Konfliktsensibilität machtkritisch gestalten

Konfliktsensibilität machtkritisch gestalten

von Cora Bieß 1

Konfliktsensibilität spielt in der Friedensarbeit und für eine konstruktive Konfliktbearbeitung eine bedeutende Rolle. Häufig wird Konfliktsensibilität anhand des »Do No Harm«-Konzepts definiert, das jedoch keine macht- und herrschaftskritischen Perspektiven auf die eigene Intervention in Konflikte enthält. Könnte eine machtkritische Reformulierung helfen, koloniale Kontinuitäten sowie das Zusammenspiel von Privilegierungen und Diskriminierungen besser erkennbar und transformierbar zu machen? Kann so eine strukturell gewaltärmere Konfliktsensibilität geschaffen werden?

Konfliktsensibilität bedeutet, sich der Wechselwirkung zwischen den eigenen Interventionen in einen Konflikt und der Konfliktdynamik bewusst zu sein oder zu werden. Ein konfliktsensibler Ansatz soll also Schaden durch die eigene Intervention verhindern und zu einem konstruktiven Konfliktumgang beitragen. Konfliktsensibilität ist in verschiedenen Kontexten anwendbar, ganz unabhängig von Intensität oder Häufigkeit der vorhandenen Gewalt, auch in Kontexten, die vordergründig keine gewaltvollen Spannungen aufzeigen.

Eine solche Konfliktsensibilität wird vielerorts gefordert, festgestellt oder zumindest vorbereitet. Exemplarisch dafür wird in einer 2021 erschienenen Publikation von FriEnt die neue Bundesregierung gezielt aufgerufen, sich an einer Praxis des »Do No Harm« zu orientieren: „Die Bundesregierung und ihre staatlichen wie nicht-staatlichen Partner*innen sollten daher eine Strategie für die Stärkung und Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen entwickeln, die sich am übergeordneten Ziel der Friedensförderung und dem Prinzip des ,Do No Harm‘ orientieren (Bärwaldt 2021, S. 4). Darüber hinaus erinnerte Martina Fischer, Referentin für Friedensfragen bei Brot für die Welt, nach Bildung der neuen Bundesregierung diese an ihre eigenen Grundsätze: „[D]ie Politik muss sich am ,do no harm‘-Grundsatz orientieren und Schaden vermeiden. Diesem Ziel haben sich deutsche Regierungen mit ihren Leitlinien ,Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern‘ 2017 explizit verpflichtet (Fischer 2021). Als drittes Beispiel soll ein Aufsatz Hanne-Margret Birckenbachs dienen, die an die Notwendigkeit für Fehlerfreundlichkeit und Reflexivität erinnerte, denn „auch der Versuch, Frieden zu stiften, kann scheitern“ (ebd., S. 70). Hierfür ist laut Birckenbach »Do No Harm« wegweisend, wodurch „Auswirkungen von Hilfsaktivitäten auf die Konfliktentwicklung in Kriegsgebieten reflektiert werden“ könnten (ebd.).

Es lässt sich auch festhalten: Inzwischen wird »Do No Harm« von verschiedenen Organisationen, Akteur*innen der Konflikt- und Friedensarbeit sowie Regierungsorganisationen als gängiger Standard verwendet. Dennoch enthält »Do No Harm« eine zentrale Wahrnehmungslücke, die zweifellos Konfliktdynamiken maßgeblich beeinflussen kann: die Auswirkungen von Macht und Herrschaft. Der vorliegende Text versucht daher eine Reformulierung von Konfliktsensibilität vorzunehmen, die strukturelle Gewalt im Kontext kolonialer Kontinuitäten ins Zentrum stellt.

Das Konzept »Do No Harm«

»Do No Harm« wurde in den 1990er Jahren ursprünglich für den Kontext der Entwicklungsarbeit von Mary Anderson (1999) entwickelt und impliziert das Verständnis, dass eine Intervention in einen Konflikt bedeutet, selbst Teil des Konflikts zu werden. Demnach sind Aktivitäten und Interventionen in einem Konfliktumfeld nicht neutral, sondern beeinflussen die Dynamik von Konflikten. Auf Deutsch bedeutet »Do No Harm« übersetzt so viel wie: „Richte keinen Schaden an“. Dies gilt inzwischen als der „international anerkannte Qualitätsstandard konfliktsensibler Arbeit“ (Bücken und Frieters-Reermann 2021, S. 264). »Do No Harm« ist somit ein Mindeststandard für die Praxis, um unbeabsichtigten Schaden zu vermeiden. Das bedeutet, dass Organisationen und Akteur*innen im Falle von unbeabsichtigt konfliktverschärfenden Folgen ihrer Programme auf die entstandenen Folgen eingehen sollen.

Laut CDA (o.J.) dient die Anwendung von »Do No Harm« dazu, dass Organisationen einerseits verantwortungsbewusster und andererseits effizienter werden. »Do No Harm« umfasst dabei eine detaillierte Konfliktanalyse verbunden mit einer Folgenabschätzung (Birckenbach 2023, S. 158). Zudem sollen lokale Stimmen in Programmentwicklungen gefördert werden. Das Ziel von »Do No Harm« ist es also, konfliktverschärfende Dynamiken frühzeitig zu erkennen und in Folge die eigene Kommunikation, Interaktion und Kooperation entsprechend anzupassen.

»Do No Harm« beruht auf dem einfachen Konzept einer Analyse der »trennenden Faktoren« (»Dividers«) und der »verbindenden Faktoren« (»Connectors«), um die Beziehungen zwischen den Gruppen in dem Kontext darzustellen, in dem eine Maßnahme durchgeführt wird. Trennende Faktoren führen in der Regel zu Spaltungen oder Spannungen, verbindende hingegen können die Basis für Gemeinsamkeiten bilden. In Kontexten gewaltvoller Konflikte sind die Verbindungslinien (»Connectors«) allerdings teilweise schwer erkennbar. Programmaktivitäten müssen nach dieser erfolgten Analyse dann so gestaltet werden, dass sie die trennenden Faktoren nicht eskalativ vorantreiben. Die Analyse und das konstante Monitoring nach Grundsätzen des »Do No Harm« helfen dann auch, eventuelle negative Auswirkungen der geplanten Programmaktivitäten rechtzeitig zu erkennen und diesen entgegenwirken zu können.

Do No Harm in Kritik

In der Praxis des Globalen Nordens wird, so die Kritik, »Do No Harm« häufig nur noch als ein »Buzzword« in Projektanträgen verwendet, wodurch die Wirkung oberflächlich bleibt und zu viele unterschiedliche Auffassungen davon zirkulieren, was »kein Schaden« ist. »Do No Harm« wird von Akteur*innen des Globalen Nordens als utilitaristisches Prinzip verstanden, die Reduktion von Konfliktsensibilität auf ein Tool bewerten Barbolet et al. (2005) jedoch als unzureichend, sofern »Do No Harm« nicht auch als eine haltungsverändernde Methode verstanden wird. Denn eine „übermäßige Betonung komplexer Instrumente, Tabellen und Methoden scheint ein primär westlicher Ansatz zu sein, der bei vielen Organisationen des Südens nur auf begrenzte Resonanz stößt“ (ebd., S. 2). Der Grund für diese begrenzte Resonanz könnte eine fehlende herrschaftskritische Perspektive auf Konfliktinterventionen sein. Denn eine substantielle Leerstelle in der Kritik an Konfliktsensibilität bildet die Betrachtung von Machtungleichgewichten.

Hegemoniale Praktiken

Hierbei geht es um eine kritische Reflexion der Vorherrschaft. Orientierung bieten diese Reflexionsfragen:

„1) Wird die Idee vermittelt, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen Lösungen entwickeln und durchsetzen kann, die für alle gelten?

2) Werden Menschen dazu eingeladen, über ihre eigenen Grenzen/Mängel/Fehler und Unzulänglichkeiten nachzudenken?“

Ethnozentrische Perspektiven

Hierbei liegt der Fokus auf einer kritischen Reflexion darüber, inwieweit eine Sichtweise als universell dargestellt wird:

„1) Wird unterstellt, dass Menschen, die nicht mit dieser Sichtweise einverstanden sind, unmoralisch oder ignorant sind?

2) Wird anerkannt, dass es andere Sichtweisen auf das Thema gibt?“

Ahistorisches Denken

Hierbei wird hinterfragt, inwieweit geschichtliche Dynamiken mitbedacht werden:

„1) Wird ein gegenwärtiges Problem dargestellt, ohne auf die geschichtlichen Hintergründe einzugehen und ohne zu thematisieren wie ,wir‘ darin verwickelt sind?

2) Wird eine komplexe geschichtliche Analyse in Bezug auf das Thema angeboten?“

De-Politisierte Orientierungen

Hier wird reflektiert, ob und inwieweit Machtasymmetrien anerkannt werden:

„1) Wird das Problem/die Lösung dargestellt, ohne die damit verbundenen Machtverhältnisse und dahinter liegende Ideologien in den Blick zu nehmen?

2) Wird die eigene ideologische Verortung anerkannt und eine umfassende (?) Analyse von Machtverhältnissen angeboten?“

Selbstsüchtige Motivationen

Hierbei wird hinterfragt, inwieweit Helfen nur als Aufgabe des Stärkeren verstanden wird:

„1) Werden die Betroffenen als hilflose Opfer von lokaler Gewalt oder Schicksalsschlägen dargestellt und die Helfenden als global berufen und fähig, die Menschheit zu Ordnung, Fortschritt und Eintracht zu führen?

2) Wird anerkannt, dass das Verlangen danach besser als andere/ anderen überlegen zu sein und dass das aufgezwungene Bestreben von singulären Konzepten von Fortschritt und Entwicklung historisch gesehen Teil des Problems ist?“

Unkomplizierte Lösungen

Hierbei wird reflektiert, inwieweit zu schnellen Lösungen gegriffen wird, ohne strukturelle Bedingungen zu ändern, die zu Diskriminierung führen:

„1) Werden vereinfachende Analysen und Antworten angeboten, die nicht dazu einladen, sich mit Komplexität zu beschäftigen oder tiefer gehend über das Thema nachzudenken?

2) Wird eine komplexe Analyse des Problems angeboten, die die möglichen negativen Auswirkungen der vorgeschlagenen Lösung einbezieht?“

Paternalistische Investitionen

Hier wird kritisch reflektiert, inwieweit die eigene Überlegenheit durch das Helfen gefestigt wird:

„1) Werden ,Hilfsbedürftige‘ als Menschen dargestellt, denen es an Bildung, Ressourcen und Zivilisation/Kultur mangelt und die für unsere Hilfe dankbar sein sollten?

2) Werden ,Hilfsbedürftige‘ als Menschen dargestellt, die dazu berechtigt sind, ihren ,Rettern‘ zu widersprechen und ermächtigt sind, andere Lösungen umzusetzen, als ihre ,Helfer_innen‘ im Sinn hatten?“

Tabelle 1: Das HEADS UP Schema nach Andreotti (2012)

Leerstelle koloniale Kontinuitäten

Machthierarchien aufgrund von Privilegierung und Diskriminierung finden sich in jeder Form gesellschaftlicher Interaktion wieder – und haben somit unmittelbare Rückwirkungen auf jede Form der Konfliktintervention. Privilegierung und Diskriminierung sind globale Konfliktgegenstände, die auf andauernde koloniale Kontinuitäten zurückzuführen sind (Kelly 2016, S. 77). Machtungleichgewichte, die durch Privilegierung und Diskriminierung entstehen und die unsere sozialen Hierarchien in der Welt bestimmen, werden fortlaufend reproduziert (Roig 2021). Sie werden mit und durch Gesellschaft getragen und wirken gleichzeitig auf die Gesellschaft zurück. Daher ist es wichtig, eine machtkritische Reflexion explizit in »Do No Harm« zu verankern, wobei es unzureichend ist, lediglich auf individueller Ebene die eigenen Gewaltpotenziale durch direkte Machtpositionen zu reflektieren, sondern es bedarf auch einer Betrachtung der zugrundeliegenden strukturellen Macht- und Herrschaftsverhältnisse.

Post- und dekoloniale Ansätze bieten hierbei Zugänge, durch Instrumente wie das der Intersektionalität solche sich individuell festschreibenden Herrschaftsverhältnisse zu beschreiben. „Eine intersektionale Perspektive fragt nach unterschiedlichen Gruppenmitgliedschaften einzelner Individuen, z.B. nach Gender, ›Rasse‹/Ethnizität, Klasse, Sexualität, Nation, Religion, Lokalität, Alter und Befähigung. Die Liste ist notwendigerweise unabschließbar“ (Dietze 2008, S. 29). Dadurch können Überschneidungen und Interdependenzen von verschiedenen Diskriminierungskategorien thematisiert werden – und dadurch potentiell sich verstärkende Effekte von »Dividers« besser erkannt werden. Aus intersektionaler Perspektive können alle Menschen Diskriminierungen ausgesetzt sein, wobei Art und Häufigkeit sich stark unterscheiden.

In der Ausgestaltung von Konzeptionen und der Entwicklung von Ansätzen wie »Do No Harm« legt eine herrschaftskritisch-intersektionale Brille den Fokus darauf, wer wann, wie, wodurch und welche Zugänge und Beteiligungschancen in Konfliktinterventionen hat und wie diese unterschiedlichen Zugänge mit Machtungleichgewichten zusammenhängen. Denn in gesellschaftlichen Praktiken gibt es keine machtfreien Räume, folglich variieren Partizipationsmöglichkeiten in Konfliktinterventionen in Abhängigkeit von der eigenen Privilegierung. Das wird auch dadurch verstärkt, dass subalterne Stimmen oft nicht gehört werden und in Konfliktdynamiken schnell als eigenständig handlungsmächtige Akteur*innen übersehen werden (vgl. Spivak 1990, Santos 2008).

»Do No Harm« machtkritisch ausfüllen

Auf »Do No Harm« angewendet bedeutet dies: Über das Bewusstsein hinaus, durch die Intervention in einen Konflikt Teil des Konfliktgeschehens zu werden, bedarf es trotzdem auch auf individueller Haltungsebene einer Stärkung von „Hegemonie(selbst)kritik“ (Dietze 2008). Eine solche Haltung und die dafür notwendigen Analyseinstrumente erlauben es dann, in der eigenen täglichen Arbeit auch machtkritisch konfliktsensibel zu denken, zu handeln und somit eben auch auf struktureller Ebene zu wirken.

Impulse für eine solche machtkritische Selbstreflexion, die mit einer Schärfung von Haltungsfragen einhergeht, bietet das »HEADS UP« Tool von Vanessa de Oliveira Andreotti (2012). Andreotti ist Teil des »Decolonial Future Collective« und argumentiert für eine historisch-kritische und diskriminierungssensible Perspektive auf globale Partner*innenschaften. Andreottis Anliegen ist es, Strukturen und daraus entstehende Dynamiken und Rollen sichtbar zu machen. »HEADS UP« steht für verschiedene Dimensionen, die nach Andreotti für eine herrschaftskritische Reflexion (selbst-)kritisch hinterfragt werden müssen (für eine genauere Erklärung, siehe Kasten nebenan). Folgende Grafik 1 visualisiert die Erweiterung von »Do No Harm« durch »HEADS UP«:

Graphik 1: Visualisierung Erweiterung von »Do No Harm« durch »HEADS UP«.

Andreotti zufolge lautet eine häufige und wesentliche Erkenntnis nach dem »HEADS UP«-Reflexionsprozess, dass ungerechte Strukturen unbeabsichtigt entstanden und diese schwierig zu durchbrechen seien. Diese Erkenntnis bewertet sie jedoch als einen bedeutend wichtigen ersten Schritt, um das Bewusstsein über diese Strukturen zu schärfen. Nur so könne langfristig eine Überwindung diskriminierender hegemonialer Strukturen möglich und denkbar werden (Andreotti 2012). In der Stärkung von Methoden wie »HEADS UP«, als eine etablierte, kontinuierliche Reflexion der Hegemonie(selbst)kritik, kann Privilegienbewusstsein wachsen. »HEADS UP« bildet einen Rahmen, um bisherige Wahrnehmungslücken zu reflektieren, um Machtpositionen und Privilegierung zu benennen und sichtbar zu machen. Dabei wird eine Kontextanalyse und kritische (Selbst-)Reflexion angestoßen, bei der auch persönliche Einstellungen und (Konflikt-)Verhaltensweisen sowie ihre zugrundeliegenden Normen und Werte, Emotionen und Gefühle reflektiert werden. Eine Konfliktsensibilität aus machtkritischer Perspektive bietet somit einen Impuls, die eigenen Eindrücke und Grundannahmen zu hinterfragen und zu überdenken, ob diese vorurteilsbasiert, stigmatisierend oder diskriminierend sind und möglicherweise in der eigenen Konfliktintervention schädigend wirken und vorhandene »Dividers« verstärken.

In der Anwendung einer machtkritischen Konfliktsensibilität können Akteur*innen folglich in unterschiedlichen Kontexten und auf verschiedenen Ebenen wie der Bildungsarbeit, der Politik, der Friedenskonsolidierung u.a. dazu beitragen, einen sichere(re)n Raum (»saf(er) space«)2 zu schaffen. Im reformulierten Sinne von »Do No Harm« bedeutet das, konfliktverschärfende Dynamiken frühzeitig zu erkennen, indem von einem unbewussten zu einem bewussten Verständnis unserer Privilegien übergegangen wird, um eigene Privilegien folglich prosozial nutzen zu können. Dies impliziert, Einfluss auf das eigene Umfeld zu nehmen, indem Macht abgegeben wird, um Ressourcen für das Empowerment von minorisierten Gruppen zugänglich zu machen, ohne über deren Einsatz und Verwendung zu bestimmen. Wir können Verbündete sein, indem wir uns für entstehende Dynamiken sensibilisieren, die ein Machtungleichgewicht begünstigen, und für ein Teilen der Macht(-mittel) (»Powersharing«) eintreten. Denn, wie Audre Lorde sagte: „Dein Privileg ist kein Grund für Schuldgefühle, es ist Teil deiner Macht, die du zur Unterstützung nutzen kannst“ (Lorde 2009, S. 21). Powersharing kann folglich als »Connector« eingesetzt werden und helfen, die Gefahr zu bannen, dass unreflektierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie Privilegien und Diskriminierungen zu einer »trennenden Macht« in der Anwendung von »Do No Harm« werden. Indem wir uns darauf fokussieren, was unser Gegenüber kann, statt darauf was sie*er nicht kann, schaffen wir einen Raum für gegenseitigen Respekt und Wertschätzung. Wenn ein neues machtkritisches Verständnis von »trennenden Faktoren« und »verbindenden Faktoren« in Konflikten im Kontext von globalen kolonialen Kontinuitäten gestärkt wird, kann perspektivisch Raum für neue Verbundenheit und Allianzen entstehen.

Da koloniale Pfadabhängigkeiten sich jedoch nicht allein durch Selbstreflexion auflösen werden, kann »HEADS UP« zudem auf systemischer Ebene Orientierung für einen machtkritischen Organisationsentwicklungsprozess im Bereich von internationalen Nord-Süd-Partnerschaften bieten. Dies könnte auch auf gesamte Projektlogiken übertragen werden. Darin könnte »Do No Harm« in Verknüpfung mit »HEADS UP« dienlich sein, den Fokus auf Dynamiken und Machtverhältnissen innerhalb von Gruppenprozessen und Kooperationspartnerschaften zu reflektieren. Solch eine Reformulierung von »Do No Harm«, in der eine machtkritische Selbstreflexion verankert ist, bedarf jedoch einer positiven Fehlerkultur. Das impliziert einen vertrauensvollen Raum, um sich gegenseitig auf Wahrnehmungslücken in der Konfliktintervention und in der dazu notwendigen Zusammenarbeit aufmerksam zu machen. Dies geht einher mit Ergebnisoffenheit und einem lebenslangen Lernprozess in Form eines »Lernens des Verlernens« (Spivak 1990), sowohl für einzelne Akteur*innen als auch für Organisationen in Form von rassismus- und diskriminierungskritischen Organisationsentwicklungsprozessen.

Anmerkungen

1) Ein ganz großer Dank an David Scheuing und Melanie Hussak für das wertvolle Feedback und den konstruktiven redaktionellen Entstehungsprozess.

2) Das Ziel von »Safe(r) Space« ist es einerseits, Menschen vor unterschiedlichen Formen von Gewalt und Diskriminierung zu schützen. Andererseits soll das Konzept von »Safe(r) Spaces« einen geschützten Rahmen für die Artikulation von Diskriminierungserfahrungen ermöglichen. Davon ausgehend wird mit den Betroffenen kontext- und konfliktsensibel reflektiert, welche Unterstützungsmöglichkeiten für sie konstruktiv sind. Dadurch soll ein Bewusstsein für Rassismus und Diskriminierung in der Gesamtgruppe geschaffen und für verschiedene Formen gruppenbezogener und gesellschaftlicher Ausgrenzung sensibilisiert werden.

Literatur

Anderson, M. (1999): Do No Harm. How aid can support peace – or war. Boulder, Col.: Lynne Rienner Publishers.

Barbolet, A.; Goldwyn, R.; Groenewald, H.; Sherriff, A. (2005): The utility and dilemmas of conflict sensitivity. Berlin: Berghof.

Bärwaldt, K. (2021): Local Ownership als Prinzip von Friedensförderung Ansatzpunkte und Handlungsfelder für deutsche Politik. Berlin: FriEnt.

Birckenbach, H.-M. (2017): Von der Sicherheitslogik zur Friedenslogik. Deeskalation und Konfliktbearbeitung in der Flüchtlingspolitik. In: Gruber, B; Ratkovic, V. (Hrsg.): Migration. Bildung. Frieden. Perspektiven für das Zusammenleben in der postmigrantischen Gesellschaft Münster u. New York: WaxmannVerlag, S. 61-72

Birckenbach, Hanne-Margret (2023): Friedenlogik verstehen. Frieden hat man nicht. Frieden muss man machen. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag.

Bücken, S.; Frieters-Reermann, N. (2021): Kritisch-reflexive Urteilskompetenz in der Bildungsarbeit: Konfliktsensible und rassismuskritische Perspektiven. Sozial Extra 45(4), S. 263-267.

CDA Practical Learning for International Action. (o. J.). Do No Harm: A brief introduction from CDA. Virtuelle Ressource.

De Oliveira (Andreotti), V. (2012): Editor’s preface ‘HEADS UP’. University of Oulu.

Dietze, G. (2018): Intersektionalität und Hegemonie(selbst)kritik. Bielefeld: transcript.

Fischer, M. (2021): Friedenspolitik aus einem Guss. Brot für die Welt. Blogbeitrag, 22.10.2021.

Kelly, N. A. (2016): Afrokultur. Der Raum zwischen gestern und morgen. Münster: Unrast Verlag.

Lorde, A. (2009): „Commencement Address: Oberlin College“. In: Byrd, R.; Cole, J.B.; Guy-Sheftall, B. (Hrsg.): I am your sister: Collected and unpublished writings of Audre Lorde. New York: Oxford University Press, S. 213-218.

Roig, E. (2021): Why we matter. Das Ende der Unterdrückung. Berlin: Aufbau Verlag.

Santos, B. de S. (2008): Another knowledge is possible: Beyond northern epistemologies. London u. New York: Verso.

Spivak, G. C. (1990): The post-colonial critic: Interviews, strategies, dialogues. New York: Routledge.

Cora Bieß promoviert an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt zu der Frage, wie Konfliktsensibilität Zivilcourage fördern kann. Zudem vertritt sie die AG »rassismuskritische Reflexionen« im Sprecher*innenrat der Plattform zivile Konfliktbearbeitung.

Der Russland-Ukraine-Krieg

Der Russland-Ukraine-Krieg

Impulse für einen umfassenden und nachhaltigen Friedensprozess

von Karim P. Fathi

Der Russland-Ukraine-Krieg hält die Welt in Atem. Dabei findet sich in der emotionalisierenden Berichterstattung wenig über die Frage, was für einen nachhaltigen Frieden notwendig wäre. Beiträge aus der Friedensforschung und -arbeit wurden und werden in der aktuellen Diskussion unzureichend berücksichtigt, sind sogar Gegenstand von antipazifistischer Kritik. Letztlich gilt jedoch: Friedensforschung kann voraus- und über eine enge Debatte über Waffenlieferungen und militärische Erfolge hinausblicken. Wie kann ein nachhaltiger Frieden nach dem Ende des Russland-Ukraine-Kriegs gefunden werden, auch und gerade in Anbetracht seiner Tiefendimensionen? An welchen Stellschrauben könnte Friedenspolitik ansetzen?

Ein nachhaltiger Friedensprozess bedarf einer entsprechend komplexitätsangemessenen Analyse der Konfliktsituation und einer ebenso angemessenen Interventionsgestaltung. Die folgende Darstellung erhebt nicht den Anspruch einer vollständigen Analyse dieses Kriegs. Vielmehr geht es darum, mehrere Dimensionen und Ebenen der Konfliktanalyse und -intervention aufzuzeigen, bei denen Friedensforschung und -arbeit wichtige Beiträge leisten können und die in der aktuellen Diskussion sowie der internationalen Politik vernachlässigt werden.

Ebene 1 – Konstellation Russland vs. Ukraine

Vordergründig stellt sich der vorliegende Krieg in erster Linie als eine militärische Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland dar. Dem müssen im Kontext einer vielschichtigen Analyse die psychische, strukturelle und kulturelle Dimension zur Seite gestellt werden. Nur so können inhärente Risikopotenziale jenseits des aktuellen Schlachtfelds umfassend berücksichtigt werden.

Die psychische Dimension betrifft unter anderem den erheblichen Stress und die seelischen Schäden in der Bevölkerung, die mit der Fortdauer des Kriegs zunehmen und im Sinne posttraumatischer Behandlungsbedarfe und einer „Jetzt erst recht“-Revanchehaltung den Konflikt verlängern können.

Strukturelle Gewalt prägt sich vor allem als systematische Diskriminierung aus, von der mehrere ethnische Gruppen betroffen waren und sind. So mahnte das EU-Parlament im Vorfeld des Kriegsausbruches „gravierende“ Fälle von Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung an. Die Ukraine, die nunmehr seit einigen Jahren durch ein Assoziierungsabkommen zunehmend enger mit der EU verbunden ist, verstoße mit ihrer Sprach‐ und Minderheitenpolitik immer wieder gegen internationale Minderheitenstandards. Unter anderem hob die Staatsanwaltschaft des Gebiets Donezk laut Medienberichten den Status des Russischen als regionale Amtssprache auf, obwohl dort ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Russisch spricht (Europäisches Parlament 2018). Zugleich wird auch über ähnliche Formen struktureller und direkter Unterdrückung von Nicht-Russ*innen in den von Russland besetzten Gebieten berichtet (Dornblüth und Adler 2022). Strukturelle Gewalt trägt insgesamt erheblich zur Kriegspropaganda auf beiden Seiten bei und wird zugleich von ihr legitimiert.

Dies zeigt sich im Ausmaß kultureller Gewalt, die sich im Russland-Ukraine-Krieg vielfältig ausprägt. Kulturelle Gewalt umfasst Muster in verschiedenen Kulturbereichen und Medien, z.B. in der Kunst, Berichterstattung, Folklore, die direkte und strukturelle Gewalt legitimieren (Galtung 1998). Eine verbreitete Manifestation kultureller Gewalt besteht in der moralisierenden und polarisierenden Berichterstattung und entsprechenden Bildern, die Russland und die Ukraine voneinander zeichnen. „Faschismus“ (Kotsev 2022) oder „genozidales“ Verhalten (Tacke und Busche 2022) assoziieren beide Seiten miteinander. Kulturelle Gewalt erhält im sich abzeichnenden »Informationskrieg« und »Kampf der Narrative« besondere Bedeutung: Längst ist der Russland-Ukraine-Krieg auch ein Ringen um Deutungshoheit und moralische Legitimation geworden, das im digitalen Raum ausgefochten wird (Hate Aid 2022).

Zusammengefasst sollten auf der hier vorgestellten Analyseebene »Russland vs. Ukraine« mindestens folgende Dimensionen im Rahmen einer ganzheitlich ausgerichteten Konfliktanalyse berücksichtigt werden: eine Dimension der qualitativen Analyse, die auf subjektive bzw. »softe« Faktoren wie z.B. Psyche, Kultur, Narrative und Traumata Bezug nimmt, und eine Dimension der quantitativen Analyse, die eher objektive und empirisch-beobachtbare Faktoren untersucht, wie z.B. Strukturen, Interaktionen, beobachtbare Fakten und Handlungen sowie juristische Rahmenbedingungen. Diese Kategorisierung ermöglicht, wie unten zu zeigen sein wird, eine ganzheitliche Berücksichtigung unterschiedlicher Konfliktdimensionen für die Konfliktintervention.

Um die unterschiedlichen Konfliktdimensionen etwas zu systematisieren dient die hier beigefügte Vier-Feld-Matrix (Tabelle 1). Ein solches Schema wird typischerweise in der Tradition der Konflikttransformation verwendet, z.B. von Norbert Ropers (1995) oder John Paul Lederach (2003).

Ebene 2 – Russland-Ukraine-NATO-Konflikt

Auf einer tieferen Analyse- und Interventionsebene werden nicht nur die Positionen der Konfliktparteien, sondern die tieferliegenden Bedürfnisse berücksichtigt. Unerfüllte Bedürfnisse, wie z.B. Identität, Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, stellen die tiefere Antriebsfeder jedes Konflikts dar (Galtung 1998). Darüber hinaus beinhaltet dieser Konflikt eine weiter gefasste regionale Konstellation, aus der sich weitere Antriebskräfte und Themen ergeben.

Jeder bedürfnisbasierte Konfliktlösungsprozess erfordert eine differenzierte Betrachtung der betroffenen Bedürfnisse aller Konfliktparteien und damit ein Berücksichtigen von Mitverantwortung aller Beteiligten an der gemeinsamen Konfliktdynamik.

Auf Seiten der Ukraine sind Bedürfnisse nach Sicherheit, Überleben, Identität, Freiheit/Gerechtigkeit betroffen. Sie entsprechen auch den von Johan Galtung definierten vier Grundbedürfnissen. Demnach sieht sich die Ukraine in dieser asymmetrischen Konfliktkonstellation Gewalt auf allen nur denkbaren Dimensionen ausgesetzt. Auf Seiten Russlands scheinen vor allem die Bedürfnisse nach Sicherheit, Identität und Gerechtigkeit betroffen zu sein. Dies wird erst ersichtlich, wenn der Beitrag mittelbar beteiligter Akteure, wie z.B. der USA oder der NATO, in der Analyse miterfasst wird.

Diese Russland-Ukraine-NATO-Konfliktkonstellation zu betrachten ist für den Friedensprozess unerlässlich. Seit Jahren fordert Russland von der NATO und den USA Sicherheitsgarantien, eine Verringerung der Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke und einen Stopp der Ausdehnung des westlichen Bündnisses in Richtung Russland. In der Vergangenheit forderte Putin von der NATO schriftliche Garantien, künftig keine weiteren osteuropäischen Staaten wie Georgien oder eben die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Hinsichtlich der geografischen Reichweite der NATO, forderte Russland, sie solle wieder auf den Stand von 1997 zurückgeführt werden. Die USA und die NATO wiesen diese Forderungen als in weiten Teilen unannehmbar zurück. Daher sieht Putin den Krieg als einen Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland an (lpb 2022).

Sicherheitsinteressen sind konfliktrelevant

Russland sieht sich in seinen Sicherheits­interessen von der NATO-Osterweiterung bedroht. Tatsächlich hat dieser Prozess bis heute zu einer zunehmenden Einbindung ehemaliger Sowjetstaaten, wie Polen, Rumänien, Bulgarien oder den Baltischen Staaten geführt (Sarotte 2021). Selbst John Mearsheimer, einer der bekanntesten Vertreter der politischen Theorie des Realismus, interpretiert die russische Ablehnung dieser Situation als durchaus erwartbares Verhalten zur Sicherung der Interessensphäre (Mearsheimer 2022).1 Dies ist insofern bemerkenswert, da der Realismus weder eine Bedürfnisorientierung, noch eine friedenslogisch-pazifistische Ausrichtung aufweist. Doch selbst nach diesem Ansatz sind die geäußerten Sicherheitsinteressen Russlands klar als konfliktrelevante Dimension zu sehen – sie in einer zukünftigen Friedensfindung auszuschließen, kann fast nur zum Scheitern aller Verhandlungen führen. Dies bedürfte dann aufseiten dritter Konfliktparteien, wie den NATO-Staaten, einer Kernanforderung des Projektes der »Friedenslogik« (vgl. Jaberg 2014): Sicherheit dürfte nicht mit Frieden gleichgesetzt werden, Hochrüstung und Kriege nicht als normale Handlungsformen anerkannt und vor allem der eigene Beitrag zur Entstehung dessen, was als Bedrohung wahrgenommen wird, gesehen werden.

Konfliktdimension »Doppelmoral«

Eine weitere Ausprägung struktureller Konfliktpotenziale stellt die Kritik an der »Doppelmoral« des Westens dar, die mit dem aktuellen Propagandakrieg an Fahrt aufgenommen hat. Heute wird Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg stärker verurteilt als andere illegale Kriege, die von westlichen Staaten in der jüngeren Zeit, wie z.B. Irak 2003 oder Libyen 2011, geführt wurden (Fischer 2022). Der Politikwissenschaftler Ivan Krastev sieht die wachsende Kritik an der westlichen Doppelmoral im Wesentlichen als Ausdruck der Krise der liberalen Hegemonie (Krastev 2019). Aus friedenslogischer Sicht erzeugt die „Hybris desjenigen Akteurs, der sich als Sieger des Kalten Kriegs begreift, ebenso wie die normative und praktische Selbstbevorzugung, gemäß derer sich der Westen dazu berechtigt sieht, sich selbst mehr zu erlauben, als er anderen zuzugestehen bereit ist“ (PZKB 2022, S. 12) eine weitere Dimension in diesem konkreten Krieg – etwas das für eine zu schaffende Friedensordnung beachtet werden müsste. Die Zusammenfassung der oben skizzierten Punkte ist in der begleitenden Vier-Feld-Matrix aufgeführt (Tabelle 1).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Tiefergehende Motivationen auf allen Seiten, insbesondere Sicherheitsbedürfnisse.

Ggf. tiefergehende Traumata bei Betei­ligten auf allen Seiten.

Verhalten, Interaktionen:

Historischer Verlauf und aktuelle Handlungen der Parteien (hier: zusätzlich NATO, EU, USA)

Juristische, vor allem völkerrechtliche Rahmenbedingungen: Russland, NATO, EU.

Weitere Rahmenbedingungen: ökono­misch, militärisch, geostrategisch.

Kollektiv

Kultur:

Kulturelle Gewalt, in Form konflikt­verschärfender Bedrohungsdarstellungen (z.B. Gegenseite als feindliche Großmacht).

Kulturelle Gewalt in Form historisch, ideologisch etc. begründeter Legitimierung von geokultureller Expan­sion.

Propagandakrieg, verschärfte Kritik an der Doppelmoral des Westens.

Struktur:

Strukturelle Konstellation: Liberale Hegemonie des Westens.

Great Game zwischen Russland und dem Westen auf dem Schachbrett Europas.

Innerstaatlich: Strukturelle Unterdrückung von Minderheiten (je nach Gebiet: Russ*innen und Nicht-Russ*­innen).

Tabelle 1: Dimensionen zur Analyse des Russland-Ukraine-NATO-Konflikts in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

Impulse für den Friedensprozess

Auf Grundlage der oben skizzierten Reflexionen ergeben sich mehrere Hebelpunkte für nicht-militärische Interventionen im Russland-Ukraine-Krieg.

Maßnahmen für die Zivilbevölkerung

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung hält eine Vielzahl von Handlungsfeldern und Maßnahmen bereit, die bereits in internationalen Konflikten umgesetzt werden. Ein Großteil dieser Maßnahmen adressiert die Zivilbevölkerung(-en) der direkt betroffenen Konfliktparteien. Dies erscheint unumgänglich, um ein Wiederaufflammen von Gewalt, nachdem politische Vereinbarungen getroffen wurden, zu verhindern.

Ein wichtiges Handlungsfeld, das in der Ukraine durchaus abgedeckt wird, ist Leidmilderung und Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe. Vom Angriffskrieg ist besonders die ukrainische Zivilbevölkerung betroffen. Humanitäre Hilfe von Staaten und NGOs oder UN-Hilfsorganisationen leistet Schadensbegrenzung (EU Kommission 2022). Neben materieller Versorgung muss diese Hilfe auch psychologische Unterstützung zur Behandlung von Depressionen, Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) beinhalten.

Maßnahmen gegen kulturelle Gewalt

In einem weiteren Handlungsfeld geht es vor allem darum, den Unterbau kultureller Gewalt anzugehen, der sich in Form direkter Gewalt wie Hassrede, Verschwörungsmythen, Kriegsrhetorik ausdrückt. Denn kulturelle Gewalt befeuert maßgeblich den Konflikt und kann ihn vor allem über Generationen am Leben halten. Diese Dimension bedarf langfristiger Ansätze. Hierzu ein paar knappe Notizen:

  • Ein wichtiger und derzeit unterschätzter Ansatzpunkt wäre ein Sensibilisieren für kulturelle Gewalt beispielsweise durch die Förderung von »Friedensjournalismus«. Letzterer zielt darauf ab, den Konflikt differenziert darzustellen, die Hintergründe zu verdeutlichen und mögliche friedliche Lösungen aufzuzeigen und auf diese aktiv hinzuarbeiten (Kempf und Shinar 2014).
  • Ein zweites Handlungsfeld, das auf Eindämmung kultureller Gewalt und gleichzeitig Förderung von Verständigung abzielt, könnte das Einrichten von Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative sein. Eine solche Plattform wurde bereits in der Vergangenheit anlässlich des Krim-Kriegs vom IMSD-Netzwerk ins Leben gerufen und erfolgreich umgesetzt (Inmedio o.J). Dabei ging es darum, umstrittene Narrative in der öffentlichen Berichterstattung Deutschlands (und im weitesten Sinne des Westens), der Ukraine und Russlands zu erkunden und einen Raum für Diskussionen zu schaffen, der auf ein tiefes Verständnis der Standpunkte ihrer Teilnehmer*innen abzielte. Dieser mediative Dialog fokussiert auf die Idee des Wertes aller Standpunkte und dem Recht eines jeden, zu sprechen und gehört zu werden (Inmedio o.J).
  • Eine dritte Dimension soziokultureller Interventionen, die in einer späteren Phase des Friedensprozesses an Bedeutung gewinnen dürfte, widmet sich der Frage nach einem friedlichen Zusammenleben russisch- und ukrainischsprachiger Bevölkerungsgruppen, insbesondere im Donbas. Hier wird es auf intra- und transnationaler Ebene darum gehen, das Etablieren einer Sprach- und Minderheitenpolitik zu ermöglichen, die internationalen Mindeststandards entspricht.
  • Auch die Schulbildung als Träger kulturell gewaltvoller Inhalte darf als Konfliktdimension nicht unterschätzt werden. Entsprechende Erfahrungswerte bestehen unter anderem im Israel-Palästina-Konflikt und dem Konzept der »parallelen Geschichten«. Diese Initiative trägt dem Umstand Rechnung, dass Konfliktgruppen historische Ereignisse sehr unterschiedlich wahrnehmen und erklären. Oft werden für diese Auseinandersetzungen Geschichtsbücher in Schulen instrumentalisiert. Das von Samir Adwan und Dan Bar-On ins Leben gerufene Schulbuchprojekt berücksichtigt die Sichtweisen beider Seiten und ermöglicht es den Schüler*innen, beide kennenzulernen (Adwan und Bar-On 2012). Dieser erfolgreiche Ansatz ließe sich auch auf die Ukraine, insbesondere im Donbas, anwenden.

Staatliche Ebene: Verhandlungen möglich machen

Angesichts der fortgeschrittenen Eskalation und Verhärtung dürfte es sich als sinnvoll erweisen, wenn die unterschiedlichen internationalen Unterstützer*innen die Konfliktparteien dazu bewegen, die Waffen niederzulegen und sich konstruktiv an einer Friedenslösung zu beteiligen. Nach klassischer Konflikteskalationslogik sind die Akteure in diesem Zustand kaum mehr in der Lage, aus eigenen Kräften aus der Verhärtung auszubrechen. Im Falle der Ukraine hätten die USA entsprechenden Einfluss, auf russischer Seite eventuell China.

Grundsätzlich erweist es sich als friedensförderlich, Dialogkanäle zwischen den Beteiligten aufrechtzuerhalten und den Raum für Verhandlungen offen zu lassen (Purkarthofer 2000). Die Mediator*innen vom IMSD empfehlen dabei für den Prozess, keine hohen Erwartungen an inhaltliche Kompromissbereitschaft zu stellen, da ein Drängen von Drittparteien zu weiterer Verhärtung führen könnte. Vielmehr gehe es darum, auf niedrigschwellige Zwischenziele, etwa als „Identifikation der Bedingungen zur Co-Existenz“, hinzuarbeiten (IMSD 2022). Tatsächlich bestanden im ersten Kriegsmonat durchaus Chancen auf eine Verhandlungslösung. Nach Beratungen in Istanbul Ende März bot die Ukraine ihre Neutralität und den Verzicht auf einen NATO-Beitritt an. Die Verhandlungen kamen zu keinem Ergebnis (ZEIT 2022). In den späteren Monaten wurden zumindest Teilerfolge in Form von Abkommen zu Gefangenenaustauschen und Getreide realisiert (Apelt 2022). Darauf ließe sich aufbauen. Letztlich gilt: Das Ende des Krieges kann nur in Form von Verhandlungen erfolgen, in denen strittige Punkte, wie z.B. die Territorialfrage, geklärt werden müssen. So stellt sich aufgrund der steigenden Kriegskosten auf beiden Seiten und der geringen Wahrscheinlichkeit eines schnellen militärischen Sieges „weniger die (…) Frage, ob es weitere Verhandlungen geben wird, sondern eher wann und unter welchen Bedingungen“ (IMSD 2022).

Bei der Frage nach geeigneten Mediator*innen eignen sich von allen Beteiligten gleichermaßen akzeptierte Staaten, wie z.B. die Türkei oder die Schweiz, oder spezialisierte NGOs, wie z.B. die Berghof Stiftung, inmedio oder das IMSD-Netzwerk. Dabei wird in der zivilen Konfliktbearbeitung betont, alle »Tracks« mit einzubeziehen – die der politischen Entscheidungsträger*innen (Track 1), gesellschaftlicher (Track 2) und zivilgesellschaftlicher Führungspersönlichkeiten (Track 3) (Lederach 1997) – was im Falle der Ukraine vor allem auch aufgrund ihrer innerstaatlichen Konfliktdimensionen sinnvoll erscheint (Herrberg 2017). Insgesamt, so betonen die Expert*innen des IMSD-Netzwerks, empfiehlt sich das Einrichten unterschiedlich zusammengesetzter Akteursforen. Um z.B. den Ursachen für die Außeneinmischungen in diesem Konflikt auf den Grund zu gehen und den übergeordneten russischen Sicherheits- und Anerkennungsinteressen begegnen zu können, ist eine Einbindung relevanter westlicher Mächte, insbesondere der USA und NATO, auf der Track 1-Ebene erforderlich (IMSD 2022).

Das selbstkritische Reflektieren des eigenen Beitrags beinhaltet, wie die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) in ihrer Stellungnahme vom 11.05.2022 betonen, nicht die moralische Schuldfrage. Vielmehr gilt es, die eigenen Anteile an der Zuspitzung der letzten Jahre zu thematisieren und die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien nachzuvollziehen, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. So ist im westlichen Diskurs weitgehend tabuisiert, dass die aktuelle Herrschafts- und Sicherheitsordnung nicht auf Grundlage eines gleichberechtigten Mitwirkens aller Beteiligten entstand. Schon früh geäußerte Einwände und Sicherheitsbedenken Moskaus wurden ignoriert und seine Initiativen – wie beispielsweise der Entwurf für einen Sicherheitsvertrag im Jahre 2009 – wurden nicht aufgegriffen (PZKB 2022). Selbstkritisches Reflektieren des Eigenanteils bedeutet für den Westen auch eine Auseinandersetzung mit dem vermehrt geäußerten Vorwurf der Doppelmoral. Ein solcher, vom Westen selbst angestoßener Diskurs über eigene Fehler und Versäumnisse könnte wesentlich dazu beitragen, Größe zu zeigen und verlorengegangenes Vertrauen in der internationalen Staatengemeinschaft zurückzugewinnen.

Pufferzonen und Demilitarisierung

Aus einer lösungsfokussierten Perspektive nehmen im Russland-Ukraine-Krieg vor allem Sicherheitsbedürfnisse und die Frage nach dem Status der Ukraine, zumindest der Ostukraine, einen zentralen Wert ein. Einige Beobachter*innen aus der zivilen Konfliktbearbeitung, wie z.B. Johan Galtung oder Antje Herrberg, empfehlen das Etablieren einer neutralen bzw. demilitarisierten Pufferzone, im Sinne eines oder mehrerer autonomer Gebiete entlang der westrussischen Grenze (Herrberg 2017; Galtung 2014). Aus friedenspolitischer Sicht läge es im nationalen Interesse der Ukraine, die Multiethnizität der Region zu sichern und die russische Kultur als koexistierende Kultur zu begreifen. Als Inspirationsbeispiele ließen sich z.B. das Föderalismuskonzept der Schweiz (Wolffsohn 2019) oder das Modell der Autonomen Provinz Bozen (2022) heranziehen.

Die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung sehen vor allem die OSZE als am besten geeigneten Ort für solche Verhandlungen, als Projekt so genannter „gemeinsamer Sicherheit wider Willen“, weil sie den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung stellt (PZKB 2022).

All die oben skizzierten vielfältigen Beiträge und Überlegungen für einen nachhaltigen Friedensprozess lassen sich erneut in einer Vier-Feld-Matrix zuordnen (Tabelle 2).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Leidmilderung der Opfer durch humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerungen durch Nichtregierungsorganisationen oder UN-Organisationen. Fokus: PTBS und weitere psychische Verletzungen.

Friedensgespräche auf politischer Ebene (Track 1) sollten inoffiziell und gesichtswahrend laufen.

Verhalten, Interaktionen:

Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand auf allen Seiten.

Durchführung von Friedensgesprächen unter Einbindung mehrerer Ebenen (Multi-Track) und lokaler Vermittler.

Bestehende Abkommen (wie z.B. Minsk-Abkommen) als Ausgangsbasis für den weiteren Prozess, ggf. im Rahmen eines Projekts „Gemeinsame Sicherheit wider Willen“, moderiert über die OSZE.

Kollektiv

Kultur:

Behebung kultureller Gewalt, z.B. in Form moralisierender Berichterstattung, durch Friedensjournalismus. Entwicklung einer differenzierteren Diskurs­kultur.

Bekämpfung von Desinformation durch unabhängige Organisationen, z.B. der UN.

Anti-diskriminierende Integrationspolitik in der Ukraine.

Empathie: Sensibilisierung für eigene Anteile am Konfliktsystem.

Schulbuchprojekte der „zwei Seiten“, inspiriert am Erfolgsbeispiel Israel-­Palästina.

Einrichtung von „Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative“.

Struktur:

Behebung struktureller Gewalt, z.B. in Form von Diskriminierungen russischsprachiger Minderheiten in der Ukraine. Denkbar wäre ein föderales Konzept (z.B. Schweizer oder Südtiroler Modell).

Kritische Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse aller Seiten, die sich aus der geostrategischen Konstellation ergeben.

Aushandlung weiterer Win-Win-Lösungen zur Territorialfrage: UN-überwachte Sicherheitsgarantien; Einrichtung eines demilitarisierten Puffers an der Ostgrenze zu Russland.

Tabelle 2: Ansatzpunkte und Interventionen für den Friedensprozess im Russland-Ukraine-­NATO-Konflikt in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

»Nadelstiche« nicht unterschätzen

Einige der oben skizzierten Punkte mögen utopisch erscheinen, weil sie zur Durchsetzung idealerweise durchsetzungsfähige transnationale Institutionen, im Idealfall eine handlungsfähige UN und entsprechende Weltinnenpolitik voraussetzen würden. Nicht zu unterschätzen ist jedoch, dass in nahezu all diesen Bereichen NGOs aus der Zivilgesellschaft tätig sind und in der Lage sind und wären, »Nadelstiche« für den Frieden zu setzen.

Der Russland-Ukraine-Krieg ist von erheblicher globaler Tragweite, seine Befriedung in seiner Bedeutung und den Herausforderungen nicht zu unterschätzen. Die primär diskutierten Dimensionen der Durchsetzbarkeit internationalen Rechts sowie die Fragen der aktiven Kriegsführung müssen durch die hier angesetzte Betrachtung erweitert werden. Hier gilt es für Friedensforschung und -arbeit vorauszudenken und immer wieder zu betonen, dass Dimensionen psychischer und kultureller Gewalt, struktureller Gewalt sowie größerer Auseinandersetzungen über die Kritik an der westlich-dominierten liberalen Hegemonie ebenso eine Rolle spielen und im Rahmen der Konflikttransformation berücksichtigt werden müssen.

Anmerkung

1) Ganz ähnlich schätzen dies weitere prominente Vertreter*innen geostrategischer Denkschulen ein. Beispiele seien hier u.a. die Einschätzung des Geostrategen des Beratungsinstituts Stratfor, George Friedman. In einem Vortrag am »Chicago Council on Global Affairs« von 2015 bestätigte er Russlands Befürchtungen eines geostrategischen Plans des »Sicherheitsgürtels« entlang der Westgrenze zu Russland. Hier käme der Ukraine und der Frage, ob das Land pro-westlich oder pro-russisch ausgerichtet sei, eine besondere strategische Bedeutung zu (Friedman 2015). Diese Einschätzung wird vom Geogstrategiker Zbigniew Brzezinski geteilt (siehe Brzezinski 2001).

Literatur

Adwan, S.; Bar-On (2012): Side by side: Parallel histories of Israel-Palestine. The New Press, New York

Apelt, B. (2022): Diplomatischer Erfolg für ukrainischen Getreidekorridor. Friedrich Naumann Stiftung, 05.09.2022.

Autonome Provinz Bozen (2022): Eine Autonomie für drei Sprachgruppen. URL: provinz.bz.it/autonomietag/autonomie.asp

Brzezinski, Z. (2001): Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

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Europäisches Parlament (2018): Diskriminierung der russischen Sprache in der Ukraine — was tut die Europäische Union? Parlamentarische Anfrage – E-005731/2018, 12.11.2018.

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Fischer, L. (2022): Der Imperialismus war nie weg. Jacobin, 25.03.2022.

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Galtung, J. (2014): Ukraine-Crimea – The solution is a federation with high autonomy. Inter Press Service, 01.04.2014.

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Hate Aid (2022): Report: Desinformation und digitale Gewalt im Ukraine-Krieg. Hate Aid.

Herrberg, A. (2017): Is peace mediation in Ukraine possible, and how? Conciliation Ressources, Februar 2017.

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Ropers, N. (1995): Friedliche Einmischung. Berlin: Berghof Foundation (früher: Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung).

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Wolffsohn, M. (2019): Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München: dtv Verlag.

ZEIT (2022): Ukraine bietet Neutralität an – Moskau sieht „alles streng nach Plan“. DIE ZEIT, 29.03.2022.

Karim P. Fathi ist Friedens- und Resilienzforscher und Partner diverser Beratungsorganisationen. Schwerpunktmäßig forscht er zu gesellschaftlicher Multiresilienz und integrierter Konfliktbearbeitung.

Konkurrierende Bedrohungsdebatten in Krisenzeiten

Konkurrierende Bedrohungsdebatten in Krisenzeiten

Eine sozialpsychologische Perspektive

von Tobias Rothmund

Hinter uns liegt ein Jahr, in dem der Krisenmodus zum Dauerzustand erklärt wurde. Krieg in der Ukraine, Energieknappheit, Digitalisierung, Pandemiefolgen und nicht zuletzt der galoppierende Klimawandel. Krisen und Transformationsprozesse gehen mit mehr oder weniger konkreten Bedrohungslagen einher. Diese werden in Nachrichtensendungen, Talkshows und sozialen Medien debattiert – singulär, wechselseitig überlagernd und vergleichend. Aber was genau macht das mit uns als Gesellschaft, wenn multiple Bedrohungen und deren Bedeutung dauerhaft zum Gegenstand öffentlicher Debatten werden? Wie reagieren Menschen allgemein auf wahrgenommene Bedrohungen und was bedeutet das für die aktuelle Krisenkommunikation?

Die sozialpsychologische Forschung zu Bedrohung und Bedrohungserleben hat mindestens drei Ursprungslinien: eine evolutionsbiologische, eine kognitionswissenschaftliche und eine gruppenpsychologische. Die evolutionsbiologische Forschungslinie basiert auf der Annahme, dass Sensitivität gegenüber bedrohlichen Umweltreizen biologisch verankert ist, da sie einen Anpassungsvorteil für das Überleben unserer Vorfahren bedeutet hat. Eine solche Sensitivität wird häufig auch als »Negativitätsbias« bezeichnet (Rozin und Royzman 2001), d.h. Menschen reagieren auf negative Informationen stärker als auf positive. Die allgemeine Existenz einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber negativen bzw. bedrohlichen sozialen Informationen ist jedoch umstritten. Bar-Haim und Kolleg*innen (2007) finden im Rahmen einer Meta-Analyse einen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Informationen nur bei Menschen mit ängstlicher Persönlichkeitsstruktur. Norris (2021) hingegen berichtet eine Vielzahl neuropsychologischer Studien, die auf einen allgemeinen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Umweltreize hindeuten.

Eine kognitionswissenschaftliche Ursprungslinie der psychologischen Bedrohungsforschung reicht zu den Arbeiten von Leon Festinger und Kolleg*innen in den 1950er Jahren zurück. Die sogenannten Konsistenztheorien gehen im Kern davon aus, dass Menschen einen Zustand der inneren Konflikt- und Widerspruchsfreiheit anstreben. Persönliche Überzeugungen, Wertvorstellungen, Wahrnehmungen oder auch Verhaltensweisen sollten also im Einklang miteinander stehen. Innere Widersprüche lösen im Sinne der Dissonanztheorie (Festinger 1957) negative Gefühle und Unsicherheit aus. Das Erleben dieser kognitiven Inkonsistenzen wird als bedrohlich wahrgenommen und motiviert Menschen in der Folge dazu, Anpassungen im Denken oder Handeln vorzunehmen, um ein Gefühl der Sicherheit, Kontrolle oder Bedeutung wiederzuerlangen.

Ein dritter Ursprung der psychologischen Forschung zum Bedrohungserleben kann in der Intergruppenforschung gesehen werden. Hier wird zwischen realistischer und symbolischer Bedrohung unterschieden (Stephan und Stephan 2000). Realistische Bedrohung wird im Kontext von Ressourcenkonflikten zwischen sozialen Gruppen oder Gesellschaften erlebt. In diesem Fall resultiert die Bedrohung einer Gruppe daraus, dass das Wohlergehen mehrerer Gruppen negativ interdependent ist: Was eine Gruppe hat, fehlt also einer anderen Gruppe. Solche Konflikte können sich auf materielle Ressourcen (bspw. fossile Energiequellen) oder auf immaterielle Ressourcen (bspw. Macht) beziehen. Symbolische Bedrohung zwischen sozialen Gruppen resultiert hingegen aus diskrepanten Wert- und Moralvorstellungen. Die Bedrohung hat somit keinen materiellen Charakter. Sie drückt eher eine Art normative Verunsicherung aus. Sowohl realistische Bedrohungen als auch symbolische Bedrohungen begünstigen negative Vorurteile (Riek et al. 2006), bis hin zu Hass und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen (Martinez et al. 2022).

Ein psychologisches Modell des Bedrohungserlebens

Eine Gruppe von Wissenschaftler*innen um Eva Jonas (2014) hat die drei dargestellten Forschungslinien in ein allgemeines Modell des Bedrohungserlebens integriert. Bedrohungserleben wird dabei als Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen (a) existentiellen, epistemischen oder sozialen Bedürfnissen oder Zielen und (b) beobachteten oder antizipierten persönlichen oder sozialen Zuständen verstanden. Diese Diskrepanzwahrnehmung wird als unangenehm erlebt, bedroht die persönliche oder soziale Identität von Menschen und motiviert entsprechende Reaktionen. Die Autor*innen unterscheiden zwischen kurzfristigen Abwehrreaktionen und nachfolgenden Bewältigungsreaktionen.

  • Kurzfristige Abwehrreaktionen umfassen beispielsweise ein erhöhtes physiologisches Aktivierungsniveau und erhöhte Wachsamkeit bzw. Aufmerksamkeit. Dabei wird das BIS (»Behavioral Inhibition System«), eine Art biologisches Verteidigungsprogramm, aktiviert. Abwehrreaktionen können sich jedoch auch in Vermeidungsverhalten ausdrücken, indem es zu einer Abwendung von der als bedrohlich wahrgenommenen Situation oder Informationslage kommt.
  • Anschließende Bewältigungsreaktionen zielen darauf ab, das Bedrohungserleben nachhaltig zu reduzieren. Man kann zwischen konstruktiven und palliativen Formen der Bewältigung unterschieden. Konstruktive Bewältigungsreaktionen zielen auf die Verringerung des Bedrohungserlebens durch eine Veränderung der Diskrepanzwahrnehmung ab. Dies kann dadurch erfolgen, dass eine Veränderung der als unbefriedigend wahrgenommenen Zustände bewirkt wird. Hierfür kann beispielsweise politisches Engagement durch Protestverhalten oder die Mitwirkung an politischen Aktivitäten dienen. Alternativ kann auch die Anpassung bzw. Relativierung von Bedürfnislagen zu einer Reduktion des Bedrohungserlebens führen. Eine Ablösung von bestimmten Zielen wäre eine solche Reaktion. Palliative Bewältigungsformen zielen nicht direkt auf die konkrete Diskrepanzwahrnehmung ab, sondern eher darauf, das Bedrohungserleben durch alternative Formen der Selbstaufwertung zu kompensieren. Eine solche Selbstaufwertung kann beispielsweise durch die Identifikation mit einer Gruppe oder durch die Orientierung an transzendentalen Zielen erfolgen. Diese palliativen Bewältigungsformen zielen auf eine Reduktion des Bedrohungserlebens ab, ohne dabei konkret auf die zugrundeliegende Problemlage einzuwirken.

Krisenkommunikation unterliegt Dramatisierungsattraktion

Öffentliche Diskurse über multiple Krisen werden maßgeblich von Akteur*innen in Medien und Politik geprägt. Unsere Medienlandschaft kann dabei als »High-Choice«-Informationsumgebung beschrieben werden, in der eine Vielzahl an Informationsangeboten um die Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Rezipient*innen konkurrieren (van Aelst et al. 2017). Sowohl politische Akteure als auch Journalist*innen und Medienschaffende unterliegen unter diesen Rahmenbedingungen leicht einer Dramatisierungsattraktion, d.h. die Hervorhebung und Dramatisierung von Bedrohungsszenarien erscheint für die massenmediale Kommunikation attraktiv. Diese Dramatisierungsattraktion hat verschiedene Ursachen, die durch die Logik des politischen und des medialen Systems begünstigt werden.

Für Journalist*innen und Medienschaffende scheint die Emotionalisierung und Dramatisierung von Bedrohungslagen im Kontext einer medialen Aufmerksamkeits­ökonomie unumgänglich (Ciampaglia et al. 2015). Wie bereits dargestellt, ist Bedrohungserleben eng an die Aufmerksamkeitssteuerung von Menschen gekoppelt. Auch wenn die Existenz eines allgemeinen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Informationen empirisch umstritten bleibt, so erhöht das subjektive Bedrohungserleben von Rezipient*innen in vielen Fällen die Aufmerksamkeit gegenüber relevanten Informationen (zum Überblick siehe Jonas et al. 2014). Das Bedrohungserleben verstärkt also die Auswahl und Nutzung bedrohungsbezogener Medien- und Informationsinhalte, was sich in der Medienlogik (gerade heutiger Plattformkapitalisierungen) direkt monetarisieren lässt. Ein anschauliches Beispiel für den Link zwischen Bedrohungserleben und Mediennutzung stellt das Phänomen des »Doom-Scrolling« dar, eine exzessive Form der Mediennutzung als Reaktion auf akutes Bedrohungserleben. Solche Doom-Scrolling Praktiken sind beispielsweise aus der ersten Phase der Covid-19-Pandemie oder den ersten Wochen des russischen Kriegs gegen die Ukraine bekannt: Ausgehend von einem bedrohungsinduzierten Informationsbedürfnis legten viele Menschen ihre Smartphones zeitweise kaum mehr aus der Hand, obwohl die verfügbaren Informationen das Bedrohungserleben immer weiter verstärkten und sich somit eine Art Teufelskreis aus Bedrohungserleben und Informationsbedürfnis bildete.

Aber auch für Parteien und Politiker*­innen ist es in besonderem Maße attraktiv, Bedrohungslagen zu dramatisieren. So sind spezifische Bedrohungsszenarien bzw. deren Abwendung für Parteien identitätsstiftend (bspw. Umweltzerstörung für Bündnis90/Die Grünen, soziale Ungleichheit für Die Linke, »Überfremdung« für die AfD). Die Betonung der entsprechenden Bedrohungspotentiale stärkt nicht nur den Zusammenhalt der Parteibasis, sondern wird auch als Instrument der politischen Mobilisierung genutzt, um eigene Themen auf die mediale Agenda zu setzen.

Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungsattraktion in der Logik politischer und medialer Systeme ist es nicht verwunderlich, dass Bedrohungslagen häufig eine zentrale Rolle in der medialen Krisenkommunikation einnehmen. Im Kontext paralleler Krisen resultieren daraus leicht konkurrierende Bedrohungsdebatten, in denen politische Themen anhand des Bedrohungspotentials unterschiedlicher Entscheidungsoptionen vergleichend diskutiert werden. Ein Beispiel für eine solche Bedrohungsdebatte ist die öffentliche Diskussion über die Nutzung von »Fracking« zur Gewinnung von Erdgas in Deutschland, die vor dem Hintergrund multipler Bedrohungslagen (Energiemangel vs. Umweltzerstörung) geführt wird. Es geht also primär um die Frage, welche Bedrohung stärker wiegt und daher das politische Handeln eher leiten sollte. Aus sozialpsychologischer Perspektive sind solche Bedrohungsdebatten jedoch riskant.

Bedrohungsdebatten verschärfen gesellschaftliche Polarisierung

Eine Vielzahl psychologischer Studien hat den Einfluss des Bedrohungserlebens auf die Bewertung konflikthafter politischer Fragestellungen untersucht. Dabei konnten zwei sehr unterschiedliche Phänomene identifiziert werden. Bedrohungserleben kann je nach Kontext den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken oder auch die Polarisierung innerhalb einer Gesellschaft begünstigen.

Werden Bedrohungslagen gesamtgesellschaftlich einigermaßen konsensuell als solche bewertet, führt dies dazu, dass innergesellschaftliche Konflikte reduziert werden. Dieses Phänomen wird häufig auch als Schulterschluss-Effekt (»rallying-around-the-flag«) bezeichnet und zeigt sich nicht nur bei politischen Parteien (Chowanietz 2010), sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit (Feinstein 2016). Die Gesellschaft rückt also im Angesicht der externen Bedrohung zusammen. So berichten Menschen als Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Bedrohungslagen wie Terror oder Pandemie eine stärker nationale Identifikation (Kuenhanss et al. 2021) oder auch ein stärkeres Vertrauen in die jeweilige Regierung (Kritzinger et al. 2021).

Der umgekehrte Effekt findet sich jedoch dann, wenn Bedrohungslagen innerhalb einer Gesellschaft kontrovers bewertet werden. Nehmen wir die bereits angesprochene Debatte um Fracking. Ein Teil der Gesellschaft bewertet die Bedrohung durch Energiemangel und den damit verbundenen Wohlstandsverslust besonders hoch. Ein anderer Teil der Gesellschaft bewertet die Gefahr der Verschmutzung von Wasser und die damit verbundene Bedrohung durch Umweltzerstörung besonders hoch. Häufig lassen sich solche Bewertungsunterschiede auf Unterschiede in der Gewichtung von Ziel- und Wert­orientierungen zurückführen. Im Kontext konkurrierender politischer Bedrohungsdebatten werden diese Unterschiede und Konflikte herausgearbeitet und gegeneinander gestellt. In diesem Fall ist eine Art sekundäre symbolische Intergruppenbedrohung wahrscheinlich (siehe Hoffarth und Hodson 2016 am Beispiel Klimawandel): Gesellschaftliche Gruppen nehmen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Wert- und Moralvorstellungen wechselseitig als Bedrohung wahr. Eine solche symbolische Intergruppenbedrohung bereitet den Nährboden für eine Polarisierung der Gesellschaft (siehe auch Amira et al. 2021).

Bedrohungsdebatten begünsti­gen Vermeidungsreaktionen

Die psychologische Bedrohungsforschung lehrt uns, dass individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit Bedrohung nicht notwendigerweise konstruktiv sind. Sie zielen primär darauf ab, das Bedrohungserleben zu verringern und somit das subjektive Wohlergehen und die wahrgenommene individuelle Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Eine bedrohungsfokussierte Krisenkommunikation riskiert daher individuelle und soziale Reaktionen, die stärker auf die Vermeidung oder Abmilderung des subjektiven Bedrohungserlebens abzielen als auf die konstruktive Lösung existierender gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen. Im Kontext der Covid-19-Pandemie konnte beispielsweise ein bewusstes Vermeiden bedrohlicher Nachrichteninhalte beobachtet werden. Dieses Phänomen dient erwiesenermaßen der Wiederherstellung des subjektiven Wohlbefindens (Yte-Arnbe und Moe 2021). Gerade im Kontext multipler Krisen ist zu erwarten, dass sich viele Menschen mit der Auswahl konstruktiver Bewältigungsstrategien überfordert fühlen. Je geringer aber die individuellen und kollektiven Selbstwirksamkeitserwartungen (d.h. die Erwartungen, Bedrohungslagen aktiv abwenden zu können), desto attraktiver werden palliative Formen der Bewältigung. Hierzu zählen beispielsweise die stärkere Einbettung in private soziale Strukturen, die Orientierung an religiösen oder spirituellen Überzeugungssystemen, aber auch die Entwicklung einer Sündenbocklogik gegenüber einer spezifischen Gruppe, welcher die Verantwortung für die Bedrohungslage zugeschrieben wird (bspw. im Sinne einer Verschwörungstheorie). Diese palliativen Bewältigungsstrategien dienen der persönlichen oder kollektiven Selbstaufwertung und können das Bedrohungserleben lindern, ohne dabei konkret auf die Bedrohungssituation einzuwirken.

Und nun? Vorschläge für eine konstruktive Wendung

Welche Schlussfolgerungen können aus dieser psychologischen Analyse der aktuellen Krisenkommunikation gezogen werden? Zunächst kann festgehalten werden, dass in medialen Debatten über gesellschaftspolitische Themen die kommunikative Fokussierung auf Bedrohungspotentiale für unterschiedliche Akteursgruppen attraktiv ist. Diese Dramatisierungsattraktion macht es schwierig, entsprechende Diskurse grundsätzlich zu versachlichen oder auf Veränderungen kommunikativer Strategien hinzuwirken. Gleichzeitig muss ebenfalls angenommen werden, dass eine allgemeine Tendenz zur Dramatisierung und Zuspitzung entsprechender Bedrohungsdebatten für die Gesellschaft negative Entwicklungen zur Folge hätte. Neben dem Risiko einer Polarisierung in unversöhnliche gesellschaftliche Extremgruppen ist auch ein erlebter Verlust an individueller und kollektiver Wirkmächtigkeit im Umgang mit Bedrohungslagen zu befürchten. In der Folge werden individuelle Vermeidungsreaktionen (bspw. »news-avoidance«) oder palliative Strategien des Umgangs mit dem Bedrohungserleben wahrscheinlicher und kollektive Anstrengungen einer konstruktiven Problembewältigung dadurch erschwert. Wir haben es also mit einem sozialen Dilemma zu tun, bei dem die Interessen individueller und organisationaler kommunikativer Akteure im Konflikt mit den Interessen der Gemeinschaft stehen.

Ich möchte zwei Ansatzpunkte für eine konstruktive Wendung dieses Dilemmas vorschlagen. Beide Vorschläge resultieren mehr oder weniger direkt aus der vorgenommenen sozialpsychologischen Analyse und zielen darauf ab, individuelle und kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen im Umgang mit Bedrohungslagen zu stärken. Wie kann dies gelingen? Ein erster Ansatzpunkt besteht darin, Bedrohungslagen so zu verstehen und entsprechend zu kommunizieren, dass ein Schulterschluss-Effekt erzielt wird. Es geht also darum, dass Bedrohungslagen in einen positiven Zielzustand übersetzt werden, hinter dem sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung versammeln kann. Dies setzt voraus, dass einzelne Bedrohungslagen nicht durch die Abgrenzung und Konkurrenz zu anderen Bedrohungslagen definiert werden, sondern diese konstruktiv integrieren. So integriert beispielsweise das Ziel langfristig sicherer Lebensbedingungen in Europa sowohl den Schutz vor Umweltkatastrophen als auch vor Krieg und Rezession. Ein echter Schulterschluss-Effekt kann dabei nicht per Dekret („Wir schaffen das!“) erwirkt werden, sondern setzt eine geteilte Zielperspektive voraus.

Ein zweite Möglichkeit der konstruktiven Wendung von Bedrohungsdebatten besteht darin, individuelle und kollektive Möglichkeiten einer effektiven und konstruktiven Bewältigung kommunikativ stärker in den Fokus zu rücken und dadurch Selbstwirksamkeitserwartungen zu stärken. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass wirksame Formen des Handelns identifiziert und kommuniziert werden. Komplexe gesellschaftliche Bedrohungslagen wie Krieg oder Klimawandel sind zwar durch individuelles Handeln schwer zu verändern. Einzelpersonen oder auch soziale Gruppen können durch ihr Handeln aber eine Symbol- und Modellwirkung erzielen. Diese Effekte werden aktuell noch nicht ausreichend gewürdigt und kommunikativ genutzt. Individuelle und kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen können auch dadurch gestärkt werden, dass vergangene Erfolge in der Bewältigung von Problemlagen sichtbar gemacht werden. Solche Erfolgsgeschichten werden in gesellschaftlichen Bedrohungsdebatten häufig nicht angemessen abgebildet und tragen dadurch bislang wenig zur Stärkung von Selbstwirksamkeitserwartungen bei.

Literatur

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Tobias Rothmund ist Professor für Kommunikations- und Medienpsychologie an der Friedrich-Schiller Universität Jena. Er forscht zu psychologischen Perspektiven auf politische Kommunikation im Kontext digitaler Medien.

Ohne OSZE wird es nicht gehen

Ohne OSZE wird es nicht gehen

Zustand, Perzeptionen und Zukunft europäischer Sicherheit

von Simon Weiß

Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine radikale Transformation europäischer Sicherheit eingeleitet. Dieser Krieg kam nicht plötzlich, sondern entsprang den akkumulierten sicherheitspolitischen Widersprüchen, vor allem zwischen den USA und Russland, die zu den verheerenden Ereignissen letztes Jahr geführt haben. Schon jetzt muss das kritische Nachdenken über die Zeit danach beginnen, auch wenn erwartet werden kann, dass die Feindseligkeiten zwischen Russland und der von der NATO unterstützten Ukraine eher zunehmen werden. Welche Rolle wird zukünftig kooperativen und inklusiven Institutionen zukommen?

In einem Punkt sind sich alle Verfahrensbeteiligten in Ost und West aktuell einig: das Ziel, einen Raum ungeteilter Sicherheit kooperativ zu organisieren, ist vorerst gescheitert. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) durchlebt dadurch gerade eine existenzielle Krise. Aufgeben sollte man diese Organisation jedoch auf keinen Fall. Jegliche Transformationszeit ist immer eine Hochzeit für alle möglichen Ordnungsvorschläge auf dem großen Politmarkt der Ideen. Unterm Strich lassen sich die meisten Beiträge des Polit- und Expert*innendiskurses auf die Varianten »Sicherheit mit Russland«, »ohne Russland« und »gegen Russland« herunterbrechen.

Wie auch immer Russlands Krieg gegen die Ukraine enden wird, schon jetzt zeichnen sich Konturen einer veränderten Sicherheitsordnung in Europa ab. Diese Ordnung wird auf Sicht nicht mehr mit oder ohne, sondern in erster Linie gegen Russland organisiert, zumindest solange das Putin-Regime an der Macht bleibt.“ (Schneckener 2022)

Sicherheitswahrnehmungen in Europa

Doch welche Schritte sollten nun für eine neue Sicherheitsordnung gegangen werden? Das Regionalbüro für Internationale Zusammenarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung erkundet mit seiner sicherheitspolitischen Umfragereihe »Security Radar« die Wahrnehmungen von europäischen Bürger*innen (FES 2022a, 2023).1 Solche Umfragen grenzen zumindest für demokratische Systeme den politischen Gestaltungskorridor ein, da ein Regieren ohne Rücksicht auf die Stimmungen in der Bevölkerung nicht lange gutgehen kann. Drei interessante Datenpunkte aus dem diesjährigen »Security Radar« lassen sich zum Thema »Transformation der Sicherheitsordnung« anführen.

1. Divergierende Interessen zwischen den Machtzentren

Wir haben die Menschen danach gefragt, wie sie die Interessen globaler staatlicher Akteure im Verhältnis zueinander einschätzen? Rund 50 % der Befragten in Deutschland und Frankreich sind der Meinung, dass die Interessen der EU und Chinas im Widerspruch zueinander stehen; in Lettland und Polen sind die Anteile mit rund 40 % geringer. Es besteht für die Bürger*innen eine starke Konvergenz zwischen den beiden Akteuren. Ähnlich werden auch chinesische und russische Interessen als weitgehend übereinstimmend betrachtet. Im Gegensatz dazu werden die Interessen der EU und Russlands sowie die Interessen der USA und Russlands weitgehend als gegensätzlich wahrgenommen. Der wahrgenommene Widerspruch zwischen den Interessen der USA und Russlands hat in allen Ländern zugenommen, am stärksten in Deutschland und Polen (um 8 % bzw. 9 % im Vergleich zum Vorjahr). In Bezug auf die Interessen der EU und Russlands ist die Desillusionierung in Deutschland am stärksten ausgeprägt: Während im Jahr 2021 nur 46 % der Befragten der Meinung waren, dass die Interessen Europas und Russlands im Widerspruch zueinander stünden, stieg dieser Anteil im Jahr 2022 auf 60 % an und erreichte damit fast das Niveau der Wahrnehmung in den osteuropäischen Nachbarländern (vgl. Graphik 1).

Grafik Wahrnehmung der Interessenwidersprüche

Graphik 1: Wahrnehmung der Interessenwidersprüche. Quelle: Security Radar 2023, FES.

Insgesamt deutet dies darauf hin, dass zwei Blöcke wahrgenommen werden: die EU und die USA auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen. Diese Blockkonfrontation wird durch den nächsten Punkt, die systematische Entflechtung von Demokratien und Autokratien, ergänzt.

2. Sich von Autokratien abnabeln

Die Ablehnung der Zusammenarbeit mit Russland und die Skepsis gegenüber der Zusammenarbeit mit China spiegeln sich deutlich in den Antworten auf die Fragen zur wirtschaftlichen Abkopplung wider. Überwältigende Mehrheiten (rund 70 %) sind bereit, die Abhängigkeit von Russland zu verringern, auch wenn dies mit Einbußen beim Lebensstandard verbunden wäre. Die Bereitschaft, sich von Russland abzukoppeln, ist in Polen am höchsten (74 %), während die lettischen Befragten vorsichtiger sind (57 %).

Hinsichtlich der Abkopplung von China zeigt sich ein bekanntes Bild, das zwischen Ost und West geteilt ist. Eine überwältigende Mehrheit in Deutschland und Frankreich befürwortet eine Verringerung der Abhängigkeit von China, selbst wenn dies negative Auswirkungen auf den Lebensstandard in ihren Ländern hätte. Die Bereitschaft, sich von China abzukoppeln, ähnelt in Deutschland und Frankreich stark der Bereitschaft, sich von Russland abzukoppeln. In Polen und Lettland sind die Werte niedriger.

Diese Tendenz stimmt aus der Perspektive inklusiver internationaler Organisationen (UNO, OSZE) sehr nachdenklich. Das langjährige Framing der geopolitischen Konflikte zwischen dem Westen und Russland und zwischen den USA und China als »Systemkonflikte« zwischen Demokratien und Autokratien spielt hier sicherlich eine Rolle. Komplementär dazu wird auch dem Krieg in der Ukraine die gleiche systemische Ursache zugeschrieben, am häufigsten sichtbar an der Erklärung: Die demokratische Ukraine verteidigt (auch) den demokratischen Westen und die liberalen Werte.

Mittlerweile entsteht aus dieser Spaltung ein großes westlich-liberales Paradigma, das scheinbar eine Welt mit multiplen Krisen recht einfach zu erklären versucht. Zahlreiche Apologet*innen eines »Neuen Kalten Krieges« schreiben dieser systemischen Aufteilung eine positive Ordnungskraft für das internationale System zu, indem es die Welt in konstruktive und destruktive Akteure einteilt. Die Welt und die Hybridität vieler Regimeformen jenseits west- und nordeuropäischer Demokratien machen dieses Unterfangen für den diplomatisch-operativen Einsatz sogar schädlich.

3. Rolle von internationalen Organisationen

Der Blick aus dem »Security Radar« auf den wahrgenommenen Einfluss internationaler Organisationen zeigt, dass die NATO als Verteidigungsbündnis in Kriegszeiten deutlich an Einfluss in den Augen der Menschen zugelegt hat. Doch das Bild ist komplexer und lässt auch einen Hoffnungsschimmer für die inklusiven Organisationen, UN und OSZE, erkennen.

In allen befragten Ländern wünschten sich die Befragten eine stärkere Rolle der NATO, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Besonders gut schneidet die NATO bei den polnischen Befragten ab, die sich mit 72 % eine Stärkung ihrer Rolle wünschen. Der Zuwachs zum Vorjahr beträgt 13 %. Dies ist ein bemerkenswert hoher Wert im Vergleich zu beispielsweise 45 % in Deutschland. Auffällig ist zudem, dass sich im polnischen Fall der Wunsch nach einer erweiterten Rolle auf alle befragten Organisationen ausdehnt. In geringerem Maße gilt dies auch für Deutschland und Lettland. Frankreich ist das einzige Land, in dem sich die Befragten – überraschenderweise – eine geringere Rolle für die OSZE und die EU wünschen.

Verunsicherung begegnen, Entspannung schaffen

Dieser kleine Einblick in die empirischen Daten aus dem »Security Radar 2023« liefert uns eine Bestätigung dafür, dass die kriegsbedingte Transformation europäischer Sicherheitspolitik bei den Menschen in der EU (in West und Ost) ankommt. Die in den Medien und im politischen Diskurs omnipräsente Konfliktlinie zwischen Demokratien und Autokratien ist ebenfalls in der Wahrnehmung präsent und entwickelt sich über den Zeitverlauf dynamisch. Bei aller Verschärfung dieses Systemgegensatzes spürt man auch die große Verunsicherung in der Bevölkerung und den Wunsch nach sicherheitspolitischer Entspannung, wobei letzteres ungleich verteilt ist in den befragten vier Staaten.2

Angesichts der sichtbaren Euphorie über die Wiederbelebung der NATO aufgrund des russischen Angriffskrieges sollte man nicht außer Acht lassen, dass auch die UN und die OSZE weiter gebraucht werden, weil sie in den Augen der Menschen und einiger Expert*innen etwas leisten, was die NATO und die EU nicht leisten können: Vermittlungen und Verhandlungen.

Sicherheitsstabilisierung in Europa

Vor dem Krieg hörte man häufig auf internationalen Sicherheitskonferenzen folgende Aussage: „Wenn es die OSZE nicht gäbe, müsste man sie jetzt erfinden.“ Das spielte natürlich auch damals auf den schlechten Zustand der Sicherheitsordnung, auf verschwundenes politisches Vertrauen und das im Zerfall befindliche System von Rüstungskontrollverträgen im OSZE-Raum an.

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24.2.2022 ist der ehemals schlechte Zustand europäischer Sicherheit einem katastrophalen Zustand der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen gewichen. Wie angespannt die Situation und wie schwierig der Balanceakt zwischen militärischer Unterstützung für die Ukraine und der Nichtbeteiligung an einem direkten Krieg mit Russland ist, verdeutlicht die Aussage der deutschen Außenministerin Baerbock erst am 24.01.2023 in einer Sitzung des Europarats: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland, nicht gegeneinander. Dieser emotionale »Versprecher« der Außenministerin verdeutlicht, in welch einem Ausnahmezustand die deutsche und europäische Politik seit fast einem Jahr agiert.

Dies hat Auswirkungen auf die Prioritäten der Regierungen und befeuert einen massiven Militarisierungsschub. Das fatale dabei: Genauso wie der Krieg eine anspruchsvolle Logistik braucht, über die aktuell so viel in den politischen Entscheidungszentren und Medien gesprochen wird, so brauchen auch Verhandlungen, die zu Waffenstillständen oder Frieden führen sollen, einen organisierten Prozess und Logistik. Denn es ist klar, dass eine Stabilisierung und somit Verbesserung von Sicherheit mittel- bis langfristig nur in einem regionalen Setting erzielt werden kann. Dafür ist die größte Regionalorganisation der Welt, die OSZE, prädestiniert.

Wie aus den obigen Umfragedaten hervorgeht, haben wir ein gemischtes Bild zur Rolle internationaler Organisationen. Es gibt eine wahrgenommene Einflussverschiebung in Richtung exklusiver Organisationen (Bündnisse und Gemeinschaften), bei gleichzeitigem Wunsch, dass doch die inklusiven Organisationen wenigstens ihrem zweiten »Daseinszweck« entsprechen und zur Konfliktlösung beitragen mögen – wenn schon eine Konfliktverhütung in erster Linie nicht funktioniert hat. Die OSZE ist aber natürlich nur so wirkmächtig, wie es die Teilnehmerstaaten auch zulassen. Aktuell herrscht bei allen direkten und indirekten Kriegsbeteiligten wenig Interesse an konkreten Waffenstillstandsverhandlungen, geschweige denn darüber hinausgehenden Friedensverhandlungen inklusive multilateraler Sicherheitsgarantien, wie das noch kurz nach Ausbruch des Krieges in der Türkei verhandelt wurde.

Nach dem Abbruch dieser ambitionierten, »großen« Verhandlungen zwischen den ukrainischen und russischen Delegationen fanden und finden immerhin noch kleinere Verhandlungen über Gefangenenaustausche und ukrainische Getreideausfuhren statt. Diese werden bisher vor allem von der Türkei und der UN vermittelt durchgeführt. Momentan laufen viele Verhandlungsstränge über den türkischen Präsidenten Erdogan, doch er muss sich dieses Jahr einer Wahl stellen. Je länger der Krieg dauert, desto wichtiger wird es sein, solche Akteure zu ertüchtigen, die aufgrund ihres partnerschaftlichen Verhältnisses zu Moskau überhaupt in der Lage sind, Stabilisierungsinitiativen und Waffenstillstandsverhandlungen auf die bilaterale oder multilaterale Agenda zu setzten. Man sollte nicht nur hierzulande deshalb dringend über eine Erweiterung des bestehenden Vermittlungs- bzw. Verhandlungsrahmens nachdenken.

So könnte man versuchen die OSZE als einen Ort stiller Diplomatie wiederzubeleben oder ihr zumindest politisch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, gerade weil sehr viele Ressourcen auf die NATO und in einen militärischen Sieg der Ukraine gesteckt werden. Die politische Stärkung inklusiver Organisationen wie der UN und OSZE (in denen Russland noch mit der Welt an einem Tisch sitzt) ist wichtig. Trotz aller internationaler Isolationsversuche, trotz des Schmiedens einer breiten Sanktionsfront gegen die russische Wirtschaft und trotz des weltweiten Einkaufs von Waffen für die Ukraine. Es braucht eine Parallelität von sanktionierenden Maßnahmen und Maßnahmen die zur Eingrenzung und späteren Überwindung des Krieges notwendig sind.

Die OSZE retten

„Dennoch gelte es an den Tag nach dem Krieg zu denken. Deshalb sollte man nicht mutwillig Dialogplattformen wie die OSZE, die wir dann brauchen werden, zerstören.“ (ORF 2023) Diese Äußerung des österreichischen Außenministers Schallenberg deutet auf ein vorsichtiges Umdenken hin. Zugleich reicht es nicht, die OSZE in einen Dämmerschlaf zu versetzen, bis man sie irgendwann später wieder braucht. Denn das wird die Organisation nicht überleben. Sie muss stattdessen ihrem Zweck nach politisch aktiviert werden.

Dafür muss die politisierte Blockbildung innerhalb der tagenden Gremien (Forum für Sicherheitskooperation, der Ständige Rat) abgebaut werden. Russland ist nun mal ein teilnehmender Staat und betrachtet diese Organisation, genauso wie die UNO, als ein eigenes, diplomatisches Produkt. Daher wird es trotz massiver Kritik an der eigenen Kriegsführung nicht einfach das Handtuch werfen und von sich aus die Teilnahme in Wien beenden. In diesem Jahr hat Nordmazedonien von Polen den OSZE-Vorsitz übernommen und braucht die Unterstützung aller anderen Teilnehmer der Organisation, um dem politischen Bedeutungsverlust entgegenzutreten.

Folgende Punkte sprechen zusätzlich für eine Aufwertung der OSZE:

  • Die OSZE ist eine Organisation, die in allen Phasen eines Konfliktzyklus nützlich sein kann, sofern die teilnehmenden Staaten es wollen.
  • Alle Kriegs- und Konfliktteilnehmer beschreiten sicherheitspolitisches Neuland ohne historische Präzedenzen. Auch dafür sind Organisationen, die Foren für den Austausch bieten, die richtigen Leitinstru­mente, um politische Entscheidungen aller Beteiligten besser vorzubereiten.
  • Unter den aktuell 57 teilnehmenden Staaten der OSZE finden sich einige Nachbarstaaten Russlands und Chinas, die faktisch dabei helfen können, die abgebrochenen direkten Kontakte nach Russland auszugleichen und generell einen besseren Einblick in die Region zu liefern.
  • Russland wird aufgrund seines vollumfänglichen Krieges in der Ukraine nur noch notdürftig Schadensbegrenzung im Berg-Karabach-Konflikt und an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan leisten. Trotz bekannter Stolpersteine, die eine Konsensorganisation mit sich bringt, können politische Akteure, die an Deeskalation und Konfliktlösung in dieser Region interessiert sind, die jahrzehntelange Expertise der OSZE anfordern.
  • Die OSZE kann Kapazitätenaufbau für Aussöhnungsprozesse in den Nachkriegsgesellschaften ermöglichen, die angesichts der Verbissenheit der Kriegsgegner und der Tiefe der Wunden, über einen längeren Zeitraum benötigt sein werden.
  • Ebenso liegt bei der OSZE der Kapazitätenaufbau für die Beseitigung kriegsbedingter Umweltverschmutzung und für die Minenräumung. Denn größere Teile des Staatsgebiets der Ukraine werden auf Jahre hinaus zu den am stärksten verminten und verwüsteten Regionen der Welt gehören.
  • Das »Conflict Prevention Centre« der OSZE ist seit Beginn des Krieges mit der Ausarbeitung von möglichen Einsatzszenarien in der Ukraine befasst. Mögliche Einsatzszenarien umfassen Missionen ähnlich der zwischen 2014 und 2022 eingesetzten »Special Monitoring Mission« (SMM), die nach Beendigung der Kampfhandlungen durchgeführt werden könnten oder Missionen, die beispielsweise in Assistenz zur IAEA zur Sicherung von Atomkraftwerken im Land arbeiten.
  • Instrumente für militärische Deeskalation müssen nicht neu erfunden werden, es gibt sie bereits schon, sie müssen nur der veränderten Geographie und dem veränderten Grad an Compliance angepasst werden (vgl. OSCE Network 2018; Graef und Thies 2022), angesichts der Tendenz die sogenannte Ostflanke in der NATO zu verstärken.

Empfehlungen

„Kooperative Sicherheit heißt Verhandlungsbereitschaft und in weiterer Konsequenz Interessenausgleich – auch mit Autokratien.“ (Weiß 2021, S. 12) Das war und bleibt, trotz aller verständlichen Betroffenheit mit dem Kriegsleid in der Ukraine, die basale Voraussetzung für eine langfristige und nachhaltige Stabilisierung und Weiterentwicklung der Sicherheit im OSZE-Raum. Erst danach kommen gemeinsame Werte und eine Vergemeinschaftung von Sicherheit, die so nicht einmal in den besten Jahren der KSZE/OSZE bestanden.

Die Stärkung der OSZE und der UNO wäre wichtig, auch aus der Sicht der Menschen. Gerade in Krisenzeiten müssen sich internationale Institutionen bewähren. Die OSZE hat in punkto ihrer Krisenreaktionsfähigkeit mit den Erfahrungen der speziellen Beobachtungsmission in der Ukraine einen großen Sprung gemacht und stünde bereit, um während oder nach Beendigung der Kampfhandlungen auf unterschiedliche Art in dem Konflikt vermittelnd tätig zu sein.

Angesichts der ihr von allen Konflikt- und Kriegsparteien zugeschriebenen Schicksalshaftigkeit der aktuellen Auseinandersetzung in der Ukraine, ist die politische Fallhöhe für alle Beteiligten sehr hoch. Gerade deswegen sollten populäre »Frames« eher vorsichtig verwendet werden: Bei all der guten Binnenwirkung in der Betonung der Vorzüge von demokratischen Systemen gegenüber autokratischen Systemen sollte man nicht vergessen, dass ein Großteil der internationalen Beziehungen im Verkehr von Staaten mit unterschiedlicher Regimequalität besteht. Die Akzentuierung des Systemgegensatzes war Gift für das Ideal kooperativer Sicherheit, ist Gift für die Schadensbegrenzung während des Krieges und wird Gift für eine Stabilisierung von Sicherheit sein.

Die Chancen dafür, nach dem Krieg ein pro-westliches Russland zu bekommen, das sich gar »dekolonisiert« und dadurch verkleinert und für seine Nachbarn ungefährlich(er) wird, sind sehr gering. Es wird ziemlich sicher weiterhin ein Staat mit Atomwaffen, nationalen Sicherheitsinteressen und höchstwahrscheinlich mit einem zentralisierten Entscheidungs- und Sicherheitsapparat bleiben.

Die kritischen Stimmen aus dem Globalen Süden, insbesondere aus Lateinamerika und Afrika, die die westliche Klassifikation des russischen Angriffskrieges in der Ukraine infrage stellen, fungieren im guten Sinne als ein Realitätscheck, welchen man nicht als Ergebnis russischer Propaganda abtun sollte. Die Regierungen der BRICS-Staaten teilen weder die Singularität des Verbrechens, die wir dem russischen Völkerrechtsbruch zuweisen, noch teilen sie unsere gängige Prozessanalyse, die für den Ausbruch des Krieges verantwortlich zeichnet (vgl. u.a. Cocks 2022).

Aktuell und auf absehbare Zeit werden wir in einem konfrontativen Modus der Aufrechterhaltung von Sicherheit leben. Damit diese Phase nicht allzu lange dauert, da mit ihr Gefahren unbeabsichtigter Eskalation verbunden sind, werden wir so dringend wie möglich eine sicherheitspolitische Stabilisierung in der NATO-Russland-Kontaktzone brauchen. Es wäre fatal, sich auf eine vermeintlich stabile, konfrontative Ordnung in Analogie zum Kalten Krieg zu verlassen. Die als »existentiell« markierte Form, die Intensität und die geographische Nähe des Konfliktaustrags bedürfen daher eines feinen Austarierens westlicher Politik vis-à-vis Russland: Zwischen politisch-militärischer Schadensbegrenzung und der Aufrechterhaltung diplomatischer Kommunikationskanäle (UN, OSZE, direkter »Draht« zwischen Washington und Moskau) auf der einen Seite und der Beibehaltung eines prinzipienbasierten Eintretens für die territoriale Integrität der Ukraine auf der anderen Seite.

Zusätzlich dazu ist die Notwendigkeit zur – zumindest themenbezogenen – Kooperation weiterhin erforderlich, um globale Herausforderungen wie Klimawandel und Terrorismus anzugehen. Erst nach einer solchen Stabilisierung der Sicherheit wird man, sofern der politische Wille vorhanden sein sollte, über Idealvorstellungen kooperativer Sicherheit reden können.

Dieser Beitrag gibt nur die persönliche Meinung des Autors wieder und ist keine offizielle Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Anmerkungen

1) Für den »Security Radar 2023« wurden Bürger*innen aus vier EU-Staaten (Deutschland, Frankreich, Lettland und Polen) befragt und vergleichend ausgewertet.

2) Zur Kompromissbereitschaft zur Beendigung des Krieges in der Ukraine siehe FES 2022b, S. 9.

Literatur

Schneckener, U. (2022): Wie sieht künftig Europas Sicherheitsordnung aus? Frankfurter Rundschau, 18.07.2022.

FES (2023): Security Radar 2023. Zeitenwende for Europe. Public perceptions before and after Russia’s invasion of Ukraine. Wien, 18.2.2023.

FES (2022a): Security Radar 2022. Navigating the disarray of European security. Wien, 10.3.2022.

FES (2022b): Mind the red line. Limits of European engagement in Russia’s war against Ukraine. Security Radar Perspective. Wien, Dezember 2022.

ORF (2023): Schallenberg: Keine engen Beziehungen mehr mit Russland. Agenturmeldung, 28.1.2023.

OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions (2018): Reducing the risks of conventional deterrence. Arms Control in the NATO-Russia Contact Zones. Wien, Dezember 2018.

Graef, A., Thies, T. (2022): Lessons from the past: Arms control in uncooperative times. Global Security Policy Brief. European Leadership Network, Dezember 2022.

Cocks, T. (2022): South Africa’s Ramaphosa blames NATO for Russia’s war in Ukraine. Reuters, 18.3.2022.

Weiß, S. (2021): Aktuelle Chancen für Entspannung. Studienergebnisse der »Initiative für kooperative Sicherheit«. In: Dienes et al. (ebd.): Mehr »Gemeinsame Sicherheit« wagen. Neue Impulse zur Entspannung für eine hochgerüstete Welt. Dossier 92, W&F 2/2021, S. 12-14.

Simon Weiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei FES ROCPE in Wien und beschäftigt sich mit Sicherheitspolitik im OSZE-Raum, Konflikten im post-sowjetischen Raum und Fragen der Rüstungskontrolle in Europa.

Für wen oder was schreiben sie?

Für wen oder was schreiben sie?

Die Unzugänglichkeit der Friedensforschung

von Primitivo III Cabanes Ragandang

Wenn wir über die aktive Friedensforschung im Feld schreiben, wozu dient dies? Welchen Wert hat es für die Gemeinschaft(en), die unter der Abwesenheit von Frieden leiden? Schreiben wir für die reine Wissensproduktion? Welchen Nutzen können Gemeinschaften aus unseren Schriften ziehen? Diesen Fragen geht der vorliegende Artikel aus der Perspektive eines Friedensforschers nach, der sich in der Gemeinschaft engagiert und zum Wissenschaftler geworden ist.

Bevor ich mich der akademischen Welt zuwandte, arbeitete ich in Vollzeit in einer von Jugendlichen geleiteten gemeinnützigen Organisation, die sich für die Gewaltprävention in Mindanao auf den Philippinen einsetzt. Mindanao wird als die Heimat des zweit­ältesten Konflikts der Welt bezeichnet, eines Konfliktes, der sich um das Streben der islamisierten Moro-Stämme nach Selbstbestimmung dreht. Mein Interesse an der Friedensarbeit begann bereits während des Studiums, als ich mich in außerschulischen Friedensinitiativen engagierte, Hilfsgüter für die Evakuierten sammelte und Sitzungen zur Traumaheilung mit Jugendlichen und Kindern durchführte. Als Praktiker verstand ich die Friedensarbeit als ein direktes Engagement für die Gemeinschaft, insbesondere für diejenigen, die von langwierigen Konflikten betroffen sind.

Eines Tages sagte mir mein ehemaliger Professor, ich solle Zeit finden, um einen Master-Abschluss zu machen, denn „die Leute hören mehr auf Akademiker*innen als auf Praktiker*innen“. Später schloss ich einen Aufbaustudiengang ab und fand eine Stelle im akademischen Bereich, wo ich in Vollzeit als Assistenzprofessor in der Abteilung für Politikwissenschaften tätig bin. Da ich von einer Universität in Mindanao komme, folge ich einer Erkenntnisweise, die besagt, dass Friedens»forschung« genauso wichtig ist wie die Friedens»arbeit« in der Praxis mit der Gemeinschaft. Es ist für mich zu einer eingeprägten erkenntnistheoretischen Haltung geworden, die dem ähnelt, was Furlong und Marsh (2002) als „Haut, nicht Pullover“ beschrieben haben. Selbst in meiner neuen Rolle in der Wissenschaft ist diese erkenntnistheoretische Einstellung wie eine Haut, die sich nur schwer abstreifen lässt, da sie sich durch jahrelanges Friedensengagement vor Ort entwickelt hat.

Nach drei Jahren im akademischen Bereich erhielt ich ein Promotionsstipendium in Australien. Auf einer akademischen Konferenz, auf der ich meine Forschung als Friedenspraktiker vorstellte, wurde mir gesagt, ich solle in der Wissenschaft nicht zwei Hüte gleichzeitig tragen. Denn in der Wissenschaft zu sein bedeute, den Hut der Praktiker*in zurückzulassen. Ich wurde auch gebeten, von normativ geprägten Forschungsfragen abzusehen und einen Mittelweg in der Auseinandersetzung mit Theorien beizubehalten, was bedeutet, dass ich mich selbst nicht in meine Analyse einbeziehen sollte. Es fiel mir schwer zu verstehen, dass es 17 Revisionen meiner Forschungsfragen für meine Dissertation brauchte, bevor sie akademisch akzeptabel wurden. Dies war ein Wendepunkt für mich. Mir wurde klar, dass Wissenschaftler*innen leicht Zugang zum Feld der Praktiker*innen haben, um Daten zu sammeln, während es für einen Praktiker schwierig ist, Zugang zum Feld der Wissenschaftler*innen zu bekommen.

Bloße Beschreibung der Gemeinschaft, keine Intervention

In meiner Diplomarbeit im Grundstudium untersuchte ich einen indigenen Stamm im Hinterland in Nord-Mindanao. Nach den Interviews schenkte ich den Teilnehmer*innen Salz, getrockneten Fisch, einige alte Jeans und Hemden sowie Nudeln. Das war meine Art, mich bei ihnen zu bedanken, eine Praxis, die ich bei meiner Arbeit in einer gemeinnützigen Organisation gelernt hatte. Später erfuhr ich auf einer Reihe internationaler Konferenzen, dass das Geben von Geschenken an die Teilnehmer*innen als problematische Praxis angesehen wird, die gewisse ethische Dilemmata birgt (siehe Collins et al. 2017; Head 2009). Diese Ansicht war für mich jedoch rätselhaft. Warum sollten wir der Gemeinschaft, zu der wir vor der Datenerhebung eine Beziehung aufgebaut und die erforderlichen Rituale eingehalten haben, keine Geschenke machen? Wenn das Geben von Geschenken möglicherweise die Antworten der Teilnehmer*innen verändert, wie authentisch sind wir dann beim Aufbau einer Beziehung zu der Gemeinschaft, zu der wir Zugang haben?

Die Praktiker*innen bringen die Erfahrungen, die sie in der Praxis gesammelt haben, in das akademische Umfeld ein. Eine jahrzehntelange Erfahrung vor Ort ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Vorteil in der akademischen Welt. Vielmehr ist es für den*die Praktiker*in eine Herausforderung, sich an die wissenschaftlichen Standards anzupassen, die es oft erfordern, den Hut des*der Praktiker*in abzulegen. So ist beispielsweise die strategische Fallauswahl eine methodische Angelegenheit, da das Versäumnis, den ausgewählten Fall zu begründen, ein Grund für eine Verzerrung der Auswahl sein kann. Für eine*n Praktiker*in stellt sich die Frage der Voreingenommenheit nicht, wenn er*sie seinen*ihren eigenen Hinterhof untersucht, vor allem, wenn er*sie auf den Nutzen für die Gemeinschaft abzielt.

Die Praktiker*innen (und die Gemeinschaften, in denen sie tätig sind) werden zu Versuchstieren, deren Aktionen und Reaktionen bei der Arbeit vor Ort von den Wissenschaftler*innen beobachtet, interpretiert und diskutiert werden. Es gibt also eine Durchlässigkeit in der Welt der Praktiker*innen, aber kaum eine Durchlässigkeit auf der anderen Seite des Kontinuums.

Spivak (2004) beschrieb diese Form des Beobachtetwerdens als die Produktion einer zeitgenössischen Form der Subalternität: eine Umwandlung der Subalternität in eine Eigenschaft. Wissenschaftler*innen begeben sich ins Feld, holen als ethische Voraussetzung die Zustimmung ein, führen Interviews, kodieren Daten und veröffentlichen Ergebnisse, die auf ihrer Interpretation beruhen. Die Interpretation wird fortgesetzt, da die Wissenschaftler*innen eher dazu neigen, zu debattieren, als sich mit dem Problem zu befassen, von dem sie vor Ort erfahren haben. In diesem Fall werden die Gemeinschaft und der*die Praktiker*in zu einer Eigenschaft, auf die sich die Wissenschaft stützt, um Daten und Textinhalte zu produzieren. Die Beziehungen, die der*die Wissenschaftler*in während der Datenerhebung in der Gemeinschaft aufbaut, haben keinen greifbaren Nutzen für den Ort, an dem die Beziehungen aufgebaut werden. Dies steht im Einklang mit dem Argument von Todd (2016), dass in der Wissenschaft zwar Wissen geschaffen, legitimiert und reproduziert wird, dass es aber auch diese akademischen Strukturen sind, die die Verwirklichung von transformativen Zielen verhindern. In der Tat wird die Gemeinschaft manchmal gewarnt, keine Hilfe von einem Forschungsengagement zu erwarten, da es nicht in erster Linie darauf abziele, ihre Situation zu verbessern. Es dient nur zu Forschungszwecken.

Implikationen dieser Diskrepanz

Diese Herangehensweise und akademische Tradition der Wissensproduktion ist eine generationenübergreifend sedimentierte, tief verwurzelte Kultur. Sie lässt den Wissenschaftler*innen kaum Raum für eine direkte Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft. Die Starrheit dieser Tradition bleibt selbst dann bestehen, wenn dringende Probleme nicht aus der Ferne, sondern direkt vor der Haustür der Hochschulen und der umliegenden Gemeinschaften auftreten. Wenn diese Kultur in Frage gestellt wird, verteidigt sie sich mit dem Begriff der »Forschungsfreiheit«. Da die Kultur stärker ist als die Politik, wird ein bloßes Memorandum der Universität diese Kultur nicht ändern. Es wird Zeit brauchen, dies zu ändern, und der Globale Süden sollte die Führung übernehmen, wie es einige bereits getan haben.

Wenn wissenschaftliche Arbeiten hauptsächlich im Hinblick auf die Bedürfnisse und Ziele der politischen Entscheidungsträger*innen verfasst werden, bedeutet dies, dass wir die Hilfe bürokratisieren und unsere guten Absichten aufschieben, der Gemeinschaft helfen zu wollen. Ausgehend von den Rohdaten interpretieren die Wissenschaftler*innen diese und verfassen Ergebnisse, die dann von den politischen Entscheidungsträger*innen neu interpretiert und als Grundlage für die Ausarbeitung von Interventionsprogrammen verwendet werden. Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Programme dann die Gemeinschaft(en) erreichen, gibt es bereits eine nicht unerhebliche Interpretationslücke gegenüber der Zeit und der Bedeutung, als die Rohdaten von der Gemeinschaft gesammelt wurden. Dies führt zu Interventionsprogrammen, die manchmal nicht unbedingt den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Um solche prozessverzögerten Interventionen anzugehen, können die Wissenschaft und die Wissenschaftler*innen selbst den Rahmen dafür ändern, wie der aktuelle Prozess der Wissensproduktion aussieht und welche Rolle er bei der Herbeiführung eines progressiven Wandels in den Gemeinschaften spielen kann.

Da gesellschaftliche Probleme direkt vor der Haustür der Wissenschaftler*innen auftreten können, bedeutet dies, dass es eine moralische Verpflichtung ist, auf sie zu reagieren, und dies die dringende Aufmerksamkeit der Forscher*innen erfordert. In diesem Fall ist es angebracht, dass die Wissenschaftler*innen bei ihrer Friedensforschung stets die Gemeinschaft im Auge behalten. Natürlich ist die theoretische Forschung ebenso wichtig, aber ich behaupte, dass der Einsatz unserer wissenschaftlichen Arbeit zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mindestens ebenso wichtig ist. Es ist wichtig, am Ende eines jeden wissenschaftlichen Artikels einen Abschnitt mit Vorschlägen für eine Aktionsagenda zu geben, anstatt mit Argumenten zu enden, die die Punkte akademischer Debatten wiederholen. Eine solche Aktionsagenda sollte jedoch die Ansichten der Gemeinschaft einbeziehen und nicht nur die Ansichten der Forscher*innen.

Romantisierung des Wissenschaft-Aktivismus-Nexus?

In diesem Beitrag soll der »Vorteil« von Friedenspraktiker*innen beim Zutritt zur Friedensforschung (und zur akademischen Welt im Allgemeinen) nicht romantisiert werden. Ich erkenne die Herausforderung an, zwei Herren gleichzeitig zu dienen, und die potenziellen Risiken, wenn Wissenschaft und Aktivismus zusammenkommen. Zu diesen Risiken gehört, dass man zu sehr mit Forschung, Lehre und aktivistischer Arbeit beschäftigt ist, die zu den administrativen Aufgaben hinzukommen, die ein*e Akademiker*in normalerweise auch noch wahrnimmt. Letztendlich kann dies zu gesundheitlichen Risiken durch Burnout und zu zu wenig Ruhezeiten führen. Für einen Akademiker aus dem Globalen Süden, der in einem Konfliktgebiet lebt, ist dies eine noch größere Herausforderung, wenn die strukturelle Unterstützung geringer und die familiären Verpflichtungen größer sind.

Ich behaupte jedoch, dass im Zusammenhang mit der Hilfe für notleidende Gemeinschaften die Vorteile diese Risiken überwiegen. Die Verbindung von Wissenschaft und Aktivismus bietet uns eine neue Sichtweise und ein neues Instrumentarium zur Nutzung der Forschung, um Gemeinschaften in (Post-)Konfliktsituationen zu helfen (siehe Bracamonte, Boza und Poblete 2011; Ragandang 2020). Die Kombination beider Ansätze ist wirkungsvoller, als den einen über den anderen zu stellen. Mein Hauptargument ist, dass wir einen Paradigmenwechsel bei der Herangehensweise an die Forschung brauchen: weg von der reinen Wissensproduktion, hin zu einer Forschung, die mit einem proaktiven Engagement für die Gemeinschaft verbunden ist. Die Einbindung in die Gemeinschaft ist eine moralische Verpflichtung, die sicherstellt, dass die Disziplin auch in Zukunft für diejenigen Sinn ergibt, die am Rande der akademischen Türme stehen.

Solche Erwartungen gelten insbesondere für die Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus den (Post-)Konfliktkontexten des Globalen Südens: Wir sind in einer strategischen Position, um die Geschichte zu erzählen und die Sichtweise für die Menschen im Globalen Norden und darüber hinaus zu beschreiben. Wir sehen die Situation aus erster Hand oder leben mit der (Gewalt-)Situation, die wir in unserem täglichen Leben zu bewältigen versuchen.

Während ich diesen Artikel schreibe, flüstert der Subalterne in mir, dass ich nicht zu provokante Argumente nutzen sollte, die den Status Quo in Frage stellen. Das ist ein Tabu, vor dem mich meine Großmutter und unsere Kultur gewarnt haben. Aber ich denke, genau das ist der Zweck dieses Artikels (siehe Ragandang 2022) – also hoffe ich, dass mein subalternes Ich mich jetzt beruhigen wird. Angesichts der drängenden Probleme, mit denen (Post-)Konfliktgesellschaften konfrontiert sind, müssen Friedensforscher*innen ihre derzeitige Rolle in der Wissensproduktion unbedingt neu konfigurieren, damit ihre Präsenz für die Gemeinschaft einen Sinn ergibt. Wird diese Rolle nicht überdacht, vergrößert sich die Kluft zwischen Friedenspraktiker*innen und Friedenswissenschaftler*innen. Außerdem wird sich dann immer wieder die Frage stellen: „Für wen oder was schreiben sie denn?“

Literatur

Bracamonte, N. L.; Boza, A. S.; Poblete, T. O. (2011): From the seas to the streets: The Bajau in diaspora in the Philippines. International Proceedings of Economics Development and Research 20 (2011), S. 287-291.

Collins, A. B. et al. (2017): “We’re giving you something so we get something in return”: Perspectives on research participation and compensation among people living with HIV who use drugs. International Journal of Drug Policy 39, S. 92-98.

Head, E. (2009): The ethics and implications of paying participants in qualitative research. International Journal of Social Research Methodology 12(4), S. 335-344.

Marsh, D.; Furlong, P. (2002): A skin, not a sweater: ontology and epistemology in political science. In: Marsh, D.; Stoker, G. (Hrsg.): Theory and Methods in Political Science. Cham: Palgrave Macmillan, S. 17-41.

Ragandang, P. (2020): Youth as conflict managers. Peacebuilding of two youth-led non-profit organizations in Mindanao. Conflict Studies Quarterly 30, S. 87-106.

Ragandang, P. (2022): What are they writing for? Peace research as an impermeable metropole. Peacebuilding 10(3), S. 265-277.

Spivak, G. (2004): The trajectory of the subaltern in my work. Video, University of California Television, 8.2.2004.

Todd, Z. (2016): An indigenous feminist‘s take on the ontological turn:‘Ontology’ is just another word for colonialism. Journal of Historical Sociology 29(1), S. 4-22.

Primitivo III Cabanes Ragandang ist Doktorand an der Australian National University und erforscht die Rolle des kollektiven Gedächtnisses bei der Entstehung von generationenübergreifender Resilienz. Er ist der Gründer des »BHOLI Youth Centre« auf den Philippinen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Wenn Hilfe zu Konflikten führt

Wenn Hilfe zu Konflikten führt

Auswirkungen des Krieges in der Ukraine in deutschen Kommunen

von Kathrin Buddendieck und Lena Heuer

Nach Beginn des Kriegs in der Ukraine wurden auf allen Ebenen in einer beispiellosen Schnelligkeit und Entschlossenheit Maßnahmen umgesetzt, um ukrainische Geflüchtete in Deutschland zu unterstützen. Doch Hilfsmaßnahmen wie diese können unbeabsichtigte Auswirkungen auf bestehende Konflikte haben. Vor dem Hintergrund der Arbeit der Autor*innen im K3B – Kompetenzzentrum Kommunale Konfliktberatung des VFB Salzwedel e.V.1 werden in diesem Beitrag mögliche Konfliktdynamiken auf kommunaler Ebene erläutert und Potenziale skizziert, die durch eine konfliktsensible Gestaltung von Hilfsmaßnahmen und eine konstruktive Bearbeitung der Konflikte entstehen.

Anfang März dieses Jahres aktivierte die Europäische Union (EU) erstmalig die sogenannte EU-Massenzustrom-Richtlinie. Infolgedessen können sich Geflüchtete mit ukrainischem Pass frei in Europa bewegen, sie erhalten einen sicheren Aufenthaltsstatus für bis zu drei Jahre sowie eine Arbeitserlaubnis, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Rund 870.000 Geflüchtete wurden in den ersten vier Monaten seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im deutschen Ausländerzentralregister registriert (Mediendienst Integration 2022)2. Innerhalb kürzester Zeit wurden Wohnraum, Kita- und Schulplätze, Sprachkurse und weitere Integrationsangebote in den Kommunen geschaffen. Eine große Solidarität in der Bevölkerung sorgte für viel Hilfsbereitschaft, die sich unter anderem in der Aufnahme vieler Menschen in privaten Haushalten sowie in Geld-, Kleidungs- und Lebensmittelspenden und ehrenamtlichem Engagement ausdrückte. Doch all diese Hilfe kommt auch nicht ohne Konflikte – vor allem auf kommunaler Ebene. Eine Sensibilität für die Konfliktpotenziale bei der Implementierung von Maßnahmen wie diesen kann tiefgreifenden negativen Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben vorbeugen und die positiven Wirkungen verstärken.

Unser Beitrag analysiert die Maßnahmen und Unterstützungsleistungen mit dem aus der internationalen Friedens- und Entwicklungszusammenarbeit bekannten Do-No-Harm-Ansatz (dt.: »Richte keinen Schaden an«, Anderson 1999) als Rahmen. Er dient als Werkzeug für eine konfliktsensible Analyse, Planung und Gestaltung von Interventionen und zeigt auf, wie unbeabsichtigten (negativen) Wirkungen von Maßnahmen auf lokale Konfliktdynamiken vorgebeugt werden kann, beziehungsweise wie die Maßnahmen eine Konfliktbearbeitung unterstützen können. Dabei bietet der Blick auf Konflikte und die Sensibilität für deren Potenziale, wie nachfolgend beschrieben, die Chance für alle Beteiligten, bestehende Missstände zu erkennen und zu verändern.

Konkurrenz um (vermeintlich) knappe Ressourcen

Die Wahrnehmung einer gemeinsamen Bedrohung oder Herausforderung kann zu Solidarität und einem »Zusammenrücken« in einer Gesellschaft führen. Dabei werden zusätzliche Ressourcen mobilisiert, um die gemeinsame Krise zu bewältigen. Dieses Phänomen konnte auch beim Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und der Ankunft von ukrainischen Geflüchteten in Deutschland beobachtet werden. Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat haben auf allen Ebenen in einem beispiellosen Ausmaß Ressourcen eingebracht, um ukrainische Geflüchtete zu unterstützen.

Eine solche Mobilisierung und (Um-)Verteilung von Ressourcen kann aber auch existierende Spannungen verschärfen oder neue entstehen lassen. Kommt in gesellschaftlichen Gruppen z.B. der Eindruck auf, Ressourcen würden nun ungleicher verteilt beziehungsweise der eigene Zugang aufgrund der neu angekommenen Gruppe verschlechtert, entstehen gerade vor Ort, also auf kommunaler Ebene, Konfliktpotenziale. In der aktuellen Situation zeigen sich solche z.B. mit Blick auf die Verteilung der knappen Güter Wohnraum sowie Kita- und Schulplätze, aber auch die personelle Unterstützung von Seiten der Kommunalverwaltung.

Konkret: Kommunen standen Anfang des Jahres vor der Herausforderung, in kürzester Zeit Unterkünfte für die ankommenden ukrainischen Geflüchteten bereitzustellen. In manchen Orten wurden die Geflüchteten, die bisher in den Gemeinschaftsunterkünften lebten, zum Auszug aufgefordert oder in andere Unterkünfte verlegt, um Platz für die Neuankommenden zu schaffen. Betroffene verloren dadurch ihre sozialen Netzwerke; es sind Fälle bekannt, bei denen auch der Verlust des Arbeitsplatzes mit einem solch erzwungenen Umzug verbunden war (vgl. z.B. von Hardenberg 2022). Manche dieser nun verlegten Geflüchteten hätten zwar bereits das Recht gehabt, in eine eigene Wohnung zu ziehen, konnten dies aber aufgrund des Wohnungsmangels und weit verbreiteter Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt nicht umsetzen. Seitens eines Sozialamts wurde uns berichtet, dass Wohnungseigentümer*innen ihre Mietwohnungen der Kommune „nur für Ukrainer*innen“ zur Verfügung stellen wollten, weshalb die Stadt befürchtete, den Wohnraum zur Nutzung zu verlieren, wenn sie diesem Anspruch nicht nachkommen würde. Dieses Risiko wird in der Wahrnehmung durch kommunale Akteure umso bedeutender, steigen doch die Spannungen auf dem Wohnungsmarkt ganz unabhängig: Der soziale Wohnungsbau kommt nicht entsprechend voran, Baumaterialien sind knapp und steigende Preise und Kreditkosten tun ihr Übriges dazu (ZEIT Online 2022).

Ähnlich verhält es sich mit dem Zugang zu Schulen und Kitas. Während einerseits mancherorts auf sehr kreative Weise eine schnelle und unbürokratische Aufnahme von ukrainischen Kindern in Schulen und Kindergärten ermöglicht wurde, ist andererseits seit Jahren und auch durch die Covid-19-Pandemie zunehmend das System, insbesondere das Personal, überlastet. Die Hilfsmaßnahmen für die Einen laufen Gefahr, den Eindruck der Ungleichbehandlung und der Konkurrenz bei den Anderen zu verstärken. Ein Sozialdezernent einer ländlichen Kommune erzählte uns: Wie soll ich den Eltern, deren Kindern seit Jahren auf einen Schulplatz in der Nähe warten und die stattdessen lange Wege mit dem Schulbus fahren, erklären, dass diese Schule nun für ukrainische Kinder geöffnet wird?“

Die Situation bringt auch eine zusätzliche Belastung der Kommunalverwaltung mit sich und die Personalressourcen sind auch dort knapp. Infolgedessen wächst bei nicht-ukrainischen Geflüchteten die Sorge, dass sie gegenüber den Neuankommenden zurückgestellt werden beziehungsweise ihre Anliegen langsamer bearbeitet werden. Längere Wartezeiten auf Termine bei Ämtern bedeutet konkret für manche eine Verlängerung ihrer ohnehin prekären Lebenssituation, wie z.B. das weitere Warten auf Familiennachzug.

Implizite Botschaften und mediale Verstärkung

Die Art und Weise wie Hilfsmaßnahmen gestaltet werden wirkt sich nicht nur auf den Zugang zu Ressourcen aus, sondern sendet auch implizite Botschaften. Ukrainer*innen erfahren durch die Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie besonderen Schutz und Freiheiten. Gleichzeitig bemühen sich Staat, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur sowie Wirtschaftsunternehmen, ihnen die Ankunft in Deutschland so leicht wie möglich zu gestalten, indem sie freien Eintritt in Museen und kulturelle Einrichtungen sowie mancherorts die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ermöglichen. Außerdem erhalten ukrainische Geflüchtete seit dem 01. Juni 2022 Zugang zu Sozialleistungen nach SGB II und XII und damit zu umfassenden Gesundheitsleistungen nach dem GKV-Leistungskatalog.

All diesen Maßnahmen ist gemein, dass sie in der Regel ausschließlich für Geflüchtete mit ukrainischem Pass gelten. Diese Ungleichbehandlungen von Kriegsgeflüchteten senden implizite Botschaften über die unterschiedliche Wertigkeit von Menschen. Sie reproduzieren rassistische und kulturalistische Ansichten und führen zu einer weiteren Ausgrenzung und Marginalisierung von nicht-ukrainischen Geflüchteten. Dies passiert, wie oben beschrieben, einerseits durch die ungleiche Vergabe von wichtigen Ressourcen und Rechten, die Geflüchteten eine Teilhabe und Integration in der Aufnahmegesellschaft erlauben. Durch die einseitigen Maßnahmen entsteht andererseits bei den nicht-ukrainischen Geflüchteten der Eindruck, dass sie nicht willkommen und ihre Bedürfnisse weniger wichtig seien. Eine Folge dieser Diskriminierungserfahrung kann beispielsweise sein, dass diese geflüchteten Menschen noch mehr den Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft vermeiden und sich in parallele Strukturen zurückziehen, möglicherweise aber auch, dass sie ihre Rechte, Teilhabe und Anerkennung einfordern.

Konfliktpotenziale für die Gesellschaft entstehen zudem auch durch Kommunikation und Medienberichterstattung über Maßnahmen und Hilfen. Das gilt erst recht, wenn es sich um Gerüchte und Falschinformationen handelt. Beobachten ließ sich dies beispielsweise bei der Meldung aus dem Mai 2022: „Ukrainer*innen dürften ohne Abitur in Deutschland studieren“ (Thust 2022). Die tatsächliche Entscheidung der Kultusministerkonferenz war um einiges komplexer als diese vereinfachende Meldung. Der Eindruck der Ungleichbehandlung bei anderen Personen, die ein Studium anstreben, wurde dadurch allerdings verstärkt.

Konfliktsensibilität: Chancen und Potenziale

Hilfsmaßnahmen sollten daher dringend konfliktsensibel gestaltet und bereits umgesetzte Maßnahmen entsprechend angepasst werden, um solch unbeabsichtigte und unnötige Konfliktverstärkung auf materieller, symbolischer und kommunikativer Ebene zu verhindern. Für Politik und Zivilgesellschaft gilt es, sich offen für die gleiche Behandlung von allen Menschen einzusetzen und eine klare Haltung für Gleichberechtigung zu beziehen. Dies ist in der aktuellen Situation beispielsweise bei der Verteilung von Wohnraum zentral. Hier gilt es bei der Gestaltung von Hilfsmaßnahmen die Bedarfe aller betroffenen Gruppen zu berücksichtigen und so zu vermeiden, dass am Wohnungsmarkt benachteiligte Gruppen auch noch gegeneinander ausgespielt werden.

Für eine erfolgreiche und nachhaltige Bearbeitung von bereits vorhandenen Konflikten ist es allerdings auch erforderlich, existierende Machtasymmetrien zwischen den beteiligten Gruppen zu erkennen. Bearbeitungsprozesse sollten daher inklusiv gestaltet werden, sodass jede der am Konflikt beteiligten und vom Konflikt betroffenen Gruppen ihre Perspektiven, Interessen und Bedürfnisse einbringen kann. Das bedeutet auch, dass Gruppen, die Unterdrückung und Diskriminierung erfahren, einen besonderen Bedarf an Unterstützung haben, um an Prozessen zur Konfliktbearbeitung teilhaben zu können. Dies ist keine unerhebliche Feststellung, wenn mit Blick auf die in diesem Beitrag angerissenen Konfliktdimensionen erklärt werden muss: die vorhandenen personellen, institutionellen und finanziellen Ressourcen der zuständigen Kommunen werden mit Sicherheit für die Bearbeitung solcher Herausforderungen nicht ausreichen.

Unseres Erachtens stecken jedoch in der Zurkenntnisnahme der aufkommenden und sich vermutlich noch verstärkenden Konflikte auch Chancen: Verdeckte gesellschaftliche Missstände werden offensichtlich, bestehende Ungleichbehandlung in der Gesellschaft transparent. Eine konstruktive, konfliktsensible Bearbeitung der Konflikte kann Veränderungsprozesse grundsätzlicherer Art ermöglichen, aktivierend wirken und zu mehr Teilhabe, Gleichheit und Anerkennung führen.

In der Mobilisierung von zusätzlichen Mitteln für Geflüchtete sowie dem Sichtbarwerden von Ungleichheiten liegt dann auch eine Chance für positive Veränderung. Oder, mit den Worten eines Geflüchteten aus Syrien, mit dem wir im Vorfeld sprachen: „Die Hoffnung, dass sich zukünftig etwas für Alle ändern kann“.

Anmerkungen

1) Das K3B berät Gemeinden, Städten und Landkreisen Beratung bei Konflikten im kommunalen Raum. Für mehr Informationen zum Ansatz der Kommunalen Konfliktberatung siehe Berndt und Gessler 2021.

2) Die Zahl ist allerdings ungenau, da ukrainische Staatsbürger*innen ohne Visum in die EU einreisen und sich im Schengen-Raum frei bewegen können. Möglicherweise sind einige der Personen bereits weitergereist oder wieder zurückgekehrt.

Literatur

Anderson, M. B. (1999): Do No Harm: How aid can support peace – or war. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers.

Berndt, H.; Gessler, O. (2021): Kommunale Konfliktberatung. Herausforderungen gesellschaftlicher Veränderungen friedenslogisch bearbeiten. W&F 4/2021, S. 44-46.

Mediendienst Integration (2022): Flüchtlinge aus der Ukraine. Homepage, Stand 06.07.2022.

Thust, S. (2022): Ohne Abi zur Uni? Was hinter dem Beschluss der Kultusministerkonferenz für Geflüchtete aus der Ukraine steckt. Correctiv.org, 19.05.2022.

Von Hardenberg, N. (2022): Sie sollen Platz machen. Süddeutsche Zeitung, 27.03.2022.

ZEIT Online (2022): Weniger Baugenehmigungen für Wohnungen und Einfamilienhäuser. ZEIT Online, 17.06.2022.

Kathrin Buddendieck ist als freiberufliche Konfliktberaterin für das K3B tätig und arbeitet seit mehreren Jahren für den Zivilen Friedensdienst im In- und Ausland.
Lena Heuer ist Projektmitarbeiterin im Vorhaben »Herausforderungen gesellschaftlicher Integration gemeinsam verstehen und bearbeiten« durchgeführt im K3B.

Friedenslogik statt Kriegslogik

Friedenslogik statt Kriegslogik

Zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg

von Mitgliedern der AG Friedenslogik der PZKB

Am 24. Februar 2022 hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Es ist zwar nicht der erste Krieg nach Ende des Ost-West-Konflikts. Auch ist der Krieg in der Ukraine nicht der einzige, der derzeit geführt wird. Er ist aber der gefährlichste, drohen hier doch mit den NATO-Staaten und Russland die größten Atommächte aufeinanderzuprallen. Sein Eskalationsrisiko bis hin zu einem dritten Weltkrieg ist enorm. Wie konnte es so weit kommen? Schließlich weckte das Ende der Systemkonfrontation 1989/90 doch Hoffnungen auf eine Ära des Friedens und der Kooperation in Europa. W&F dokumentiert an dieser Stelle in gekürzter Form die zweite Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) zum Krieg gegen die Ukraine.

Nach dem Ende des Systemkonflikts ist in Europa letztlich keine Friedensordnung entstanden, in der sich alle Beteiligten auch sicherheitspolitisch gut aufgehoben gefühlt hätten. Vielmehr handelte es sich um eine asymmetrische Machtordnung zu Lasten Moskaus. Mithin fehlte es auch an einer inklusiven Einrichtung, die zur konstruktiven Transformation auftauchender Konflikte in der Lage gewesen wäre: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde schon früh politisch marginalisiert; der NATO-Russland-Rat konnte als Institution einer machtpolitisch asymmetrischen Kooperation diese Lücke nicht füllen. Schon lange vor dem Krieg dominierten bei sämtlichen Konfliktbeteiligten sicherheitslogische Denkweisen: Dementsprechend betonten die Akteure (1.) nicht nur die Bedrohungen für das Eigene, sondern sie sahen (2.) Probleme ausschließlich oder zumindest maßgeblich durch andere Akteure verursacht, sie griffen (3.) zu Maßnahmen der Gefahrenabwehr und gegebenenfalls der Verteidigung, sie betonten (4.) den Vorrang eigener Interessen und deuteten den rechtlichen wie politischen Normbestand entsprechend um, und sie neigten (5.) unter Verzicht auf Selbstkritik zur Bestätigung des eigenen Handelns.1

Aufgrund dieser Sichtweise waren alle Parteien schon seit Längerem eher zur Konfrontation als zum Ausgleich disponiert: Die NATO wollte ihre Rolle als Hegemonialakteur behaupten und verweigerte in Sachen Osterweiterung sub­stantielle Zugeständnisse an Russland. Die Ukraine setzte ihren – im eigenen Land je nach Region unterschiedlich stark umstrittenen – Kurs zur NATO-Integration ohne Rücksicht auf russische Bedrohungsperzeptionen konsequent um. Und ein zusehends autoritär und national-chauvinistisch ausgerichtetes Russland pochte sowohl auf seine geostrategischen Sicherheitsanliegen als auch auf seine imperialen Ansprüchen nicht zuletzt gegenüber der Ukraine.

Friedenslogische Positio­nierungen im Ukrainekrieg

Wie lassen sich angesichts der Kriegsbilder aus der Ukraine und des hiesigen Kriegsdiskurses überhaupt noch friedenslogische Positionen vertreten? Zunächst müssen wir einräumen, dass auch wir Ungewissheiten und Dilemmata aushalten müssen: Wir wissen nicht, wie weit die russische Regierung in der Ukraine (und eventuell auch darüber hinaus) bereit ist zu gehen. Wir wissen angesichts der Kriegsentschlossenheit der Parteien und der Rücksichtslosigkeit des russischen Aggressors nicht, ob das friedenslogische Handlungsspektrum jetzt oder zumindest in absehbarer Zukunft eine wirkliche Chance erhalten wird, den Krieg und das Leid der Menschen nachhaltig zu beenden. Einige von uns stellen sich daher die Frage, ob nicht auch einzelne Maßnahmen jenseits der Friedenslogik ergriffen werden müssten. Allerdings haftet auch dem Handlungskatalog der Sicherheits- oder gar der Kriegslogik die gleiche Ungewissheit an. Daher gilt es dringend, vor einem bellizistischen Fehlschluss zu warnen: Nur weil Friedenslogik nicht zum gewünschten Ergebnis führen könnte, bedeutet das lange noch nicht, dass Sicherheitslogik und Kriegslogik hier verlässlicher wären. Eher dürfte sogar das Gegenteil der Fall sein, nämlich dass sicherheits- oder gar kriegslogisches Handeln die Gewalt immer weiter verschlimmert.

Friedenslogische Imperative gegen den Ukrainekrieg

Die friedenslogische Heuristik lässt sich im Kriegskontext in handlungsorientierten Imperativen zuspitzen. Sie lauten:

Alles dafür zu tun, um (1.) die Gewalt zu beenden, (2.) den Konflikt zu deeskalieren und konstruktiv zu transformieren, (3.) Opfer zu schützen und Leid zu mildern, (4.) Völkerrecht und Menschenrechte zu stärken und (5.) Selbstreflexion und Empathie zu fördern.

Das bedeutet auch, alles zu unterlassen, was der Realisierung dieser Ziele entgegenliefe. Die Imperative adressieren prinzipiell alle staatlichen Akteure von der Weltstaatengemeinschaft und ihren Organisationen über regionale Arrangements bis hin zu einzelnen Staaten einschließlich der Kriegsparteien. Sie richten sich aber auch an die Akteure der gesamten Zivilgesellschaft von internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen bis hin zu den einzelnen Bürger*innen und deren Initiativen. Sie alle sind gefordert, an ihrem Ort im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten im Sinne des Friedens zu handeln.

(1.) Gewaltbeendigung

Der Imperativ der Gewaltbeendigung verlangt zunächst danach, die Gewalt nicht weiter zu befeuern. Die bisherigen Waffenlieferungen haben den Krieg nicht gestoppt, sondern immer weiter in ihn hineingeführt. Sie tragen zu seiner Verlängerung und weiteren Brutalisierung bei. Aber auch die massiven ökonomischen und finanziellen Sanktionen könnten nicht nur den erhofften Effekt zeitigen und die russische Kriegsmaschinerie zum Stillstand bringen, sondern sie sogar weiter anheizen, indem sie dazu animieren, mit immer massiveren Angriffen schneller ans Ziel zu kommen. Nötig wäre stattdessen aber der Fokus auf eine kluge, alle Ebenen und Kanäle einbeziehende Krisendiplomatie, die den Parteien einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg ermöglicht. Hier bedarf es eines weitaus stärkeren Engagements, um die Verhandlungen wieder voranzubringen.

Wenngleich der Ukraine das Recht auf (auch militärische) Selbstverteidigung zusteht, wäre es dringend geboten, vermehrt auf friedenslogische Alternativen zu einem sich immer weiter entgrenzenden Verteidigungskrieg zu setzen, die sich am Ziel des Gewaltabbaus und der Gewaltbeendigung orientieren. Dazu zählen ergänzend zur unverzichtbaren Krisendiplomatie beispielsweise gewaltfreie Proteste gegen die Invasoren ebenso wie Maßnahmen sozialer Verteidigung, die durch Kooperationsverweigerung den Aufenthalt für die Besatzer erschweren. Gleiches gilt für Kriegsdienstverweigerung und Desertion, die Signale der Tat gegen den Krieg senden.

(2.) Konfliktdeeskalation und Konflikttransformation

Der Imperativ der Konfliktdeeskalation impliziert vor allem, zu verhindern, dass die NATO aktive Kriegspartei wird. Das Bündnis und einzelne Mitgliedstaaten balancieren schon auf ganz schmalem Grat: Dafür stehen beispielsweise die permanente massive Aufrüstung der Ukraine mit immer leistungsfähigerem und zusehends offensivtauglichem Kriegsgerät, die immense finanzielle Militärhilfe sowie Diskussionen über die Einrichtung einer von der Allianz durchzusetzenden Flugverbotszone. Angehörige ukrainischer Streitkräfte werden mittlerweile auch in Deutschland auf US-Stützpunkten und in der Artillerieschule Idar-Oberstein ausgebildet, was gemäß eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags „den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“2 würde. Insofern sollte die NATO den Ritt auf der sprichwörtlichen Rasierklinge einstellen.

Stattdessen müsste es ergänzend zur gewaltbeendenden Krisendiplomatie um eine konstruktive Transformation dieses vielschichtigen Konflikts gehen, in dem sich Auseinandersetzungen innerhalb der Ukraine zwischen Kiew und den Separatistengebieten im Osten des Landes, zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen Russland und dem Westen überlagern. Dazu hätten alle Beteiligten sich nicht nur von einseitigen, gewalt­orientierten Durchsetzungsstrategien zu verabschieden, sondern auch an ihren Dominanzansprüchen bzw. Maximalforderungen Abstriche zu machen. Dass Kiew im Kontext der Istanbuler Verhandlungen Ende März einen Neutralitätsstatus, wenn auch mit Sicherheitsgarantien versehen, ins Spiel gebracht hat, weist in die richtige Richtung.

(3.) Opferschutz und Leidmilderung

Der beste Weg, den Imperativ des Opferschutzes und der Leidmilderung zu verwirklichen, wäre die sofortige Beendigung der Kampfhandlungen. Solange der Krieg jedoch andauert, sollte der Fokus nicht länger auf der Kampfkraftsteigerung der ukrainischen Streitkräfte als den mutmaßlichen Beschützern, sondern auf den Menschen selbst liegen, die Opfer von Gewalt geworden sind oder zu werden drohen. Alle, die die Kampfregionen bzw. das Land verlassen wollen, sollen dies tun können. Es heißt also vornehmlich, sichere Fluchtwege zu vereinbaren und zu organisieren, Geflüchtete in der Erstankunft professionell zu betreuen und ihnen einen sowohl sicheren als auch würdigen Aufenthalt im Zufluchtsland zu garantieren. Menschen, die das Land nicht verlassen können oder wollen, ist freier Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten. Dafür müssten von allen Kriegsparteien akzeptierte humanitäre Korridore eingerichtet werden, damit Hilfsgüter sicher an Ort und Stelle gelangen. Ein zumindest zeitweiliger Waffenstillstand würde die Bewältigung dieser Aufgabe erleichtern, da sich aufgrund der Kriegsdauer die Versorgungs- und Gesundheitslage der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten dramatisch zuspitzt.

(4.) Stärkung von Völkerrecht und Menschenrechten

Dieser Imperativ zielt auf die Verteidigung bzw. die Stärkung des Völkerrechts sowie der Menschenrechte, auf die sich auch die Friedenslogik bezieht. Diese sind mit dem Angriffskrieg und den bislang dokumentierten Kriegsverbrechen massiv verletzt worden. Wenngleich sowohl die UNO-Generalversammlung als auch der Internationale Gerichtshof das Vorgehen Russlands verurteilt und somit die Gültigkeit des bestehenden Normsystems bekräftigt haben, geschieht doch die Befolgung völkerrechtlicher Standards durch Staaten auf freiwilliger Basis. Weitere Kriegsverbrechen in der Ukraine können daher zwar nicht effektiv unterbunden werden, möglich bleiben jedoch symbolische Gesten und Appelle an die Kriegsparteien, die Zivilbevölkerung zu verschonen. An – auch zukünftiger – Bedeutung nicht zu unterschätzen sind zudem die Bemühungen nichtstaatlicher Akteure, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Insbesondere nach den Gräueltaten in Butscha ist dies von großer Dringlichkeit und sollte unbedingt unterstützt werden. Zu werben wäre für eine unabhängige und angemessen ausgestattete – etwa von der OSZE mandatierte – Beobachtermission, die zur Verifizierung der Geschehnisse einen wertvollen Beitrag leisten und bestenfalls sogar gewaltmindernde Wirkung erzeugen könnte. Dagegen stehen Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Putin und seine Führungsmannschaft in einem Spannungsverhältnis zu anderen Imperativen der Friedenslogik, da ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen die Verantwortlichen kaum ihre Verhandlungsbereitschaft in Bezug auf überlebensnotwendige humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung und eine möglichst rasche Beendigung der Kriegshandlungen fördern dürfte. Nichtsdestoweniger sollte die Dokumentation von Kriegsverbrechen auch auf dieser Ebene fortgeführt werden, stehen sie doch auch für den Befolgungsanspruch eines Völkerrechts, das auf Friedensförderung und Gewaltächtung ausgelegt ist.

(5.) Selbstreflexion und Empathie

Dieser letzte Imperativ verlangt nach kritischer Selbstreflexion im friedenslogischen Modus, der die eigenen Anteile sowohl am langen Weg in die Konfrontation seit Ende des Systemkonflikts als auch an der Zuspitzung der letzten Jahre gerade nicht tabuisiert, sondern bewusst thematisiert. Die Kehrseite heißt Empathie. Diese bezeichnet das Bestreben, die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien einzunehmen, um sie besser verstehen zu können, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. Der Imperativ adressiert die Kriegsparteien selbst, aber auch alle anderen am Konflikt Beteiligten. Zwar hat im Westen bereits eine öffentliche Selbstvergewisserungsdebatte eingesetzt. Allerdings läuft sie bislang im Wesentlichen darauf hinaus, jegliche (vergangene, aktuelle und zukünftige) Friedenspolitik als naiv zu disqualifizieren und reflexartig für mehr Aufrüstung zu plädieren. Die friedenslogische Antwort auf die Frage, ob die Politik des Westens an zu wenig oder zu viel Friedenspolitik gescheitert sei, lautet aber: an zu wenig. Was nach dem Ende des Systemkonflikts in Gesamteuropa entstanden ist, war eben keine zur konstruktiven Konflikttransformation fähige Friedensordnung, in der alle Beteiligten gleichberechtigt mitwirken konnten, sondern eine vom Westen dominierte asymmetrische Machtordnung, in der Moskaus schon früh geäußerten Einwände ignoriert und seine Initiativen nicht aufgegriffen wurden.

Selbstreflexion bedeutet auch, aus den eigenen Fehlern zu lernen, um sie bei der Neugestaltung der europäischen Ordnung nachdem Ende des Ukrainekriegs zu vermeiden. Zu diesen Korrekturverpflichtungen gehört auf westlicher Seite nicht nur das geostrategische Handlungsprogramm, sondern auch die innere Haltung, auf der es beruht: Demut eingedenk eigener Verfehlungen und eigener limitierter Gestaltungsfähigkeiten, Besinnung auf die Begrenztheit eigener Ansprüche auf die jeweils legitimen Anliegen, Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des politischen Gegenübers, Anerkenntnis der Ungeeignetheit militärischer Mittel für eine gezielte Gestaltung friedensverträglicher inner- wie zwischenstaatlicher Verhältnisse sowie Akzeptanz der Untauglichkeit konfrontativer Strategien für die Gewährleistung eines dauerhaft stabilen negativen Friedens.

Plädoyer für ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen«

Auch wenn es derzeit nur schwer vorstellbar sein mag: Bereits jetzt muss über eine mögliche Ordnung nach dem Ende des Ukrainekriegs nachgedacht werden. Sogar ein Frieden, der sich auf das Ziel einer Vermeidung neuer Kriege beschränken würde, ist nur mit und nicht gegen Russland zu haben. Dabei gilt es, die gegenwärtige Begrenzung des Denkraums auf einen »Kalten Krieg 2.0« zugunsten einer Ordnung zu erweitern, die möglichst viele friedenslogische Elemente adaptiert und damit die Chance zur weiteren Friedensentfaltung impliziert. Diese Nahzielperspektive ließe sich, angesichts der gegenwärtig feindschaftlichen Beziehungsmuster, in der Formel einer »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« verdichten. Sie wird wohl die Identifizierung von Dissensen einschließen und Möglichkeiten ihrer weiteren Bearbeitung aufzeigen müssen.

Für ein solches Projekt wäre die OSZE der am besten geeignete Ort, handelt es sich doch um eine inklusive Einrichtung der Staatenwelt mit Scharnieren in die Gesellschaftswelt: Sie stellt schon jetzt den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung, in dem alle direkt wie indirekt am Ukrainekonflikt Beteiligten formal gleichberechtigt eingebunden sind. Und die neutralen und nicht-paktgebundenen Teilnehmerstaaten können hier strukturell abgesichert ihre wertvollen Erfahrungen bei der Auflösung festgefahrener Konstellationen mobilisieren.

Ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« dürfte aber nicht allein an die Staatenwelt delegiert werden. Vielmehr bedarf es der Vorbereitung und Unterstützung durch solche zivilgesellschaftlichen Akteure samt ihrer Netzwerke, die über einschlägige Erfahrungen im Bereich der Mediation und anderer Verfahren konstruktiver Konflikttransformation verfügen.

Der Text wurde am 11. Mai 2022 auf der Homepage der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung veröffentlicht (pzkb.de/friedenslogik-statt-kriegslogik/).

Anmerkungen

1) Siehe hierzu auch: »Für konsequent friedenslogisches Handeln im Ukraine-Konflikt.« Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (17. Februar 2022).

2) Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2022): Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme (WD 2-3000-019/22), S. 6.

Verfasser*innen und Unterzeichner*innen aus der AG-Friedenslogik: Annette Fingscheidt, Wilfried Graf, Sabine Jaberg (Federführung), Christiane Lammers, Jochen Mangold, Angela Mickley, Beate Roggenbuck.

Altruismus oder Neokolonialismus?

Altruismus oder Neokolonialismus?

Umfang und Grenzen der belgischen Restitution von kongolesischem Kulturerbe

von Gracia Lwanzo Kasongo

Die Rückgabe (»Restitution«) kulturellen Erbes ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten in den ehemaligen Kolonialstaaten. Die belgische Position gilt dabei als vorbildlich, da sie auf einem ganzheitlichen Ansatz beruht, der darauf abzielt, die kolonialen Sammlungen des Königlichen Museums für Zentralafrika in Frage zu stellen und alle unrechtmäßig erworbenen Güter zurückzugeben. Doch die Positionen, die in den Restitutionsdebatten weltweit und insbesondere in Europa eingenommen werden, scheinen immer noch eine Reihe von Fragen aufzuwerfen. Der vorliegende Artikel geht diesen Fragen nach.

Die Rückgabe des kulturellen Erbes ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten in den ehemaligen Kolonialstaaten. Die belgische Position gilt als vorbildlich, da sie auf einem ganzheitlichen Ansatz beruht, der darauf abzielt, die kolonialen Sammlungen des Königlichen Museums für Zentralafrika (RMCA) in Frage zu stellen und alle auf unrechtmäßige Weise erworbenen Güter zurückzugeben. Die belgische Position wirft jedoch noch immer eine Reihe von Fragen auf. Um dies in einen zeithistorischen Kontext zu setzen: Die Black-Lives-Matters-Bewegung geht sogar so weit, die postkolonialen Beziehungen in Frage zu stellen, insbesondere in Bezug auf die strukturellen Konstruktionen von Ungleichheit und systemischem Rassismus, die von den ehemaligen Kolonialstaaten übernommen wurden. In Belgien war die Bewegung der Nachfahren afrikanischstämmiger Belgier*innen der Ausgangspunkt für die Politik der letzten fünf Jahre. Zu den dabei getroffenen Entscheidungen der Politik gehört die Einrichtung einer Sonderkommission, die die koloniale Vergangenheit beleuchten, die Beziehung zwischen dieser Vergangenheit und dem aktuellen Rassismus analysieren und die heikle Frage der Rückgabe aufwerfen soll (Rapport des Expertes 2021, S. 562).

Bis zu einem gewissen Grad konnte Belgien durch seine Restitutionspolitik sein Image von dem einer ehemaligen Kolonialmacht zu dem eines wesentlichen Partners beim Aufbau eines kongolesischen Kulturerbes durch das aktuelle Projekt der »Wiederherstellung« wandeln. Wie Paul Gilroy zeigt, verwenden ehemalige Kolonialstaaten das Konzept des Multikulturalismus, um angeblich Ungleichheiten zu bekämpfen, während es in Wirklichkeit darum geht, einen bestimmten Machtwillen zu bekräftigen. Diese Macht schwindet allmählich und verwandelt sich nun in eine gewisse Melancholie über die vergangene Herrschaft; sie drückt sich aus in einer subtilen Art und Weise, die Dinge zu beeinflussen, und damit Kontinuität in gegenwärtigen Bereichen der Zusammenarbeit herzustellen. In Fällen der Rückgabe ist es interessant zu beobachten, wie sich dieser Rollenwechsel innerhalb der politischen Strukturen und den bilateralen Verhandlungen zwischen den ehemals kolonisierten und kolonisierenden Ländern vollzieht.

Wie in diesem Beitrag analysiert werden soll, muss der belgische Ansatz immer noch hinterfragt werden: im Hinblick auf die Machtasymmetrien, die in den heutigen politischen Beziehungen und Verhandlungen über Artefakte aufrechterhalten werden; im Hinblick auf die ideologische Abkürzung zur Wiedergutmachung (»Reparation«), die er impliziert; im Hinblick auf seine neokolonialen Tendenzen.

Restitution: eine paradigmatische Abkürzung

Wenn es um Restitution geht, gibt es eine Reihe prominenter Fälle: die deutsche Debatte, die französische Debatte, die kanadische Debatte – und die belgische. Im Folgenden wird ein eher typischer Ansatz für »Restitution als Reparation« vorgestellt, wie er von den Franzosen verfolgt wird. Wir werden auf den Fall Frankreichs eingehen, weil er erstens das öffentliche Interesse an dieser Debatte in den Medien geweckt hat, obwohl die Debatte schon lange vorher existierte, und zweitens, weil der Sarr-Savoy-Bericht von 2018 ein Muss in der aktuellen Restitutionsdiskussion zu sein scheint und den belgischen Bericht von 2021 über ethische Grundsätze für die Verwaltung und Rückgabe von Kolonialsammlungen in Belgien inspiriert hat.

Im Oktober 2021 gab Frankreich 26 Werke an Benin zurück, darunter den Thron von König Ghézo, die sich als Schlüsselstücke für die Darstellung der Geschichte Benins erwiesen. Die Werke wurden einst dem Trocadero-Museum von General Alfred Amédée Dodds gestiftet, der an den Strafexpeditionen von 1892 teilgenommen hatte (Sarr und Savoy 2018, S. 45). Die Rückgabezeremonie wurde jedoch von einem Gefühl der Ungerechtigkeit überschattet, da der Präsident Benins, Patrice Talon, der Meinung war, dass 26 Werke erst der Anfang seien. Es gibt so viele Werke, die an Benin zurückgegeben werden müssen, wie der Gott Gou, ein Werk, das als emblematisch für den Gott der Metalle und der Schmiede gilt, sowie die Fa-Tafel, ein mythisches Werk der Wahrsagerei des berühmten Wahrsagers Guédégbé (Nyidiiku 2021).

Die Tatsache, dass Frankreich auswählte, welche dieser Werke zurückgegeben werden sollten, während sich der Antrag auch auf andere Werke bezog, beweist eine gewisse Asymmetrie in den Beziehungen zwischen ehemaligen Kolonisatoren und ehemaligen Kolonisierten. Die Tatsache, dass Frankreich ein »Ausnahmegesetz«1 erlassen hat, das eine offene und allgemeine Debatte über die unter kolonialen Bedingungen erworbenen oder gestohlenen Werke einschränkt, wirft die Frage nach den gegenwärtigen Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonialländern und den ehemaligen Kolonisierten auf, die immer noch kühl und halbherzig zu sein scheinen. Ein weiteres beredtes Beispiel für diese Konditionalität und Selektivität ist die Rückgabe des Schwertes von Omar El Hadj an den Senegal, die am 17. November 2019 in Dakar stattfand. In einem Dokumentarfilm von Nora Philippe (2021) über die Rückgabe von Kulturgütern stellt sie fest, dass diese Rückgabe an die Bedingung geknüpft war, dass Senegal den französischen Ansatz der Migrationspolitik übernimmt, zusätzlich zu Vereinbarungen über Waffenkäufe.

Die oben genannten Fälle zeigen die quasi neokoloniale Vorherrschaft, die selbst in Fragen der Dekolonisierung fortbesteht. Eve Tuck und K Wayne Yang haben auch auf die Gefahr hingewiesen, dass die Dekolonisierung auf eine Metapher reduziert wird. Die Tatsache, dass die Institutionen, die mit der Herausforderung der Entkolonialisierung konfrontiert sind, in der Lage sind, sich den Rückgabekampf anzueignen und dies auch bereitwillig tun, schmälert die Handlungsfähigkeit der Menschen ganz erheblich, die doch die Sache tragen und den Rückgabeprozess anführen sollten, weil sie den Wesenskern des langen Kampfes um die Rückgabe kennen. Diese Aneignung ermöglicht eine Veränderung des wahrgenommenen Status der Kolonialstaaten vom kolonialen Täter über den Unschuldigen zum Helden (Tuck und Yang 2012; Rosoux 2009). Kolonialstaaten ergreifen die Gelegenheit, Restitution zu einer Abkürzung zur Reparation zu machen, einem Akt, der das alte Image abwäscht, um die Gegenwart zu rehabilitieren und den ehemaligen Kolonialstaat als Partner bei der Rekonstruktion der afrikanischen Geschichte erscheinen lässt.

Nkinsi Nkonde: Ein bezeichnen­der Fall von Asymmetrie

Die Verhandlungen über die Rückgabe des kongolesischen Kulturerbes durch Belgien sind an sich nicht neu; sie waren möglich, als Ne kuko bereits 1878 bei den belgischen Kolonialbehörden die Rückgabe des Nkinsi Nkonde beantragte, eines Attributs der Macht, das ihm vom Offizier Alexandre Delcommune des sogenannten »Kongo-Freistaates« gestohlen worden war. Dieser Antrag, obwohl er nur ein Objekt und nicht eine ganze Sammlung betraf, ist ein aufschlussreicher Fall. Die Statue von Nkinsi Nkonde war Gegenstand von drei Rückgabeforderungen. Zunächst von Ne kuko selbst, dann 1973 von Mobutu vor der UNO und 2016 von Thronfolger Alphonse Kapita. Alle diese Anträge wurden abgelehnt (Couttenier 2018). Es wird immer noch im RMCA aufbewahrt, dem sogenannten »Afrikamuseum«. Diese Haltung zeigt, dass die Frage der Restitution nicht nur seit langem eine der Ungleichbehandlung ist, sondern auch die Relevanz der jeweiligen Sprecherposition der darin aktiven Akteure verdeutlicht.

In der Tat besteht derzeit die Tendenz, die Rückgabe auf den »Macron-Effekt« zu beschränken, der wohl am eindrücklichsten in dessen Rede 2017 an der Universität von Ouagadougou, Burkina Faso, zum Ausdruck kam (Elysée 2017). Als ob dies der Ausgangspunkt der Debatte über die Restitution des afrikanischen Kulturerbes wäre, obwohl es eine dichte Geschichte von viel älteren Forderungen gibt. Dieses Narrativ bedarf der Rekontextualisierung, die auch die Erzählungen der Akteure aus dem Süden einbezieht, die an der Entstehung dieser heutigen Debatte beteiligt waren, um die Frage der Restitution in umfassender Weise zu behandeln. Interessant ist auch die Feststellung, dass die rechtliche Struktur der Restitutionsfragen, selbst auf internationaler Ebene, von diesen kolonialen Konventionen der Selektivität und Konditionalität dominiert zu sein scheint, die den Verhandlungsansatz bis heute nicht erleichtern (Spitra 2020, S. 329ff.).

Historische und aktuelle Antworten Belgiens

In den 1950er Jahren wurden diese Eigenschaften der Selektivität und Konditionalität sogar als Rechtfertigung für die kolonialistische Haltung ausgegeben, die Sarah Van Beurden als »kulturelle Bevormundung« bezeichnet. Die Konservierung und Erhaltung der Kunst wurde als notwendige Reaktion auf die »Barbarei« der Kongolesen verstanden und übertrug sich so das Vorrecht für den Schutz des kongolesischen Erbes (Van Beurden 2015a). Dieses Verständnis wurde dadurch legitimiert, dass alte Praktiken der kulturellen Zyklizität als Akte der Zerstörung dargestellt wurden. Bestimmte Kulturgüter folgen traditionell Zyklen der Existenz, in denen sie manchmal zerstört werden. Dabei haben die westliche Kulturanthropologie, Museologie und Kulturpolitik die kulturellen Praktiken rund um diese Artefakte oft geflissentlich ignoriert und sie nur anhand ihres materiellen »Wertes« bemessen. Dieser »Wert« bedurfte dann des Schutzes vor Zerstörung und legitimierte daher die Verweigerung von Restitution (siehe für viele: Singleton 2020, S. 187, 194; Strother 2020).

Diese Haltung beeinflusste die Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren, in der die ehemaligen Kolonisierten die Rückgabe von geraubten Kulturgütern als Symbol der Entkolonialisierung und als starken Ausdruck der Selbstbestimmung betrachteten (Van Beurden 2015a). Die Rückgabe von Kulturgütern an den Kongo wurde bei den Unabhängigkeitsverhandlungen mit Belgien 1960 am zweiten Runden Tisch thematisiert, bei dem es auch um die Rückgabe des Landguts Tervuren (auf dem das RMCA untergebracht ist) und eine Entschädigungssumme für den Bau des Bogens zum fünfzigjährigen Bestehen ging. Die DR Kongo vertrat die Auffassung, dass das RMCA mit Geldern aus der DR Kongo gebaut wurde. Die Vertreter*innen der DR Kongo wollten daher dieses Grundstück als Entschädigung übertragen bekommen. Die Debatte an diesem Tisch drehte sich eigentlich vor allem um die wirtschaftlichen Dimensionen des postkolonialen Staates: die Begleichung der Schulden, die Aufteilung des kolonialen Portfolios und damit die Beteiligung an den großen Unternehmen; die Belgier sprachen sogar an, dass sie eine Entschädigung für die »Verluste« gelten machen würden, die sie durch die Unabhängigkeit »erleiden« müssten.

In den Verhandlungen wurde die Rückgabe des kongolesischen Kulturerbes daher bereits 1960 offiziell angesprochen (Lejeune 1969, S. 558; Kikassa 1989). Die Antwort Belgiens auf dieses Ersuchen lautete jedoch, Kongo habe kein Anrecht auf das RMCA, da es sich bei diesem Museum nicht um Rechte und Pflichten handele, die aus dem früheren »Freistaat Kongo« erwuchsen. Das zweite Argument der Belgier war, dass sie auch zur Entwicklung der Kolonie beigetragen hatten (z.B. durch Ausstattung des Kongo mit Infrastruktur). Daher hielten sie die Forderung nach einer materiellen Entschädigung für unbegründet. Um die Forderung zu entschärfen und die Parteien davon abzubringen, erklärte Außenminister Harmel, dass das Museum von Tervuren gemeinsam von Belgien und dem Kongo betrieben werden würde.2 Doch auch dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Stattdessen kam es zu einer Zusammenarbeit im Rahmen einer Konvention3, hinter der sich ein reales Herrschaftsverhältnis und eine im Wesentlichen asymmetrische Beziehung zwischen dem Kongo und Belgien verbargen (Van Beurden 2015b, S. 12).

In den Jahren nach dem Aufstieg des Mobutu-Regimes fanden 1976 und 1982 zwei weitere Restitutionen statt. Belgien hat nur 114 Objekte an das neue IMNZ (Institut des Nationalmuseums von Zaïre) unter der Regierung Mobutu zurückgegeben.4 Damals wählte Belgien für diese Restitution das Wort »Schenkung«, was mit dem Narrativ der gewünschten Zusammenarbeit in der postkolonialen Ära zusammenpasste und Belgien das Recht einräumte selbst zu entscheiden, welche Güter zurückgegeben werden sollten und welche nicht. Diese Formulierung passte perfekt zu dem Bild, das es vermitteln wollte: das eines wohlwollenden, pater­nalistischen Ex-Kolonisators (Racine 2020).

Es stellte sich zudem heraus, dass die meisten der zurückgegebenen Stücke aus der Kolonialzeit von schlechter Qualität waren. Unter den an Präsident Mobutu übergebenen Gütern befand sich nur ein einziger Qualitätsartikel (Mumbembele 2021). Hier ist bereits die Umkehrung der oben beschriebenen Situation zu beobachten, die aus einer Situation der Zusammenarbeit bei der Restitution eine einseitige Rückgabe mit einer paternalistischen Haltung (»Spenden«) macht. In diesem Verständnis wird der Kongo zum Kind, dem geholfen werden soll, dieses »störrische Kind«, das die Unabhängigkeit wollte, ohne für die Bestimmung und Durchführung seiner Kulturpolitik ausreichend selbst verantwortlich sein zu können.

Der aktuelle belgische Ansatz: eine neokolonialistische Struktur?

In Belgien wird im politischen Diskurs der aktuellen Regierung derzeit die Idee eines bilateralen Abkommens entworfen. Das historische Bild dazu ist das des Premierministers Sama Lukonde, dem sein belgischer Amtskollege Alexander De Croo in Begleitung des Staatssekretärs für wirtschaftlichen Aufschwung Thomas Dermine die Inventurliste des im RMCA beherbergten Kulturerbes überreichte. In einem kürzlich mit Dermine geführten Interview schätzte er, dass der Gesetzes­entwurf über die Rückgabe die Etappe des Staatsrats durchlaufen und schließlich Ende April 2022 den Parlamentarier*innen zur Debatte vorgelegt werden könnte (Bouffioux 2022).

Bei der Durchsicht dieses Entwurfs eines möglichen Kooperationsabkommens wird deutlich, dass der Geltungsbereich der Verhandlungen nicht nur lediglich auf die Objekte des RMCA beschränkt ist, sondern aktiv und bewusst das Museum von Namur und das Museum L von Louvain la Neuve ausschließt, die ebenfalls koloniale Objekte besitzen, um nur einige zu nennen. In einem Artikel von Clementine Deliss (2020, S. 185) wird diese Idee der »Restitution durch begrenzte Vereinbarung« als ein parteiischer Ausdruck betrachtet, der die entscheidenden existenziellen Fragen umgeht, die im postkolonialen Kontext auf dem Spiel stehen. Dazu gehören die symbolische Gewalt, der systemische Rassismus und die gegenwärtig eklatanten Ungleichheiten in einer zunehmend globalisierten Welt, in der die Wut über diese systemische Gewalt überall wächst.

Ein bedeutender Fortschritt ist jedoch im belgischen Ansatz zu erkennen, auch wenn er gewisse Einschränkungen aufweist. Im Gegensatz zum französischen Ansatz sieht er die Rückgabe von Gegenständen aus den kolonialen Sammlungen des RMCA vor, wenn sich durch Provenienzforschung herausstellt, dass es sich um Raubgut handelt. Es werden Provenienzstudien durchgeführt, um die Legitimität oder Illegitimität des Besitzes der Werke zu belegen, damit ihre Rückgabe diskutiert werden kann. Doch auch die Definition der »Legitimität des Besitzes« ist umstritten, da die Kolonialzeit als »Zwangszeit« eingestuft wird und die Definition dessen, was legitim war und was nicht, weiterhin von der belgischen Politik festgelegt wird. Die Restitution wird also nicht die Güter betreffen, die als rechtmäßig erworben gelten.

Der belgische Ansatz für die Rückgabe scheint dabei immer noch von der gleichen Semantik geprägt zu sein wie während der Zusammenarbeit nach der Unabhängigkeit, als die Rückgabe von Werken an Mobutu als »Geschenk« betrachtet wurde. Zudem nimmt Belgien im aktuellen Rahmen den Inhalt der Restitution vorweg, indem es die effektive Rückgabe auf unrechtmäßig erworbene Güter beschränkt. Studien haben gezeigt, dass diese unrechtmäßig erworbenen Güter nur 1 % der gesamten Sammlung ausmachen. Darüber hinaus scheint die Strategie der Regierung darauf abzuzielen, den Akt der Rückgabe hauptsächlich symbolisch zu gestalten, d.h. das Eigentumsrecht an die Kongolesen zu übertragen und eine virtuelle Rückgabe der Sammlungen durchzuführen, ohne dass notwendigerweise der materielle Akt folgt oder die Güter an die Kongolesen übergeben werden (News Belgium 2021; Lwanzo Kasongo 2021). Diese eher symbolische Art der Rückgabe wird noch dadurch verstärkt, dass die Sammlung des RMCA von der belgischen Regierung aus dem öffentlichen in den privaten Bereich überführt werden kann, bis die Provenienzstudien abgeschlossen sind.

Auch wenn man sich einer Sprache der Zusammenarbeit bedient, bleibt der alte Ansatz der »Restitution als Geschenk« in dem aktuellen Ansatz erhalten, der behauptet, „die Wiederherstellung des kongolesischen Kulturerbes zu unterstützen“. Er stellt den Kongo immer noch als das Kind dar, dem geholfen oder das unterstützt werden muss, und Belgien als den guten Samariter. Dies weckt Erinnerungen an die Zusammenarbeit in den Jahren nach der Unabhängigkeit. Die Aufrechterhaltung dieses, wenn auch subtilen, Herrschaftsmodus erlaubt es nicht, die Restitution als einen gesellschaftlichen Transformationsprozess in seiner Globalität und Komplexität zu betrachten.

Anmerkungen

1) Ministerrat, Gesetzesdekret, 31. März 2022.

2) A.P., Senat, 1965-1966, Sitzung vom 26. Mai 1966.

3) Die Grundlage für diese Vereinbarung bildet das Abkommen von 1968, das die belgisch-kongolesischen Beziehungen grundlegend strukturierte. Die Vereinbarung sah vor, dass das RMCA eine Art wissenschaftlichen Markt erhielt und im Gegenzug sein Fachwissen dem IMNZ (Institut des Nationalmuseums von Zaïre) zur Verfügung stellte, das nach diesem Abkommen gegründet werden sollte.

4) Das IMNZ ist eine Einrichtung, die 1970 von Belgien und dem Kongo im Rahmen der gegenseitigen Zusammenarbeit geschaffen wurde. Die Einrichtung wurde in ihrer Anfangszeit von Lucien Cahen geleitet, der auch Direktor der RMCA war.

Literatur

Bouffioux, M. (2022): Restitution au Congo: Thomas Dermine détaille un «dispositif ambitieux». Paris Match, 7.3.2022.

Couttenier, M. (2018): EO.0.0.7943. BMGN – Low Countries Historical Review 133(2), S. 91-104.

Deliss, C. (2020): Forme rapide de restitution. Multitudes 2020/1, Nr. 78, S. 185-189.

Elysée (2017): Emmanuel Macron’s speech at the University of Ouagadougou. Elysee.fr, 28 November 2017.

Kikassa, F. (1989): Le contentieux belgo-congolais de 1960 à 1966. Zaïre-Afrique 29(237), S. 371-395.

Lejeune, Ch. (1969): Le contentieux financier Belgo-Congolais. Revue Belge de Droit International 5(2), S. 535-564.

Lwanzo Kasongo, G. (2021): Is Immaterial Restitution Enough? A Belgian Approach to the Human Right of Access to Cultural Heritage. Völkerrechtsblog, 3.11.2021.

Mumbembele, P. (2021): Provenance research: What is at stake for ethnographic collections? Video. AfricaMuseum YouTube channel.

News Belgien (2021): Approche pour la restitution des objets dans le cadre du passé colonial. 28.01.2022.

Nyidiiku, K. (2021): Restitution des œuvres: le Bénin entre fierté, frustration et espoir. Le Point, 13.11.2021.

Philippe, N. (2021): Restituer? L‘Afrique en quête de ses chefs d‘œuvres. Arte-Dokumentarfilm.

Racine, A. (2020): Histoire de la restitution d‘œuvres traditionnelles au Zaïre. Afrique, en regards (Open Edition Hypothèses), 27.7.2020.

Rapport des Experts (2021): Commission spéciale chargée d‘examiner l‘état indépendant du Congo et le passé colonial de la Belgique au Congo, au Rwanda et au Burundi, ses conséquences et les suites qu‘il convient d‘y réserver, Belgian House of Representatives (dekamer.be), DOC 55 1462/002, 26.10.2021.

Rosoux, V. (2009): Passé colonial et politique étrangère de la Belgique. Studia diplomatica, LXII, S. 133-155.

Slit Sarr, F. ; Savoy, B. (2018): Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Frankreich : Ministère de la culture.

Singleton, M. (2020): Quand „restitution“ égale „destitution“. Journal des antropologues 164-165, S. 185-203.

Spitra, S. M. (2020): Civilisation, protection, restitution: A critical history of international cultural heritage law in the 19th and 20th century. Journal of the History of International Law 22(2-3), pp. 329-354.

Tuck, E. ;Yang, K. W. (2012): Decolonization is not a metaphor. Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1-40.

Van Beurden, S. (2015a): Authentically African. Arts and the transnational politics of Congolese culture. Athens: Ohio University Press.

Van Beurden, S. (2015b): Restitution or cooperation? Competing visions of post-colonial cultural development in Africa. Global Cooperation Research Papers 12. Duisburg: Käte Hamburger Kolleg.

Gracia Lwanzo Kasongo ist Doktorandin an der UCLouvain. Ihr Forschungsinteresse gilt der postkolonialen Versöhnung und der Verhandlung der Restitution in den kongolesisch-belgischen Beziehungen.

Aus dem Englischen übersetzt von ­David Scheuing.

Wie ein Stein, der Wurzeln schlägt

Wie ein Stein, der Wurzeln schlägt

Zwischenmenschliche Beziehungen nach dem Völkermord in Ruanda

von Amélie Faucheux

Kann eine Beziehung zwischen einer Person und den Mitgliedern der Gemeinschaft, die ihre Angehörigen vergewaltigt und ermordet haben, wiederhergestellt werden? In einer historisch einmaligen Konstellation müssen die meisten der ehemaligen Täter*innen des ruandischen Tutsi-Völkermords von 1994 und ihre Opfer wie zuvor zusammenleben. Doch wie kann eine Beziehung wiederhergestellt werden, wenn ein abgrundtiefes Ausmaß an Gräueltaten zwischen den Menschen liegt? In diesem Artikel werden drei Ansätze vorgestellt, die die Fähigkeit zur Koexistenz fördern: die Formalisierung der Wahrheit, das gemeinsame Erzählen intimer Geschichten sowie eine erfolgreiche Zusammenarbeit.

Von Anfang April bis Anfang Juli 1994 wurden zwischen 800.000 und einer Million Menschen ermordet (75 % der Tutsi-Bevölkerung Ruandas). Im direkten Nachgang hatten die meisten Überlebenden (ca. 300.000), die nur deshalb gejagt wurden, weil sie zu den »Tutsi« gehörten, körperliche Wunden, die von Macheten, Spitzhacken, Hämmern usw. stammten. Nachdem sie sich im Busch oder unter Leichen in Kirchen, Schulen oder Häusern versteckt hatten, waren sie oft ohne Dach über dem Kopf, zum Betteln gezwungen und fühlten sich furchtbar allein. Wie eine Betroffene selbst sagt: „Ich habe meinen Mann, meine Kinder und mein Vieh verloren. Ich habe niemanden mehr außer denen, die vor meinem Haus stehen und meine Töchter getötet haben.“ 1

Darüber hinaus wurden von den insgesamt sieben Millionen Einwohner*innen Ruandas vor April 1994 nach und nach fast zwei Millionen Anklagen gegen Beteiligte an den Massakern eingereicht. Für die Opfer fühlte es sich also an, als wären die Mörder*innen überall, und als der Einsatz von Macheten in der Landwirtschaft kurz nach den Massakern wieder zugelassen wurde, flammte die Angst wieder auf, gejagt zu werden. Zu dieser lebendigen Belastung kam noch ein akutes Gefühl der Ohnmacht hinzu: ohne Lebensunterhalt zu sein und zehn Jahre lang mit ansehen zu müssen, wie ihr Weideland von anderen bewirtschaftet wurde. Einige Mörder*innen hatten ihnen ihre Parzellen weggenommen, und bis zum Beginn der Verhandlungsprozesse hatte die Minderheit kaum Gehör, da es keine Unterlagen über den früheren Besitz gab und nur die Aussage der einen gegen die anderen stand. Als sich Anfang der 2000er Jahre die Einrichtung eines Gerichtsverfahrens abzeichnete und die Gefahr bestand, dass sie ihr Land zurückgeben müssten und inhaftiert werden würden, versuchten einige »Genocidaires« (»Völkermörder*innen«), wie sie genannt werden, ihre letzten Zeug*innen zu beseitigen. Das Leid der Überlebenden schien unendlich und das Trauma ist auf beiden Seiten deutlich zu spüren.

Auch Hutu-Familien, die ebenfalls verstümmelt wurden, zählten ihre Toten. Von Ende April bis Juli 1994 flohen zwei bis drei Millionen Männer und Frauen, »Völkermörder*innen« und ihre Familien, ins benachbarte Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo); Tausende kamen im Exil in der Kivu-Region (vor allem im ersten und zweiten Kongo-Krieg, 1996-1997 und 1998-2003) oder bei den rachsüchtigen Überfällen einiger Soldaten der sich inzwischen an der Macht befindlichen Ruandischen Patriotischen Front (RPF) ums Leben, die sich für den Tod ihrer Angehörigen rächen wollten. Gleichzeitig warteten noch in den Jahren 1994-1995 mehr als hunderttausend andere mutmaßliche Mörder*innen hinter Gittern auf ihren Prozess. Zu dieser Zeit gab es weder ein Gericht noch Anwält*innen. Die Zellen waren überfüllt, die Häftlinge lebten jahrelang in Feuchtigkeit und Exkrementen. Die Fäulnis und mangelnde Pflege führten zu Krankheiten und Wundbrand. Die Haushalte der Häftlinge in den Hügeln, die der traditionellen Wirtschaftskraft ihrer Söhne und Ehemänner beraubt waren, verarmten. Viele Kinder wuchsen ohne ihre Väter auf, obwohl einige von ihnen noch lebten und nicht weit weg waren.

Einige Hutu geben den Überlebenden die Schuld: Die Menschen hegen oft einen Groll gegen diejenigen, die sie verletzt haben, und die Ideologie des Völkermords ist nicht verschwunden.

Unter den Scharfrichtern hatte sich Misstrauen eingeschlichen. Um zu töten, hatten sich die Männer in Banden zusammengeschlossen: Jede*r war Zeug*in, also konnte jede*r denunzieren und ist daher verdächtig. Und für alle bleibt heute die Erinnerung an die Qualen, an die Folter, an die Leichen und an die gemeinsame Not, die aus den Ruinen herrührt, zu denen das Land gemacht wurde.

Die gesamte ruandische Welt, die bis auf die Knochen erschüttert war, versuchte, wieder dorthin zurückzufinden, wo sie zuvor war, jede*r mit seinen eigenen extremen Erfahrungen, ihren Frustrationen oder dem zerbrochenen Vertrauen. Die traumatische Erinnerung an die Ereignisse belastet die Psyche der Bewohner*innen, aber sie haben keinen anderen Ort (Kervran und Mukamabano 1999). Zahlreiche Überlebende, Täter*innen und deren Angehörige versuchten daher, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Von 1994 bis zu den 2000er Jahren fand eine kontinuierliche Polarisierung der Gemeinschaft statt und niemand hatte die Hoffnung, dass die Zeit allein die Wunden heilen würde. Wie kann ein so tief zerrüttetes soziales System neu aufgebaut werden?

Die in der Geschichte noch nie dagewesene Situation zwingt den ruandischen Staat, die NGOs und die Zivilgesellschaft dazu, eine Vielzahl von Initiativen zu ergreifen, um eine in Trümmern liegende Nation wieder aufzubauen. Eine Herausforderung, die – im Rückblick – teilweise gelungen ist, so als ob etwas zunächst Unmögliches, etwas Unbewegliches, zum Leben erwacht wäre: „Ibuye ryabonye umuzi“, „wie ein Stein, der Wurzeln schlägt“.2

Legt die Wahrheit offen und werdet anerkannt

Angesichts der Größe und Demographie des Landes und des Bedarfs an Arbeitskräften für den Wiederaufbau sowie der Grenzen der Masseninhaftierung stellte sich sofort die Frage des Zusammenlebens. In dieser Hinsicht bestand die erste Aufgabe der im Juli 1994 eingesetzten Nachfolgeregierung darin, das wiederherzustellen, was das vorherige Regime am radikalsten gebrochen hatte: den Sozialpakt zum Schutz der Bürger*innen durch den Vorrang des Rechts.

Vorrangig ging es darum, der Kultur der Straflosigkeit ein Ende zu setzen, die dreißig Jahre lang die Massaker an den Tutsi legitimierte und verharmloste. Das Instrument, mit dem dies erreicht wurde, waren zum einen die frühen Prozesse gegen 9.000 des Völkermords Verdächtige vor konventionellen Gerichten (ab Dezember 1996 und über ein Jahrzehnt hinweg) und dann die Einrichtung von mehr als 12.000 Gemeinschaftsstrafgerichten (2001-2012), die sich an eine jahrhundertealte Tradition anlehnten, die die Nation an ihre Einheit erinnerte: die »Gacaca«, ein hybrides und komplexes öffentliches Tribunal, das auf Dialog basiert und an den Orten des Völkermords abgehalten wird, ohne Anwält*innen und Berufsrichter*innen, unter Einbeziehung der gesamten Gesellschaft, wobei fast jeder Erwachsene an den Prozessen teilnimmt (die heikle Verurteilung von einer Nachbar*in durch eine Nachbar*in).

Ziel dieser Gerichte war es, die Erinnerung an das Geschehen wachzuhalten, den Status der Opfer anzuerkennen und der riesigen Anzahl von Täter*innen ins Auge zu blicken sowie das Geständnis und die Vergebung im Hinblick auf alternative Sanktionen und restaurative Ziele zu fördern (Rosoux und Shyaka Mugabe 2008, S. 35; Clark 2010, S. 169-185). Durch diese Prozesse wurde deutlich: Die Hoffnung bestand darin, dass das Recht seine ursprüngliche rettende Aufgabe wieder aufnehmen würde, indem es eine erste Grundlage für die Wiederherstellung einer Gemeinschaft schaffen würde.

Erstens waren da die Auswirkungen von Gacaca auf die Wiederherstellung der Überlebenden, trotz der Zeugenaussagen, die „Narben wieder aufreißen“ (Mutarabayire-Schafer 2010, S. 145). Angesichts dieser unfassbaren Erfahrung und ihrer Aura der Unaussprechlichkeit, die die Überlebenden noch mehr in sich selbst gefangen hielt, hat der Prozess und seine öffentliche Anerkennung die Reintegration der Betroffenen in die Welt der Menschen eingeleitet. Die Tatsache, dass die an ihnen begangenen Taten sanktioniert wurden, dass sie ihre Wut und ihre Scham zum Ausdruck bringen konnten, war der Beginn eines Prozesses der emotionalen Verarbeitung.

Es eröffnete auch manchmal die Möglichkeit zu erfahren, wo Angehörige zurückgelassen wurden, und ihnen ein Begräbnis zu ermöglichen. Darin einen Sinn für das eigene Überleben zu finden, dessen Wunder und Einsamkeit Unverständnis und Schuldgefühle nähren. „Warum ich? Was muss ich tun?“

Hier begann die Arbeit der Trauer. Das Gefühl der Wiedergeburt einer Würde, die den Opfern genommen wurde, ohne das Gefühl zu haben, die Angehörigen zu verraten, ohne sie in eine Biografie einzuschreiben, die der Genozid auslöschen wollte. Es war eine Möglichkeit, ihrem Tod durch Ort und Namen den Status einer ehemals lebenden Person zu verleihen, ihnen durch Öffentlichkeit und Materialität ein Andenken zurückzugeben.

Langfristig gesehen stellen das Urteil und das Gericht eine Reflexion über die Nutzlosigkeit von Rache und das Interesse an Wiedergutmachung dar, wie dieser Mann gegenüber Eltern argumentiert, die die bevorstehende Freilassung der Mörder ihrer Angehörigen ablehnten: „Dieser Kerl hat eure Familie umgebracht und während er im Gefängnis sitzt, zahlt ihr für seine Ernährung. Warum verwendest Du dieses Geld nicht, um euren Sohn zu erziehen und für Deine Frau zu sorgen? (…) Das Wichtigste ist jetzt, die Wahrheit zu erfahren, dann schaffen wir das schon.3

Zweitens sind die Auswirkungen von Gacaca auf die Täter*innen zu sehen, trotz der schweren Justizfehler, die während der Prozesse angeprangert wurden, der informellen Ermutigung zum Schweigen unter den Hutu-Gemeinschaften, der Bestechung von Zeug*innen und anderer Abrechnungen im Zusammenhang mit einer eiligen Justiz. Gacaca war ein Weg, als das Mosaik der Massaker auftauchte, um den Rassismus offen zu dekonstruieren und die Täter*innen mit ihren Fehlern zu konfrontieren. Trotz dieser Tortur ist es für die Angeklagten ein Mittel, um ein wenig von der Menschlichkeit zurückzugewinnen, die sie sich selbst genommen haben. Es ist ein Ritus der Wiedereingliederung in das soziale Gefüge und in ihre Familien: „Da ich an der Anerkennung des Verbrechens mitgewirkt habe, habe ich mir meinen Platz wieder verdient“.4

Zudem ist dieses Gefühl von ein wenig mehr Sicherheit und zumindest Anerkennung auf Seiten der Überlebenden und die klare Konfrontation mit ihrer Verantwortung auf Seiten der Täter*innen, die beide Seiten auf einen Neubeginn der Kommunikation miteinander hoffen lassen.

Sich von den Geschichten berühren lassen

Eines der Merkmale der ruandischen Gesellschaftstherapie nach dem Völkermord war die Förderung der Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft durch gemeinsames Geschichtenerzählen. Ab dem Jahr 2000 nahmen Zehntausende Ruander*innen, zumeist Überlebende, an diesem Programm teil, zunächst in homogenen Gruppen von zehn bis fünfzehn Personen. Diese institutionellen Gespräche, die die gegenseitige Offenlegung förderten und gleichzeitig sensible persönliche Themen behandelten, ermöglichten es den Opfern, sich vor den Gerichtsverhandlungen gegenseitig zu unterstützen, die Isolation zu verringern und durch Einkommen schaffende Aktivitäten einen neuen Lebenssinn zu finden (Gishoma et al. 2014, S. 472).

Vor allem nach den Gerichtsverhandlungen wurden Erzählgruppen von Täter*innen, Opfern und Jugendclubs (Treffen zwischen ihren Nachkommen) gegründet. Diese zwei- bis vierstündigen, zweiwöchentlich angebotenen Räume der Abwechslung schufen einen Moment des Zuhörens und des Ausdrucks von Gefühlen, die erst nach dem Versuch der Gerechtigkeit entstehen konnten (Lordos et al. 2021, S. 111): Kommunikation in einem Raum, in dem das Risiko einer Bestrafung oder Denunziation geringer war. Ohne die Teilnehmer*innen als austauschbare Individuen zu betrachten, beruht dieser freiwillige therapeutische Ansatz auf dem Prinzip der Berücksichtigung von Motivationen und autobiografischen Berichten in gegenseitigem Respekt und Ehrlichkeit. Hierin wird einer der Schlüssel zur Überwindung von Gruppengrenzen gesehen: zu verstehen, was die anderen getan und erlitten haben, aus der Sicht eines Menschen, der seinen Platz im sozialen Ganzen wiedergefunden hat.

Es gibt das Beispiel eines Mannes, der in einer soziotherapeutischen Sitzung seine vorgetäuschte Gleichgültigkeit gegenüber den Angehörigen seiner Opfer offenbart hat: Er, der im Frühjahr 1994 getötet hatte und behauptete, jedes Jahr im April zu den Gedenkfeiern nach Uganda zu reisen, versteckte sich im Buschland. Wegen seiner Schuld, die er mit gesenktem Kopf bekennt, und wegen seiner eigenen traumatischen Erinnerung an seine Taten lebt er unter einem Busch und seine Frau kommt, um ihn zu füttern.

Ein anderes Beispiel ist Claudine, eine Tutsi-Überlebende, die in einer Gruppe hörte, wie einer ihrer Henker eine ähnliche Scham über seine Taten zugab, indem er den Stoff seines Slips sichtbar nässte. In der nächsten Sitzung erhob sie sich: „Ich lebe unter denen, die den Völkermord begangen haben. Ich sehe ihre Familien. (…) Es ist zwanzig Jahre her und ich habe keine Nacht erlebt, in der ich nicht Angst hatte, getötet zu werden, sobald das Licht ausgeht, aber als ich die Geschichte unseres Freundes (…) hörte, der bereut, wie sein Körper gezeigt hat, fühlte ich eine Erleichterung. Von dem, was ich von seiner Person auf seiner Hose sah, dachte ich plötzlich: ‚Leidet er auch?‘ Und am Abend wiederholte ich es vor mir selbst, als wollte ich mich überzeugen: ‚Auch er kann leiden.‘ Danach träumte ich davon, und im Traum ging er durch meine Tür, und er ging durch sie wie ein Mann.5

Gleicher Status und gemeinsame Ziele

Zusätzlich zu diesen Instrumenten zeigen Studien, dass kooperatives Handeln, insbesondere gemeinschaftsbasierte Lösungen mit Einkommensgenerierung, einen weiteren Schlüssel darstellen (Peredo und Chrisman 2006, S. 309; Sentama 2009, S. 37ff.; Mafeza 2013, S. 793). Wenn die gespaltene Gemeinschaft an der Verwirklichung eines gemeinsamen Ziels teilnimmt – z. B. an der Arbeit in einer Maniok- oder Kaffeekooperative, an der Viehzucht, am Wiederaufbau von Häusern oder Straßen durch »Versöhnungsdörfer«, oder »Umuganda« (eine monatliche Pflichtaktivität, die der Instandhaltung der öffentlichen Infrastruktur gewidmet ist) – und wenn das Projekt erfolgreich ist (effektiv und mit gleichem Status unter den Teilnehmer*innen), indem es den Lebensunterhalt verbessert, dann festigt es die vorherigen Effekte der Gruppentherapie (Lordos et al. 2021, S. 112).

In der Tat ist die Kooperation der Moment, in dem die zusammenarbeitenden Mitglieder vertrauter miteinander sprechen können und in dem schließlich Anerkennung und Entschuldigung entstehen (Sentama 2009, S. 142). Diese auf lokaler Ebene organisierten Maßnahmen werden durch staatliche Bildungsprogramme ergänzt, die ganz ohne ethnische Bezüge auskommen (nach 1994 wurden die Bezeichnungen »Hutu«, »Tutsi« und »Twa« sofort aus den Personalausweisen gestrichen, Völkermordideologie und Divisionismus werden schonungslos verurteilt). Sie werden wiederum mit Aktivitäten kombiniert, die auf gegenseitige Hilfe abzielen: Clubs der Täter*innen, die sich organisieren, um die Felder der Überlebenden abzuernten, oder »ubusabane« (Zeremonien zum Austausch von Geschenken), Teilnahme an Solidaritätslagern oder sozialen Debatten, bei denen die Gesellschaft die Staatsbürgerschaft vor allen anderen Kriterien berücksichtigt.

Indem sie sich auf eine nicht verwandte aber wechselseitige Angelegenheit konzentrieren, sind Überlebende, Täter*innen und ihre Nachkommen durch die Eröffnung neuer Möglichkeiten und die Verbesserung ihrer Zukunftsaussichten besser in der Lage, die wesentlichen Unterscheidungen neu zu konfigurieren und gegenseitige Missverständnisse zu korrigieren. Viele haben in der Tat argumentiert: „Wie kann ich akzeptieren, wieder mit ‘ihnen’ zusammenleben zu müssen, wenn ‘sie’ mein Haus niedergebrannt haben und ich mir das Studium meiner Kinder nicht mehr leisten kann?“ (siehe auch Mafeza 2013, S. 795). Auch wenn dies nicht im Fokus der Regierung stand6, zeigen die Erfahrungen vor Ort, dass die traumatische Identität von Überlebenden und Täter*innen allmählich abnahm, wenn Ruander*innen die Möglichkeit erhielten, ihre Identität in der Nachbarschaft durch kooperative und wirtschaftliche Rollen neu zu definieren, und wenn sich die Lebens- und sozioökonomischen Bedingungen verbesserten (Lordos et al. 2021, S. 112).

Nichts kann rein weiß sein

Dennoch kann nach solchen Ereignissen, auch wenn die meisten Überlebenden und Täter*innen jetzt nebeneinander leben können, niemand sagen, dass der Völkermord »hinter ihnen liegt«. Auch wenn die meisten akzeptieren, nebeneinander zu leben, gibt es einige, die weiterhin polarisierte Gedanken hegen, vor allem, wenn sie einen anderen Bezug zur ruandischen Geschichte haben. Viele, wenn nicht alle Überlebenden behalten ihre Ängste und Befürchtungen: „Nta byera ngo“ („Nichts ist rein weiß“), sagen sie, „wir denken jeden Tag an den Völkermord, aber wir können arbeiten und leben.“ 7 In einer Gesellschaft, in der direkte Kontakte zwischen den Gruppen unumgänglich waren, war eine solche Kontaktpflicht der Schlüssel zur Wiederherstellung der sozialen Bindungen. In der Tat besteht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den Beziehungen zwischen Überlebenden und Täter*innen, die in Ruanda leben, und denjenigen, die im Ausland leben. In Frankreich und Belgien bleibt ohne diese – durch den politischen und demografischen Kontext erzwungenen – Bemühungen eine stärkere Polarisierung bestehen. Aus der Perspektive der Friedensförderung bedeutet dies, dass je enger und intensiver der Kontakt ist, mit institutioneller Unterstützung und gleichem Respekt zwischen den Parteien, umso weniger Vorurteile bestehen und desto harmonischer ist die Interaktion (Sentama 2009, S. 35-42; Mafeza 2013, S. 795).

Wie nachgeschoben und leise fügt Narcisse Nzamurambaho, Überlebender, eine letzte Überlegung hinzu: „Aber es gibt etwas, das oft nicht bedacht wird: die Erfahrung der Stimmlosen. Wenn das aktuelle Zusammenleben auf Initiativen von Staaten, religiösen Institutionen, der Zivilgesellschaft, manchmal auch auf Gesten von Henkern zurückzuführen ist, so ist es vielleicht zunächst eine Tatsache, die wir den Überlebenden und ihrem Leben vor 1994 verdanken. Wir hatten keine Stimme, also haben wir keinen Lärm gemacht. Seit der Unabhängigkeit haben die ruandischen Tutsi im Stillen gekämpft. Nach dem Völkermord haben sie weitergemacht. Dies ist einer der Gründe für die traumatischen Krisen während der Gedenkfeiern: Sie bilden den schmalen Zeitrahmen, in dem wir uns erlauben, uns zu äußern. Für den Rest der Tage gilt: Die Demut im Leben zuvor erlaubt die Bescheidenheit im Leben danach“.8

Danksagung

Dieser Artikel konnte dank der Unterstützung von Valérie Rosoux, der wohlwollenden Lektüre von Louis-Philippe Moreira und der geduldigen Gespräche mit Valens Kabarari, Narcisse Nzamurambaho und Innocent Ruzigana entstehen.

Anmerkungen

1) Während meiner Feldaufenthalte zwischen 2014 und 2019 habe ich solche Aussagen von vielen Überlebenden gehört.

2) Innocent Ruzigana, Guide an der Ntarama Gedenkstätte, in einer Email, 1.12.2021.

3) Ayad, C. (2004): Dix ans après, vivre avec ses bourreaux. Journal Libération, 6.04.2004.

4) Madeleine M., wegen Beteiligung am Genozid verurteilt, Nyarugenge Gefängnis, Kigali, Rwanda, 8.3.2016.

5) Täter-Opfer Support Gruppe, Mushubati, Ruanda, März 2019.

6) Um dennoch den Bedürftigsten zu helfen, richtete die Regierung den Unterstützungsfonds für Überlebende des Genozids (FARG) ein.

7) Narcisse Nzamurambaho, Überlebender, Telefonat, Bugesera, Ruanda, 4.12.2021.

8) Ebd.

Literatur

Clark, P. (2010): The Gacaca courts, post genocide justice and reconciliation in Rwanda: Justice without lawyers. Cambridge, New York: Cambridge University Press.

Gishoma, D. et al. (2014): Supportive-expressive group therapy for people experiencing collective traumatic crisis during the genocide commemoration period in Rwanda: impact and implications. Journal of Social and Political Psychology 2 (1), S. 469-488.

Kervran, P.; Mukamabano, M. (1999): Cinq ans après le génocide des Tutsis au Rwanda. Episode 2: Le temps des assassins. LSD, La série documentaire. France Culture (Radio). 54 min, erste Ausstrahlung im Sommer 1999.

Lordos, A. et al. (2021): Societal healing in Rwanda: toward a multisystemic framework for mental health, social cohesion, and sustainable livelihoods among survivors and perpetrators of the genocide against the Tutsi. Health Human Rights Journal 23 (1), S. 105-118.

Mafeza, F. (2013): Restoring relationship between former genocide perpetrators and survivors of genocide against Tutsi in Rwanda through reconciliation villages. International Journal of Development and Sustainability 2(2), S. 787-798.

Mutarabayire-Schafer, A. (2010): Du traumatisme du génocide à la violence de la réconciliation: Gestalt-thérapie et soutien psychologique des rescapés du génocide au Rwanda. Cahiers de Gestalt-thérapie 26, S. 143-162.

Peredo, A.M; Chrisman, J.J. (2006): Toward a theory of community-based enterprise. Academy of management Review 31(2), S. 309-328.

Rosoux, V.; Shyaka Mugabe, A. (2008): Le cas des gacaca au Rwanda: jusqu‘où négocier la réconciliation? Négociations 9(1), S. 29-40.

Sentama, E. (2009): Peacebuilding in post-genocide Rwanda. The role of cooperatives in the restoration of interpersonal Relationships. University of Gothenburg, Dissertation.

Amélie Faucheux, promovierte Soziologin und Juristin für Menschenrechte, forscht über den Akt des Tötens bei extremer Massen­gewalt und die Nachwirkungen des Völkermords in Ruanda. Sie lehrt in Paris.

Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Hussak.

Kommunale Konfliktberatung


Kommunale Konfliktberatung

Herausforderungen gesellschaftlicher Veränderungen friedenslogisch bearbeiten

von Hagen Berndt und Ornella Gessler

Krisen und gesellschaftliche Veränderungen schaffen Verunsicherung und Konflikte. Ein wesentlicher Teil davon wird auf kommunaler Ebene erlebt und ausgehandelt. Akteur*innen in Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung von Städten, Gemeinden und Landkreisen sind damit befasst. »Kommunale Konfliktberatung«, die im Folgenden dargestellt wird, kann Akteur*innen dabei unterstützen und friedenslogisches Vorgehen gegenüber sicherheitslogischen Lösungsansätzen stärken.

Gesellschaft ist immer im Wandel. In Städten, Gemeinden und Landkreisen werden größere gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche für die Bürger*innen alltäglich und direkt spürbar, beispielsweise in strukturellen Veränderungen wie Gebietsreformen, Digitalisierung oder Rückbau oder Sanierung von Stadtteilen. Kommunale Akteure aus Verwaltung, Politik oder Zivilgesellschaft gehen mit diesen (neuen) gesellschaftlichen Herausforderungen tagtäglich um, sie setzen politische Vorgaben um, sie gestalten diese oft mit und reagieren auf konkrete Herausforderungen (Bogumil und Holtkamp 2013). Allerdings gibt es häufig auch in gut funktionierenden kommunalen Strukturen für den Umgang mit Konflikten und Krisen keine erprobten Lösungswege, insbesondere wenn dabei politische, soziale und kulturelle Teilhabe unterschiedlicher Gruppen gewährleistet und unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse mit einbezogen werden sollen.

Konfliktbearbeitung in Kommunen

Wie mit Konflikten umgegangen wird und nicht ob Konflikte überhaupt ausgetragen werden, ist wesentlich. Gewöhnlich funktionieren gesellschaftliche Institutionen der Konfliktbearbeitung gut (Stadt- und Gemeinderäte, Gerichte, Vereine, Schlichtungsmechanismen etc.). Häufig gibt es bereits kompetente Personen oder glaubwürdige Einrichtungen, die dabei unterstützen, dass das »Konfliktmanagement«1 in konstruktiven Bahnen verläuft. Wenn jedoch die Beantwortung neuer Herausforderungen auf Schnittstellen definierter Verantwortlichkeiten stößt, zeigen sich häufig die Grenzen dieser Institutionen.

Der Konfliktforscher Friedrich Glasl beschreibt in seinem Modell über Konfliktdynamiken (1998), dass sich unbearbeitete Konflikte in eine zunehmend gewaltträchtigere Eskalationsspirale begeben können. Bei fortgeschrittener Eskalation ist Glasl pessimistisch, ob die Deeskalation ohne eine Intervention von außen noch gelingen kann. Er schlägt eine Intervention beispielsweise durch unterstützende Mediation, bei höheren Eskalationsstufen auch die gewaltförmige Intervention vor.

Diese Differenzierung von Interventionen findet im kommunalen Raum jedoch selten statt. Konflikte werden häufig früh durch sicherheitslogische Interventionen angegangen, z.B. durch Einsatz von Polizei, Repression und staatlicher Überwachung. Methoden und Ansätze, die einem friedenslogischen Vorgehen (vgl. Birckenbach 2012) entsprechen, nutzen eher die Entwicklungschancen von Konflikten. Beispiele sind hierfür z.B. Community Communication (Stiftung SPI 2017) oder Kommunale Konfliktberatung.

Systemische Beratung für die Konfliktbearbeitung

Der systemische Ansatz der Kommunalen Konfliktberatung ist aus der Beratungspraxis zu kommunalen Konflikten entwickelt worden (vgl. Berndt und Lustig 2014).2 Kommunale Konfliktberatung setzt dort an, wo bestehende Problemlösungsfähigkeiten, Institutionen und Strukturen an ihre Grenzen stoßen. Akteur*innen aus Politik, Zivilgesellschaft und Verwaltung werden dabei begleitet, die komplexen lokalen Herausforderungen und Konflikte zu entwirren, Bedürfnisse verschiedener Interessengruppen herauszuarbeiten, die Wirkung (oder fehlende Wirkung) von Lösungsansätzen zu verstehen und neue Optionen zu entwickeln.

Kommunale Konfliktberatung betrachtet Konfliktdynamiken vor Ort systemisch. Die Verantwortung für den Umgang mit den Herausforderungen verbleibt im gesamten Prozess bei den Akteur*innen in der Kommune, sie sind selbst für die Auswahl und Umsetzung von Strategien und Lösungen zuständig. Die Autonomie der Akteur*innen bei der Entscheidung über ihre Handlungen, die den Konfliktverlauf beeinflussen (könnten), wird von der Beratung unterstützt. Während des Beratungsprozess werden funktionierende Ressourcen und Ansätze genutzt und gestärkt. Die Beratung findet in Form einer mandatierten, allparteilich verstandenen Intervention durch ein externes Beratungsteam in einem begrenzten Zeitraum statt (Berndt und Lustig 2016; Berndt und Dörner 2021).

Der Beratungsprozess der Kommunalen Konfliktberatung ist idealtypisch in sieben Schritte gegliedert, die sich in ihren Grundsätzen an konstruktive Erfahrungen mit Konfliktbearbeitung anlehnen. Aufgrund der Komplexität gesellschaftlicher Strukturen und Interdependenzen werden jedoch in jedem Beratungsprozess Anpassungen vorgenommen, daher verläuft die Beratung oftmals nicht strikt chronologisch. Im gesamten Beratungsprozess bedarf es stets einer kritischen Reflexion gesellschaftlicher Machtverhältnisse: werden alle Stimmen gehört, »erleben« die Konfliktakteur*innen sich zusätzlich auch als gehört und werden ihre berechtigten Anliegen für Entscheidungen wirksam?

Kommunale Konfliktberatung versteht sich als allparteiliches Vorgehen. Aufgrund gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die Menschen systematisch ausschließen, die von Klassismus, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Trans- und Homofeindlichkeit oder anderen Formen der Diskriminierung betroffen sind, bezieht Kommunale Konfliktberatung im Sinne einer Allparteilichkeit deren Perspektiven bewusst in den Beratungsprozess ein. Dies bedeutet auch, in der Beratungspraxis Widersprüche sichtbar zu machen, auszuhalten und neue Lösungswege zu entdecken.

Im Folgenden wird der idealtypische Aufbau einer Beratung skizziert.

Vertrauen aufbauen und Beratungsmandat klären

Zu Beginn werden Gespräche mit kommunalen Entscheidungsträger*innen geführt. Es geht darum, Vertrauen aufzubauen und das Einverständnis der Akteur*innen für die Beratung einzuholen. Der Beratungsprozess wird durch eine Kooperationsvereinbarung mandatiert. Die Konfliktberater*innen agieren jedoch während der Beratung als unabhängige, externe Intervenierende (s. a. Blunck 2021).

Perspektiven hören und Konfliktdynamiken verstehen

Im nächsten Schritt des Beratungsprozesses führen die Konfliktberater*innen vor Ort Hintergrundgespräche mit Akteur*innen, um die verschiedenen Perspektiven, Erfahrungen, Wahrnehmungen, Interessen und Bedürfnisse zu hören. Es ist wichtig einen Rahmen zu schaffen, in dem Akteur*innen sprechen und erleben, dass ihnen zugehört wird, damit sich die Bereitschaft entwickeln kann, sich mit eigenen Rollen im Konflikt und den Anliegen der anderen Akteur*innen auseinanderzusetzen. Die Berater*innen schaffen Raum für empathisches Zuhören, in dem Vertrauliches diskret behandelt wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Berater*innen die Positionen und Standpunkte übernehmen.

Zur Erhellung des Konfliktgeschehens wird im folgenden Prozessschritt eine umfassende Situations- und Konfliktanalyse durch systemische Analysemethoden erstellt. Dabei werden Faktoren, die das Konfliktgeschehen beeinflussen, erfasst und Dynamiken dargestellt. Die kommunalen Akteur*innen entwickeln so ein tieferes Verständnis für das Konfliktgeschehen und für ihre eigenen Rollen in Bezug auf Konfliktdynamiken und Handlungen anderer Akteur*innen.

Aus der Praxis: In einer Einheitsgemeinde in Sachsen-Anhalt wurden mehr als 30 eigenständige Dörfer mit einer Kernstadt administrativ zu einem neuen Gebilde zusammengefasst. Die Bewohner*innen waren in unterschiedlicher Weise in die Entscheidungen der Kernstadt eingebunden, abhängig davon, ob sie auch weiterhin über gewählte Ortschaftsräte verfügten, über Heimatvereine organisiert waren oder keine eigenen Strukturen hatten. Sie erlebten zunehmend Einbußen in Bezug auf ihre Selbstwirksamkeit innerhalb der neuen Gemeinde, was sich teilweise in Ablehnung politischer Strukturen niederschlug. Zugleich tat sich in den Augen von Verwaltung und politischen Gremien eine Kluft zu Zivilgesellschaft und Bürger*innenschaft auf, die trotz vieler Bemühungen nicht überbrückbar erschien. Die systemische Situations- und Konfliktanalyse machte den Beteiligten deutlich, dass scheinbar eindeutige Schuldzuschreibungen als Erklärungsmuster für das Geschehen nicht ausreichen. Die Analyse legte offen, dass historische und gegenwärtige Verletzungen (z.B. Nachwendeerfahrungen von Kontrollverlust und Abwertung, Gemeindegebietsreformen), aber auch begrenzte Ressourcen, schwache Strukturen und unzureichende Kommunikation zur Konfliktdynamik beigetragen hatten.

Handlungsoptionen entwickeln

Auf Grundlage der Situations- und Konfliktanalyse werden Handlungsoptionen identifiziert. Die am Konflikt Beteiligten entwickeln selbstverantwortlich neue Handlungsweisen oder passen bestehende Maßnahmen an, um die Konflikte konstruktiv zu bearbeiten. Die Stärke dieser Phase liegt darin, dass Akteur*innen sich als Handelnde begreifen, die einer Opferhaltung innewohnende Ohnmacht durchbrechen, und gleichzeitig auf ihre eigenen Interessen achten. Berater*innen begleiten und unterstützen dabei, Vertrauen in die Handlungsbereitschaft anderer Akteur*innen zu entwickeln oder Maßnahmen auf intendierte oder nicht intendierte (Neben-)Wirkungen zu untersuchen.

Handlungsoptionen auswählen und Synergien schaffen

In diesem Beratungsschritt stellen Akteur*innen Verbindlichkeiten her und erleben sich als Teil einer konstruktiven Dynamik, an der sie gemeinsam mit anderen wirken. Das zu Beginn des Prozesses den Berater*innen erteilte Vertrauen wird zunehmend auf den Konfliktbearbeitungsprozess und die anderen Konfliktakteur*innen übertragen. Konfliktberater*innen schaffen in dieser Phase primär einen allparteilichen Rahmen für die Entwicklungen eines gemeinsam getragenen Handlungskonzepts und schlagen geeignete Formate für dessen Darstellung vor.

Aus der Praxis: In der oben beschriebenen Gemeinde wurden erfolgreich neue Formen der Bürger*innenkommunikation entwickelt: sogenannte »Zukunftsgespräche«, an denen auch Kommunalpolitiker*innen teilnahmen. Vor Ort ausgewählte Personen wurden zu Moderator*innen fortgebildet. Diese sorgten für eine Atmosphäre gegenseitigen Zuhörens, besonders wenn widerstreitende Ansichten geteilt wurden. Auf Seiten der Bürger*innen konnten auch diejenigen ihre Sichtweisen einbringen, die bislang noch nicht von der Kommunalpolitik gehört worden waren. Die entwickelten Ideen und Vorschläge wurden veröffentlicht und die Bürgermeisterin und die Stadtverwaltung reagierten mit konkreten Antworten und Umsetzungsschritten darauf (VFB Salzwedel e.V. 2019).

Maßnahmen umsetzen und Exit-Strategien

Die letzten beiden Beratungsschritte bestehen in der Begleitung der Maßnahmen und den Exit-Strategien. Die vereinbarten Maßnahmen können z.B. in Aktionsplänen festgehalten, mit Indikatoren belegt und umgesetzt werden. Zum Schluss eines Beratungsprozesses verlassen die Berater*innen diesen. Die Konfliktbearbeitung soll dann durch Akteur*innen in der Kommune selbständig und nachhaltig verlaufen. Zukünftig übertragen sie ihre Erfahrungen auf neue Herausforderungen, mobilisieren und entwickeln Strukturen zur Konfliktbearbeitung.

Ausblick für Kommunale Konfliktbearbeitung

Gesellschaftliche Krisen sind Kennzeichen der Gegenwart. Konfliktbearbeitung wird damit zu einer Zukunftsaufgabe. Kommunen benötigen Strukturen, Konflikte konstruktiv zu bearbeiten. Ausschließlich sicherheitslogische Maßnahmen reichen nicht mehr aus: friedenslogische Konfliktbearbeitung muss gestärkt werden. „Ein zentraler Schritt für den zukunftsfähigen Umgang mit Konflikten ist (…) die Anerkennung, dass es sie gibt, dass sie als Zeichen von Entwicklung und Wandel (…) gelesen werden können, und dass sie Chancen bieten, wenn alle (…) auch Beteiligte der Lösung sind.“ (Gatzemeier und Berndt 2021).

Unsere Erfahrung zeigt: Häufig sind es relativ einfache und die kommunalen Haushalte nur wenig belastende Veränderungen, die Wirkungen im Konfliktgeschehen entfalten. Wir verbinden mit der Kommunalen Konfliktberatung zweierlei: die unabhängige Beratung ist mandatiert und vertrauensvoll angebunden an diejenigen, die Entscheidungen auch umsetzen (Hebelwirkung); die Beratung ermöglicht jedoch auch gesellschaftliche Teilhabe von denjenigen, die auf gewaltfreie Weise bislang wenig Aussicht darauf hatten, ihre Interessen und Bedürfnisse einzubringen (Präven­tionswirkung). Damit kann Kommunale Konfliktberatung zu einer erfolgreichen und nachhaltigen Konflikttransformation auf kommunaler Ebene beitragen. Dies zu gewährleisten, ist Aufgabe zivilgesellschaftlich-staatlicher Zusammenarbeit.3

Anmerkungen

1) Vergleiche für das Verständnis von Konfliktmanagement auch: Bundesregierung 2020.

2) In diesem Artikel werden Erfahrungen aus Beratungsprozessen beschrieben, die im Kompetenzzentrum Kommunale Konfliktberatung des Vereins zur Förderung der Bildung – VFB Salzwedel e.V. im Rahmen des Projekts »Kommunale Integrationsstrategien für Vielfalt und Teilhabe« ausgewertet wurden. Dieses Projekt wird aus Mitteln der EU aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF), der Bundesländer Sachsen-Anhalt und Brandenburg sowie der Stiftungen Dialoge und Begegnungen, Demokratie von unten bauen und Heidehof Stiftung kofinanziert.

3) Ein Beispiel hierfür ist die Kooperationsvereinbarung zwischen dem Land Sachsen-Anhalt, der Freudenbergstiftung und dem Verein zur Förderung der Bildung – VFB Salzwedel e.V. über die Gründung des Kompetenzzentrums Kommunale Konfliktberatung, welches Kommunen in verschiedenen Bundesländern bei lokalen Herausforderungen berät.

Literatur

Berndt, H.; Lustig, S. (2014): Kommunale Konfliktberatung. Konzeption zur Beratung von Kommunen im Wandel. Köln: forumZFD.

Berndt, H.; Lustig, S. (2016): Kommunale Konfliktberatung – ein Beitrag zum Umgang mit Fragen des Zuzugs und der Integration. In: Warndorf, P. K. (Hrsg.): Integration – zwischen Konflikt und Prävention. Münster: MV Wissenschaft.

Berndt, H.; Dörner, W. (2021): Kommunale Konfliktberatung. Wenn Konflikt sich nicht von selbst lösen lassen. In: Arajärvi, O. /Schweitzer, C. (Hrsg.): Konfliktbearbeitung in der Nachbarschaft. Praxisbeispiele für ein friedliches Miteinander aus Deutschland, der Slowakei, Indien, den USA und Bosnien-Herzegowina. Bonn: Verlag Stiftung Mitarbeit, S. 83-100.

Berndt, H.; Gatzemeier, U. (2021, i.E.): Integration und Teilhabe: Kommunale Konflikte als Aufgabe und Chance. In: Hohnstein, S., Langner, J., Zschach, M. (Hrsg.): Lokale Konflikte in der Migrationsgesellschaft – Konflikterscheinungen und Konfliktbearbeitung. Deutsches Jugendinstitut Halle.

Birckenbach, H.-M. (2012): Friedenslogik statt Sicherheitslogik. Gegenentwürfe aus der Zivilgesellschaft. In: Wissenschaft und Frieden, 2/2012, S.42-47.

Blunck, M. (2021): Eine besondere Beziehung: Die „Insider-Outsider“- Dynamik in der Kommunalen Konfliktberatung. In: Großmann, K. et al. (Hrsg.): An Konflikten wachsen oder scheitern? Beiträge zur Reflexion eines komplexen Phänomens. Erfurt, S. 159-172.

Bogumil, J.; Holtkamp, L. (2013): Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine praxisorientierte Einführung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Bundesregierung (2020): Abschlussbericht des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Berlin: Bundes­ministerium des Inneren.

Glasl, F. (1998): Selbsthilfe in Konflikten. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben.

Stiftung SPI (2017): Community Communication. Diskursive Beteiligung im Gemeinwesen.

Verein zur Förderung der Bildung – VFB Salzwedel e.V. (2019): Wir für uns. Ohne Bürgerinnen und Bürger keine Stadt. Kommunale Konfliktberatung in Gardelegen. Selbstverlag.

Hagen Berndt ist Leiter des Kompetenzzentrum Kommunale Konfliktberatung des Vereins zur Förderung der Bildung – VFB Salzwedel e.V.
Ornella Gessler ist Projektreferentin im Vorhaben „Kommunale Integrationsstrategien für Vielfalt und Teilhabe“ durchgeführt im Kompetenzzentrum Kommunale Konfliktberatung.