexikos aufgestiegen. Die Teilnahme an gewalttätigen Gruppen kann also jenseits moralischer Bewertungen als eine Form der sozialen Mobilität und der Arbeit gesehen werden. Dies trifft auch auf die Selbstwahrnehmung vieler Narcas zu, wie das zu Beginn erwähnte Zitat von Melissa Ojeda zeigt.

Für viele Mädchen und Frauen sind Narc@s keine weit entfernten bösen und kriminellen Akteur*innen, sondern oftmals Verwandte, Nachbar*innen, Freund*innen oder Bekannte, die ihnen ein lukratives Angebot machen. Ihnen also eine Form der Arbeit vermitteln. So werden jungen Mädchen und Burschen für Tätigkeiten in der untersten Hierarchiestufe der Drogenkartelle als Halcones (Spitzel) oder Sicarias im Monat Summen zwischen 5.000,- und 7.000,- Pesos ausgezahlt und ihnen lukrative Aufstiegschancen versprochen. Dies sind Summen, die bei einem Mindestlohn von etwa 170 Pesos (ca. sieben Euro) für acht Stunden Arbeit ein enorm attraktives Angebot sind. Die Option Narca zu werden verspricht also einen weitaus besseren und schnelleren ökonomischen und auch sozialen Aufstieg. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass jedes Mädchen aus schwachen Einkommensgruppen zur Narca wird. Es sind immer strukturelle aber auch individuelle Faktoren, die diese Entscheidung beeinflussen. Außer Frage steht auch, dass es zahlreiche gewaltsame Zwangsrekrutierungen von Mädchen und Frauen in Drogenkartelle gibt. Aber es gibt auch viele Frauen, die sich bewusst dafür entscheiden, den Schritt in ein gewalttätiges Leben mit hohem Risiko eines gewaltsamen Todes oder einer Gefängnisstrafe zu wagen. Die Entscheidung für das Leben in der Illegalität folgt oft einem in Mexiko weitverbreiteten Spruch: „Lieber fünf Jahre als König, als fünfzig als Ochse!“

Wie erwähnt streben viele Mädchen durch den Eintritt in die Narco-Welt danach, neben dem ökonomischen Aspekt auch struktureller Gewalt und patriarchalen Strukturen der Unterdrückung zu entkommen, denn Narcas stehen außerhalb der traditionellen weiblichen Rollenbilder in Mexiko. Eine Narca wird nicht von einem Mann unterdrückt, eine Narca bestimmt über Männer und teilt Männern Befehle aus. In der Drogenballade für La China heißt es: „Wo sie hinkommt, wird getan, was sie sagt.“ 5 Und ebenso wie männliche Narcos nimmt sie sich das Recht auf sexuelle Beziehungen zu mehreren Männern, auf exzessiven Alkohol- und Drogenkonsum und Gewalttaten. Sie entscheiden sich bewusst für „la vida loca“, wie viele von ihnen in den sozialen Medien und in Videos auf YouTube sagen. Junge Frauen aus sozial marginalisierten Familien, die aus den vorherrschenden dominanten Rollenbildern ausbrechen wollen, sehen daher Narcas, die sich vor allem in den sozialen Medien als starke, befreite, respektierte und mit Macht und Geld ausgestattete Frauen präsentieren, als erstrebenswerte Vorbilder.

„Ich bin eine Guerrillera“

Die Beschreibung der anfangs erwähnten Narca Claudia Ochoa Félix als Guerrillera zeigt eine Selbstwahrnehmung als Kämpferin, die nur im Kontext der kolonialen und postkolonialen Geschichte Mexikos zu verstehen ist. In diesem Narrativ werden nur jene respektiert, die Macht und Geld haben, jedoch nicht die Armen. Frauen und Männer in Drogenkartellen reihen sich daher oftmals in die Tradition der Widerstandskämpfer*innen gegen einen als korrupt und gewalttätig wahrgenommenen Staat ein, der Armut und soziale Ungerechtigkeit produziert und nur den ökonomischen und politischen Eliten des Landes dient. Diese selbsternannten Guerrilleras kämpfen unter der Fahne des jeweiligen Drogenkartells, um aus ihrer Perspektive Gerechtigkeit und Respekt für sich selbst und ihre Familien zu schaffen. Sie wollen außerdem ökonomischen Gewinn und sozialen Aufstieg erreichen, der ihnen aus ihrer Sicht von der hierarchisch strukturierten Gesellschaft verwehrt wird. Sie kämpfen auch für eine bessere Zukunft ihres sozialen Umfeldes, indem sie großzügig Armen und Bedürftigen helfen und sich so auch Loyalitäten schaffen. Sie begreifen sich als „mutige Frauen, die sich nichts gefallen lassen und ebenso kämpfen können.“ 6 Gewalt scheint dabei nur ein legitimes Mittel, diese Ziele zu erreichen.

Narcas sind selbst zentrale Akteur*innen in einem gut durchorganisierten Narco-Staat, der mit enormen Gewinnen aus der transnationalen Drogenökonomie eine Vielzahl an Menschen an sich bindet. Immer schon navigierten Frauen in diesen gewalttätigen Strukturen, um die lukrativen Gewinne mit der Waffe zu verteidigen und Menschenrechtsverletzungen zu befehligen. Es ist an der Zeit, sie ohne Pathos und Sensationalisierung als gewöhnliche Täter*innen zu begreifen und sie ebenso für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen.

Anmerkungen

1) De Otálora, O.: ‚La China‘, el mito ‚feminista‘ de la narco cultura, 1.11.2015. In: El correo.com.

2) Drogen-Ballade (Narcocorrido): En memoria de Claudia Ochoa Félix.

3) Für Informationen und Videos siehe auch das Informationsportal: El Blog del Narco (blogdelnarcomexico.com).

4) Youtube-Video: “La Cholita” Sicaria de Carteles Unidos que se burló del Mencho.

5) Drogen-Ballade von Javier Rosas: En la Sierra y la Ciudad (La China).

6) Drogen-Ballade: En memoria de Claudia Ochoa Félix.

Literatur

Brown, S. (2020): ‘They forgot their role’: Women perpetrators of the Holocaust and the genocide against the Tutsi in Rwanda. Journal of Perpetrator Research 3(1), S. 156-185.

Campbell, H. (2008): Female drug smugglers on the U.S.-Mexico border: Gender, crime, and empowerment. Anthropological Quarterly 81(1), S. 233-267.

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Hernández, A. (2021): Emma y las otras señoras del narco. Mexiko-Stadt: Grijalbo.

Karl, S. (im Erscheinen, 2022): Massengräber in Mexiko: Nekropolitik, Narco-Staat und der Kampf um Rehumanisierung der Verschwundenen. In: Gunsenheimer, A.; Wehrheim, M. (Hrsg.): Narcotráfico y narcocultura en América Latina. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Parnell, P.; Kane, S. (2003): Crime´s power. Anthropologists and the ethnography of crime. New York: Palgrave Macmillan.

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Sylvia Karl ist Kultur- und Sozialanthropologin. Sie lehrte an den Universitäten Marburg, Zürich und Wien und führte zahlreiche Forschungen in Mexiko durch. Derzeit ist sie für SOS-Kinderdorf Österreich tätig.

Rechte Gewaltradikalisierung

Rechte Gewaltradikalisierung

Anstifter*innen, Kontext und die These vom »einsamen Wolf«

von Fabian Virchow

Angesichts der rechtsterroristischen Anschläge in Halle 2019 auf die dortige Synagoge, in Hanau im Februar 2020 sowie dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 hat die Aufmerksamkeit für diese Form politischer Gewalt erkennbar zugenommen. Neben der Solidarität mit den von rechter Gewalt Getroffenen und ihren Projekten der Selbstorganisierung und -ermächtigung wird intensiv über die Verantwortung staatlicher Instanzen sowie die Frage der Täterschaft diskutiert. Da zuletzt der Akt der rechtsterroristischen Gewalt in zahlreichen Fällen individuell ausgeführt wurde, hat die These vom »Einzeltäter« weite Verbreitung gefunden. Sie wird zugleich als unzureichend kritisiert, da sie wichtige Faktoren und Dynamiken der Radikalisierung unterschätzt.

Eine erste Konjunktur hatte die Rede vom »Einzeltäter« zunächst mit Blick auf jihadistische Gewalt (Spaaji 2010; Hughes 2020); angesichts einer zunehmenden Zahl rechtsterroristischer Gewaltakte hat sich die Aufmerksamkeit jedoch zum Teil verschoben – nicht nur auf Gruppen wie den »Nationalsozialistischen Untergrund« oder »Revolution Chemnitz«, sondern auch auf Einzelpersonen (Hartleb 2018; Puls 2020; Ohlrogge und Selck 2021). Inzwischen ist die Liste sogenannter »Einzeltäter« lang, deren Gewalthandeln auf rassistische, antisemitische, queerfeindliche oder misogyne Weltbilder und Motive zurückgeht. Weltweit machten beispielsweise Anders Behring Breivik, Brenton Tarrant und Elliot Rodger auf sich aufmerksam. Ihre Gewalttaten, aber auch die von ihnen verbreiteten politischen Manifeste (Walton 2012; Harwood 2021) sind von extrem rechten Milieus rund um den Erdball ebenso gefeiert worden (Turner-Graham 2014; Enstad 2017) wie sie nachfolgenden Rechtsterroristen als Orientierung dienten.

Rechtsterroristische »Einzeltäter«

In der Bundesrepublik Deutschland sind in den letzten Jahren insbesondere drei rechtsterroristische Gewalttaten mit der These vom »Einzeltäter« verknüpft worden: Am 22. Juli 2016 tötete der 18-jährige David Sonboly am und im Olympia-Einkaufszentrum in München-Moosach neun Menschen, darunter sieben Muslime, einen Rom und einen Sinto. Der Täter hatte seinen ursprünglichen Vornamen Ali mit Volljährigkeit in David ändern lassen und war zuvor bereits durch positive Äußerungen über Adolf Hitler aufgefallen. Anlässlich des Mehrfachmordes, der am 5. Jahrestag der Anschläge von Anders Behring Breivik ausgeführt wurde, hinterließ der Täter auf seinem Computer ein rassistisches Manifest. Nur knapp zwei Jahre später versuchte Stephan Balliet in Halle/Saale an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, sich mittels Molotowcocktails, Handgranaten und Schusswaffen Zugang zur Synagoge zu verschaffen, um die dort Versammelten zu ermorden. Nachdem dies misslang, tötete er die zufällig vorbeikommende Passantin Jana Lange und griff dann den Imbiss »Kiez-Döner« an, wo er den Gast Kevin Schwarze erschoß. Seine antisemitische, rassistische und antifeministische Einstellung sowie die Tat selbst übertrug er live mittels einer Helmkamera. Balliet hatte auf Festplatten unter anderem eine digitale Version von »Mein Kampf«, Hinrichtungsvideos des »Islamischen Staates« sowie ein Video vom rechtsterroristischen Anschlag Brenton Tarrants gespeichert, der am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch in und bei zwei Moscheen 51 Menschen im Alter von 3 bis 71 Jahren erschoss und weitere fünfzig Personen verletzt hatte. Tarrant wurde von Balliet explizit als sein Vorbild bezeichnet. Auch die Morde von Hanau, bei denen Tobias Rathjen am 19. Februar 2020 an zwei Tatorten neun Menschen tötete, waren durch ein rassistisches und antisemitisches Weltbild motiviert. Rathjen hatte im Januar 2020 ein Pamphlet mit dem Titel »Botschaft an das gesamte deutsche Volk« verfasst, in dem er auch zur Vernichtung der Bevölkerung ganzer Staaten aufrief, und kurz vor der Gewalttat auf Youtube ein Video verbreitet, in dem er sich an die US-Bevölkerung richtete. In diesen Äußerungen wurde neben rassistischen und misogynen Äußerungen auch weitreichendes Verschwörungsdenken deutlich sichtbar.

Über diese aktuellen Fälle rechtsterroristischer Gewalt sollte nicht vergessen werden, dass solche »Einzeltäter« auch in Deutschland bereits in den vergangenen Jahrzehnten aufgetreten sind.

Drei Beispiele mögen zur Illustration genügen: Am 11. April 1968 wurde Rudi Dutschke, einer der Wortführer der Bewegung der Studierenden, vor dem Büro des »Sozialistischen Deutschen Studentenbundes« (SDS) am Kurfürstendamm in Berlin von Josef Bachmann mit dem Ruf „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ angeschossen. An den Spätfolgen dieses Mordversuchs starb Dutschke im Dezember 1979. War hier ein aggressiver Antikommunismus handlungsleitend, so tötete der Neonazi Helmut Oxner am 24. Juni 1982 in Nürnberg drei Menschen – William Schenck, Rufus Surles und Mohamed Ehap – und verletzte drei weitere aus rassistischen Gründen. Am Tatort hinterließ Oxner Aufkleber der NSDAP/AO; den Polizisten, die ihn stellten, rief er zu: „Ich schieße nur auf Türken“.

Schließlich kann auch auf Kay Diesner verwiesen werden; wütend über antifaschistische Störungen einer neonazistischen Demonstration in Berlin suchte er am 19. Februar 1997 die Hellersdorfer Geschäftsstelle der »Partei des Demokratischen Sozialismus« auf und verletzte dort mit seiner Pumpgun Klaus Baltruschat, dessen Buchhandlung sich im selben Gebäude im Parterre befand. Wenige Tage später erschoss er bei seiner Flucht den Polizeiobermeister Stefan Grage auf einem Parkplatz an der A24 in Schleswig-Holstein.

Noch immer findet sich für solche Täter die Bezeichnung »lone wolf«; nicht zuletzt angesichts der häufig affirmativen Verwendung des We(h)rwolf-Motivs in Schriften oder Gruppenbezeichnungen der extremen Rechten (z. B. Werwolf Jagdeinheit Senftenberg) (Virchow 2020, S. 25ff.). Mittlerweile setzt sich jedoch weitgehend die Bezeichnung »lone actor« durch. Im strengen Sinne bezieht sich diese Charakterisierung darauf, dass die unmittelbare Tatausführung durch einen Einzelnen erfolgt(e). Daraus darf gleichwohl nicht der Schluss gezogen werden, dass sie notwendig sozial isoliert waren oder sich selbst radikalisiert haben.

Faktoren der Radikalisierung

Die Radikalisierung, an deren Ende vielfach tödliche rechtsterroristische Gewalt steht, kann nicht durch den einen Faktor oder Wirkungszusammenhang erklärt werden.

Gesellschaftliche Polarisierung

Betrachtet man etwa den Mordanschlag auf Rudi Dutschke, so ist erstens eine hoch polarisierte gesellschaftliche Kontroverse zu nennen, bei der insbesondere neofaschistische Publikationen wie die »Deutsche National-Zeitung« (DNZ), aber auch die »BILD-Zeitung« gegen die Bewegung der Studierenden im Allgemeinen und gegen einige ihrer bekanntesten Exponenten im Besonderen hetzten (Virchow 2021). Bachmann trug zur Zeit des Attentats, für das er aus München angereist war, einen Artikel aus der DNZ bei sich; in diesem waren fünf als Steckbriefe arrangierte Fotos von Dutschke mit der Überschrift »Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg« kombiniert worden. Neben weiteren Gewaltakten, wie z. B. wiederholte Überfälle und Anschläge auf Büros linker Organisationen, markiert das Attentat auf Dutschke eine Ende der 1960er Jahre einsetzende Radikalisierung im Neofaschismus, der im Verlauf der 1970er Jahre zur Bildung etlicher rechtsterroristischer Gruppen führte (Manthe 2020). Neben den zeitgenössischen Erkenntnissen zu Bachmann ist inzwischen auch bekannt, dass er Kontakte zu Neonazis im niedersächsischen Peine unterhielt, bei denen es um Schusswaffen, Munition und Schießtraining ging. Auch der oben genannte Oxner bewegte sich in Kreisen des organisierten Neonazismus, darunter der NPD, der »Grünen Aktion Deutschland« von Erwin Schönborn sowie der illegalen NSDAP/AO. Folgt man Lindekilde et al. (2019), so lassen sich beide dem Typus des »autonomous embedded lone actor« zurechnen, also einem Täter, der zwar alleine handelt, jedoch stark in neonazistischen Strukturen und Lebenswelten verankert ist. In diesen finden sich nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch Zugang zu Waffen sowie ideologisierte Rechtfertigungsmuster für die Ausübung terroristischer Gewalt. Für diese waren in den 1980er und 1990er Jahren vielfach auch literarische Schriften extrem rechter Provenienz wie die »Turner Diaries«, »The Hunter«, »The Brigade« oder »Hear the Cradle Song« (Boucher 2021) sowie »The Uprising« (Jackson 2015) Referenzen (Michael 2009; Hughes 2020). In solchen Publikationen wurde aus rassistischer und antisemitischer Weltsicht die Notwendigkeit der Gewalt begründet und diese mit Hinweisen zum operativen Vorgehen verbunden.

Digitale Netzwerke

Bei den rechtsterroristischen »lone actors« des vergangenen Jahrzehnts ist vielfach insbesondere auf die Rolle des Internets verwiesen worden (Bannenberg 2020). Dies gilt für den Prozess der virtuellen Vergemeinschaftung sowie des Ideologietransfers, aber auch Fragen der Waffenbeschaffung und der operativen Tatausführung wie für die Selbstdarstellung der Täter. Breivik war in muslimfeindlichen und extrem rechten Internet-Foren wie »nordisk.nu« und »Document.no« aktiv und hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er weltanschaulich stark vom islamfeindlichen Blogger Peder Are Nøstvold Jensen (alias Fjordman) beeinflusst wurde. Während Breivik sich positiv auf den schwedischen Rechtsterroristen Wolfgang Alexander John Zaugg (alias John W.A. Ausonius) bezog, wurde er selbst zum Vorbild für andere. Brenton Tarrant sah in ihm ebenso eine Inspiration wie David Sonboly, der gar ein Bild Breiviks als WhatsApp-Profilbild nutzte. Auf den von Stefan Balliet genutzten Festplatten fand sich auch ein Video von Tarrants Terroranschlag in Christchurch. Er gab schließlich in seiner Korrespondenz aus dem Gefängnis an, er habe mit seiner Gewalttat Nachahmer motivieren wollen (Steinke 2021); auch er hatte kurz vor der Gewalttat eine Ankündigung auf dem Imageboard »­Meguca« gepostet, in der er zu weiteren tatbezogenen Dokumenten verlinkte (Schattka 2020).

Für Sonboly lässt sich nachvollziehen, dass er auf der Spieleplattform »Steam« mit über 250 anderen Nutzer*innen in der Chatgruppe »Anti-Refugee-Club« in Kontakt stand. Dessen Mitbegründer, der US-Amerikaner William Atchison, verfasste einen Nachruf auf Sonboly, in dem er phantasierte, dass Sonboly ein Denkmal gesetzt würde, sollten Organisationen wie die AfD in Deutschland an die Macht kommen. Atchison selbst tötete sich am 7. Dezember 2017 selbst, nachdem er in der Highschool in Aztec (US-Bundesstaat New Mexico) zwei Schüler*innen hispanoamerikanischer Herkunft erschossen hatte.

Psychologische Dimensionen

Zuletzt ist der Frage nachzugehen, ob und in welchem Maße psychische Erkrankungen als Faktoren zur Erklärung rechtsterroristischer Gewalt herangezogen werden müssen. Entsprechende Begutachtungsprozesse haben in allen größeren rechtsterroristischen Strafverfahren der jüngeren Zeit eine Rolle gespielt (Melle 2013; Burazer 2020). Auch wenn sich im Einzelfall in den Biografien von Rechtsterroristen Hinweise auf psychische Störungen und stationäre Klinikaufenthalte finden (z. B. Sonboly), so ist deren Bedeutung für Radikalisierungsprozesse und die Hinwendung zu terroristischer Gewalt bisher nicht hinreichend zu bestimmen. Im Falle Balliets hat Schüßler (2020) zeigen können, wie „die antisemitisch-projektive Aggression und die Geltungssucht in der männlich-patriarchalen Kategorie der Ehre eine stabilisierende Funktion für sein psychisches Ich haben“ (S. 164).

Wie Schumann et al. (2022) in einem Überblicksartikel verdeutlichen, sind die Ergebnisse hinsichtlich des Stellenwerts psychischer Faktoren inkonsistent und lassen keine eindeutige Schlussfolgerung zu. So lasse sich weder ein klares psychologisches Profil der Radikalisierungsanfälligkeit finden, noch kann die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen psychischen Störungen und Radikalisierung empirisch untermauert werden. Auch Versuche einer Modellbildung, in denen psychiatrische Diagnosen zur Erklärung von Radikalisierung und Extremismus beitragen sollen und Mikroebene (Familie, Freunde), Mesoebene (Gemeinschaften, soziale Schicht) und Makroebene (gesellschaftliche und politische Entwicklungen) verknüpft werden, erschöpften sich meist in rein additiven Bezugnahmen, ohne tatsächlich kausale Zusammenhänge aufzeigen zu können.

Radikalisierungsprävention

Die von staatlichen Behörden vielfach praktizierte Engführung auf individuelle Dispositionen ist aufzugeben zugunsten einer Perspektive, die nach den Voraussetzungen individueller Radikalisierung auf der Meso- und Makro-Ebene fragt. Berücksichtigt man den Hinweis von Schuurman et al. (2019), demzufolge »lone actors« vielfach im Vorfeld der Tat Hinweise auf ihre Radikalisierung bzw. die Tatabsicht hinterlassen, so kann es in einem ersten Schritt darum gehen, diese Warnsignale ernst zu nehmen. Dies bedeutet auch, Einfluss zu nehmen auf die sozialen Zusammenhänge, in denen sich Radikalisierte bewegen. Wenn etwa der 55-jährige Roland K., der Mitte Juli 2019 einen Eritreer aus rassistischen Gründen mit einer Schusswaffe schwer verletzt, eine solche Tat zuvor am Stammtisch ankündigt, aber niemand der Anwesenden darauf reagiert, so wird darin ein Ansatz möglicher Präventionsmaßnahmen auf der Ebene sozialer Nahräume wie der Freizeitgestaltung, in Kneipen oder (Schützen-)Vereinen deutlich. Dabei ist besonders relevant, dass sich die Anwesenden eindeutig negativ zur möglichen Radikalisierung und gegebenenfalls Ankündigungen von Gewalt positionieren (Williams et al. 2016).

Mit Blick auf Online-Aktivitäten hat Wahlström (2020) auf die mit den dortigen Interaktionen verbundene emotionale Energie bzw. Aufschaukelung verwiesen, die Zugehörigkeit herstellt und auch Ermutigung für Gewalthandeln signalisieren kann; die in Online-Aktivitäten stattfindende Radikalisierung sei als Lernprozess zu verstehen, bei dem die Zustimmung von Gleichgesinnten als Verstärker fungiert. Wenn die Online-Umgebungen für »lone actors« jeweils unterschiedliche Funktionen erfüllen können (z. B. Gefühl der Anerkennung und Unterstützung; Inspiration; Rationalisierung der Gewalt), so sind darauf abgestimmte, gegenläufige Interventionen in diesen Öffentlichkeiten denkbar. Allerdings gibt es hinsichtlich der Umsetzung solcher Gegennarrative bisher keine abschließende Erkenntnis über die Wirksamkeit und die angemessene Ausgestaltung (Lueg und Lundholt 2021).

Schließlich ist auf die Notwendigkeit weiterer Forschung zu verweisen, um die Radikalisierungsverläufe und -kontexte von rechtsterroristischen »lone actors« in ihrer Komplexität und Vielfalt besser nachvollziehen zu können. Damit können sich weitere Ansätze der Prävention und Intervention ergeben.

Literatur

Bannenberg, B. (2020): Rechtsextremismus und Menschenhass. Terroristische Einzeltäter und die Rolle des Internet. In: Lüttig, F.; Lehmann, J. (Hrsg.): Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus. Baden-Baden: Nomos, S. 65-84.

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Fabian Virchow ist Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Düsseldorf und leitet dort den Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus (forena.de). Von 2007 bis 2010 war er verantwortlicher Redakteur von »Wissenschaft und Frieden«. Zuletzt hat er das »Handbuch Rechtsextremismus« (Springer VS) und das »Handwörterbuch Kampfbegriffe der extremen Rechten« (Wochenschau-Verlag) mitherausgegeben. Er ist Mitglied der Redaktion der »ZREX – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung«.