Präsenz zeigen

Präsenz zeigen

Die deutsche Außenpolitik im Dienst des Militärs

von Peter Strutynski

Im Geschacher um einen Einsatz der deutschen Marine vor den Küsten Libanons fällt viel Schatten auf die deutsche Außenpolitik. So war im Halbdunkel kursierender Gerüchte um die Formulierung von Einsatzangeboten der Bundesregierung und Einsatzanforderungen Libanons kaum noch zu erkennen, worin das politische Ziel und – vor allem – der humanitäre Ertrag für die vom Krieg betroffene libanesische Bevölkerung liegen. Man konnte den Eindruck gewinnen, die politische Klasse in Berlin handele nach dem Muster: Wenn die Politik mit ihrem Latein am Ende ist, überlässt sie das Denken dem Militär. Das Militär seinerseits hat sich ganz dem »olympischen« Wahlspruch ergeben: „Dabei sein ist alles“.

Noch während der UN-Sicherheitsrat im August über einer Resolution zur Beendigung der Kämpfe im israelischen Krieg brütete, war sich die Große Koalition schon darin einig, die Bundeswehr in den Nahen Osten zu schicken – erst danach begann man in Berlin zu überlegen, was sie denn dort überhaupt tun solle. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Oberst Gertz, hat in einer Phoenix-Fernsehrunde am 5. September davon gesprochen, dass die Marine deshalb besonders geeignet sei für den Libanoneinsatz, weil es in dieser Waffengattung noch genügend Ressourcen gäbe. Die anderen Teilstreitkräfte sind mit ihren terrestrischen Einsätzen vom Balkan über den Kongo bis nach Afghanistan bis an die Halskrause ausgelastet. Da macht es dann auch nichts, wenn der Einsatz vor den Küsten der Levante militärisch wenig Sinn macht. Wollte man wirklich die Waffenlieferungen an die Hisbollah behindern – erklärtes Ziel der Bundesregierung –, dann wären doch wohl eher die Landwege vom Iran über Syrien in den Libanon unter die Lupe zu nehmen. Dafür aber gibt es kein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Also begnügt man sich mit dem militärisch überflüssigen, symbolisch aber umso wichtigeren Einsatz deutscher Fregatten, Korvetten und Versorgungsschiffe im südöstlichen Mittelmeer.

»Präsenz zeigen« ist in dem Zusammenhang eines der beliebtesten Wörter der Berliner Regierung geworden. Präsenz zeigen, um potenzielle Waffenschmuggler abzuschrecken, Präsenz zeigen, um dem Verbündeten Israel zu bedeuten, dass man ihn nicht alleine lässt und »deutsche Verantwortung« übernimmt, Präsenz zeigen, um den Anspruch Deutschlands auf eine gewichtigere Rolle in den Vereinten Nationen zu unterstreichen. Präsenz zeigen aber auch, um der kriegsunwilligen deutschen Bevölkerung zu zeigen, dass deutsche »Normalität« heute anders aussieht.

Mit einem Militäreinsatz zur Regulierung des israelisch-libanesischen Konflikts reißt Deutschland das letzte Tabu nieder, das die deutsche Nachkriegspolitik trotz aller Kalten-Kriegs-Töne Jahrzehnte lang bestimmte: Für undenkbar galt, militärisch in einen Konflikt einzugreifen, in dem die Nachkommen der vom deutschen Faschismus vernichteten sechs Millionen Juden zu Schaden kommen könnten. Genau das aber ist bei einem wirklich neutralen, das heißt die Konfliktparteien auseinander haltenden Blauhelmeinsatz – ob robust oder nicht – möglich.

Es sei denn, Deutschland nimmt den UN-Auftrag – die Verpflichtung zur Neutralität – nicht ernst und greift militärisch als Partei in den Nahost-Konflikt ein. Dafür spricht Vieles. Unmissverständlich erklären z.B. die Propagandisten eines deutschen Militäreinsatzes, es sei Deutschlands Hauptaufgabe im Nahen Osten, Israel zu schützen, da es sich hier um die einzige Demokratie in der Region handele und weil man das den Juden aus historischen Gründen schuldig sei. Selbst die anfänglichen konservativen Gegner eines Militäreinsatzes, wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, argumentierten auf der selben Linie wie die Befürworter: Wollten die einen nicht dabei sein, weil man dann ja womöglich in die Lage kommen könnte, „auf Israelis zu schießen“, so wollen die anderen unbedingt dabei sein, weil der Schutz israelischen Lebens einen besonders hohen Wert darstelle. Diese Spielart des voreingenommenen Philosemitismus ist bei genauem Hinsehen nichts anderes als ein latenter Rassismus. Im Umkehrschluss heißt das: Auf alles andere, auf islamische Hisbollah-Kämpfer, auf libanesische Soldaten, auf Hamas-»Terroristen«, auf irgendwelche anderen »Araber« kann sehr wohl geschossen werden, nur Israelis sind »Tabu«. Das aber ist nur die halbe Konsequenz aus der deutschen Geschichte, der wir uns selbstverständlich alle stellen müssen. Aus der Erfahrung des schrecklichsten Kapitels der deutschen Geschichte mit der millionenfachen Judenvernichtung und der Behandlung anderer, insbesondere slawischer Völker als »Untermenschen« muss auch die Lehre gezogen werden: Deutschland darf Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Religion usw. nie wieder als mehr oder weniger »minderwertig«, aber auch nicht als mehr oder weniger »höherwertig« klassifizieren. Deutschland muss das Lebensrecht aller Menschen gleich hoch bewerten. Die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung 1948 und in den beiden Menschenrechtskonventionen (Sozialpakt und Zivilpakt, 1967) verankert wurden, haben eben universelle Gültigkeit.

In der Bundestagsdebatte am 19. und 20. September zum Antrag der Bundesregierung, bis zu 2.400 Soldaten in den Nahen Osten zu entsenden, waren sich – mit Ausnahme der Vertreter der Linksfraktion – alle Redner/innen darin einig, dass Israel beim Libanonkrieg nur von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht habe und bei allen anderen Kriegen – auch denen, die vielleicht noch kommen mögen – das internationale Recht und natürlich auch Deutschland auf seiner Seite habe, während die Hisbollah (ersatzweise: die Hamas oder andere arabische Gegner Israels) der eigentliche Aggressor sei. Eine sehr einseitige Sicht, der zu Grunde liegt, dass das Kidnapping der beiden israelischen Soldaten am 12. Juli d. J. die Ursache des Krieges gewesen sei. Eine Position, die sich auch in der UN-Resolution 1701 (2006) wiederfindet, die aber leider nicht das Monate, ja, Jahre dauernde Konfliktgeschehen im israelisch-libanesischen Grenzgebiet im Ganzen betrachtet. Beispielsweise spricht der letzte Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über die Tätigkeit von UNIFIL davon, dass dem 12. Juli „permanente provokative“ Grenzverletzungen („persistent and provocative Israeli air incursions“) der israelischen Luftwaffe vorausgegangen seien (S/2006/560 – 21 July 2006). Obwohl man es also besser wissen könnte, weil die entsprechenden Dokumente vorliegen, beruht der von der herrschenden Meinung dominierte öffentliche Diskurs über den Nahen Osten auf der unausgesprochenen und nicht mehr hinterfragbaren »Geschäftsgrundlage «, dass Israel im Recht, seine Gegner im Unrecht seien. Wer das anzweifelt und für seine Zweifel nach historischen Belegen sucht (wobei man nicht lange suchen muss), gerät dann schnell in die Gefahr, nicht auf dem Boden des Rechts zu stehen bzw. antiisraelische oder sogar antisemitische Ressentiments zu bedienen.

Besonders forsche Apologeten der israelischen (Kriegs-)Politik, ob sie aus der diffusen Ecke der sog. Antideutschen oder aus dem Zentralrat der Juden in Deutschland kommen, tun sich nicht mehr so leicht mit ihren grobschlächtigen Klassifizierungen in gut oder böse, seit ihnen aus den eigenen Reihen heraus widersprochen wird. Die »Europäischen Juden für einen gerechten Frieden« stellten sich in einer öffentlichen Erklärung hinter Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul, nachdem diese den israelischen Angriff auf den Libanon als „völkerrechtswidrig“ beurteilt hatte und vom Zentralrat der Juden hierfür heftig angegriffen worden war. Kurze Zeit später meldete sich Rolf Verleger, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Lübeck und zugleich im Direktorium des Zentralrats, zu Wort und kritisierte die völlige Identifikation des Zentralrats der Juden mit der Außenpolitik Israels. „In einer Zeit“, so monierte Verleger, „in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert“, könne vom Zentralrat der Juden erwartet werden, „dass das wenigstens als Problem erkannt wird.“ Und Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter des angesehenen früheren Zentralrats-Präsidenten Heinz Galinski, legte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 1. September nach, indem sie dem Zentralrat vorwarf, sich „zum wiederholten Male als Sprachrohr der israelischen Regierung in Deutschland“, als „Propagandamaschinerie“ zu verstehen, „anstatt sich um die sozialen Belange der Gemeindemitglieder in den jüdischen Gemeinden in Deutschland zu kümmern.“ Das sei seine „eigentliche Aufgabe“. Sie legt auch den Finger auf einen wunden Punkt der öffentlichen Diskussion und der mangelnden Bereitschaft der Linken und der Friedensbewegung, sich in der Nahostfrage stärker zu engagieren: „Ich kriege so viele Zuschriften von sehr, sehr engagierten Deutschen, die absolut nicht in der rechten Ecke sind, die sich aber schon gar nicht trauen, den Mund aufzumachen. Die sagen immer, ,Sie können das mit ihrem Namen, aber wenn wir das sagen, sind wir sofort Antisemiten‘.“ Mit dem Antisemitismus-Vorwurf hantiert besonders schnell die streitbare Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, die vor kurzem sowohl der Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul als auch dem Linksfraktions-Vorsitzenden Oskar Lafontaine vorwarf, sie unterstützten mit ihrer Kritik an Israel „die Anti-Stimmung gegen Juden in Deutschland“. Dem hält Hecht-Galinski entgegen, dass „nicht diejenigen, die Israels Politik kritisieren“, den Antisemitismus „fördern“, sondern diejenigen, „die schweigen und damit zulassen, dass das Bild von hässlichen Israeli und inzwischen auch von hässlichen Juden“ entstehen könne. Die Ursache für eine hier zu Lande steigende antiisraelische Stimmung liege in erster Linie an der israelischen Politik, „die durch nichts mehr zu rechtfertigen“ sei.

Linke Intellektuelle – deren Ahnengalerie gespickt ist mit jüdischen Denkern – und die Friedensbewegung taten sich schwer, die israelische Politik in den letzten Wochen und Monaten als das hinzustellen, was sie ist: völkerrechtswidrig, aggressiv und menschenverachtend. „Jegliche Kritik wird als Antisemitismus verurteilt, und dadurch ist ja schon fast jeder mundtot gemacht worden“, sagte Frau Hecht-Galinski und kann sich dabei auch auf Erfahrungen der Organisation »Europäische Juden für einen gerechten Frieden« (EJJP) stützen, deren Mitglied sie ist und deren Stimme nur sehr selten ein Echo in den Mainstream-Medien findet. Man stelle sich nur einen Augenblick vor, die USA – und nicht die Israelis – hätten den Libanon-Krieg geführt: Wäre da nicht ein Aufschrei durch die Welt, auch durch Deutschland gegangen? Hätten sich da nicht wieder unzählige Intellektuelle, politische, soziale und kulturelle Organisationen und Institutionen zu Wort gemeldet und ihren geharnischten Protest hinaus posaunt? Die Friedensbewegung hätte mit Sicherheit wieder größere Menschenmassen auf die Straße gebracht. Kurz: Die Empörung über einen völkerrechtswidrigen Krieg, über Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Genfer Konvention hätte über die Linke und die Friedensbewegung hinaus breite Teile der Gesellschaft erfasst. Israels Krieg gegen Libanon und – nicht zu vergessen – die andauernden militärischen »Strafaktionen« gegen Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland verstießen genauso gegen Völkerrecht, Genfer Konvention und alle einschlägigen Menschenrechtskonventionen. Der lautstarke Protest dagegen blieb aus, weil die Hemmschwelle, Israel zu kritisieren, ungleich höher liegt als im Fall der USA.

Soweit das historische Bewusstsein und politische Gewissen der Deutschen dafür verantwortlich sind, dass diese Hemmschwelle höher liegt als bei jedem anderen Staat, ist das sogar ein zivilisatorischer Fortschritt. Das Bekenntnis der Deutschen zu ihrer nicht tilgbaren Schuld gegenüber den Juden impliziert immer auch eine besondere Verantwortung für deren Schutz und Sicherheit – nicht nur in Israel übrigens, sondern auch bei uns und überall in der Welt. Wenn die politische Klasse daraus allerdings eine »Staatsräson« macht, welche die bedingungslose Solidarität mit Israel zum wichtigsten Credo deutscher Außenpolitik im Nahen Osten erklärt, beraubt sie sich jeglichen politischen und diplomatischen Handlungsspielraums. Die Rede der Bundeskanzlerin in der Haushaltsdebatte am 6. September war diesbezüglich eine Offenbarung. „Es muss verhindert werden, dass deutsche Soldaten auf Israelis schießen, und sei es nur ungewollt“, sagte sie. (Dürfen wir ergänzen: Es bereitet uns kein Problem auf andere zu schießen?). Und die Kanzlerin fährt fort: „Wenn es aber zur Staatsräson Deutschlands gehört, das Existenzrecht Israels zu gewährleisten, dann können wir nicht einfach sagen: Wenn in dieser Region das Existenzrecht Israels gefährdet ist – und das ist es –, dann halten wir uns einfach heraus.“ Wann wird es dieser Kanzlerin und all jenen, die sich ihrer Staatsräson verschrieben haben, dämmern, dass die Sicherheit Israels langfristig nur dadurch zu erreichen ist, dass auch die Sicherheit der Palästinenser und aller anderen Staaten der Region garantiert wird? Krieg und Militär, das zeigt die Geschichte des Nahen Ostens der letzten 58 Jahre, haben noch nie einen Beitrag dazu geleistet.

Der Einsatz der deutschen Marine vor Libanons Küste, der am 20. September vom Bundestag mit Dreiviertelmehrheit beschlossen wurde, wird erstens die Gewalt im Nahen Osten nicht beenden. Der nächste militärische Konflikt wartet gleichsam »auf Wiedervorlage«. Zweitens wird Israel, ohnehin hochgerüstet dank US-amerikanischer und deutscher Militärhilfe, einen verlässlichen Alliierten »vor Ort« haben. Das ist zwar nicht (ganz) im Sinne der UN-Resolution 1701 und des entsprechenden Mandats des Sicherheitsrats für UNIFIL, aber es könnte – drittens – ein weiterer Bestandteil der US-Kriegsvorbereitungen werden, die auf Syrien und den Iran abzielen. Die USA halten ja nach wie vor an ihrer Drohkulisse gegen Iran fest und schließen einen Krieg nicht aus – der israelische Minister Jacob Edri ist von der Notwendigkeit dieses Krieges sogar überzeugt (Thüringer Allgemeine vom 05.09.06). Eine deutsche Truppenpräsenz vor Libanons Küste könnte Deutschland also auch in einen größeren Krieg hinein ziehen. Frau Merkel wäre, als sie noch nicht Kanzlerin war, gern beim US-Krieg gegen Irak mitmarschiert. Ob ihr damaliger Traum sich gegen Iran erfüllt? Er geriete zum Alptraum – für alle Beteiligten: Die Bundeswehr »zeigt Präsenz« im Libanon und wird »präsent« im nächsten Nahost-Krieg.

Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler; Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Uni Kassel, die die jährlichen »Friedenspolitischen Ratschläge« veranstaltet.

Polizeisoldaten

Polizeisoldaten

Die Paramilitarisierung deutscher Außenpolitik

von Martina Harder

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble forderte die Entsendung der Bundespolizei, des ehemaligen Bundesgrenzschutzes, an die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien. Unmittelbar nach der Aufhebung der Seeblockade durch Israel reiste Außenminister Walter Steinmeier nach Beirut und brachte deutsche Bundespolizisten und Zollbeamte mit, die den Verkehr des dortigen Flughafens überwachen sollen.1 Dieses Engagement, für das weder eine formale Einladung des Ziellandes, noch ein Bundestagsentscheid notwendig war, wirft ein Schlaglicht auf die „Hybridisierung der sicherheitspolitischen Einsatzformen“ und die damit einhergehende zunehmende Vermischung ziviler (polizeilicher) und militärischer Aufgaben.2 Für die Autorin ist die wachsende Verwendung polizeilicher Kräfte in Auslandsmissionen eine direkte Konsequenz des veränderten Sicherheitsverständnisses, das dem beobachtbaren Anstieg militärischer Auslandseinsätze zugrunde liegt. Sie untersucht die verschiedenen Formen internationaler Polizeieinsätze und geht ein auf die Gefahren der fortschreitenden Vermischung polizeilicher und militärischer Aufgaben.

Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), lehnt einen Polizeieinsatz im Libanon zur Grenzsicherung inmitten eines Konfliktherdes scharf ab: „Das ist eine militärische Aufgabe, keine polizeiliche. Ich kann verstehen, dass man zurückscheut, deutsche Soldaten dort einzusetzen. Aber wir wollen nicht die Lückenbüßer für die Bundeswehr sein.“ Freiberg weist in diesem Zusammenhang auf eine nur auf den ersten Blick seltsam anmutende Paradoxie deutscher Sicherheitspolitik hin: Zuerst habe Schäuble „immer vom Einsatz der Bundeswehr im Inneren gesprochen, obwohl das doch Polizeiaufgaben sind, jetzt soll die Polizei auf einmal militärische Aufgaben im Ausland erledigen.“3 Während manche innenpolitischen polizeilichen Aufgaben Soldaten übergeben werden sollen, verläuft die Entfesselung sicherheitspolitischer Organe auch in die umgekehrte Richtung, indem die Polizei mehr und mehr auf die Durchführung quasi-militärischer Auslandseinsätze ausgerichtet wird. Auf der GdP-Internetseite fasst Freiberg die Entwicklung pointiert zusammen: „Jetzt sollen Polizisten Soldaten unterstützen. Sind wir etwa auf dem Weg zu einer Miliz, über alle von der Verfassung gebotenen Grenzen hinweg?“4

Aus Sicht der Regierenden ist dies nur konsequent, wie Christian Schmidt, parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, verdeutlicht: „Eine betonierte Trennung von äußerer und innerer Sicherheit ist nicht mehr aufrecht zu erhalten.“ Wenn über einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren nachgedacht werde, müsse die Polizei im Gegenzug dazu bereit sein, „typische Polizeiaufgaben in Auslandseinsätzen, z.B. auf dem Balkan, wahrzunehmen.“5

Polizeieinsätze: Bestandteil des neuen Militärinterventionismus

Da in ihnen potenzielle Rekrutierungs- und Rückzugsgebiete für Terroristen gesehen werden, wird inzwischen die militärische Stabilisierung so genannter fehlgeschlagener Staaten als ein elementarer Bestandteil deutscher Sicherheitspolitik propagiert. Hierfür müssten – so der herrschende Konsens – sämtliche zur Verfügung stehenden Instrumente, also nicht nur das Militär, sondern insbesondere auch die Polizei, eingesetzt werden.

Michael Schaefer, Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, betont etwa, das neue Sicherheitsverständnis erfordere den „kohärenten Einsatz von zivilen und militärischen Mitteln“, wie er bspw. von der Europäischen Sicherheitsstrategie anvisiert werde. Gleichzeitig hebt er dabei die zentrale Funktion polizeilicher Missionen hervor, die damit zu einem integralen Bestandteil des neuen Militärinterventionismus werden: „Gerade unsere Operationen auf dem Balkan sowie in Afghanistan zeigen: Zivile Instrumente, v.a. Polizei, sind unverzichtbarer und komplementärer Bestandteil militärischer (Post-)Krisenmanagement-Operationen.“6 Dieter Wehe, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Internationale Polizeimissionen (AG IPM) von Bund und Ländern, teilt diese Sichtweise: „Wenn wir nicht dahin gehen, wo die Probleme sind, werden die Probleme zu uns kommen.“7

Die Mitschuld westlicher Staaten an der Entstehung von Konflikten ist in diesen Argumentationsmustern ebenso wenig zu finden, wie die Tatsache, dass das propagierte Allheilmittel, eine Mischung aus militärischer Befriedung und parallelem Aufbau der staatlichen Sicherheitsstrukturen nach westlichem Modell, häufig Teil des Problems ist. Nur vor dem Hintergrund dieses fragwürdigen Sicherheitsverständnisses, bei dem Deutschland wortwörtlich am Hindukusch verteidigt wird, wird die massive Ausweitung polizeilicher Missionen verständlich. Seit dem ersten Einsatz im August 1989 in Namibia haben mittlerweile fast 5.000 Beamte – davon 1.600 vom damaligen Bundesgrenzschutz – an internationalen Polizeimissionen teilgenommen. Wenn auch derzeit noch beratende Funktionen dominieren, so lässt sich doch ein Übergang zu immer militärischeren Einsätzen feststellen. Die Unterschiede zwischen hochintensiven Polizeieinsätzen und Kriegen niedriger Intensität und damit auch die grundsätzliche Trennung zwischen Militär und Polizei verwischt zunehmend.

Polizeieinsätze im Ausland

Im Fall der Krisenprävention und des Krisenmanagements reisen die Ordnungshüter überwiegend als Träger hoheitlicher Exekutivbefugnisse, was u. a. das Recht auf den »angemessenen Gebrauch von Waffen« einschließt. Demgegenüber verfügen Dokumentenberater und Verbindungsbeamte, die im Rahmen polizeilicher Aus- und Fortbildungshilfe insbesondere zur Migrationskontrolle agieren, zumeist nicht über exekutive Handlungsmöglichkeiten, auch wenn sich ein aktives Eingreifen im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik kaum kontrollieren oder unterbinden lässt.

Dokumentenberater und Verbindungsbeamte

Die Bundespolizei übernimmt immer häufiger Auslandsaufgaben. Über Verbindungsbeamte unterhält sie ein weit reichendes Beziehungsnetz. Ihre Aufgaben sind der Informationsaustausch mit den entsprechenden Organisationen des Gastlandes, das Erstellen einer grenzpolizeilichen Lageanalyse, die Anfertigung von Personenprofilen illegaler Migranten und die Unterstützung operativer Maßnahmen vor Ort. Über das Netzwerk der EUROPOL werden Informationen verknüpft und anderen EU-Staaten zur Verfügung gestellt. Derzeit sind 18 deutsche Bundespolizisten als Verbindungsbeamte in 17 Staaten stationiert.8

Im Jahr 2002 führte die Bundespolizei mit Dokumentenberatern insgesamt 42 Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen auf 24 migrationsrelevanten Drittlandflughäfen durch, deren Aufgabe es ist, Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen die Einreise in die EU zu erschweren. Einsätze längerer Dauer fanden dabei in Ghana, Nigeria, Jugoslawien und Albanien statt. Dabei wurden 1.590 Passagiere wegen unzureichender Ausweispapiere von einer Beförderung ausgeschlossen.9

Stabilitätspakt-Südosteuropa

Die EU finanziert Programme für polizeiliche Aus- und Fortbildungen in Südosteuropa. Die vom Bundesinnenministerium (BMI) bereitgestellte Ausbildungshilfe umfasst die Vermittlung von Rechtsgrundlagen, Einsatzgrundsätzen sowie spezielle polizeiliche Einsatzpraktiken. Dazu werden Seminare und Hospitationen durchgeführt sowie Stipendiatenprogramme für Führungskräfte und Experten angeboten. Die Ausstattungshilfe soll es diesen Staaten erleichtern, den Anforderungen an moderne kriminal- und grenzpolizeiliche Standards gerecht zu werden. Sie umfasst vor allem die Lieferung von Einsatzfahrzeugen, Funk- und EDV-Ausstattung, Wärmebildgeräten sowie anderem kriminaltechnischem Gerät.10 Aus den Mitteln des SOE-Stabilitätspaktes werden seit 2002 umfassende Hilfsleistungen für die jugoslawische Polizei finanziert. Auch fand im Rahmen des Stabilitätspaktes eine Partnerschaft mit Kroatien statt. Ziel war die Entwicklung und nachhaltige Stabilisierung der Bereiche Asyl, Migration und Grenzschutz.

Weitere EU-Förderprogramme werden z. Z. in Polen, Ungarn, der Ukraine, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Albanien unter Leitung oder Beteiligung der Bundespolizei durchgeführt.

Polizeimissionen zur Aufstandsbekämpfung

Der Großteil deutscher Polizeieinsätze findet im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) statt. Der erste Einsatz, der überhaupt im Rahmen der ESVP erfolgte, war die Polizeimission in Bosnien und Herzegowina (EUPM), die aktuell aus 464 Polizisten und 62 nicht näher bezeichneten »Zivilisten« aus 34 Staaten besteht. Ziel der Polizeimission ist der Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption sowie der Aufbau von Institutionen der inneren Sicherheit. Derzeit sind 90 deutsche Polizisten an der Mission beteiligt.

Auf den NATO-Einsatz in Mazedonien folgte mit CONCORDIA die zweite ESVP-Mission, die im Dezember 2003 von der Polizeimission PROXIMA abgelöst wurde. Diese bestand bis zu ihrem Ende im Dezember 2005 aus 170 Polizisten aus 23 EU-Staaten und 30 Einsatzkräften in Zivil, die ebenfalls mittlere und leitende Polizeikräfte ausbildeten, exekutive Aufgaben übernahmen und bei der Reform des Innenministeriums mitwirkten.

Die dritte ESVP-Polizei-Mission ist EUPOL KINSHASA, die den Aufbau von Sicherheitskräften der kongolesischen Regierung zum Ziel hat. Die Polizeieinheiten, die mit EU-Entwicklungshilfegeldern ausgerüstet werden, setzen sich aus Anhängern verschiedenster Bürgerkriegsmilizen zusammen. Wie problematisch Polizeimissionen zur so genannten Sicherheitssektorreform sind, zeigt gerade EUPOL KINSHASA. Als von der Übergangsregierung unter Joseph Kabila im Sommer 2005 die Wahlen verschoben wurden, kam es zu friedlichen Protesten, die, höchstwahrscheinlich unter Beteiligung der durch die EU unterstützten Sicherheitskräfte, gewaltsam niedergeschlagen wurden.11

Die ESVP-Polizei-Mission EUJUST LEX im Irak steht unter der Leitung von Stephen White, einem Polizeioffizier, der einen Großteil seiner Laufbahn in Nordirland absolvierte. In Nordirland wird die Polizei straff geführt und arbeitet systematisch mit dem Militär zusammen. EUJUST LEX hat zum Ziel, bis zu 700 irakische Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Gefängniswächter auszubilden. Die Mission wurde am 12. Juni 2006 um weitere 18 Monate verlängert.12 Die Bundesregierung führte ressortübergreifend zwei der genannten Ausbildungskurse in Deutschland durch, auf Basis von in Brüssel entwickelter Ausbildungsmodule. Damit übernimmt Deutschland Aufgaben, zu denen sich die Besatzungsmächte verpflichtet hatten.

Im Rahmen VN-mandatierter Missionen stellt Deutschland neben etwa 6.500 Soldaten auch knapp 300 Polizisten unter anderem für folgende Einsätze: UNMIK/Kosovo (260 Polizisten), ISAF/Afghanistan (16), UNOCI/Elfenbeinküste (5), UNOMIG/Georgien (4) und UNMIL/Liberia (5).13 Eine Schlüsselrolle kommt Deutschland beim Engagement innerhalb der UN-Mission für den Wiederaufbau der afghanischen Polizei zu, das Ende 2005 von der Bundesregierung für ein weiteres Jahr verlängert wurde. Seit 2002 hat Deutschland dort die internationale Führungsrolle übernommen. Bisher wurden 58 Mio. Euro von Deutschland und 350 Mio. Euro von der internationalen Gebergemeinschaft für den Polizeiaufbau in Afghanistan bereit gestellt. Insgesamt wurden über 59.000 afghanische Polizeibeamte an der von Deutschland neu errichteten Polizeiakademie in Kabul ausgebildet.14

In ganz Afghanistan kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Polizei. Gelegentlich wird dabei auch das Feuer auf Demonstrationen eröffnet, werden Zivilisten getötet. Nach Ansicht des UN-Sonderbeauftragten Tom Koenigs handelt es sich bei den Unruhen in Afghanistan um einen regelrechten „Aufstand“, bei dessen gewaltsamer Niederschlagung afghanische Polizeibeamte regelmäßig eingesetzt werden.15

Polizeimissionen zur Stabilisierung repressiver Regierungskräfte (Kongo) oder noch direkter als elementarer Bestandteil einer de facto-Besatzung durch westliche Truppen (Afghanistan und Irak) gehören damit zu den Instrumenten, „mit denen schwächere Staaten unterhalb der Schwelle des offenen Krieges beeinflusst und gelenkt werden können.“16 Da dies von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird, sind schwere Auseinandersetzungen praktisch vorprogrammiert.

Deutsche Planungszellen Internationaler Polizeimissionen

Das Institut für Aus- und Fortbildung in NRW gilt – neben der Ausbildungsstätte der Bundespolizeiakademie in Lübeck sowie der Polizeiakademie in Wertheim (Baden-Württemberg) – als bedeutendste Trainingsstätte für internationale Einsätze im Rahmen des »Zivilen Krisenmanagements« der Europäischen Union.

Die Polizeiakademie in Wertheim trainiert für folgende Missionen: EU Police Mission (EUPM) in Bosnien und Herzegowina, EU African Union Support Mission (EU AMIS II) im Sudan, EU-Border-Assistance-Mission (EUBAM) in Rafah/Palästina und das EU Coordinating Office for Palestinian Police Support (EUPOL COPPS) in Palästina.

Die Schule der Bundespolizei in Lübeck ist für die Projektgruppe Polizeilicher Aufbau Afghanistan (PGPAA) verantwortlich. Auch für die UN Observer Mission (UNOMIG) in Georgien und das Police Advisory Team (EUPAT) in Mazedonien, die UN Mission in Liberia (UNMIL), die UN Mission in Sudan (UNMIS) und die EU Border Assistance Mission (EUBAM) in Moldawien und der Ukraine übernimmt sie die Schulung der Beamten.17

In Bonn, in unmittelbarer Nähe des IAF NRW, das u.a. im Kosovo eingesetzte Polizisten ausbildet, liegt das Gelände der Vereinten Nationen. Aufgrund dieser Nähe zieht deren Department für friedenssichernde Operationen (DPKO) dort offenbar einen Trainingsstandort für internationale Polizistinnen und Polizisten in Erwägung.18

Die jüngsten Organisationseinheiten der Schule der Bundespolizei sind die Einsatzhundertschaften im niedersächsischen Gifhorn. Auf die erste Hundertschaft, die bereits ein Jahr in Gifhorn kaserniert ist, folgte im Januar die zweite, womit das Personalsoll von über 200 Beamten erfüllt wurde. Die Einheit soll sowohl für bereitschaftspolizeiliche Aufgaben im Inland als auch in polizeilichen Einsätzen im Ausland eingesetzt werden.

Die Paramilitarisierung deutscher Außenpolitik

Am 14. April 1949 legte der Polizeibrief der alliierten Militärgouverneure an den Parlamentarischen Rat den Rahmen deutscher polizeilicher Arbeit fest. Er beinhaltete das Verbot, dass „deutsche Polizeikräfte in einer Weise neu organisiert, bewaffnet oder ausgebildet werden, die ihnen militärischen oder militärähnlichen Charakter gibt oder sie in die Lage versetzt, im Gegensatz zu Polizeiaufgaben militärische Aufgaben“ durchzuführen.19 Betrachtet man die heutige Realität, so muss man feststellen, dass internationale Polizeieinsätze einen immer militärischeren Charakter annehmen.

Polizeimissionen gelten fälschlicher Weise als Zivilisierung einer maßgeblich durch das Militär geprägten Außenpolitik. Als Schäuble die libanesisch-syrische Grenze »seinen« Bundespolizisten überantworten wollte, wurde der Ruf nach einer robusteren Polizeieinheit laut. Die GdP fordert zur Bewältigung gewalttätiger Auseinandersetzungen entsprechend ausgebildete und ausgerüstete Einheiten.20 Vieles deutet darauf hin, dass mit der Errichtung der Sondereinheit in Gifhorn dieser Plan bereits realisiert wird. Ziel sei es, so ein BGS-Spezialist, „Demonstrationen bewältigen zu können.“ 21 Ein GdP-Pressesprecher räumte ein, solche Einsätze fänden in einer rechtlichen Grauzone statt, die Bundespolizei könne dabei in Situationen geraten, „die mehr militärischen Charakter haben.“ Aus diesem Grund forderte Konrad Freiberg „gepanzerte Fahrzeuge“ für polizeiliche Auslandsmissionen. Auch sei zu überlegen, ob „für diese Einsätze Maschinengewehre“ bereitzuhalten seien.22 Vor allem die Gifhorner Einheit scheint damit die Speerspitze für eine direkte polizeiliche Unruhe- und Aufstandsbekämpfung im Ausland (riot control) zu werden, die sich kaum mehr von Militäreinsätzen trennen lässt.23 Deutschland folgt somit dem europäischen Trend zur Ausbildung paramilitärischer Einheiten. Fünf EU-Staaten sind bereits dabei, eine Gendarmerietruppe von 800 Mann aufzustellen, die konzeptionell eher militärischen als polizeilichen Charakter hat.24

Im Zug der Auslandseinsätze wird die Trennung von polizeilichen und militärischen Aufgaben aufgeweicht. Bei der Logistik und vor allem bei einem schnellen Rückzug aus Drittländern sind Polizeimissionen oft auf die Zusammenarbeit mit dem Militär angewiesen. Wehe betont diesbezüglich die Kraft des Faktischen: „Die Trennung zwischen Militär und Polizei ist zwar wünschenswert, aber oftmals nicht zu realisieren.“25

Wer den zunehmenden Militärinterventionen zur »Stabilisierung« fehlgeschlagener Staaten kritisch gegenüber steht, muss ebenso skeptisch die Funktion internationaler Polizeieinsätze betrachten, die ihrerseits integraler Bestandteil des neuen Interventionismus sind. Hinzu kommt, dass mit solchen Polizeimissionen die Außenpolitik immer weiter der parlamentarischen Kontrolle entzogen wird. Die Bundespolizei untersteht allein dem Innenminister. Seine Beschlüsse bezüglich der Verwendung der Polizei im Ausland bedürfen keiner Zustimmung des Parlaments. Einsätze sollen zuverlässig, schnell und leise vonstatten gehen. In dieses Bild passt auch Schäubles Forderung, künftig Polizisten – analog zu Soldaten – ohne deren Einwilligung für Auslandseinsätze verpflichten zu können.26 So „drängt sich der Eindruck auf, dass deutsche Polizeikontingente insbesondere dann zum Einsatz kommen, wenn ein militärischer Einsatz wegen der vorgeschalteten Parlamentsentscheidung untunlich ist“, schreibt Andreas Fischer-Lescano. Die Konsequenz wäre eine zunehmende „Entparlamentarisierung der deutschen Außenpolitik“.27

Diese Entparlamentarisierung reduziert die Transparenz der deutschen Außenpolitik. Informationen gelangen nicht in die Zeitungen, und somit verliert die Presse ihre kontrollierende Wirkung. Polizisten genießen darüber hinaus in der deutschen Bevölkerung eine weit größere Akzeptanz als Soldaten. Die Erfahrungen mit verkehrsregulierenden oder kriminalpolizeilichen Aufgaben der Polizei verleiten zu dem Fehlschluss, die Wahrung von Ordnung und Friede in Afghanistan, im Irak, im Kongo oder im Kosovo sei ähnlicher Gestalt.

Anmerkungen

1) Die Libanon-Krise, Informationen des Auswärtigen Amtes, 31.08.2006.

2) Fischer-Lescano, Andreas: Soldaten sind Polizisten sind Soldaten – Paradoxien deutscher Sicherheitspolitik, in: Zeitschrift Kritische Justiz, Heft 1/2004, S. 67-80.

3) Klug, Sönke: Bundespolizei – Wir wollen nicht Lückenbüßer sein, Spiegel Online, 17.08.2006.

4) GdP: Bundespolizisten nicht in militärische Konflikte verwickeln, Pressemitteilung, Berlin, 16.08.2006.

5) Merten, Ulrike: Bundespolizei soll zu Auslandseinsatz gezwungen werden können, in: Netzzeitung, 29.07.2005.

6) NATO & ESVP: Gestaltung des europäischen Pfeilers einer transformierten Allianz, Rede von Dr. Michael Schaefer, Auswärtiges Amt, 15.03.2004.

7) Wehe, Dieter: Internationale Polizeimissionen – Einsatz im Ausland, in: Deutsche Polizei – Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei, Nr.3, März 2006, S. 8-12, S. 8.

8) German-Foreign-Policy.com: Pate der Polizei, 27.02.2006.

9) Bundesministerium des Innern, Berlin: Bundesgrenzschutz – Jahresbericht 2002.

10) BMI Daten und Fakten: Internationales und multilaterales Engagement des Bundesministeriums des Innern, URL: http://www.bmi.bund.de.

11) Marischka, Christoph/Obenland, Wolfgang: Friedliche Kriege? Auf dem Weg zum Weltpolizeistaat, ISW-Spezial Nr.19 (2005).

12) Rat der EU: EU Integrated Rule of Law mission for Iraq, 10383/06 (Presse 181).

13) ZIF (Zentrun für internationale Friedenseinsätze): German Personnel in Peace Operations, May 2005.

14) Schäuble, Wolfgang: Innere Sicherheit unter deutscher Führung in Afghanistan weiter stabilisieren, Pressemitteilung des BMI vom 07. Dezember 2005.

15) Mehr Soldaten nach Afghanistan, Frankfurter Rundschau, 05.09.2006.

16) Marischka/Obenland 2005, S. 21.

17) Wischerath, R./Litges, T.: Das Vorbereitungsseminar, Polizei NRW Auslandseinsätze (Dezernat 13), 21.11.2005.

18) Sazer, U.: Hoher Besuch in Brühl, Polizei NRW, 15.03.2006.

19) Dokumentation des Polizeibriefes bei: Martin Willich: Bundesgrenzschutz – Historische und aktuelle Probleme der Rechtsstellung des Bundesgrenzschutzes, seiner Aufgaben und Befugnisse, Hamburg 1980. Vgl. zur Entwicklung des BGS Harder, Martina: Die Erweiterung des BGS-Einsatzspektruns, in: AUSDRUCK – Das IMI-Magazin, Dezember 2005.

20) GdP-Positionen und Forderungen zu Auslandseinsätzen der deutschen Polizei, in: Deutsche Polizei – Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei Nr.3 März 2006, S. 13.

21) Gutzeit, Achim: Entlastung für die Bundeswehr? Die geplante BGS-Truppe für den Auslandseinsatz, in: Streitkräfte und Strategien, Sendereihe des NDR, 02.07.2005.

22) Militarisierung, German-Foreign-Policy.com, 07.07.2005.

23) Gutzeit, Achim: Entlastung für die Bundeswehr? Die geplante BGS-Truppe für den Auslandseinsatz, in: Streitkräfte und Strategien, Sendereihe des NDR, 02.07.2005.

24) Daniel, Tobias: Startschuss für europäische Polizeitruppe, europa-digital.de, 28.9.2004.

25) Wehe 2006, S. 9.

26) Merten 2005.

27) Fischer-Lescano 2004.

Martina Harder ist Mitarbeiterin der Tübinger Informationsstelle Militarisierung.

Bundeswehreinsätze im Inneren

Bundeswehreinsätze im Inneren

Betriebswirtschaftliche Argumentation als Triebfeder

von Michael Berndt

Im Frühjahr diesen Jahres erregte Bundesinnenminister Schäuble Aufsehen mit seiner Forderung, die Bundeswehr verstärkt im Inland einzusetzen. Dabei dachte er an Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft und an einen besonderen Beitrag der Bundeswehr zum Kampf gegen den Terrorismus. Die Argumentationskette: Die Bundeswehr verfügt über Fähigkeiten, die die Polizei nicht besitzt, diese Fähigkeiten müssen auch im Inland zur Terrorismusabwehr genutzt werden, und da Großereignisse immer auch die Gefahr terroristischer Anschläge in sich bergen, bietet sich ein Bundeswehreinsatz hier direkt an. Im Spätsommer sind diese Forderungen weitgehend aus den Medien verschwunden. Die Bundeswehrdiskussion wird beherrscht von der aktuellen Situation in Afghanistan und dem Einsatz vor der Küste des Libanon. Bundeswehreinsätze stellen sich wieder als Auslandseinsätze dar. Doch Schäubles Vorstellungen sind genau so wenig vom Tisch, wie das am 15.02.2006 vom Bundesverfassungsgericht für nicht grundgesetzkonform erklärte Luftsicherheitsgesetz. Im Entwurf des neuen »Weißbuchs zur Sicherheitspolitik«, das die Bundeskanzlerin zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt der Bundesregierung für das Restjahr1 erklärte, finden sich all diese Themen wieder. Was ist der Hintergrund für diese neue Debatte über die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr?

Bei der Diskussion über die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr erscheint es so, als ginge es der Bundesregierung um reine Machtpolitik und eine stärkere außenpolitische Rolle – auch im Verhältnis zu den USA und den anderen westeuropäischen Staaten. Wenn Exverteidigungsminister Struck von der Verteidigung Deutschlands am Hindukusch spricht, unterstreicht das diese These, es sagt aber noch nichts aus über die Hintergründe einer Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inneren unseres Landes. Bei Letzterem zeigt sich, dass nicht nur (Welt-)Ordnungsvorstellungen, Vorstellungen über die Rolle militärischer Gewalt und eine einseitige Sicherheitsdefinition bei der Erweiterung der Bundeswehr-Einsätze eine Rolle spielen, sondern auch eine betriebswirtschaftliche Zweck-Mittel-Logik.

In diesem Artikel geht es um den Zusammenhang zwischen dieser Zweck-Mittel-Logik und der Definition von Sicherheit,2 darum, wie die Grenze zwischen Innerer und Äußerer Sicherheit zunehmend verwischt wird.

Verfassung wird ausgehöhlt

Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – in seiner mit den Notstandsgesetzen von 1968 festgelegten Fassung – heißt es in Artikel 87a: „(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf… (2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“

Doch was lässt das Grundgesetz ausdrücklich zu? Im Normalzustand/Frieden lässt das Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr im Inland nur als humanitäre/technische Amtshilfe bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unfällen zu (Art. 35). Im Ausland darf die Bundeswehr im Normalzustand nach Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes von 1994 nur im Kontext von Systemen kollektiver Sicherheit zur Wahrung des Weltfriedens eingesetzt werden. Nach diesem Verständnis verbietet das Grundgesetz im Normalzustand sowohl den militärischen Einsatz der Bundeswehr im Inland, wie den rein nationalen Einsatz der Bundeswehr als militärisches Instrument im Ausland. Ausnahmeregelungen trifft das Grundgesetz für den Inlandseinsatz nur noch für die Fälle des inneren Notstandes und des Verteidigungsfalls. Nur während eines inneren Notstandes, nach Artikel 91, darf die Bundeswehr zur Unterstützung der Polizei beim Objektschutz und bei der Bekämpfung von organisierten und militärisch bewaffneten Aufständischen tätig werden (Art. 87a [4]). Und nur im Verteidigungsfall (Art. 115) darf die Bundeswehr zur Verkehrsregelung, zum Schutz ziviler Objekte und zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen (GG Art 87a [3]) eingesetzt werden.

Diese Regelungen scheinen klar, doch die Geschichte der Bundeswehreinsätze ist davon geprägt, dass die Einsatzmöglichkeiten zunehmend ausgedehnt wurden,3 einhergehend mit einer teils offenen, teils stillen Neuinterpretation der grundgesetzlichen Regelungen. Ein Ausdruck der offenen Neuinterpretation ist das Verfassungsgerichtsurteil von 1994.4 Während die sukzessiven Erweiterungen bei den Auslandseinsätzen zumeist von größeren öffentlichen Protesten begleitet wurden, trifft dies auf die Erweiterungen der Einsatzmöglichkeiten im Inneren kaum zu. Hier wurde eher im Stillen uminterpretiert und entsprechend gehandelt.

Zunächst wurde die Bundeswehr im Inland tatsächlich nur zur Amtshilfe bei Naturkatastrophen und Unfällen eingesetzt, z. B. bei diversen Hochwasserkatastrophen seit den 1960er Jahren. Später kamen Unterstützungseinsätze bei gesellschaftlichen Großereignissen und polizeilichen Großaktionen dazu. Amtshilfe mit Sanitätern und Transportkapazitäten wurden aktuell beim Weltjugendtag 20055 und der Fußballweltmeisterschaft 20066 geleistet, obwohl beide Ereignisse sicher nicht unter Naturkatastrophe oder besonders schweres Unglück eingereiht werden können. Für die Fußballweltmeisterschaft wurden außer den tatsächlich eingesetzten Kräften auch Einheiten bereit gehalten, die im Notfall zum Einsatz kommen sollten. Über die neutrale Amtshilfe gingen dann aber schon in den 1980er Jahren Inlandseinsätze der Bundeswehr hinaus, die als Hilfe bei der Durchsetzung bestimmter politisch umstrittener Projekte im Inland zu interpretieren sind. So unterstützte die Bundeswehr z.B. im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf die Polizei mit Hubschraubern zum Transport und zur Aufklärung7. Mit all diesen Erweiterungen änderte sich auch das eingesetzte Material. So wurden u.a. beim Hochwasser an Rhein, Main, Mosel und Saar 1995 auch Tornado-Kampfflugzeuge zur Luftaufklärung im Tiefflug eingesetzt.8 „Die Tornados konnten nach dieser Tiefflugerprobung ihrer neuen Aufklärungsgeräte … wenig später nach Bosnien verlegt werden“9 Auch die Auslandseinsätze begannen mit humanitärer Hilfe bei Naturkatastrophen, zuerst 1960 in Marokko. Und sie endeten (zunächst) bei der Möglichkeit, die Bundeswehr auch zum Kampf außerhalb der Landesverteidigung einzusetzen, wenn sie nur – wie das Verfassungsgerichtsurteil von 1994 festlegt – im Kontext von Systemen kollektiver Sicherheit – also nicht rein national – stattfinden und der Bundestag ihnen zustimmt.

Bei den Auslandseinsätzen sammelte die Bundeswehr Erfahrungen, von denen Schäuble u.a. jetzt auch bei Einsätzen im Inneren profitieren möchte. So praktizierte sie im Nachkriegs-Kosovo und im Rahmen der ISAF in Afghanistan Objektschutz und die Unterstützung polizeilicher Maßnahmen. Also genau das, was im Frühjahr diesen Jahres als Aufgabe für Inlandseinsätze in die Diskussion gebracht wurde.

Eine Gesamtbetrachtung der Erweiterungen fördert zu Tage, dass sie immer schrittweise durchgeführt wurden, so dass die jeweilige Bundestagsmehrheit sie mittragen konnte und es in der Bevölkerung keine riesigen Proteste gab. Jeder Schritt beinhaltet dabei aber bereits die Option auf den nächsten. Genau deshalb ist auch bei der neuerlichen Diskussion über den Bundeswehreinsatz im Inneren größte Skepsis angesagt.

Ökonomisierung und Sicherheitsdefinition

Die Forderung nach erweiterten Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inneren wird zum einen begründet mit der veränderten Sicherheitslage und zum anderen damit, dass die Bundeswehr über Fähigkeiten verfügt, die die Institutionen, die im Inland für derartige Einsätze zuständig sind – so die Bundespolizei, die Landespolizeien, das THW, die Feuerwehren und die diversen medizinischen Institutionen –, nicht besitzen. Aufschlussreich ist dabei, dass nicht etwa der Bundesverteidigungsminister an erster Stelle die neuen Vorstellungen über den Inlandseinsatz der Bundeswehr in der Öffentlichkeit vertritt, sondern der Bundesinnenminister. Statt für die, in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Bundespolizei neues Material zu fordern – was allerdings einer weiteren kritischen Diskussion bedürfte –, fordert er eine Neudefinition des Verteidigungsbegriffes.10

Hier zeigt sich, wie ökonomisiertes Denken Einzug in die sicherheits- und militärpolitischen Planungen genommen hat. Es geht nur noch um die Ziel-Mittel-Frage: Auf der einen Seite steht eine veränderte Rahmenlage, auf die reagiert werden muss. Auf der anderen Seite stehen bestimmte Mittel zur Reaktion zur Verfügung. Ist das Ziel, Schutz vor den neuen Sicherheitsgefahren, so sind die Mittel dazu optimal einzusetzen.11 Diese verbetriebswirtschaftlichte Sichtweise wird nun auf die internen Planungen der Bundeswehr angewandt,12 wie auch bei den Überlegungen zu neuen Einsatzmöglichkeiten. Dies ist allerdings kein Spezifikum der Sicherheits- und Militärpolitik, sondern Ausdruck einer Politikauffassung, die sich auch bezüglich anderen Politikfelder identifizieren lässt.13 Die Folge ist, dass der aus dem Grundgesetz herauslesbare Tenor einer Skepsis gegenüber dem militärischen Instrument, inkl. seiner Ein- und Beschränkungen, zunehmend ersetzt wird durch eine betriebswirtschaftliche Zweck-Mittel-Logik, in deren Rahmen Militär zu einem normalen – nahezu überall anwendbaren – Instrument unter anderen wird.

Diese ökonomische Logik findet sich dementsprechend genauso wieder im Konzept der Zivil-militärischen Zusammenarbeit in Afghanistan, wie in Deutschland während der Fußballweltmeisterschaft. Mit dem Kriterium des optimalen Mitteleinsatzes, wird es – scheinbar zwanghaft – notwendig, diesen auch optimal zu organisieren. Daraus folgt, dass in Friedenszeiten die Kooperation zwischen Bundeswehr und anderen Institutionen so organisiert werden muss, dass Dopplungen und lange Wege vermieden werden. Genau dazu fanden im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft diverse Übungen statt.

Sekundiert wird dies durch die Neudefinition der Sicherheitslage. Wird in der politischen Diskussion von einer Unsicherheit gesprochen, so wird suggeriert, dass es Ereignisse oder Entwicklungen gibt, die eine objektiv feststellbare Sicherheitsbedrohung für ein Objekt darstellen. Empirische Basis dieser scheinbar objektiven Feststellung sind dann z.B. artikulierte Absichten und identifizierte Potentiale des definierten Gegners. Zentrale Aufgabe der Regierenden ist es dann, Überlegungen anzustellen, wie dieser vorhandenen Bedrohung begegnet werden kann. In den letzten 50 Jahren haben sich aber die Kriterien für die Identifikation von Sicherheitsbedrohungen stark gewandelt14. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde (äußere) Sicherheit im wesentlichen über die militärische Bedrohung durch einen identifizierbaren Akteur mit identifizierbaren militärischen Fähigkeiten definiert. In den 1970er Jahren wurde der Sicherheitsbegriff dann – ausgehend von den Ölkrisen – zum ersten Mal erweitert. Als zusätzliche Gefahr wurden nun Entwicklungen wahrgenommen, die auf die Verwundbarkeit staatlich verfasster Gesellschaften durch Außeneinflüsse hindeuteten, z.B. die Abhängigkeit von Erdöllieferungen und damit die Verwundbarkeit im Energiebereich. Das Militärische in der Bedrohung wurde so einerseits relativiert, andererseits wurden zur Vorsorge gegen die neuen Bedrohungen gerade auch militärische Mittel in Betracht gezogen. Zu Beginn der 1990er Jahre fand dann ein zweiter Wandel statt. Unter dem Begriff des Risikos (für die eigene Sicherheit) wurde nun ein ganzes Konglomerat von Entwicklungen gefasst, denen es sowohl an Akteurscharakter wie an intendierter Bedrohung mangelte. Jegliche Entwicklung erschien nun sicherheitsrelevant. Was aber dabei der genuin militärische Beitrag zur Sicherheitsbewahrung sein sollte, blieb offen. Genau in diesem Sinne wurde in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 festgestellt: „Diese Risiken sind aufgrund ihres Ursachencharakters nicht militärisch lösbar. Sie können auch nicht mit militärischen Potentialen ausbalanciert werden. Der mögliche Verlauf von Krisen und Konflikten lässt sich kaum nach Wahrscheinlichkeit und Bedrohungsgrad voraussagen.“15 Militär sollte also zur Risikovorsorge beitragen, obwohl es dazu nach amtlicher Auffassung gar nicht fähig war.

Mit dem 11.9.2001 kehrten dann – mit den Terroristen – wieder konkrete Akteure in die Sicherheitsdiskussion zurück, die Fähigkeiten und Absichten blieben aber diffus. Allerdings konnten nun diese Akteure herangezogen werden, um den Sicherheitsbegriff nochmals neu zu definieren. Zentral ist, dass diese Akteure und ihre verbrecherischen Aktionen den Ausgangspunkt lieferten, um Terroranschläge als kriegerische Akte zu definieren.16 Der Feind (im Sinne es eines klaren Gegners) kehrte so in die sicherheits- und militärpolitischen Planungen zurück. Es ist ein benennbarer Feind – wie diffus er auch immer sein mag. Das Problem mit diesem Feind ist, dass für ihn Landesgrenzen keine wesentlichen Schranken mehr darstellen. Die Definition der Terroranschläge als Krieg – und nicht mehr als kriminelle Akte17 – ermöglichte den umfassenden Einsatz des Militärs zur Terrorismusbekämpfung. Dieser Logik entspricht, dass Angesichts des internationalen Terrorismus eine Trennung von äußerer und innerer Sicherheit als nicht mehr problemadäquat erklärt wird, also auch nicht mehr die Beschränkung der Bundeswehr auf Friedens- und Verteidigungseinsätze außerhalb Deutschlands.

Hier wird deutlich, dass die konkrete Form der Definition von Sicherheitsbedrohungen letztlich von den politischen Entscheidungsträgern abhängt und davon, welche Instrumente diese zur Bedrohungsabwehr einsetzen wollen.18 D.h., nicht nur die Bedrohung ist Ausgangspunkt für die Auswahl der Instrumente, sondern auch das Interesse daran bestimmte Instrumente – und hier eben das Instrument Militär – einsetzen zu wollen wird zum Ausgangspunkt für die konkrete Definition der Bedrohung. Welche Entwicklungen in welcher konkreten Situation als Sicherheitsbedrohung definiert werden, hängt so auch damit zusammen, welche Gegenmittel und Strategien gerade durchgesetzt werden sollen.

Nun schließt sich der Kreis. Angesichts der identifizierten Gefahren und knapper Ressourcen erscheint es politisch eher durchsetzbar, das Militär zur Terrorismusbekämpfung einzusetzen, als im Inland anderen (zivilen) Institutionen entsprechend mehr Mittel zur Verfügung zu stellen oder in weit stärkeren Maße die Ursachen des Terrorismus zu bearbeiten. Indem das Militär zur entscheidenden Kraft im Kampf gegen den Terror erklärt wird, geht man auch der Frage aus dem Wege, ob es nicht adäquater – und langfristig auch kostengünstiger – wäre, die Ursachen des Terrorismus zu bearbeiten, als auf die Folgen zu schießen.

Die Verstetigung des Notstandes

Unter diesem Blickwinkel erscheint es nun durchaus folgerichtig, wenn demnächst erneut die Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inland auf die Tagesordnung gesetzt wird, spätestens dann, wenn es um die im Koalitionsvertrag19 festgehaltene Neuregelung des Luftsicherheitsgesetzes und die Einbringung eines Seesicherheitsgesetzes20 inkl. der damit zusammenhängenden wahrscheinlich notwendigen Grundgesetzänderungen gehen wird.

Die ökonomische Zweck-Mittel-Logik führt zu einer Desensibilisierung gegenüber dem Mittel Militär und gleichzeitig führt die konkrete Sicherheitsdefinition zu scheinbar zwangsläufiger Aufgabenzuweisung an das Militär. Es wächst damit die Gefahr, dass mit der Neuregelung des Luftsicherheitsgesetzes und der Einführung eines Seesicherheitsgesetzes nicht nur kleinere Änderungen des Grundgesetzes verbunden sein werden. Nehmen wir das Terrorismusbekämpfungsgesetz und die Anti-Terror-Datei dazu, so droht ein gesellschaftlicher und politischer Zustand, der als Verstetigung des Notstandes interpretiert werden kann.

Anmerkungen

1) Vgl.: Bauchschmerzen bei Glaubensfragen. Trotz einer positiven Wirtschaftsentwicklung geht die große Koalition angeschlagen in Klausur, in: SZ 29.08.2006, S. 6.

2) Auf den Zusammenhang zwischen Ordnungsvorstellungen, Sicherheitsbegriff und Gewaltdefinitionen bin ich an anderer Stelle schon eingegangen. Siehe: Berndt, Michael: Gewalt – Ordnung – Sicherheit. Die Trias zunehmender Gewöhnung an militärische Gewalt, in: Thomas, Tanja / Virchow, Fabian (Hrsg.): Banal Militarism. Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen (Cultural Studies: 13); Bielefeld 2006; S. 65-81.

3) Siehe: Berndt, Michael: Einmal Hindukusch und zurück, in: Forum Wissenschaft 4/2006 (Im Druck).

4) Zur Problematik dieses Urteils siehe: Lutz, Dieter S.: Seit dem 12.Juli 1994 ist die NATO ein System Kollektiver Sicherheit! Eine Urteilsschelte, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 4/1994; S. 186-188.

5) Siehe dazu die Berichte auf der Domain: http://www.streitkraeftebasis.de (Download: 27.8.2006).

6) Siehe dazu: http://www.fifawm2006.bundeswehr.de/portal/a/fifawm2006 (Download: 27.8.2006).

7) Siehe: Amtshilfe der Bundeswehr bei Demonstrationen, in: ami (18:9-10) 1988; S. 77.

8) Siehe dazu: Gose, Stefan: Bundeswehr im Inneren. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, in: ami (27:12) 1997; S. 49-54; hier S. 52.

9) ebenda

10) Siehe: Schäuble, Wolfgang: Ich kann die neuen Gefahren nicht ausblenden (Interview), in: SZ 8.4.2006; S. 10 und ders.: Das ist die WM und nicht der Kalte Krieg (Interview), in: Der Tagesspiegel 15.5.2006.

11) Schon ein Siebenklässler soll ja lernen, dass Wirtschaften bedeutet „die vorhandenen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung möglichst wirksam (effizient) einzusetzen.“ (Riedel, Hartwig (Hrsg.); Politik & Co. Sozialkunde und Wirtschaft für das Gymnasien: Bd. 1: Jahrgangsband 7/8; Bamberg 2003; S. 91).

12) Siehe dazu auch: Kantner, Cathleen / Richter, Gregor: Die Ökonomisierung der Bundeswehr im Meinungsbild der Soldaten. Ergebnisse der Streitkräftebefragung 2003 (Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr; SOWI-Arbeitspapiere: 139); Strausberg, Dezember 2004.

13) Siehe dazu: Röttger, Bernd: Jenseits des Staates: Der Positivismus der Geschäftsführer, in: Berndt, Michael/ Sack, Detlef (Hrsg.): Global Governance? Voraussetzungen und Formen demokratischer Beteiligung im Zeichen der Globalisierung; Wiesbaden 2001; S. 147-161 und ders. Militarisierung der Politik – Entpolitisierung des Militärs. Reorganisation der Militärpolitik in der Weltzwangsgesellschaft. Beitrag zum Workshop »Deutsche Militärpolitik nach 1990« das Arbeitskreis Militärpolitikkritik der AFK am 2. und 3.7.2001 in Berlin.

14) Siehe Daase, Christopher: Der erweiterte Sicherheitsbegriff und die Diversifizierung amerikanischer Sicherheitsinteressen. Anmerkungen zu aktuellen Tendenzen in der sicherheitspolitischen Forschung, in: PVS (32:3) 1991; S. 425-451 und ders.: Bedrohung, Verwundbarkeit und Risiko in der neuen Weltordnung, in: ami (21:7) 1991; S. 13-21.

15) Bundesminister der Verteidigung 1992: Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung; Bonn (26.11.), 34 Seiten; hier S. 11.

16) In der regierungsamtlichen deutschen Diskussion wird aber, ganz im Gegensatz zu der in den USA, der Begriff des Feindes explizit vermieden, obwohl er implizit, gerade über die Beteiligung an Militäraktionen im Kontext des NATO-Bündnisfalles immer mitschwingt.

17) Das dies nicht zwangsläufig war, zeigt ein Blick auf Dokumente der EU und des UNO-Sicherheitsrates, die kurz nach dem 11.9.2001 verabschiedet wurden. So finden sich dort noch sowohl Formulierungen, die die Terroraktionen als „Terrorakte“ als auch als „Terrorangriffe“ titulieren. Die Titulierung „Angriff“ hat sich erst in der Folge durchgesetzt.

18) Siehe: Wæver, Ole: Securitization and desecuritization, in: Wæver, Ole; Concepts of security; Copenhagen 1997; S. 211-256.

19) Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005; S. 116. (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/koalitionsvertrag,property=publicationFile.pdf, Download 1.8.2006).

20) Siehe: ebenda, sowie auch: Schutz vor Angriff an der Küste, in: SZ 30.3.2006; S. 6 und U-Boot-Einsatz nur im Extremfall, in: SZ 27.5.2006; S. 6.

Dr. Michael Berndt ist Friedensforscher. Er wohnt in Habichtswald bei Kassel.

Einsatz der Bundeswehr im Innern?

Einsatz der Bundeswehr im Innern?

von Burkhard Hirsch

Manchmal ist es schwer, keine Satire zu schreiben. Es geht ja nicht nur um die Fußballweltmeisterschaft, bei der die Gefahren für die innere Sicherheit so hoch geredet werden, dass man sich fast in einen Hochsicherheitstrakt wünscht und sich jeder Angeber, der etwas auf sich hält und endlich mal in die Medien kommen will, versucht fühlen muss diese Chance zur Provokation zu nutzen. Und dann sieht man im Fernsehen diese klugen Soldaten in der ständig kreisenden luftbetankten AWACS-Maschine vor ihren Bildschirmen sitzen oder diese hochmotivierten Piloten des Jagdgeschwaders Richthofen zu ihren Tornados zum Blitzstart rennen. Und dann wird der Kommentar des TV-Reporters über das, was sie dann tun sollen, etwas unbestimmter. Dann wird der Mantel militärischer Nächstenliebe ausgebreitet.

Nicht nur jetzt, sondern seit geraumer Zeit wird dem Bürger bei jeder Gelegenheit erklärt, dass die Bundeswehr ein neues Einsatzspektrum benötigt, dass sie Deutschland am Hindukusch verteidigt (allerdings nicht gegen Heroin, das dort reichhaltig gewonnen und dann nach Europa transportiert wird), dass sie im Indischen Ozean auf hoher See wegen »enduring freedom« Terroristen jagt (auch die dort häufigeren Seeräuber?), dass sie in Bosnien wegen der religiösen und ethnischen Unduldsamkeiten der undankbaren Bewohner leider noch bleiben muss und in Kinshasa Wahlen schützt, mit anderen Worten, dass sie gebraucht wird und dass wir gebraucht werden, ein schönes Gefühl.

»Einsatz der Bundeswehr im Innern« – ein schönes Wort. Das klingt so klinisch sauber, sozusagen aseptisch. Warum sollte sie – wird rhetorisch gefragt – ausgerechnet bei uns nicht das tun dürfen, was sie in Bosnien, Serbien, oder sonst wo tun soll, nämlich im jeweiligen Inland zu schützen, wen und was auch immer? Schließlich ist doch überall Inland, auch im Ausland!

Die Antwort ist einfach: Eben weil wir nicht in Bosnien, Serbien oder sonst wo leben, sondern in der Bundesrepublik, in einem Staat mit durchaus und demokratisch geregelten Verhältnissen, in dem kein Bürgerkrieg tobt oder droht und in dem die Probleme der Kriminalität von der Polizei bewältigt werden.

Aber haben nicht auch andere demokratische Länder eine Art Inlandsheer, das wir früher Landsturm II nannten, wie etwa die Nationalgarde oder die Carabinieri – um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen? Das stimmt und wir haben auch so etwas. Wir haben den Bundesgrenzschutz – jetzt Bundespolizei genannt – mit der immer noch legendären GSG9, die Einsatzhundertschaften und Bereitschaftspolizeien der Länder und die SEK’s, die zur Bekämpfung von Gewaltkriminalität besonders ausgebildeten und ausgerüsteten Sondereinsatzkommandos der Polizei mit beachtlicher Einsatzstärke. Wir haben sie immer noch und sie haben sich keineswegs nach dem Ende der RAF und des Kalten Krieges in Luft aufgelöst, auch wenn man wenig von ihnen hört.

Niemand hat bisher Einsätze der Bundeswehr im Inland vermisst. Wer durch südamerikanische Städte geht und die dort üblichen Militärstreifen mit ihren Maschinenpistolen oder uniformierte Kräfte mit großkalibrigen Revolvern im Holster am Eingang von Banken, guten Hotels und Einkaufszentren stehen sieht, den beschleicht nicht gerade das Gefühl größerer Sicherheit.

Wir haben eine Wehrpflichtarmee. Ob und wann wir den Bürger in Uniform gegen den Bürger in Zivil, unter Umständen gegen die eigenen Landsleute einsetzen wollen, das war bei Einführung der Wehrverfassung eine heikle und die Öffentlichkeit aufwühlende Frage. Dabei geht es nicht nur darum, den Ländern notwendige Hilfskräfte bei Flutgefahren, Waldbränden oder Eisenbahnunglücken zur Verfügung zu stellen. Sie brauchen diese und dem steht nichts im Wege. Aber wir wollen nicht, dass sich die Länder zur Sanierung ihrer Haushalte ersparen können, ausreichende Polizeikräfte auszubilden und auszurüsten um dann an ihrer Stelle Wehrpflichtige oder kriegsmäßig ausgebildete Berufssoldaten als ungelernte Hilfspolizisten einsetzen zu müssen. Dann könnte man obendrein alle langjährigen und erfolgreichen Bemühungen um die Deeskalierung innerer Auseinandersetzungen vergessen. Und wir wollen auch nicht, dass eine Bundesregierung sich kurzerhand auf Notstand beruft und die Bundeswehr zur Lösung politischer Probleme in Bewegung setzt. Das ist keine blasse Theorie, sondern wurde durchaus überlegt, z. B. bei Wackersdorf und bei Autobahnblockaden.

Der Verfassungsgeber hatte reichhaltige Vorbilder und Erfahrungen. Man nannte das damals nicht geschönt „Einsatz der Bundeswehr im Innern“, sondern in schlichter Sprache: „Ausrufung des Belagerungszustandes“. Das bedeutete nach der Preußischen Verfassung von 1851 die Übertragung der Exekutive auf die Militärbefehlshaber. Nach der Verfassung von 1871 konnte der Kaiser für alle Landesteile des Reiches – natürlich ausgenommen für Bayern – den Kriegszustand erklären. Auch der Weimarer Reichspräsident konnte zur Wiederherstellung von »Sicherheit und Ordnung« mit bewaffneter Macht einschreiten und bürgerliche Rechte reihenweise aufheben.

Das Grundgesetz setzt dem klare Grenzen. Die Bundeswehr darf nur dann eingesetzt werden, wenn es die Verfassung ausdrücklich vorsieht, nicht vielleicht, nicht durch Auslegungskünste der Minister, sondern ausdrücklich, mit klaren, eindeutigen Worten, das heißt also mit Wissen und Wollen der Rechtsgemeinschaft. Sie kann auf Wunsch der Länder bei schweren Unglücksfällen oder Naturkatastrophen helfen und dabei allenfalls das örtliche Polizeirecht anwenden. Die Bundesregierung kann sie einsetzen bei bürgerkriegsähnlichen Kämpfen, wenn die Polizeien der Länder nicht ausreichen oder nicht tätig werden wollen. Die Bundeswehr ist zur Verteidigung da. Sie wird bei militärischen Angriffen auf das Bundesgebiet und bei internationalen Einsätzen im Rahmen der NATO und auf der Grundlage der Satzung der Vereinten Nationen eingesetzt. Das sollte reichen.

Es gibt aber Viele, die sich damit nicht zufrieden geben.

Da ist jener Soldat, der beim ersten internationalen Einsatz der Bundeswehr als erster in Somalia aus dem Flugzeug kletterte mit den Worten: „Zurück in der Familie.“ Eine merkwürdige Familie muss er haben. Es ging ihm wohl darum, deutlich zu machen, dass man endlich als richtiger vollwertiger Soldat diesen ganzen elenden historischen Ballast abwerfen können muss, diese lästige Erinnerungskeule an Krieg und Verbrechen, dass man doch wohl mal wieder frisch anfangen kann. Wo die Fahne weht, ist der Verstand in der Trompete.

Da sind aber auch die etwas kühler kalkulierenden Herren innerhalb und außerhalb der Bundeswehr, die sich nach neuen Aufgaben umsehen, da wir doch von Freunden geradezu umzingelt sind und eine militärische Bedrohung unseres Landes jetzt und in absehbarer Zukunft, soweit irgend erkennbar, ausscheidet. Das kann neben der Freude über den Frieden auch unangenehme Konsequenzen haben. Der zahlenmäßige Umfang, der Aufbau und die Kosten der Armee und die allgemeine Wehrpflicht geraten in immer stärkere öffentliche Zweifel. Womit erwerben wir mehr Sicherheit, mit immer teureren Waffen oder mit größeren Aufwendungen für die politische, soziale und kulturelle Sicherheit bestimmter Problemländer in unserer Region?

Und da sind schließlich Politiker, die aufgeschreckt von den Attentaten des 11. Sept. 2001 und dem Sperrholzflieger in Frankfurt die amerikanische Redewendung vom »war on terrorism« wörtlich nehmen und dasitzen wie die Regisseure, die »action« rufen, Handlungsfähigkeit und Tatkraft darstellen wollen, die vom »Krieg im Inland« faseln und damit die Katze aus dem Sack lassen: Dass es nicht nur darum geht, ob die Bundeswehr im Inland für die örtliche Polizei zu deren Entlastung Hand- und Spanndienste in Form von Objektschutz leisten soll, sondern darum, die Bundeswehr im Inland von den Grundsätzen des Polizeirechts zu lösen.

Sie sollen unter Missachtung grundlegender Werte unserer Verfassung und unter erklärter Missachtung eines ausdrücklichen Urteils des Bundesverfassungsgerichts ein Passagierflugzeug mitsamt den unschuldigen entführten Insassen abschießen können, ohne wegen Mordes oder Totschlags vor Gericht gestellt zu werden. Sie sollen wie im Krieg unter Hinnahme von Kollateralschäden töten dürfen. Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne, da darf man nicht kleinlich sein.

Ein Terrorangriff, heißt die simple Forderung, ist ein Verteidigungsfall. Heilige Einfalt, man sieht den Tornado-Piloten förmlich, der das entführte Flugzeug anfliegt und den Täter über Bordfunk fragt: Sind Sie ein Terrorist? Nein, wird der antworten, ich bin nur ein Verrückter. Tja, dann ist es wohl kein »war on terrorism« und der Verteidigungsminister kann nicht »action« rufen, was er im Verteidigungsfall übrigens ohnehin nicht könnte, weil dann die Kanzlerin zum IBUK wird, zur Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt.

Angst essen Seele auf. Wir sollten aufhören, unsere Verfassung weiter zu demolieren. Innere Sicherheit hat auch etwas mit dem inneren Frieden einer Gesellschaft zu tun. Und der ist nicht zu bekommen, wenn man sich in einem dauernden Kriegszustand befindet.

Einsatz der Bundeswehr im Inland? Ja, natürlich. Die nächste Flut kommt bestimmt.

Dr. Burkhard Hirsch, Rechtsanwalt, Bundestagsvizepräsident a. D.

Die Militarisierung in Mexiko

Die Militarisierung in Mexiko

von Luz Kerkeling

Die mexikanische Armee hat eine Ausnahmestellung in Lateinamerika. Sie war weder an einem offenen Putsch beteiligt, noch hat sie je einen Angriffskrieg gegen andere Staaten geführt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite zeigt eine jahrzehntelange Praxis der Brutalität nach Innen. Die Bundesarmee ist an Einschüchterung, Vertreibung, Drogenhandel, Prostitution, Umweltverschmutzung und Mord beteiligt.

In ihrem Anfang März 2006 bekannt gewordenen Bericht schildert die Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen (Femospp) auf über 800 Seiten das »Engagement« des Militärs für die innere Sicherheit Mexikos zwischen 1968 und 1982. Studentinnen und Studenten, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die marginalisierte Landbevölkerung gerieten ob ihrer kontinuierlichen Forderungen nach Demokratisierung und Verbesserung der ökonomischen Situation ins Visier der mexikanischen Eliten, die sich schließlich dazu entschlossen, das Militär gegen die sozialen Bewegungen und die Guerilla – vor allem im südlichen Bundesstaat Guerrero – einzusetzen.

Wenn die Kooptationsmechanismen der seit 1929 regierenden Institutionellen Revolutionären Partei (PRI) nicht mehr griffen und sich die Basisorganisationen nicht spalten ließen, wurde die Armee illegal gegen die Bevölkerung eingesetzt.

Während des »schmutzigen Krieges« der 1960er, 70er und 80er Jahre wandten Militär und Polizei nachweislich verschiedene Foltermethoden an: Der »kleine Brunnen« bestand darin, die Leute am Rande des Erstickungstodes zu fixieren. Bei dem so genannten »Gegrillten Hähnchen« wurden Menschen, an Armen und Beinen festgezurrt, auf einen Pfahl gelegt. Sie mussten das Gleichgewicht bewahren, denn sie waren an den Genitalien festgebunden. Es gab ferner die Elektroschocks, bei denen die Täter die Festgenommenen in Wasser tauchten und ihnen später Schocks verabreichten, vor allem an Hoden und After. Den Opfern wurde mit Brettern auf die Fußsohlen geschlagen, ihre Gesichter wurden mit Verbrennungen dritten Grades entstellt. Sie gaben den Menschen Benzin zu trinken und zündeten sie an. Sie brachen ihnen die Knochen und schnitten ihre Fußsohlen in Scheiben. Einigen Opfern wurden Schläuche in den After eingeführt, um ihre Leiber mit Wasser zu füllen und sie danach zu schlagen. Die Frauen wurden vor den Augen ihrer Männer vergewaltigt. Einigen wurden Glasflaschen und sogar Ratten in die Vagina eingeführt. Die Soldaten zielten mit ihren Waffen auch auf Kinder oder folterten sie in Anwesenheit ihrer Eltern.1 Einige dieser Methoden sollen auch heute noch praktiziert werden.

In dem mexikanischen Bundesstaat Guerrero wurden die Guerillagruppen um Genaro Vázquez und Lucio Cabañas und die – mutmaßlich – involvierte Zivilbevölkerung systematisch bekämpft. Eine Guerilla-Bewegung entstand immer dann, wenn der lokalen Bevölkerung alle legalen Partizipationsmöglichkeiten verschlossen wurden, so Carlos Montemayor, ein Experte der Guerilla-Bewegungen in Mexiko. Zur Aufstandsbekämpfung bombardierte die Armee ganze Dörfer, Hunderte von Bauern und Bäuerinnen »verschwanden« und bei den berüchtigten »Todesflügen« wurden lebende Menschen von Militärs über dem Meer abgeworfen.2

Als oberste Verantwortliche für diese grausamen Vorkommnisse gelten die ehemaligen Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz und Luis Echeverría Alvarez y José López Portillo, die trotz verschiedener juristischer Anstrengungen von Nichtregierungsorganisationen (NGO) bis heute straffrei blieben.

Die Femospp konnte 436 Fälle vollständig aufklären; allgemein wird jedoch von Tausenden von Opfern ausgegangen. NGOs wie das Eureka-Komitee fordern seit über 30 Jahren eine Aufklärung der Verbrechen und eine Bestrafung der Täter. Sie kämpfen auch für eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Gewalttaten. Sie kritisieren den aktuellen Bericht, da vom Staat unabhängige Organisationen nicht in die Recherchearbeit einbezogen worden seien, weil er keine wirklich neuen Erkenntnisse beisteuere und viele Verantwortliche weiterhin nicht zur Rechenschaft ziehe. Nichtsdestotrotz ist der Bericht als erstes offizielles Eingeständnis des mexikanischen Staatsterrorismus dieser Zeit zu werten.

Armee und Paramilitärs Hand in Hand

In den südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca und Guerrero, wo oppositionelle Campesino- und Indígena-Organisationen bis heute sehr aktiv sind und zum Teil autonome Strukturen aufbauen, die Mexiko wegen seiner Ratifizierung der ILO-Konvention 169 über indigene Rechte eigentlich unterstützen müsste,3 ist die Militarisierung am stärksten. Die rebellischen Bewegungen stehen nicht nur den Interessen der Kaziken (lokale Machthaber) im Weg, sondern auch ökonomischen Großprojekten der mexikanischen Regierung, die in Kooperation mit transnationalen Investoren die Region »entwickeln« will. Zu den bei der Bevölkerung höchst umstrittenen Projekten gehört der Bau von Autobahnen, Flughäfen und Häfen, die Errichtung von Billiglohnfabriken, der Bau von Staudämmen, die Ausbeutung von Bodenschätzen und Biodiversität sowie der Ausbau des Tourismussektors.

Der offizielle Auftrag des Militärs umfasst den Kampf gegen Drogenhandel und -anbau, die Garantie der nationalen Sicherheit, Migrationskontrolle, soziale Arbeit sowie Umwelt- und Katastrophenschutz. Doch allein die Präsenz der Armee hat verheerende – laut Militärhandbüchern der Aufstandsbekämpfung aber durchaus intendierte – Auswirkungen auf das soziale Gefüge in den belagerten Gebieten. Die Armee bringt Drogen, Gewalt, Prostitution und eine immense Umweltverschmutzung in die Gemeinden. Bis heute sind z.B. in Guerrero mittlere Dienstgrade der Armee in den Drogenhandel verwickelt.

Oft zerstreiten sich die Dörfer, wenn einige wenige Familien mit den Soldaten zusammenarbeiten und beispielsweise ihre Töchter in die Kasernen schicken.4

Die Anwältin Marta Figueroa berichtete bei einer Veranstaltung zu Gewalt gegen Frauen in Südmexiko: „Es gibt systematische geschlechtliche Gewalt im Kontext jeder Militarisierung. Die Soldaten erniedrigen die Frauen durch Vergewaltigungen und die daraus entstehenden Kinder in massivster Weise. Der Körper der Frau wird zum Schlachtfeld. Die Militärs betreiben auch Frauenhandel und Sexsklaverei, z.B. nach Japan. Die sexuellen Aggressionen sind fester Bestandteil der militärischen Auseinandersetzungen. Sexuelle Gewalt gibt es aber nicht nur von Seiten des nationalen Militärs sondern auch von UNO-Soldaten und z.T. sogar von Mitarbeitern der sogenannten Friedenskräfte, wie z.B. dem Roten Kreuz, die in Flüchtlingslagern das Elend der Frauen ausnutzen. Die Straflosigkeit ist fürchterlich. In der Aufarbeitung der bewaffneten Konflikte fehlt bis heute völlig die Anerkennung der Verbrechen gegen Frauen.“5

Die sozialen Bewegungen aus allen südlichen Bundesstaaten betonen, dass es dort, wo sich die Opposition spürbar organisiert, eine eindeutige Zusammenarbeit zwischen Militär, Polizei und den rechten Paramilitärs gibt. Nachweisbar ist diese Kooperation allerdings nur selten. Hinzu kommt, dass Militärangehörige sich nicht vor Zivilgerichten verantworten müssen (vgl. Interview). Zwischen Februar 1995 und November 1997, als General Mario Renán Castillo die VII. Militärregion befehligte, entstanden und konsolidierten sich mindestens sechs paramilitärische Gruppen in Chiapas. Renán Castillo hatte zuvor in der US-amerikanischen Militärakademie Fort Bragg die Prinzipien der Aufstandsbekämpfung erlernt. Er gilt als der prominenteste Konstrukteur des »Krieges der niederen Intensität«, einer Mischung aus Repression, Korruption, Infiltration mit Drogen und Desinformation, mit der der Einfluss der linksgerichteten zapatistischen Befreiungsbewegung zurückgedrängt werden soll.6 Die Militarisierung der Region hält bis heute an, es gibt mindestens 91 Militärcamps im Aufstandsgebiet und nach Angaben der Journalistin Gloria Muñoz sind bis zu 60.000 Soldaten, ein Drittel der Armee, in Chiapas stationiert.7 Ein Strategiewechsel ist nicht in Sicht. Auch der im westlichen Ausland beliebte Präsident und Ex-Coca-Cola-Manager Vicente Fox von der konservativ-neoliberalen Partei der Nationalen Aktion, der noch bis Mitte 2006 amtiert, ist in Mexiko ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, da seine Maßnahmen das Land weder entmilitarisiert noch die soziale Misere auf dem Land und in den Städten in den Griff bekommen haben. Massiv kritisiert wird auch die mangelnde Aufarbeitung der Verbrechen des mexikanischen Staates.

Armee übernimmt polizeiliche Aufgaben

Seit 1994 übernimmt die Armee polizeiliche Aufgaben, für die sie nicht zuständig ist. Das ist nicht legal. Dazu erklärt die Soziologin Marta Durán aus Mexiko-Stadt: „Natürlich ist der Militäreinsatz in Polizeibereichen auch ein Teil des Vorgehens gegen die Rebellion der Zapatistischen Armee zur nationalen Befreiung (EZLN). Aber vor allem nutzte die Regierung das Militär für diese Tätigkeiten, weil innerhalb der verschiedenen Polizeiorganisationen absolute Korruption herrscht, vor allem im Bereich des Drogenhandels. Man dachte, dass die Armee immer noch intakt sei und die großen Drogenbarone noch keinen Einfluss innerhalb des Militärs hatten. Doch dem war nicht so. General Gutiérrez Rebollo, auch »Anti-Drogenzar« genannt, stellte sich 1997 schließlich als Angestellter eines Drogenkartells heraus, der dafür sorgte, dass konkurrierende Drogenhändler ins Gefängnis geschickt wurden. Heute ist er im Gefängnis. Die Regierung Mexikos sowie die Organisationen DEA und CIA aus Nordamerika trainierten eine Spezialeinheit der mexikanischen Armee, um dem Drogenhandel entgegenzutreten, doch als sie einsatzbereit war, schlug sie sich auf die Seite der Drogenhändler. Diese Militärs nennen sich »Los Zetas« und sind heute Killer. Die Drogenhändler, die inhaftiert wurden, dominieren heute die Gefängnisse, sie benutzen sie als ihr Büro. In den Gefängnissen gibt es Exekutionen und Ausbrüche. Weil die Polizei dem nicht Herr werden konnte, musste die Armee die Aufgabe der Sicherheit in den Gefängnisse übernehmen.“8

Als weiteres Anzeichen der Militarisierung der mexikanischen Sicherheitspolitik ist die 1999 geschaffene Föderale Präventive Polizei (PFP) zu betrachten. Sie ist nach militärischen Prinzipien aufgebaut und besteht zu 90 Prozent aus ehemaligen Soldaten.

Perspektiven?

Die hohe Korruption innerhalb der mexikanischen Staatsstrukturen und die zahlreichen damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen sind nicht von der sozio-ökonomischen Situation des Landes zu trennen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten 20 Jahre hat die Kluft zwischen Arm und Reich extrem vergrößert. Sie setzt nicht nur die bäuerliche Bevölkerung und die Arbeiterschaft unter immensen Druck, sondern ebenfalls die Mittelschichten, darunter auch Angestellte im Verwaltungs- und Sicherheitsapparat des Staates. Die Freihandelsabkommen NAFTA und CAFTA haben die Migration in die USA verschärft und am untersten Ende der ökonomischen Skala begehen arbeitslose Ex-Paramilitärs und marodierende Banden kaum vorstellbare Menschenrechtsverletzungen an den völlig rechtlosen Migrantinnen und Migranten aus Zentralamerika, die Mexiko passieren müssen.

Die Militarisierung Mexikos, die permanente Stärkung des Gewaltapparates hat die Gewalt nicht eingedämmt, sondern gefördert, sie hat Probleme nicht gelöst, sondern verschärft. Notwendig ist eine lückenlose Aufarbeitung der Gewalttaten, eine konsequente Demokratisierung und eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell.

Ein Hoffnungsschimmer geht hier von der stark wachsenden außerparlamentarischen sozialen Bewegung um die zapatistischen Aufständischen aus. In Abgrenzung zu den Wahlkampagnen zur kommenden Präsidentschaftswahl im Juli 2006 nennen die Aktivistinnen und Aktivisten diese Mobilisierung die »Andere Kampagne«. Sie haben sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, »von unten und für unten« in einem mehrjährigen kollektiven Prozess eine neue Verfassung auszuarbeiten, eine antikapitalistische Initiative, die alle Marginalisierten berücksichtigen und einbinden soll.9 Die über 1.000 beteiligten Organisationen aus ganz Mexiko schlagen eine neue Form des Politik machens vor, in der Funktionsträger »gehorchend regieren«, d.h. konsequent den Willen der Basis umsetzen sollen.

Es gibt erste Versuche verschiedener Gruppen der lokalen oder überregionalen Eliten, die Aktivisten mit Repression zu überziehen, doch dank einer breiten Mobilisierung, die jede Aggression im Ansatz bekannt macht, bleibt zu hoffen, dass die explizit pazifistische Strategie der »Anderen Kampagne« nicht mit größeren Gewalteskalationen konfrontiert wird.10

Anmerkungen

1) Ballinas, Victor und Mendez, Enrique: Al desnudo, abusos cometidos por militares y policías, in: La Jornada 2.3.2006, www.jornada.unam.mx

2) Ramírez Cuevas, Jesus: Durante 20 años el gobierno mexicano ejerció una política para eliminar opositores, in: La Jornada 3.3.2006.

3) Vgl. www.ilo169.de

4) Vgl.: Kerkeling, Luz: ¡La Lucha Sigue! Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstands, Münster, 2. Aufl. 2006.

5) Eigene Aufzeichnungen des Autors vom 22.11.2003 in San Cristóbal de las Casas, Chiapas.

6) Vgl. www.frayba.org.mx (Homepage des Menschenrechtszentrum Fray Bartolome de las Casas, Chiapas), und www.tlachinollan.org (Homepage des Menschenrechtszentrums Tlachinollan, Guerrero).

7) Muñoz Ramírez, Gloria: EZLN 20 + 10. Das Feuer und das Wort, Münster 2004.

8) Eigenes Interview des Autors mit Marta Durán vom 1.3.2006.

9) Ya-Basta-Netz (Hg.): Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald, Frankfurt/M. 2005.

10) Informationen zur »Anderen Kampagne«: http://chiapas.indymedia.org (Spanisch) oder www.gruppe-basta.de (Deutsch).

Luz Kerkeling, Soziologe, Dozent am Lateinamerikainstitut der Universität Münster (CeLA), war zu Forschungszwecken mehrfach in Mexiko

Gewissensfreiheit statt Kadavergehorsam

Gewissensfreiheit statt Kadavergehorsam

Freispruch für Bundeswehroffizier

von Jürgen Rose

Der Bundeswehrmajor Florian Pfaff war nicht bereit, den Krieg der USA gegen den Irak im Rahmen der Bundeswehr zu unterstützen. Schikanen und eine Degradierung zum Hauptmann waren die Folge. Pfaff wehrte sich und bekam Recht. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig sprach in einem Aufsehen erregenden Urteil den Bundeswehroffizier vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung frei. Es wertet das Völkerrecht deutlich höher als funktionierende Militärgewalt. In W&F 4-2005 kommentierte Helga Wullweber dieses Urteil: »Rechtliche Grenzen des Gehorsams – Auch Soldaten dürfen Befehle verweigern«. In folgendem Beitrag befasst sich Oberstleutnant Jürgen Rose u.a. Ereignissen rund um die »Befehlsverweigerung«, mit der Urteilsschelte – vor allem ehemaliger Militärs – und mit einigen Aspekten des Urteils, wie der völkerrechtlichen Beurteilung des Irak-Kriegs durch die Bundesverwaltungsrichter.

Soweit bekannt, handelt es sich bei dem Bundeswehrmajor Florian Pfaff um den einzigen Soldaten in den gesamten deutschen Streitkräften,1 der den Mut aufgebracht hat, sich Befehlen zu widersetzen, durch deren Ausführung er sich wissentlich an dem von den USA und Großbritannien angezettelten Angriffskrieg gegen den Irak – der renommierte Rechtsphilosoph Reinhard Merkel hatte diesen als „völkerrechtliches Verbrechen“ 2 gebrandmarkt –, beteiligt hätte. Mit einer durchaus spektakulär zu nennenden Urteilsbegründung sprach ihn im Sommer dieses Jahres der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig von dem schwerwiegenden Vorwurf der Gehorsamsverweigerung frei.

Was aber bildete den Anlass für Pfaffs Husarenritt durch alle Instanzen der Wehrgerichtsbarkeit? Entscheidend war der Beschluss der Bundesregierung, die Protagonisten des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen den Irak getreu Gerhard Schröders Parole von der »Enttabuisierung des Militärischen« bei der Ausführung ihres Unrechtsaktes tatkräftig zu unterstützen – notabene nach ordnungsgemäßer Anfrage aus dem Oval Office. Der deutschen Öffentlichkeit freilich wurde suggeriert, Berlin hielte sich strikt an völkerrechtliche Prinzipien und das eigene Grundgesetz, während tatsächlich das genaue Gegenteil der Fall war.3 Einer derartigen Politik der Scheinheiligkeit ließ sich Bundeswehrmajor Pfaff nicht dienstbar machen. Seinen Vorgesetzten erklärte er klipp und klar, er werde keinerlei Befehlen nachkommen, durch deren Ausführung er sich der Mitwirkung an der „mörderischen Besetzung des Irak durch die USA (und andere)4 schuldig machen würde. Postwendend begannen daraufhin die Mühlen der Militärbürokratie zu mahlen: Von seinen Vorgesetzten wurden Pfaff Konsequenzen angedroht. Vom militärischen Rechtsberater wurde er einer „abwegigen Rechtsauffassung“ bezichtigt und als zukünftiger „Held der Friedensbewegung“ verspottet (derselbe Advokat gab freilich später während der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu Protokoll, ihm hätte die fachliche Kompetenz in völkerrechtlichen Fragen gefehlt!5). Der Truppenarzt, bei dem Pfaff sich vorgestellt hatte, um sich bestätigen zu lassen, dass seine Perzeption und Bewertung des Irak-Krieges keiner übertriebenen Wahrnehmung entsprangen, ließ ihn umgehend zur stationären psychiatrischen Untersuchung in das Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz verbringen. Gleichwohl erbrachten die einwöchigen, für ihn höchst unverständlichen medizinischen Untersuchungen, die er in der »Klapsmühle« 6 über sich ergehen lassen musste, keinen pathologischen Befund. Daraufhin wurde gegen Pfaff im April 2003 ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet, in dem er durch die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord eines Dienstvergehens für schuldig befunden wurde. Überraschenderweise sahen die Richter jedoch von einer Entfernung aus dem Dienstverhältnis ab und degradierten den Soldaten lediglich vom Major zum Hauptmann, da sie ihm ehrenhafte Motive bei seiner Gehorsamsverweigerung zubilligten.

Gegen diese erstinstanzliche Entscheidung legten sowohl Anklage als auch Verteidigung Berufung beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein. Letztere, um einen Freispruch zu erreichen, der Wehrdisziplinaranwalt, weil er aufgrund „völliger Uneinsichtigkeit“ Pfaffs dessen Rausschmiss aus der Truppe erreichen wollte. Dieses Ansinnen scheiterte indes kläglich, denn am 21. Juni 2005 hob der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts das Urteil der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord auf, wies die Berufung des Wehrdisziplinaranwalts als unbegründet zurück und sprach den Major Florian Pfaff frei – die Kosten des Verfahrens trägt der Bund.

Mit ihrem unmissverständlichen, konziser Rechtsauslegung folgenden Urteil haben die Leipziger Richter der rot-grünen Bundesregierung, der NATO-hörigen Bundeswehrführung sowie allen bellizistischen Worthelden eine schallende Ohrfeige erteilt. Kaum verwunderlich setzte umgehend heftigste Urteilsschelte ein. Gleichwohl ist man geneigt, eine Träne der Verzweiflung zu weinen, in der das Salz des Ärgers die Feuchtigkeit der Anteilnahme zu verkrusten droht, angesichts der Melange aus Dreistigkeit und Ignoranz, mit welcher gewisse Protagonisten aus der rechtskonservativen Ecke der sogenannten »Strategic Community« dieses höchstrichterliche Urteil in der Causa Pfaff nun kommentieren. Bemerkenswert an diesem Vorgang ist einzig das kümmerliche Niveau der von allenfalls rudimentärer Sachkenntnis getrübten Anwürfe. So gibt der ehemalige Verteidigungsminister und vielzitierte Verfassungsrechtler Prof. Dr. Rupert Scholz zu Protokoll7, dass es nicht die Aufgabe eines Soldaten sei, zu bewerten, ob ein Krieg völkerrechtswidrig sei und ob er deshalb die Ausführung bestimmter Befehle verweigern dürfe. Gerade Berufssoldaten seien dem existenznotwendigen Prinzip von Befehl und Gehorsam verpflichtet. Und deshalb könne es nicht sein, dass Rechtsfragen Gegenstand einer Gewissensentscheidung des Soldaten würden mit der Maßgabe, dass der den Befehl verweigern könne. Diese Einlassungen müssen schon deshalb Erstaunen hervorrufen, weil bereits jedem Rekruten der Bundeswehr zu Beginn seiner Grundausbildung beigebracht wird, dass er Befehle, durch die eine Straftat begangen würde, gar nicht befolgen darf (§ 11 Soldatengesetz). Dieser Gesetzesauflage kann ein Soldat selbstverständlich nur dann nachkommen, wenn er die Rechtmäßigkeit von Befehlen prüft, bevor er sie ausführt. Dass einem ehemaligen Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr derartiges wehrrechtliches Basiswissen offenbar nicht präsent ist, kann den Major Pfaff in seiner Haltung nur schlagend bestätigen.

Auch unter Bundeswehrgenerälen stößt das Urteil auf Ablehnung – allerdings wagten wie üblich nur Pensionäre öffentliche Kritik. So spricht der ehemalige Inspekteur des Heeres und später zum Staatsekretär auf der Hardthöhe beförderte Jörg Schönbohm, derzeit Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident von Brandenburg, hinsichtlich des besagten Urteils von einer „bedauerlichen Entwicklung“ und warnt unter Bezugnahme auf Theodor Heuss, vor einem „Verschleiß des Gewissens“. Darüber hinaus sieht er die Bündnisfähigkeit Deutschlands in der NATO gefährdet, „[w]enn Bundeswehrsoldaten in wichtigen Funktionen plötzlich anfangen, sich auf ihr Gewissen zu berufen …“8. Kräftiger hin langt der ehemalige Amtschef des Heeresamtes und jetzige Präsident des »Bayerischen Soldatenbundes«, Jürgen Reichardt, in seiner Hauspostille mit dem bezeichnenden Namen »Treue Kameraden«. Er nämlich hält die Entscheidung der Leipziger Richter für „eine befremdliche, unverständliche Gesetzesauslegung, vergleichbar jenem berüchtigten (sic!) »Mörder-Urteil« des Bundesverfassungsgerichts. Sie liefert die Funktionsfähigkeit unserer Streitkräfte den persönlichen Anschauungen einzelner Soldaten aus, untergräbt somit die Grundlagen soldatischen Handelns und gefährdet die Verlässlichkeit unserer Streitkräfte.“ 9 Überdies wittert Reichardt Gefahren für die „Fundamente des Staates“ schlechthin. Den Gewissenskonflikt des Soldaten Pfaff angesichts massiven Völkerrechts- und Verfassungsbruchs bezeichnet er als „eigentlich belanglose Sache“ und unterstellt ihm „anmaßende politische Absichten politisierender Soldaten.“ Bei dieser Gelegenheit schießt der General außer Diensten auch gleich eine volle ideologische Breitseite gegen das „sogen. »Darmstädter Signal«, eine kleine Gruppe politisch extrem linker Soldaten, die sich im Internet ihrer Kampagnen rühmen“, denn Pfaff sei schließlich bei dieser Mitglied. Zu dumm nur, dass es sich bei Paff um einen tiefgläubig katholischen, politisch eher konservativen und unbeirrbar rechtstreuen Bayern handelt, der linker Umtriebe definitiv abhold ist. Bloß noch skurril wirkt dann Reichardts Schlussappell an den Verteidigungsminister, die Revision des Leipziger Urteils als seine Aufgabe anzusehen – indes: gegen diese höchstrichterliche Entscheidung ist eine Revision gar nicht zulässig.

Den Vogel bei der Urteilskrittelei schoss indes der Vorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberst Bernhard Gertz, – notabene Volljurist – ab, als er allen Ernstes zum Besten gab, man müsste hinsichtlich der Gewissensfreiheit für Soldaten „unterscheiden zwischen Wehrpflichtigen und Zeit- sowie Berufssoldaten, für den Berufssoldaten gälte eine deutlich stärkere Pflichtenbindung.“ 10 Je höher Status und Besoldung, desto gewissenloser die Haltung, ließe sich daraus folgern. Konsequenterweise fordert Gertz denn auch eine Einschränkung der Gewissensfreiheit für Soldaten, die gefälligst dort ihre Grenzen finden müsse, wo die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr betroffen sei.

All die nach dem Leipziger Urteilsspruch aufgebrandete haltlose Kritik vermag indes nicht das Geringste an dem Faktum zu ändern, dass es den Bundesverwaltungsrichtern gelungen ist, mit ihrem Urteil in der Causa Pfaff einen Meilenstein zu setzen, was einerseits zukünftige Einsätze der Bundeswehr in bewaffneten Konflikten, andererseits die Sicherung demokratischer Grundrechte für den Staatsbürger in Uniform angeht, der sich in seinem täglichen Dienst einem strikt hierarchisch strukturierten militärischen Zwangs-, Disziplin- und Gewaltsystem zu unterwerfen hat.

So fand bislang kaum Beachtung, dass das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteilsspruch eindeutig, umfassend und zugleich erschöpfend klargestellt hat, wie der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes nach Art. 87a zu verstehen ist. Hierdurch füllt es eine Interpretationslücke, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 betreffend den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit ausdrücklich offen gelassen hatte. Damals hatten die Verfassungsrichter festgestellt: „Art. 87a GG steht der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen. Nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG stellt der Bund ‚Streitkräfte zur Verteidigung’ auf; nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen diese Streitkräfte ‚außer zur Verteidigung’ nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Die mannigfachen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie in diesem Zusammenhang die Begriffe der ‚Verteidigung’ und des ‚Einsatzes’ auszulegen sind, und ob Art. 87a Abs. 2 GG als eine Vorschrift zu verstehen ist, die nur den Einsatz der Streitkräfte ‚nach innen’ regeln will, bedürfen in den vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Denn wie immer dies zu beantworten sein mag, jedenfalls wird durch Art. 87a GG der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dem die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 24 Abs. 2 GG beigetreten ist, nicht ausgeschlossen.11 Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig folgt dieser verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidung, indem es konstatiert: „Die primäre Aufgabe der Bundeswehr ergibt sich dabei aus Art. 87a Abs. 1 GG, wonach der Bund Streitkräfte ‚zur Verteidigung’ aufstellt.“ 12 Nach Auffassung der Richter ist damit zum einen der »Verteidigungsfall« nach Art. 115a GG gemeint, i. e. eine Situation, in der das „Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht.“ Der entscheidende Passus hinsichtlich der Reichweite des Verteidigungsbegriffs im Grundgesetz folgt unmittelbar: „Da der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG von ‚Verteidigung’, jedoch – anders als die zunächst vorgeschlagene Fassung – nicht von ‚Landesverteidigung’ spricht und da zudem der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahre 1968 auch einen Einsatz im Rahmen eines NATO-Bündnisfalles als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist davon auszugehen, dass ‚Verteidigung’ alles das umfassen soll, was nach dem geltenden Völkerrecht zum Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta), der die Bundesrepublik Deutschland wirksam beigetreten ist, zu rechnen ist.“ 13 Höchstrichterlich widerlegt ist hiermit die in der sicherheitspolitischen Diskussion häufig vorgetragene Auffassung, das Grundgesetz begrenze den Einsatz der Bundeswehr auf die Verteidigung des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland sowie des NATO-Vertragsgebiets. Stattdessen definieren die Bundesverwaltungsrichter einen weiten Verteidigungsbegriff, der alles umfasst, was die UN-Charta erlaubt, zugleich beschränken sie jenen aber eben auch strikt auf deren Bestimmungen. Denn, so die Richter, „Art. 51 UN-Charta gewährleistet und begrenzt in diesem Artikel für jeden Staat das – auch völkergewohnheitsrechtlich allgemein anerkannte – Recht zur ‚individuellen’ und zur ‚kollektiven Selbstverteidigung’ gegen einen ‚bewaffneten Angriff’, wobei das Recht zur ‚kollektiven Selbstverteidigung’ den Einsatz von militärischer Gewalt – über den Verteidigungsbegriff des Art. 115a GG hinausgehend – auch im Wege einer erbetenen Nothilfe zugunsten eines von einem Dritten angegriffenen Staates zulässt (z. B. ‚Bündnisfall’). Der Einsatz der Bundeswehr ‚zur Verteidigung’ ist mithin stets nur als Abwehr gegen einen ‚militärischen Angriff’ (‚armed attack’ nach Art. 51 UN-Charta) erlaubt, jedoch nicht zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen.“ 14

Von Beobachtern mit einer gewissen Spannung erwartet worden war insbesondere die völkerrechtliche Beurteilung des Irak-Kriegs durch die Bundesverwaltungsrichter. Wer diesbezüglich gehofft hatte, das Bundesverwaltungsgericht würde den Irak-Krieg eindeutig als völkerrechts- und verfassungswidrig brandmarken und dem Soldaten Pfaff bescheinigen, er wäre zur Gehorsamsverweigerung gemäß Soldatengesetz (§ 11) und Wehrstrafgesetz (§ 5) verpflichtet gewesen, mag enttäuscht sein. Dazu besteht indes kein Anlass. Denn mit einer solchen Entscheidung hätte das Gericht lediglich die bestehende Rechtslage bestätigt und den Handlungsspielraum von Soldaten zur Gehorsamsverweigerung einzig auf die Fälle eingeschränkt, wo die Völkerrechtswidrigkeit eines Krieges für jedermann eindeutig erkennbar und unumstritten wäre. Mit der nun getroffenen Entscheidung aber erweitern die Richter den Ermessensspielraum diesbezüglich erheblich, nämlich bereits auf all die Fälle, wo auch nur Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer militärischen Intervention bestehen.15 Wenn in einem solchen Fall ein Soldat in einen Gewissenskonflikt gerät und diesen ernsthaft und glaubwürdig darlegen kann, braucht er Befehlen nicht zu gehorchen, durch deren Ausführung er in jene Aktionen innerhalb rechtlicher Grauzonen verwickelt würde. Mit dieser Rechtsprechung nimmt das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Legalität bewaffneter Einsätze der Bundeswehr de facto eine Beweislastumkehr vor: Nicht der Soldat muss beweisen, dass seine Gehorsamsverweigerung rechtlich geboten war, sondern zuallererst muss die Bundesregierung den von ihr in den Kampf entsandten »Staatsbürgern in Uniform« darlegen, dass der diesen erteilte Auftrag den Normen des Völkerrechts und der Verfassung entspricht.16 Dabei legt das Gericht die rechtlichen Hürden für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte sehr hoch, indem es nämlich die Zulässigkeit militärischer Gewaltanwendung strikt auf die in der UN-Charta vorgesehenen Fälle (Kap. VII und Art. 51) begrenzt: „Ein Staat, der sich – aus welchen Gründen auch immer – ohne einen solchen Rechtfertigungsgrund über das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta hinwegsetzt und zur militärischen Gewalt greift, handelt völkerrechtswidrig. Er begeht eine militärische Aggression.“ 17 Und, so das Gericht weiter im Hinblick auf die deutschen Unterstützungsleistungen für das angloamerikanische Völkerrechtsverbrechen am Golf: „Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtliches Delikt.“ 18 Gerade im Hinblick auf die in ständiger Einsatzbereitschaft gehaltenen Interventionsstreitkräfte der NATO (NATO Response Force – NRF) und Europäischen Union (EU Battle Group), die erklärtermaßen gegebenenfalls auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates innerhalb weniger Tage weltweit zum Einsatz kommen sollen, dürfte dies für die Zukunft interessante Implikationen aufwerfen, wenn nämlich Angehörige dieser Truppenverbände in einem solchen Fall ihr Gewissen entdecken. Für die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist dies indes höchst bedeutsam, folgt daraus doch: Der Primat der Politik gilt lediglich innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz, jenseits davon herrscht der Primat des Gewissens. Denn, so das Bundesverwaltungsgericht: „[I]m Konflikt zwischen Gewissen und Rechtspflicht [ist] die Freiheit des Gewissens ‚unverletzlich’ … “ 19

Anmerkungen

1) Mittlerweile ist ein ähnlicher Fall aus den britischen Streitkräften bekannt geworden. Dort weigert sich der Flight Lieutenant der Royal Air Force Kendall-Smith erneut zur militärischen Dienstleistung im Irak anzutreten, weil er die Rechtmäßigkeit des Krieges und der Besatzung bestreitet. Ihn erwartet nun ein Prozess vor einem Militärgericht; vgl. hierzu Pilger, John: The Epic Crime that Dares Not Speak its Name. Royal Air Force officer to be tried before a military court for refusing to return to Iraq, in: New Statesman, October 28, 2005, http://www.newstatesman.co.uk/.

2) Merkel, Reinhard: Krieg. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Präventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entsprechen. Aber er untergräbt das Rechtsbewusstsein der Menschheit, Erstveröffentlichung in der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« Nr. 12/2003, abgedruckt in dem Sammelband von: Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, (Reihe Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen – Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive, Bd. 14), Berlin 2004, S. 28.

3) Vgl. hierzu Rose, Jürgen: Wozu das NATO-Truppenstatut die Bundesregierung verpflichtet, in: Bernd W. Kubbig (Hrsg.): Brandherd Irak. US-Hegemonieanspruch, die UNO und die Rolle Europas, Frankfurt/Main 2003, S. 235 – 242 sowie Deiseroth, Dieter: Verstrickung in einen Angriffskrieg. Zu Reichweite und Grenzen von Bündnisverpflichtungen im US-Irak-Krieg, in: Lutz, Dieter S.†/Gießmann, Hans J. (Hrsg.): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren. Politische und rechtliche Einwände gegen eine Rückkehr des Faustrechts in die internationalen Beziehungen, (Reihe Demokratie, Sicherheit, Frieden, Bd. 156), Baden-Baden 2003, S. 160 – 182.

4) Pfaff, Florian zit. n. Bundesverwaltungsgericht: Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 – BVerwG 2 WD 12.04, S. 103.

5) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 120.

6) Pfaff, Florian zit. n. Bundesverwaltungsgericht: Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 – BVerwG 2 WD 12.04, S. 20.

7) Vgl. Scholz, Rupert: Befehl und Gehorsam sind existenznotwendig, Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz über das Verwaltungsgerichtsurteil, das einem Soldaten Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen zubilligt, in: Die Welt, 25. Juni 2005.

8) Vgl. Schönbohm, Jörg: Berufsrisiko für Soldaten. Interview mit Jörg Schönbohm, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Juni 2005, S. 2.

9) Dieses und die folgenden Zitate aus Reichardt, Jürgen: Gehorsam und Gewissen, in: Treue Kameraden – Zeitschrift des Bayerischen Soldatenbundes 1874 e.V., Nr. 4/2005, S.3.

10) Gertz, Bernhard: Grenzen der Einsatzfähigkeit, in: Westfälische Rundschau, 25. Juni 2005 (Interviewer: Lothar Klein).

11) Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 12. Juli 1994, a.a.O., S. 355f.

12) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 29.

13) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 30.

14) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 30.

15) Vgl. hierzu Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 72.

16) Vgl. hierzu Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 116.

17) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 73.

18) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 81.

19) Bundesverwaltungsgericht: a.a.O., S. 106.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Werbung für Waffen

Werbung für Waffen

Marketingstrategien deutscher Rüstungsunternehmen

von Stefanie van de Kerkhof

In den letzten Jahren werden verstärkt auch in den Industriestaaten Privatisierungstendenzen am Rande und in den staatlichen Machtapparaten, inklusive des Militärs, verzeichnet. Die Zuliefererindustrie für das Militär – Produktion und Forschung – war dagegen in den kapitalistischen Staaten schon früher weitgehend privatwirtschaftlich organisiert. Wie sich deutsche Rüstungsunternehmen am Markt behaupteten, wie sie ihre Marketingstrategien in den letzten hundertfünfzig Jahren dem »Zeitgeist« anpassten, untersucht die Autorin in folgendem Beitrag.

Ökonomen und Wirtschaftshistoriker haben in neueren Veröffentlichungen betont, dass die Entwicklung eines »Corporate Images« für Unternehmen im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wichtiger wurde.1 Doch was bedeutet dies für Rüstungs- und Waffenproduzenten wie Krupp, Rheinmetall und andere, die eng gebunden sind an eine sehr spezifische Marktstruktur? Als Instrumente der Marketingstrategien von Waffenproduzenten dienten von Beginn an nationale Gewerbemessen und internationale Ausstellungen, ebenso wie besondere Events für die Abnehmer im engeren Sinne. Hier wurden nicht nur Kontrakte geschlossen und neue Projekte besprochen, sondern auch nationale, transnationale oder sogar global wirksame Bilder der Unternehmen und ihrer Produkte kreiert und transportiert. Eine bisher kaum beachtete Rolle spielte dabei die Entwicklung von Markenprodukten und eigenen Logos mit hohem Wiedererkennungswert, die teilweise zu Symbolen mit nationalem oder internationalem Charakter aufgeladen wurden. Im 20. Jahrhundert führten die Markenstrategien ähnlich wie in anderen Branchen dazu, dass ein eigenes »Corporate Design« oder sogar eine »Corporate Identity« entwickelt wurde. Mit diesen Mitteln der Kommunikations- und Unternehmenspolitik erschufen Rüstungsunternehmen nicht nur ein Bild von sich selbst und ihren Produkten, sondern auch von den Wettbewerbsvorteilen ihrer technologischen Standards. Interessant ist die wirtschaftshistorische Betrachtung dieser Entwicklung auch im Hinblick auf die neuen Werbestrategien europäischer Rüstungskonzerne wie EADS. Die ersten Ergebnisse eines größeren historischen Forschungsprojektes auf europäischer Ebene können hier vielleicht Anstöße zu weiterer Diskussion bieten.

Marktstrukturen versus Absatz- und Marketingstrategien?

Viele Rüstungsgüter verfügen über einen Dual-use-Charakter und können sowohl zivil als auch militärisch eingesetzt werden. Daher bietet es sich an, im Sinne einer besseren Abgrenzung von Waffenindustrie oder Rüstungsunternehmen im engeren Sinne zu sprechen. Sie umfasst Investitionsgüter wie Panzer, Bomber, Gewehre und Munition. Häufig haben Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker unterschätzt, welche Rolle die Waffenproduktion in Großunternehmen gespielt hat, weil der Grad der Abhängigkeit von militärischen Aufträgen stark schwankte. Dies deutet auf ein generelles Quellenproblem hin, wenn Unternehmen betrachtet werden, die keinen klar abgegrenzten militärischen Charakter ihrer Produktpalette aufweisen.2

Ökonomisch betrachtet sind Rüstungsgüter und Waffen sehr spezielle Investitionsgüter. Die Marktstruktur ist tendenziell monopsonistisch, eine Marktform in der ein einzelner Nachfrager wie der Staat über viele Anbieter dominiert. Da für Unternehmen oft aber auch andere Staaten als Abnehmer infrage kommen, gibt es auch oligo-, dyo- oder tripolistische Züge. Sowohl kleinere als auch Großkonzerne wie Krupp versuchten von Beginn ihren Absatz zu steigern, indem sie Waffen an andere Staaten bzw. deren Regierungen verkauften. Außerdem werden wie bei anderen Investitionsgütern direkte Absatzformen, z.B. Verhandlungen mit Ingenieuren und Spitzenmanagern, häufiger eingesetzt als bei Konsumgütern. Dies hat auch Auswirkungen auf die Preisgestaltung. Preise werden häufig nicht nach marktwirtschaftlichen Prinzipien fixiert, sondern hängen von den speziellen staatlichen Vertragsbedingungen ab mit Expansionen (cost-plus-contracts) und Bezahlung von Kostensteigerungen (follow-on-imperative).3 Die Verbindungen zwischen Unternehmen, Regierungen, Beschaffungsstellen, Wissenschaftlern und Militärs beeinflussen nicht nur die Marktstrukturen, sondern auch die Eigentums- und Verfügungsrechte (property rights). Sie sind insgesamt viel stärker als in anderen Branchen an die Entwicklung von nation-building-Prozessen gebunden.

Der Übergang von Verkäufern- zu Käufermärkten

Insgesamt hat die historische Forschung über Konsum und Marketing in Deutschland bisher nur zögerlich und im internationalen Vergleich sehr verspätet eingesetzt. Wie Ökonomen gezeigt haben, scheint es »on the long run« aber auch für Maschinenbauer und für die Investitionsgüterindustrie insgesamt ein Bedürfnis nach einer erweiterten Palette von Marketingstrategien und Kommunikationspolitik gegeben zu haben. Für Letztere spielten häufig persönliche Verbindungen und Verkaufsverhandlungen eine prominentere Rolle. Die Ursache dafür ist vor allem im komplexen und technologisch ambitionierten Charakter der Produkte zu sehen. Daher haben Instrumente der persönlichen Kommunikation einen höheren Stellenwert wie geführte Werksbesichtigungen, spezielle Events, Messen, Ausstellungen und besondere Treffen. Werbung in Fachzeitschriften und Zeitungen haben in diesem Sektor eine eher unterstützende als bedarfsweckende Funktion.

Betrachtet man Konsum im allgemeinen, so gingen Ökonomen und Wirtschaftshistoriker bis vor kurzem noch davon aus, dass es in den 1950er/60er Jahren einen Übergang von Verkäufer- zu Käufermärkten gegeben habe. Dadurch sei es erst zu neuen Marketingstrategien mit Instrumenten wie Marktforschung, Werbung, Public Relations, Verkaufsplanung und Absatzkontrolle gekommen. Die Wirtschaftshistoriker Kleinschmidt und Triebel haben aufgrund der Forschungslage in Frage gestellt, ob dieser branchenspezifisch unterschiedlich verlaufende Prozess nicht früher anzusetzen sei.4 Für die internationale Rüstungsindustrie wurde von SIPRI-Forschern die These vertreten, der Übergang läge erst in den 1980er Jahren.5 Diese Frage wird sich erst deutlich bei einer genaueren Untersuchung der Marketingstrategien von Unternehmen wie Krupp und Rheinmetall beantworten lassen.

Krupp und Rheinmetall als Marketing-Pioniere

Die frühen Gewerbemessen in Deutschland zeigten ebenso wie ihre Vorläufer in Frankreich ein janusköpfiges Gesicht. Auf der einen Seite repräsentierten sie Modernität und das Paradigma technischen und gesellschaftlichen Fortschritts verbunden mit ökonomischem Wachstum. Auf der anderen Seite waren es patriotische Anlässe, bestens geeignet den deutschen Anspruch auf Weltmachtstatus und Überlegenheit der deutschen Kultur zu demonstrieren. Außerdem verbanden sich – wie bei anderen bürgerlichen Festen – mit diesen Ambitionen auch Hoffnungen auf eine einigende Wirkung im deutschen Staatsbildungsprozess. Krupp als bedeutendstes privates Rüstungsunternehmen entdeckte schon früh die Gewerbemessen als wichtige Institution, um Werbung, Image-Entwicklung und »networking« voranzutreiben.6 Auf der Zollvereins-Messe 1844 präsentierte Krupp neben mächtigen gusseisernen Glocken auch zwei gegossene Schusswaffen. Er wählte die Waffen nicht wegen ihrer relevanten Stellung in der Produktpalette, sondern vor allem weil sie mehr Aufmerksamkeit und Publizität in der preußischen Öffentlichkeit erhielten als andere Produkte. Neben der Produktpräsentation entwickelte Krupp schon zu diesem frühen Zeitpunkt eigene Werbematerialien wie Broschüren, Kataloge und Hinweise auf Referenzen. Insgesamt war schon dieser frühe Auftritt auf den nationalen Gewerbemessen ein großer Erfolg für Krupp. Seine Produkte wurden weltweit in Zeitungen und Journalen erwähnt. Möglicherweise hat diese außergewöhnliche Welle an Aufmerksamkeit auch dazu geführt, dass Krupp mit militärischen Produkten zu einem Pionier im internationalen Ausstellungswesen wurde.

Die Rolle der Weltausstellungen für Rüstungsunternehmen ist bisher – ähnlich wie die der nationalen Messen – nur in Ansätzen erforscht. Am Beispiel von Krupp ist aber deutlich zu sehen, dass Rüstungsunternehmen sehr früh die Chancen nutzten, die sich durch diese neue Form von Öffentlichkeit und die damit einhergehenden Kontakte zu internationalen Massenmedien ergaben. Hier konnten nicht nur die Absätze deutlich gesteigert werden, sondern auch ein Image kreiert werden, mit dem sich der weltbekannte Status und die technologische Reputation des Unternehmens vermarkten ließ. Auf der ersten Weltausstellung in London im Jahre 1851 präsentierte Krupp wiederum sowohl zivile als auch militärische Produkte: einen riesigen Block aus Gusseisen und eine überdimensionierte Kanone. Für den Block erhielt Krupp die »Council Medal« des veranstaltenden Komitees. Die Historikerin Wolbring sah in der enormen öffentlichen Aufmerksamkeit und dem Gewinn der bedeutendsten Auszeichnung auch einen symbolischen Akt. Der Block wurde von einem einfachen Ausstellungsgegenstand zu einem »nationalen Monument«. Er markierte nämlich den erfolgreichen Wettlauf Preußens mit der bis dato deutlich überlegenen Wirtschafts- und Handelsmacht England. Zusammen mit der riesigen Kanone versuchte Krupp ein individuelles, sorgfältig arrangiertes und strategisch geplantes Unternehmensimage zu transportieren. Es verband Qualität, Haltbarkeit, technischen Perfektionismus, Modernität und ein weitreichendes Verständnis von Innovation mit Patriotismus und Konkurrenzkampf. Das für Krupp persönlich, publizistisch und ökonomisch äußerst erfolgreiche Auftreten auf der internationalen Szene wurde zum Modell für spätere Unternehmenspräsentationen. Bekanntheitsfördernd und Image prägend war bei allen diesen Ausstellungen, dass Krupp jedes Mal die größte Kanone der Welt einem staunenden internationalen Publikum und bedeutenden Staatsgästen präsentierte. Nach der Reichsgründung gewann dieser Prozess zu stärkerer Militarisierung und nationalistischem Auftreten mehr Dynamik. Das Prinzip des vermeintlich friedlichen Wettkampfes schwand bis 1914.7 Obwohl es auf internationaler und nationaler Ebene zu Kritik am militaristischen Gepräge des Kruppschen Auftritts kam, setzte der Unternehmer selber weiterhin auf ein Image des »Industriefürsten« verbunden mit einer Nobilitierung als »Kanonenkönig«. Produkte wie die »Dicke Bertha« sorgten für einen hohen Bekanntheitsgrad, ebenso Werbeslogans à la »Hart wie Kruppstahl«.

Andere Unternehmen wie der Bochumer Verein verzichteten darauf, sich als patriotische Waffenproduzenten zu präsentieren, was teils an hohen Kosten lag. Auf der Pariser Ausstellung 1878 setzte der französische Konkurrent Schneider-Le Creusot ein Zeichen gegen den Kruppschen Anspruch. Das Unternehmen stellte einen riesigen Dampfhammer für Befestigungsmaterial aus Panzerplatten aus. Damit präsentierte es sich und die »grande nation« als bereit zur Verteidigung gegen die deutschen Kanonen. Dies stand in starkem Kontrast zum militaristischen Auftreten Krupps auf den vorhergehenden Weltausstellungen.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach der Brüsseler Weltausstellung 1958 nahm die Bedeutung dieser Art von Ausstellungen für Unternehmen wie Krupp zugunsten höher spezialisierter industrieller Fachmessen ab. Dies ist ein Trend, der nicht nur bei Rüstungsproduzenten, sondern bei verschiedenen Branchen beobachtet werden konnte. Diese Messen dienten nicht einer weiteren Öffentlichkeit, sondern sie wurden zu Spezialmessen für Vertragspartner, Wissenschaftler und Lobbyisten. Bisweilen sprachen sie wie die Internationale Luft- und Raumfahrtausstellung (ILA) auch beide Seiten – vergleichbar dem Dual-use-Charakter der Produkte – an. Ausstellungen bzw. Messen wie die ILA richteten ihr Augenmerk neben den Vertragsverhandlungen und direkten Verkäufen stärker auf Information und Kommunikation mit einer breiten Öffentlichkeit.8 Ihre Rolle müsste letztlich aber noch genauer untersucht werden. Denn eine Reihe von Fragen nach den Marketingstrategien und der Kommunikationspolitik von Unternehmen auf diesen neueren, teils staatlich finanzierten Spezialmessen und Ausstellungen bleibt zu untersuchen.

Neuartiges Event-Marketing

Bei einer weiteren Form von personeller Absatzpolitik können Rüstungsunternehmen zu den Pionieren gezählt werden: beim Event-Marketing. Wiederum zählte hier Krupp zu den deutschen Unternehmen, die früh eigens organisierte Besucher-Aktionen erdachten. Für Staatsgäste, Großkunden und Interessenten wie den Kaiser, den Zar und später den Schah wurden nicht nur in Essen Besuchstouren in Werk und Villa organisiert. Es gab auch Sondervorführungen auf dem Schießplatz, öffentliche Schiffstaufen und Treffen mit hochdekorierten Offizieren. Die Ereignisse wurden photographiert und geschmückte Fotoalben als Erinnerungsgeschenke den potentiellen Kunden überreicht. Für die Organisation wurde sogar eine eigene Abteilung im Unternehmen gegründet. Diese moderne Form der Unternehmenskommunikation wurde immer weiter ausgebaut und verfeinert. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann man in den 1950er Jahren wieder, an diese Vorkriegstradition anzuknüpfen. Das Unternehmensimage, das dem Betrachter in zahlreichen Werbematerialien vermittelt werden sollte, ähnelte dabei dem Auftritt auf den Ausstellungen und Messen: Krupp als ein modernes, sauberes, innovatives, sozial verantwortliches und vertrauenswürdiges Unternehmen. Die Produkte repräsentierten dagegen stärker eine andere Seite des Images: die (wehrtechnische) Überlegenheit der Firma, Macht und Stärke. Krupp persönlich legte allerdings bei den veröffentlichten Photographien großen Wert darauf, dass Krieg und Aggression nicht dargestellt wurden. Dies kann als moderne Form der preußisch-deutschen Waffenpräsentation gesehen werden.

Werbung, Branding und Logo-Design in der historischen Analyse

Dies galt auch für die frühe Einführung der Werbung von Alfred Krupp. Schon 1866 begann er mit aktiver Medienpolitik. Artikel bezahlter Journalisten unterstrichen wichtige Verkaufsargumente gegen europäische Konkurrenten: Qualität, Härte, Haltbarkeit und technologische Vorteile. Diese Medienkampagnen können als erste Schritte zu modernen Public Relations und Corporate Image-Entwicklungen europaweit gesehen werden. Seit 1890 richtete Krupp ein spezielles »Nachrichtenbureau« für Presseauswertung, Kontaktpflege und Organisation der Werkstouren ein. Ähnliche innovative Schritte zu einer »open house policy« unternahmen die meisten internationalen Großkonzerne erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch im Gegensatz zu den Marketingstrategien des späten 20. Jahrhunderts waren diese frühen Touren bei Krupp beschränkt auf den engeren Kundenkreis.9 Im Werbegeschäft, das sich an eine breitere Öffentlichkeit richtete, folgte Krupp erst 1921 den Beispielen von Markenartiklern des Nahrungs- und Genussmittel-Sektors mit einer eigenen Fachabteilung. Sie sollte dem lahmenden Absatz nach dem Ersten Weltkrieg neue zivile Märkte erschließen.

Dem Aufbau einer eigenen »Marke« im Rüstungssektor, die beworben werden konnte, dienten spezielle Logos und eingetragene Warenzeichen. Hier war Krupp mit den drei ineinander verschlungenen Ringen wiederum Vorreiter. Krupp wählte eine Stilisierung des nahtlos gewalzten Eisenbahnrades – die aber auch als drei Geschützrohre gedeutet werden kann. Die klare, abstrakte und schmucklose Grafik kann als Symbol für Perfektion gedeutet werden. Durch die pyramidale Form und die Zahl drei spielten die Ringe auch auf die göttliche Trinität an. Obwohl die drei Ringe nicht ineinander verschlungen sind, erzeugen sie die Illusion von enger Verbindung und Nähe beim Betrachter. Dies kann als Anspielung auf die Idee des Unternehmens als sozialer Institution gesehen werden. Anders als bei Rheinmetall wurden die »drei Ringe« nahezu zum Metonym für das Unternehmen. Rheinmetall als ein follower im Aufbau eines eigenen Images wählte 1892 ebenfalls ein stilisiertes Logo der wichtigsten Innovation, des Press- und Ziehverfahrens für nahtlose Röhren, Geschützläufe und Munition. Es erreichte als Symbol aber nie den Bekanntheitsgrad wie das Krupp-Logo. Dies schaffte Rheinmetall erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit international bekannten militärischen Markenartikeln wie dem »Leopard«, dem »Büffel«, dem »Fuchs« und dem »Wiesel«. Ebenso wie Konkurrent und später Partner Krauss-Maffei setzte Rheinmetall mit bildhaften Marken aus dem Tierreich für hoch technisierte Waffensysteme auf Werbestrategien mit transnationalem Charakter. In den letzten Jahren gibt es eine neue Werbekonzeption außerhalb der engeren Fachpresse, die noch stärker auf Wohlbefinden, Vertrauen, Sicherheit und Freundschaft statt Betonung der technischen Daten setzt. Hier könnte der Aufschwung linguistischer und visueller Analyseverfahren nach dem linguistic bzw. dem pictorial turn noch viele Erkenntnisse für die historische Erforschung der Marketing- und Diskursstrategien von Rüstungsunternehmen bieten.

Anmerkungen

1) John T. Balmer/Stephen A. Greyser (Ed.): Revealing the Corporation. Perspectives on identity, image, reputation, corporate branding, and corporate-level marketing, London/New York 2003; Roland Marchand: Corporate Soul. The Rise of Public Relations and Corporate imagery in American big Business, Berkeley 1998; Heribert Meffert (Ed.): Strategische Markenführung und Marketing, Wiesbaden 1988.

2) Vgl. Norbert Zdrowomyslaw/Heinz-J. Bontrup: Die deutsche Rüstungsindustrie. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Ein Handbuch, Heilbronn 1988; .Stefanie van de Kerkhof: Rüstungsindustrie und Kriegswirtschaft, in: Th. Kühne/B. Ziemann (Hg.): Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000, S. 175-194.

3) Vgl. Mary Kaldor: The Weapons Succession Process, in: World Politics 38 (1986), S. 577-595 und William Baldwin: The Structure of the Defense Market, 1955-1964, Durham 1967.

4) Christian Kleinschmidt/Florian Triebel: Plädoyer für eine (unternehmens-)historische Marketing-Forschung, in: Dies. (Hg.): Marketing. Historische Aspekte der Wettbewerbs- und Absatzpolitik, Bochum 2004, S. 9-13.

5) Vgl. Frank Barnaby: Arms Industry – A Sellers’ Market, in: Bulletin of Atomic Scientists 37,5 (1981), S. 10ff. und Hartwig Hummel: Rüstungsexportbeschränkungen in Japan und der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg/Münster 1991, v.a. S. 79.

6) Ausführlich zum Folgenden Barbara Wolbring: Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Selbstdarstellung, öffentliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Kommunikation, München 2000.

7) Christoph Cornelissen: Die politische und kulturelle Repräsentation des Deutschen Reiches auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001), S. 148-161.

8) Vgl. die Artikel in ami von Stefan Gose, in: ami 6/00, S. 21-25; Christopher Steinmetz, in: ami 6/02, S. 3f. und Nina Odenwälder, in: ami 7/98, S. 23f.

9) Ausführlicher Susanne Hilger: »Amerikanisierung« deutscher Unternehmen. Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler Benz 1945–1975, Stuttgart 2004.

Dr. Stefanie van de Kerkhof arbeitet als Wirtschafts- und Sozialhistorikerin an einem Forschungsprojekt über »Kommunikationspolitik europäischer Rüstungsunternehmen im Kalten Krieg« und koordiniert den interdisziplinären Studiengang »Master of Peace Studies« am Institut Frieden und Demokratie der FernUniversität in Hagen

„Der Glaube an das Militär versetzt Berge …“

„Der Glaube an das Militär versetzt Berge …“

Zum Anteil der Bevölkerung am »Krieg gegen die Bevölkerung«

von Albert Fuchs

Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die deutsche Zivilbevölkerung jener Zeit in allen Medien des Landes und auf dem Buchmarkt vor allem als Opfer präsent. Dass die Deutschen Krieg bekamen, wie sie Krieg gewollt hatten (White, 2005), wird kaum reflektiert. Noch viel weniger wird die allfällige subtile Unterstützung von militärischer Gewalt reflektiert, die der Autor des vorliegenden Beitrags als allgemeine Grundlage jedes »Krieges gegen die Bevölkerung« problematisiert. Wir verstehen diesen Beitrag als kritische Erweiterung der Erinnerungsdebatte.

Die Kriegsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts ist u.a. gekennzeichnet durch eine Steigerung der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und eine Zunahme der Zahl der zivilen Opfer. Gehörten beispielsweise im Ersten Weltkrieg »nur« 5% der Todesopfer zur Zivilbevölkerung, waren es im Zweiten bereits 48%, im Koreakrieg dann 84% und im Vietnamkrieg 90%. Seitdem liegt die Zahl der zivilen Opfer meist bei über 90% der Kriegstoten (Jacob, 2003).

Es dürfte grundsätzlich und erst recht im Nachhinein unmöglich sein, die Quote der vorhergesehenen und vorhergewollten zivilen Kriegsopfer – der Opfer von Krieg gegen die Bevölkerung i.e.S. also, nach dem Muster des Vernichtungskriegs der Wehrmacht oder des alliierten Bombenkriegs – und die Quote der vielleicht vorhergesehenen, aber nicht vorhergewollten »Kollateralschäden« unter der Zivilbevölkerung auseinander zu dividieren. Zudem ist dieser Unterschied für die Opfer und damit für das eigentliche Problem belanglos. Hier jedenfalls geht es um zivile Opfer überhaupt. Für die politisch-moralische und rechtliche Bewertung von Kriegführung mag die fragliche Unterscheidung hoch bedeutsam sein. Ich möchte mich allerdings auch nicht mit Bewertungsfragen im Hinblick auf die »Opferung von Zivilisten« befassen; vermutlich ist sie weder in der einen noch in der anderen Form sonderlich strittig. Vielmehr möchte ich der provozierenden Frage nachgehen, wie die »Opferung von Zivilisten« wahrscheinlich mit dem relevanten gesellschaftlichen Meinungsklima zusammenhängt, welchen Anteil also die Bevölkerung selbst am Krieg gegen die Bevölkerung hat.

I.

Eine ähnliche Frage hat der Soziologe William A. Westley bereits 1966 in einer interessanten, anscheinend aber wenig beachteten Arbeit über »Die Eskalation von Gewalt durch Legitimation« aufgeworfen. Bei der Gewalt eines Mobs, bei Übergriffen der Polizei und im nazistischen Konzentrations- und Vernichtungslagersystem identifiziert Westley einen dreistufigen Eskalationsprozess:

  • Eine breite Öffentlichkeit toleriert und unterstützt geringfügige und legale Gewalt von Spezialisten.
  • Die Gewaltspezialisten üben solche Gewalt aus, tolerieren und unterstützen aber auch extreme(re), para- und illegale Gewalttätigkeit seitens einer relativ geringen Zahl von »Drecksarbeitern« aus ihren eigenen Reihen.
  • Diverse Formen extremer Gewalt werden von den »Spezialkräften« und »Sonderkommandos« dann auch tatsächlich ausgeführt.1

Die Träger dieser drei Stufen eines positiven Verhältnisses zu Gewalt sieht Westley durch eine (mehr oder weniger unbewusste) Mandatierungs- und Unterstützungsbeziehung symbiotisch verbunden. D.h. ohne den jeweiligen politisch-moralischen »Untergrund« wäre die Ausübung von Gewalt nur eine Art wahnsinniges Verhalten. Im Ursprung aber steht die Öffentlichkeit. Sie empfindet und verhält sich Gewalt gegenüber – in unserer westlichen Kultur – ausgesprochen ambivalent: Gewalt wird nicht verherrlicht; man fürchtet sie und ist vielfach davon in Anspruch genommen, sich davor zu schützen. Andererseits wird Gewalt aber auch nicht allgemein und konsequent verabscheut und abgelehnt; unter bestimmten Umständen werden bestimmte Leute mit der Ausübung von Gewalt bestimmten anderen Leuten gegenüber betraut und die Kulturindustrie käme ohne das Ingredienz der Gewalt kaum auf ihre Kosten. Westley (1966) wendet sein Paradigma ansatzweise auch bereits auf militärische Gewalt an. Hier stellen die Gesellschaft, das Militär als Institution und die Frontkommandeure und Sondertruppen die Träger der drei Eskalationsstufen dar.

II.

Im Weiteren soll das fragliche Meinungsklima unter Rückgriff auf die psychologische Analyse sozialer Einstellungen näher beleuchtet werden. Zunächst sind der einstellungsmäßige (positive) Bezug zu Gewalt und entsprechendes offenes Verhalten zu differenzieren. Die Sozialpsychologie operiert sodann seit langem und wohlbegründet mit Kognition, Bewertung und Verhaltenstendenz als funktional mehr oder weniger unabhängigen Komponenten sozialer Einstellungen (vgl. Breckler, 1984; Rosenberg & Hovland, 1960). Demnach sind folgende vier Formen des Bezugs zu Gewalt in Rechnung zu stellen:

  • Überzeugung von ihrer (unabänderlichen) Bedeutung (Kognition),
  • Billigung von (fremdausgeübter) Gewalt (Bewertung),
  • eigene Gewaltbereitschaft (Verhaltenstendenz) und schließlich
  • effektive Gewalttätigkeit (Verhalten) (vgl. Heitmeyer et al., 1992, S. 14).

Diese Bezugsformen stehen sachlogisch in einer Voraussetzung-für-Beziehung: Vom Glauben an die (unabänderliche) Bedeutung von Gewalt über die Gewaltbilligung und die Gewaltbereitschaft bis zur effektiven Gewalttätigkeit. Jede nachgeordnete Form impliziert die vorausgehende.2 Schließlich erscheint erforderlich, legale (normentsprechende) und illegale (normwidrige) Gewalt als Einstellungsgegenstand zu unterscheiden.3

Das Meinungsklima, auf dem das Gewaltspezialistentum basiert, dürfte im Wesentlichen den Glauben an die Unverzichtbarkeit und konstruktive Bedeutung legaler Gewalt und deren Billigung beinhalten. Das Spezialistentum ist darüber hinaus durch persönliche Gewaltbereitschaft und u.U. durch effektive Gewaltausübung gekennzeichnet, allerdings ebenfalls noch im Rahmen der von der Gesamtgesellschaft approbierten relevanten (straf- und völkerrechtlichen) Normen. Vermutlich besteht aber auf der kognitiven und evaluativen Ebene eine vergleichsweise höhere Toleranz für normwidrige Gewalt. Dieser zweifach gesteigerte positive Bezug der Spezialisten zu Gewalt bildet seinerseits die Grundlage für die Bereitschaft zu und Ausübung von extremer, kaum noch normgebundener Gewalt – bis hin zur Teilnahme an »Präventivkrieg«, Gefangenenmisshandlung und Folter, Krieg gegen die Bevölkerung, »totalem Krieg«. Kritisch für diesen zweiten Eskalationsschritt mag sein, dass Berufsverständnis und -praxis der Gewaltspezialisten die Beziehung zu (potenziellen) Kontrahenten als Gewaltverhältnis definieren und dadurch (die Bereitschaft zu) Gegengewalt provozieren, der man dann nur mit »Spezialkräften« und »Sondermaßnahmen« begegnen zu können glaubt (vgl. Seidler, 1997).

Hinweise auf die erste Cäsur kann man in zahlreichen Bevölkerungsumfragen finden, in denen beispielsweise nach der Bedeutung eigener Streitkräfte für einen Staat oder nach der Aufgabe der Bundeswehr im Falle eines militärischen Angriffs gefragt wird. Die Zustimmungsraten bei solchen Fragen liegen sehr stabil und weitgehend unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Parteipräferenz der InformantInnen zwischen 80 und 90%. Wenn dagegen die persönliche Verteidigungsbereitschaft erfasst wird, erhält man Zustimmungsraten um lediglich 60% (z.B. Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation, 1996, S. 8; Holst, 1995 – zit. nach Meyer, 2004, S. 257). Nach dem skizzierten Rationale ist zu erwarten, dass die zweite Rate bei Gewaltspezialisten wesentlich höher liegt. Andererseits kann man davon ausgehen, dass deren Zustimmung zu »Sondermaßnahmen« noch signifikant nach unten von der von »Spezialkräften« abweicht.

Wie sich die postulierten 4×2 Facetten des positiven Bezugs zu Gewalt tatsächlich verteilen und zueinander verhalten, ist jedoch nur durch gezielte empirische Forschung zu klären. Damit würde das bekannte UNESCO-Axiom, nach dem der Krieg „in den Köpfen von Menschen“ beginnt, wesentlich differenziert und präzisiert.

III.

Wichtiger als die damit angesprochene Frage der empirischen Prüfung des unterstellten Einstellungs-Verhaltens-Syndroms ist in unserem Zusammenhang die Frage seines Charakters über die Tatsache hinaus, dass es auf einer bestimmten Eskalationsstufe nahezu von allen Trägern dieser Stufe geteilt wird. Den Analytiker muss hellhörig machen, wenn Glaube an die Gewalt und Gewaltbilligung bis weit in die Friedensbewegung mit aller Selbstverständlichkeit vertreten werden – so wenn z.B. ein Friedensaktivist seiner Argumentation zugunsten »Humanitärer Interventionen« ganz fraglos die Hobbes’sche These von der „prinzipiellen Gewaltbestimmtheit des gesellschaftlichen Lebensprozesses“ (Klinger, 2004) (Glaube an die Gewalt) unterlegtoder wenn gewaltsamer Widerstand gegen die Besatzungstruppen im Irak ähnlich bedenkenlos unter Berufung auf das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ (Art. 51 UN-Charta) gerechtfertigt wird (Gewaltbilligung). Ähnlich ambivalent stellt sich die Friedensforschung dar (vgl. Wasmuht, 1998).

Für den kollektiv-normativen Charakter des fraglichen Überzeugungs-Wertsystems spricht aber vor allem, dass entsprechende Gegenpositionen, abermals durchaus auch in Kreisen der Friedensbewegung und Friedensforschung, sanktioniert werden – indem man sie beispielsweise als fundamentalistisch oder doch zumindest als politikunfähig diffamiert. Im (deutschen) protestantisch-kirchlichen Milieu ist schließlich eine in ihrer Deutlichkeit kaum zu überbietende dogmatische Festlegung auf Gewaltbilligung (und damit auf den Glauben an die Gewalt) zu finden: In Artikel 16 des immer noch als verbindlich geltenden »Augsburger Bekenntnisses« wird zum Glaubensinhalt erhoben, „dass Christen ohne Sünde Übeltäter mit dem Schwert bestrafen, rechtmäßig Kriege führen und in ihnen mit streiten können.“ Und weiter werden diejenigen »verdammt«, „die lehren, dass das oben Angezeigte unchristlich sei“ (zit. n. Nauerth, 2004, S. 1). Nauerth zufolge sind „in den letzten 20 Jahren alle Versuche, diesen ominösen Artikel CA 16 für nicht mehr lehrverbindlich zu erklären, gescheitert.“ Die für das neue evangelische Kirchengesangbuch verantwortliche Kommission habe sogar den historischen Text, der von einer Verdammung der »Wiedertäufer« spreche, eigenmächtig in „eine aktuelle Verdammung sämtlicher Pazifisten“ abgeändert (a.a.O., S. 1).

Demnach kann jeder und jede davon ausgehen, dass (1) praktisch alle anderen diese Annahmen und Bewertungen für wahr und richtig halten und dass (2) er oder sie sie gefälligst auch für wahr und richtig zu halten und dementsprechend zu handeln hat. Der weit reichende fatale Einfluss dieses Einstellungssyndroms dürfte nicht zuletzt auf diesem normativen Charakter basieren.

IV.

Mit Überlegungen wie den vorausgehenden wird »nur« an dem psychokulturellen Fundament herum gegraben, auf dem Krieg gegen die Bevölkerung basiert: Sie problematisieren das Potenzial zu derartiger Gewalt. Der »Aufbau«, die Entwicklung eines konkreten Konflikts in diese Richtung, ist wesentlich situationsabhängig und im Besonderen auch abhängig vom gegnerischen Verhalten. Dennoch ergibt sich aus solchen Überlegungen ein klarer Hinweis darauf, wo anzusetzen ist, wenn man den skandalösen Sachverhalt grundlegend ändern oder gar aus der Welt schaffen will: Beim ubiquitären Glauben an die Gewalt und der kaum weniger ubiquitären Billigung »guter« Gewalt. Allerdings dürfte dieses fatale Glaubenssystem letztlich nur zu überwinden sein, wenn es durch ein anderes ersetzt wird: durch konsequente Gewaltfreiheit als Kulturstandard.

Literatur

Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation (AIK) (Hrsg.) (1996): Demoskopisches Meinungsbild in Deutschland zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik 1995, Schriftenreihe der AIK, Band 16, Strausberg.

Breckler, S. J. (1984): Empirical validation of affect, behavior and cognition as distinct components of attitude. Journal of Personality and Social Psychology, 47, 1191-1205.

Heitmeyer, W./ Buhse, H./ Liebe-Freund, J./ Möller, K./ Müller, J./ Ritz, H./ Siller, G. & Vossen, J. (1992): Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie, München, Juventa.

Herrmann, T. (1984): Handlungstheoretische Aspekte der Aggression. In H. Lenk (Hrsg.): Handlungstheorien interdisziplinär Band 3, Verhaltenswissenschaftliche und psychologische Handlungstheorien (S. 790-805), München, Fink.

Jacob, L. (2003): Das humanitäre Völkerrecht und die neuen Kriege. In H.-G. Justenhoven & R. Schumacher (Hrsg.): Gerechter Friede – Weltgemeinschaft in der Verantwortung, Zur Debatte um die Friedensschrift der deutschen Bischöfe (S. 234-251), Stuttgart, Kohlhammer

Klinger, F. (2004): Humanitäre Interventionen heute – Friedenspolitik und die Herausforderungen der Gewaltkontrolle, Unveröffentlichtes Manuskript.

Meyer, B. (2004): Meinungsentwicklung zur Sicherheitspolitik und Bundeswehr. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie (S. 250-262), Weinheim, Beltz PVU.

Nauerth, T. (2004): Gewalt überwinden – Verdammung der Gewaltfreiheit beenden! Verfügbar unter: http://www.lebenshaus-alb.de/mt/ archives/002096.html [11.02.04].

Rosenberg, M. J. & Hovland, C. I. (1960): Cognitive, affective and behavioral components of attitude. In M. J. Rosenberg et al. (Eds.): Attitude organization and change, An analysis of consitency among attitude components (pp. 1-14). New Haven, Yale University Press.

Seidler, F. W. (1997): Soldaten im Partisanenkrieg. Völkerrechtliche und militärische Überlegungen zur Rolle der Wehrmacht, Die politische Meinung, 42 (4), 5-12.

Wasmuht, U. C. (1998): Frieden schaffen – mit oder ohne Waffen? Eine Auseinandersetzung mit (un)versöhnlichen Argumenten in der linksintellektuellen Diskussion und öffentlichen Meinung, SOWI-Arbeitspapier Nr. 110, Strausberg, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr.

Westley, W. A. (1966): The escalation of violence through legitimation. Annals of the American Academy of Political and Social Science, No. 364, 120-126.

White, O. (2005): Die Straße des Siegers. Eine Reportage aus Deutschland 1945, München, Piper.

Anmerkungen

1) Mit »Eskalation« sind hier offensichtlich nicht oder doch nicht primär charakteristische Veränderungen im Konfliktverlauf gemeint, sondern (qualitative) Stufen der Gewaltbelastung einer Gesellschaft.

2) Das gilt, sofern es um Gewalttätigkeit im handlungstheoretisch ausgezeichneten Sinn geht und nicht bloß um reflexhaftes gewaltförmiges Reagieren.

3) Die Beurteilung einer Gewalthandlung als »legal« (normentsprechend) oder »illegal« (normwidrig) ist in aller Regel selbst einstellungsabhängig. Grundsätzlich genügt dafür aber eine hinreichende Beschreibung der einschlägigen sozialen Normen und Regeln (vgl. Herrmann, 1984).

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Mitglied des Reaktionsteams von W&F

Der Krieg und die Kultur

Der Krieg und die Kultur

Eine evolutionspsychologische Perspektive

von Marianne Müller-Brettel

Im vorliegenden Beitrag fragt die Autorin nach der funktionalen Verankerung der Institution Krieg in der Geschichte der Menschheit. Unter dieser Perspektive schreibt sie dieser Institution eine gewisse positive Bedeutung zu. Durch die eigene Entwicklungsdynamik aber hat das Militär- und Kriegswesen zwischenzeitlich seine positive Funktion verloren bzw. wurde diese in das Gegenteil verkehrt, so dass Überleben und weitere Entwicklung der Menschheit die Abschaffung der Institution Krieg erfordern. Wir stellen diese »dialektische« Betrachtung zur Diskussion.

In den Jahren der Epochenwende schien der Krieg als Mittel der Politik in Europa überwunden:

  • Die Mittelsteckenraketen wurden abgebaut.
  • Die Berliner Mauer fiel ohne einen einzigen Schuss.
  • Aus den Reihen der Nationalen Volksarmee wurde ein Konversionsplan vorgelegt, wie alle Einrichtungen der DDR-Armee innerhalb von zehn Jahren in zivile Bereiche hätten überführt werden können.
  • Der Warschauer Pakt löste sich auf und die Rote Armee wurde aus Deutschland abgezogen.
  • Rüstungsfirmen erarbeiteten gemeinsam mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern Pläne, um anstelle von Panzern und Minen zivile Güter zu produzieren.
  • Die Partei der Grünen diskutierte einen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO.
  • Die OSZE bot eine praktikable Grundlage zur Lösung von Konflikten zwischen europäischen Staaten.

Warum trotz alledem Krieg?

Trotz dieser Erfolge alternativer Konfliktlösungen gilt heute, ein gutes Jahrzehnt später, die Bereitschaft, Soldaten rund um den Globus einzusetzen, als Voraussetzung für eine verantwortungsvolle deutsche Außenpolitik. Waren die Hoffnungen der Friedensbewegung naiv? Bedeutet die biologische Ausstattung des Menschen, seine Fähigkeit zur Aggression, dass er von Natur aus zum Krieg disponiert ist und höchstens durch entsprechende Bildung oder eine internationale, bewaffnete Organisation davon abgehalten werden kann, wie Freud 1933 in seiner Antwort an Einstein darlegte? Ist es die kapitalistische Dynamik der Konkurrenz und des tendenziellen Falls der Profitrate, die immer wieder zu Kriegen um neue Märkte, billige Rohstoffe und die Ausschaltung von Konkurrenten führt, wie Marx analysierte? Ist der von Huntington prophezeite »clash of civilizations« die Ursache von immer neuen Kriegen oder ist der Krieg der Vater aller Dinge, wie Heraklit zitiert wird?1

Jede dieser Theorien erklärt einen Aspekt von Krieg. Für den Menschen wie für jedes höhere Lebewesen ist die Aggressivität eine wichtige Eigenschaft fürs Überleben. Dass kapitalistische Gesellschaften um Rohstoffe und Absatzmärkte Kriege führen, haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt und dass bei gewaltsamen Auseinandersetzungen kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen, wird niemand bestreiten wollen. Inwiefern aber ist der Krieg der Vater aller Dinge?

Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege stehen in Europa bei der Diskussion der Bedeutung von Kriegen ihre negativen Auswirkungen wie Gewaltanwendung und Zerstörung im Vordergrund, und wir können die Kriegsbegeisterung deutscher Intellektueller von 1914 kaum noch nachvollziehen. Trotz der Grausamkeit heutiger Kriege reicht jedoch ihre Verurteilung nicht aus, um sie zu verhindern. Mit moralischen Argumenten sind viele Kriege geführt, aber keine verhütet oder beendet worden. Im Laufe der Geschichte haben sich vielfältige Formen von Kriegen herausgebildet wie zum Beispiel Eroberungsfeldzüge, Zweikämpfe, Kabinettskriege, Völkerschlachten und Bürgerkriege, entsprechend vielfältig sind auch ihre Ursachen und die Antworten auf die Frage, warum die meisten Gesellschaften seit der Jungsteinzeit (Neolithikum) regelmäßig Kriege führen. Über die politischen, ökonomischen, ethnischen und psychologischen Ursachen ist viel geforscht und geschrieben worden. Was aber ist mit der Bedeutung von Kriegen nicht für die Zerstörung von Kulturen, sondern, wie Heraklit meint, für deren Aufbau und Erhalt?

Evolutionspsychologische Perspektive

Diesem Aspekt soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierfür ist es notwendig zwischen der von Menschen geschaffenen Welt, der Welt der Artefakte, und der unabhängig von ihm und seiner Tätigkeit existierenden Welt, der natürlichen Welt, zu unterscheiden. Artefakte sind vom Menschen geschaffene Dinge wie Werkzeuge, Gebäude oder Kunstgegenstände, die von ihm entwickelten gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, sowie die in der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft kommunizierten Ideen, Theorien und Glaubensbekenntnisse. Man könnte sagen, die Summe aller Artefakte einer Sippe, Ethnie oder Nation ist ihre Kultur. Im Unterschied zu Dingen, die unabhängig von der menschlichen Tätigkeit entstehen und vergehen, wachsen und absterben, gedeihen und verderben, müssen Artefakte vom Menschen nicht nur erschaffen, sondern auch rekonstruiert und unterhalten werden. Gebäude zerfallen, Werkzeuge werden unbrauchbar und eine Stradivari verliert ihren wunderbaren Klang, wenn sie nicht regelmäßig gespielt wird. Theorien, soziale Institutionen und Ideen verschwinden, werden sie nicht in der Kommunikation rekonstruiert und in Büchern und Denkmälern dokumentiert. Religionen verlieren ihre Macht, wenn niemand mehr an sie glaubt und keiner mehr ihre Rituale pflegt.

Artefakte haben für den Menschen eine existentielle Bedeutung. Die Millionen Menschen, die im nördlichen Europa leben, würden ohne die Zivilisation verhungern und erfrieren. Die Entstehung der – nach derzeitigem Wissensstand – ersten Agrargesellschaften und Hochkulturen in der Jungsteinzeit ermöglichte der menschlichen Gattung ein Überleben auch unter ungünstigen Bedingungen. Damit setzte eine qualitativ neue Entwicklung ein: Einige Gruppen der menschlichen Gattung begannen den Verlust ihrer Nahrungsquellen nicht durch das Suchen neuer Lebensräume (Wanderung), sondern durch die Veränderung der vorhandenen (Ackerbau) zu kompensieren. Dank seiner spezifischen emotional-kognitiven Fähigkeiten kann der homo sapiens nicht nur seine Ideen in Artefakten materialisieren und seine Vorstellungen, Bedürfnisse, Absichten und Tätigkeiten reflektieren, sondern er kann auch einmal erworbenes Wissen in einer spezifischen Art tradieren, so dass nicht jede Generation das Rad neu erfinden muss. Er besitzt nicht nur die Fähigkeit Verhaltensweisen nachzuahmen und den Gebrauch von Werkzeugen zu erlernen, sondern erkennt auch die in den Artefakten angelegten Intentionen, also die Zwecke, zu denen sie von seinen Vorfahren erschaffen worden sind: „Werkzeuge weisen auf die Probleme hin, die sie lösen sollen, und sprachliche Symbole verweisen auf die kommunikativen Situationen, die sie repräsentieren sollen.“2 Dadurch ist der Mensch in der Lage, einmal erworbenes Wissen nicht nur in direktem Kontakt zwischen Eltern und Kindern an die nächste Generation weiterzugeben, sondern er kann das Wissen in Form der in Artefakten vergegenständlichten Intentionen, also unabhängig von der direkten Kommunikation, tradieren, was die Akkumulation von Wissen über viele Generationen hinweg, die Weiterentwicklung von Werkzeugen, Ideen oder Organisationen entsprechend ihren Bedeutungen für die jeweilige Gemeinschaft und letztlich den Aufbau von Zivilisationen ermöglicht. Nach Tomasello ist es diese besondere Art der kulturellen Weitergabe (Wagenhebereffekt), die den Menschen vom Tier unterscheidet und die Kumulation von Gütern, Fertigkeiten und Wissen ermöglicht.3 Dank dieser Fähigkeit können Menschen Kulturen aufbauen, die sie bis zu einem gewissen Grad von der Unbill der Natur unabhängig machen. Diese Kulturen ersetzen dem Menschen die wenigen für ihn auf der Erde vorhandenen ökologischen Nischen, die natürlichen Lebensräume also, in denen er Nahrung und Schutz vor Witterung findet, vor Feinden sicher ist und sich fortpflanzen kann. Diese Unabhängigkeit befähigte die menschliche Gattung, sich über die ganze Erde auszubreiten und in allen Klimazonen anzusiedeln.

Die Kulturentwicklung sicherte auf der einen Seite Überleben und Wachstum der Gattung Mensch, zwang aber auf der anderen Seite dazu, die je eigene Kultur zu unterhalten und zu erneuern. Während die Natur sich auch ohne das Eingreifen des Menschen verändert und reproduziert, werden zur Aufrechterhaltung von Kulturen ständig neue materielle, physische und psychische Ressourcen benötigt, da Artefakte die Eigenschaft haben, ohne das Eingreifen des Menschen, zu zerfallen. Es ist diese Eigenschaft der vom Menschen geschaffenen Dinge, die von ihm viel Arbeit erfordert.4 Im Unterschied zu anderen Gattungen, die in natürlichen ökologischen Nischen leben, muss der homo sapiens stets große Anstrengungen unternehmen, um die Kultur, also seine ökologische Nische, zu erhalten.

Interpretieren wir die Aussage „Krieg ist der Vater aller Dinge“ dahingehend, dass mit den Dingen die Artefakte gemeint sind, können wir weiter folgern, dass die Bedeutung von Kriegen darin liegt, die für die Instandhaltung und Erneuerung der Artefakte notwendigen materiellen und menschlichen Ressourcen zu beschaffen. Kriege dienen demnach nicht nur, wie die Aggression von Tieren, der Verteidigung des Reviers und der Jungen, sondern sind auch ein Mittel, die Rekonstruktion der jeweiligen Kultur zu sichern und neue Kulturen aufzubauen. Es gibt kaum eine Hochkultur, bei deren Aufbau Kriege nicht eine große Rolle gespielt hätten. Auch bei der Bildung moderner Nationalstaaten hatten Kriege eine wichtige Funktion. Bis heute sind Armeen in den meisten Ländern ein wichtiger Bestandteil der nationalen Identität.

Funktionswidrigkeit der Institution Krieg

Aber Kriege dienen nicht nur der Rekonstruktion, sondern auch der Zerstörung von Kulturen. Kaum eine Hochkultur existierte länger als tausend Jahre. Und es scheint einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit, mit der Reiche entstehen, und der Geschwindigkeit, mit der sie zerfallen, zu geben. Man könnte auch sagen, je weniger Kriege für die Bildung von Reichen notwendig waren, je langsamer sie entstanden sind, je größer der Anteil der gegenseitigen Assimilation im Vergleich zur militärischen Eroberung und gewaltsamen Unterdrückung war, desto stabiler sind sie gewesen. Das Dilemma, dass auf der einen Seite eine Kultur während einiger Generationen mit Hilfe von Kriegen wachsen kann, langfristig aber jede auf Krieg angewiesene Kultur sich selbst gefährdet, spiegelt sich in der Ambivalenz der Bevölkerung gegenüber Militär und Krieg wider. In den eigenen Armeen kristallisiert sich die Hoffnung einer Bevölkerung auf Sicherheit ebenso wie ihre Furcht vor einem Krieg.

Die Zwiespältigkeit von Kriegen erleben wir zur Zeit auch in unseren hochindustrialisierten Gesellschaften. Auf der einen Seite beschleunigte die kapitalistische Entwicklungsdynamik die Akkumulation von Gütern und Wissen. Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik, quasi unsere ökologische Nische, kann ihrem Anspruch, den Unternehmen Profite und den Beschäftigten Wohlstand und soziale Sicherheit zu garantieren, nur durch ein ständiges Wirtschaftswachstum gerecht werden. Wirtschaftswachstum aber erfordert einen hohen Bedarf an billigen Rohstoffen, weltweite Sicherung von Absatzmärkten, Ausschaltung von Konkurrenz sowie Rüstungsproduktion und Waffenexport. Alles Faktoren, die das Kriegsrisiko erhöhen, denn die Geschichte lehrt uns, dass keine expansive Kultur langfristig auf das Mittel Krieg verzichten konnte.

Müssen wir mit diesem Dilemma leben, weil Krieg der Vater von allem ist? Ist ohne Krieg unsere Zivilisation nicht aufrecht zu erhalten? Ist Krieg gar eine biologische Notwendigkeit? Betrachtet man das Kriegführen unter diesem Blickwinkel, ist es müßig darüber zu streiten, ob Kriege auf die Biologie des Menschen zurückzuführen sind oder gesellschaftliche Ursachen haben. Denn die Kultur ist zwar ein Produkt gesellschaftlicher Tätigkeit, hat aber als ökologische Nische gleichzeitig eine zentrale biologische Funktion, nämlich das Überleben der menschlichen Gattung zu sichern. Dies bedeutet aber nicht, dass Kriege eine zwingende biologische Notwendigkeit sind. Denn zum einen ist Krieg nicht und war nie das einzige Mittel, die für die Rekonstruktion einer Kultur notwendigen Ressourcen zu beschaffen. Zum anderen zeigt uns der Vergleich mit der Tierwelt, dass Kriege spezifisch menschlich sind.

Nicht der Krieg, sondern die Kultur ist für das Überleben der Gattung Mensch eine biologische Notwendigkeit. Ohne Artefakte könnten wir uns weder ernähren noch fortpflanzen. Die Etablierung des Krieges dagegen, durch welche historischen Zufälle und Einflüsse auch immer, als ein Mittel der Kulturrekonstruktion und Kulturentwicklung ist eine historische Tatsache, aber kein Naturgesetz. Heraklit beschreibt einen wichtigen Aspekt von Kriegen, der sich konkret auf die Geschichte unserer Zivilisation bezieht. Dies bedeutet aber nicht, dass die Aussage „Krieg ist der Vater von allem“ ein allgemeines Entwicklungsgesetz ist. Neben den expansiven Kulturen hat es immer Kulturen gegeben, die sich ohne Kriege rekonstruieren konnten und viele Kriege, wenn nicht die meisten, sind nicht um das Überleben einer Ethnie oder Nation geführt worden, sondern um das Überleben einer bestimmten Elite und die Rettung ihrer Privilegien.

Krieg ist also nicht nur keine biologische, sondern auch keine kulturelle Notwendigkeit. Biologisch notwendig ist nur der Erhalt der Zivilisation als ökologische Nische für Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Zunehmend wächst aber die Gefahr, dass Kriege nicht der Rekonstruktion, sondern der Vernichtung unserer zivilisatorischen Errungenschaften dienen. Krieg erfordert die Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte. Für demokratische Abstimmungen, kritische Debatten, Menschenrechte und allgemeinen Wohlstand ist in Kriegszeiten kein Platz. Auch für die kapitalistische Wirtschaft bringt ein Krieg nicht nur Gewinn. Zwar kann die Rüstungsindustrie ihre Profite erhöhen, die übrigen Wirtschaftsbereiche aber müssen, jedenfalls kurzfristig, Einbußen in Kauf nehmen, denn Handel braucht Frieden. Nicht zuletzt besteht bei einem Krieg im 21. Jahrhundert immer die Gefahr, dass die militärisch stärkere zwar die militärisch schwächere Gesellschaft unterwerfen kann, Sieger und Besiegte aber gleichermaßen zu Schaden kommen.

Wir stehen heute vor der Aufgabe, eine Kultur des Friedens zu schaffen, eine Kultur, die auf das Mittel Krieg verzichten kann. Das bedeutet, eine Kultur, die für ihre Rekonstruktion nur so viele Ressourcen benötigt, wie sie aus eigener Kraft und ohne Ausbeutung oder Ausplünderung anderer Kulturen hervorbringen kann. Dies ist, nach mehreren tausend Jahren expansiver Entwicklung, in der das Mittel Krieg ein konstitutiver Faktor war, keine leichte Aufgabe. Inwieweit sie gelingen wird, hängt von jedem einzelnen ab.

Anmerkungen

1) Die Stelle bei Heraklit heißt: „Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ (29 fr. 53, zit. nach W. Capelle (1953): Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenbericht (S. 135). Stuttgart: Kröner). Meine Ausführungen beziehen sich nicht auf das Ursprungszitat, sondern auf die verkürzte Form, in der dieses Zitat in der Friedensdiskussion meist verwendet wird.

2) Tomasello, M. (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (S. 16). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

3) ebd.

4) vgl. 1 Mose, 3.17-19: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweisse deines Ansgesichts sollst du dein Brot essen …“

Dr. Marianne Müller-Brettel ist Psychologin und hat sich als wiss. Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin vor allem mit der Geschichte der Friedenspsychologie auseinandergesetzt

Die Bundeswehr ist keine Polizei

Die Bundeswehr ist keine Polizei

von Helmuth Prieß

Seit Jahren taucht aus dem konservativen Lager immer wieder der Vorschlag auf, die Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen; z.B. zur Abwehr illegaler Einwanderer an den Landesgrenzen oder – seit den Anschlägen vom 11. September 2001 – zur Bekämpfung des Terrorismus.

Diesem Vorschlag steht unsere Verfassung entgegen. Danach stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Seit der verfassungsändernden Auslegung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 bedeutet das nicht nur Landesverteidigung, sondern auch Schutz deutscher Interessen weltweit – bisher nur, wenn dem Einsatz ein UN-Beschluss vorausgegangen ist und wenn der Deutsche Bundestag zugestimmt hat.

Die Sicherung der deutschen Grenzen gegen Schmuggel und illegale Grenzübertritte, d.h. auch zur Verhinderung illegaler Einwanderung, ist Aufgabe von Polizei und Bundesgrenzschutz; ebenso die Gefahrenabwehr im Inneren, also der Kampf gegen den Terrorismus. Das ist auch richtig so, denn die Soldaten der Bundeswehr sind zur Abwehr von Terrorakten im Inneren ebenso ungeeignet wie zur weltweiten Terrorbekämpfung. Der verdeckte Kampf von Terroristen unterläuft – wie das tägliche Geschehen zeigt – die offene Kampfführung militärischer Einheiten.

Für das Aufspüren von Terroristen – auch das belegen die regelmäßigen Erfolgsmeldungen – sind allein nationale und internationale Polizei sowie Geheimdienste geeignet. Deren technische und gegebenenfalls personelle Möglichkeiten müssen ausgebaut werden und die Zusammenarbeit der Dienste innerhalb der Staaten und zwischen ihnen ist zu verbessern. Dass das einer angemessenen parlamentarischen Kontrolle bedarf, ist für mich selbstverständlich.

Wir dürfen auch nicht übersehen, dass der Einsatz von Militär oft dazu beiträgt, terroristische Aktivitäten zu verstärken. Der israelisch-palästinensische Konflikt und die fortlaufende Kette terroristischer Angriffe, wie z.B. in Afghanistan und dem Irak, beweisen dies deutlich. Hinzu kommt, dass die Forderung nach Militär zur Terrorismusbekämpfung im Inneren von dringend erforderlichen zivilen Schutzmaßnahmen bei Atomkraftwerken, Chemieanlagen, Wasserwerken usw. ablenkt.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es auch bei größten Anstrengungen keine absolute Sicherheit geben wird! Unsere dicht besiedelte und hochtechnisierte Welt bleibt gegen Terroranschläge verwundbar!

Auch der im »rot-grünen« Entwurf des Flugsicherheitsgesetzes vorgesehene Einsatz von Kampfflugzeugen gegen Attentate mit gekaperten (Passagier-) Flugzeugen ist im Ernstfall wirkungslos. Falls es Terroristen gelingt, sich Passagiermaschinen zu bemächtigen, werden sie ohne »Sightseeing-Umwege« vom Frankfurter Flughafen direkt in die Frankfurter Bankhochhäuser, vom Düsseldorfer Flughafen direkt ins Mannesmann-Hochhaus oder von Berlin-Tegel direkt ins Sony-Center fliegen. Die Katastrophe wäre eingetreten, bevor die bereitgehaltenen Kampfjets in der Luft sind!

Wirksame Hilfe gegen Terroranschläge bieten nur vorbeugende politische, ökonomische, polizeiliche und technische Schutzmaßnahmen.

Um den Terrorismus in unserem Land und weltweit schrittweise abzubauen, brauchen wir Maßnahmen des politischen Ausgleichs, den Dialogs zwischen allen Religionen und ethnischen Gruppen und die weitestmögliche Herstellung von innerstaatlicher wie weltweiter sozialer Gerechtigkeit. Der größte Nährboden des Terrorismus ist die total ungerechte Verteilung von Chancen zur Lebensgestaltung. Hunger und Elend, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Hass bieten den Scharfmachern die Basis, um »Menschen ohne Lebensperspektive« für den geplanten Terrortod zu rekrutieren.

Der Ruf nach Militär zur Terrorabwehr trifft aber nicht nur ins Leere – er ist auch kontraproduktiv, denn (falls man ihm folgt) bindet er viel Geld und Arbeitskraft, die sinnvoller eingesetzt werden kann, er lenkt nicht nur ab, er behindert die Diskussion um tatsächlich notwendige Maßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismus.

Die Debatte um den Einsatz der Bundeswehr im Inneren hat auch noch eine andere Dimension, die wir nicht übersehen dürfen: Hier könnte unter Umständen ein Tor geöffnet werden für einen missbräuchlichen – den politischen – Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Das Grundgesetz hat die Lehren aus der Weimarer Republik gezogen, als es auch deshalb diesen Einsatz untersagte.

Helmuth Prieß, Oberstleutnant a.D., ist Sprecher des »Arbeitskreises Darmstädter Signal« – eines friedenspolitischen Zusammenschlusses aktiver und ehemaliger Bundeswehroffiziere und Unteroffiziere. Er ist Träger des Gustav-Heinemann-Bürgerpreises und der Clara-Immerwahr-Auszeichnung der IPPNW.