Der Krieg und die Kultur

Der Krieg und die Kultur

Eine evolutionspsychologische Perspektive

von Marianne Müller-Brettel

Im vorliegenden Beitrag fragt die Autorin nach der funktionalen Verankerung der Institution Krieg in der Geschichte der Menschheit. Unter dieser Perspektive schreibt sie dieser Institution eine gewisse positive Bedeutung zu. Durch die eigene Entwicklungsdynamik aber hat das Militär- und Kriegswesen zwischenzeitlich seine positive Funktion verloren bzw. wurde diese in das Gegenteil verkehrt, so dass Überleben und weitere Entwicklung der Menschheit die Abschaffung der Institution Krieg erfordern. Wir stellen diese »dialektische« Betrachtung zur Diskussion.

In den Jahren der Epochenwende schien der Krieg als Mittel der Politik in Europa überwunden:

  • Die Mittelsteckenraketen wurden abgebaut.
  • Die Berliner Mauer fiel ohne einen einzigen Schuss.
  • Aus den Reihen der Nationalen Volksarmee wurde ein Konversionsplan vorgelegt, wie alle Einrichtungen der DDR-Armee innerhalb von zehn Jahren in zivile Bereiche hätten überführt werden können.
  • Der Warschauer Pakt löste sich auf und die Rote Armee wurde aus Deutschland abgezogen.
  • Rüstungsfirmen erarbeiteten gemeinsam mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern Pläne, um anstelle von Panzern und Minen zivile Güter zu produzieren.
  • Die Partei der Grünen diskutierte einen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO.
  • Die OSZE bot eine praktikable Grundlage zur Lösung von Konflikten zwischen europäischen Staaten.

Warum trotz alledem Krieg?

Trotz dieser Erfolge alternativer Konfliktlösungen gilt heute, ein gutes Jahrzehnt später, die Bereitschaft, Soldaten rund um den Globus einzusetzen, als Voraussetzung für eine verantwortungsvolle deutsche Außenpolitik. Waren die Hoffnungen der Friedensbewegung naiv? Bedeutet die biologische Ausstattung des Menschen, seine Fähigkeit zur Aggression, dass er von Natur aus zum Krieg disponiert ist und höchstens durch entsprechende Bildung oder eine internationale, bewaffnete Organisation davon abgehalten werden kann, wie Freud 1933 in seiner Antwort an Einstein darlegte? Ist es die kapitalistische Dynamik der Konkurrenz und des tendenziellen Falls der Profitrate, die immer wieder zu Kriegen um neue Märkte, billige Rohstoffe und die Ausschaltung von Konkurrenten führt, wie Marx analysierte? Ist der von Huntington prophezeite »clash of civilizations« die Ursache von immer neuen Kriegen oder ist der Krieg der Vater aller Dinge, wie Heraklit zitiert wird?1

Jede dieser Theorien erklärt einen Aspekt von Krieg. Für den Menschen wie für jedes höhere Lebewesen ist die Aggressivität eine wichtige Eigenschaft fürs Überleben. Dass kapitalistische Gesellschaften um Rohstoffe und Absatzmärkte Kriege führen, haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt und dass bei gewaltsamen Auseinandersetzungen kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen, wird niemand bestreiten wollen. Inwiefern aber ist der Krieg der Vater aller Dinge?

Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege stehen in Europa bei der Diskussion der Bedeutung von Kriegen ihre negativen Auswirkungen wie Gewaltanwendung und Zerstörung im Vordergrund, und wir können die Kriegsbegeisterung deutscher Intellektueller von 1914 kaum noch nachvollziehen. Trotz der Grausamkeit heutiger Kriege reicht jedoch ihre Verurteilung nicht aus, um sie zu verhindern. Mit moralischen Argumenten sind viele Kriege geführt, aber keine verhütet oder beendet worden. Im Laufe der Geschichte haben sich vielfältige Formen von Kriegen herausgebildet wie zum Beispiel Eroberungsfeldzüge, Zweikämpfe, Kabinettskriege, Völkerschlachten und Bürgerkriege, entsprechend vielfältig sind auch ihre Ursachen und die Antworten auf die Frage, warum die meisten Gesellschaften seit der Jungsteinzeit (Neolithikum) regelmäßig Kriege führen. Über die politischen, ökonomischen, ethnischen und psychologischen Ursachen ist viel geforscht und geschrieben worden. Was aber ist mit der Bedeutung von Kriegen nicht für die Zerstörung von Kulturen, sondern, wie Heraklit meint, für deren Aufbau und Erhalt?

Evolutionspsychologische Perspektive

Diesem Aspekt soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierfür ist es notwendig zwischen der von Menschen geschaffenen Welt, der Welt der Artefakte, und der unabhängig von ihm und seiner Tätigkeit existierenden Welt, der natürlichen Welt, zu unterscheiden. Artefakte sind vom Menschen geschaffene Dinge wie Werkzeuge, Gebäude oder Kunstgegenstände, die von ihm entwickelten gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, sowie die in der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft kommunizierten Ideen, Theorien und Glaubensbekenntnisse. Man könnte sagen, die Summe aller Artefakte einer Sippe, Ethnie oder Nation ist ihre Kultur. Im Unterschied zu Dingen, die unabhängig von der menschlichen Tätigkeit entstehen und vergehen, wachsen und absterben, gedeihen und verderben, müssen Artefakte vom Menschen nicht nur erschaffen, sondern auch rekonstruiert und unterhalten werden. Gebäude zerfallen, Werkzeuge werden unbrauchbar und eine Stradivari verliert ihren wunderbaren Klang, wenn sie nicht regelmäßig gespielt wird. Theorien, soziale Institutionen und Ideen verschwinden, werden sie nicht in der Kommunikation rekonstruiert und in Büchern und Denkmälern dokumentiert. Religionen verlieren ihre Macht, wenn niemand mehr an sie glaubt und keiner mehr ihre Rituale pflegt.

Artefakte haben für den Menschen eine existentielle Bedeutung. Die Millionen Menschen, die im nördlichen Europa leben, würden ohne die Zivilisation verhungern und erfrieren. Die Entstehung der – nach derzeitigem Wissensstand – ersten Agrargesellschaften und Hochkulturen in der Jungsteinzeit ermöglichte der menschlichen Gattung ein Überleben auch unter ungünstigen Bedingungen. Damit setzte eine qualitativ neue Entwicklung ein: Einige Gruppen der menschlichen Gattung begannen den Verlust ihrer Nahrungsquellen nicht durch das Suchen neuer Lebensräume (Wanderung), sondern durch die Veränderung der vorhandenen (Ackerbau) zu kompensieren. Dank seiner spezifischen emotional-kognitiven Fähigkeiten kann der homo sapiens nicht nur seine Ideen in Artefakten materialisieren und seine Vorstellungen, Bedürfnisse, Absichten und Tätigkeiten reflektieren, sondern er kann auch einmal erworbenes Wissen in einer spezifischen Art tradieren, so dass nicht jede Generation das Rad neu erfinden muss. Er besitzt nicht nur die Fähigkeit Verhaltensweisen nachzuahmen und den Gebrauch von Werkzeugen zu erlernen, sondern erkennt auch die in den Artefakten angelegten Intentionen, also die Zwecke, zu denen sie von seinen Vorfahren erschaffen worden sind: „Werkzeuge weisen auf die Probleme hin, die sie lösen sollen, und sprachliche Symbole verweisen auf die kommunikativen Situationen, die sie repräsentieren sollen.“2 Dadurch ist der Mensch in der Lage, einmal erworbenes Wissen nicht nur in direktem Kontakt zwischen Eltern und Kindern an die nächste Generation weiterzugeben, sondern er kann das Wissen in Form der in Artefakten vergegenständlichten Intentionen, also unabhängig von der direkten Kommunikation, tradieren, was die Akkumulation von Wissen über viele Generationen hinweg, die Weiterentwicklung von Werkzeugen, Ideen oder Organisationen entsprechend ihren Bedeutungen für die jeweilige Gemeinschaft und letztlich den Aufbau von Zivilisationen ermöglicht. Nach Tomasello ist es diese besondere Art der kulturellen Weitergabe (Wagenhebereffekt), die den Menschen vom Tier unterscheidet und die Kumulation von Gütern, Fertigkeiten und Wissen ermöglicht.3 Dank dieser Fähigkeit können Menschen Kulturen aufbauen, die sie bis zu einem gewissen Grad von der Unbill der Natur unabhängig machen. Diese Kulturen ersetzen dem Menschen die wenigen für ihn auf der Erde vorhandenen ökologischen Nischen, die natürlichen Lebensräume also, in denen er Nahrung und Schutz vor Witterung findet, vor Feinden sicher ist und sich fortpflanzen kann. Diese Unabhängigkeit befähigte die menschliche Gattung, sich über die ganze Erde auszubreiten und in allen Klimazonen anzusiedeln.

Die Kulturentwicklung sicherte auf der einen Seite Überleben und Wachstum der Gattung Mensch, zwang aber auf der anderen Seite dazu, die je eigene Kultur zu unterhalten und zu erneuern. Während die Natur sich auch ohne das Eingreifen des Menschen verändert und reproduziert, werden zur Aufrechterhaltung von Kulturen ständig neue materielle, physische und psychische Ressourcen benötigt, da Artefakte die Eigenschaft haben, ohne das Eingreifen des Menschen, zu zerfallen. Es ist diese Eigenschaft der vom Menschen geschaffenen Dinge, die von ihm viel Arbeit erfordert.4 Im Unterschied zu anderen Gattungen, die in natürlichen ökologischen Nischen leben, muss der homo sapiens stets große Anstrengungen unternehmen, um die Kultur, also seine ökologische Nische, zu erhalten.

Interpretieren wir die Aussage „Krieg ist der Vater aller Dinge“ dahingehend, dass mit den Dingen die Artefakte gemeint sind, können wir weiter folgern, dass die Bedeutung von Kriegen darin liegt, die für die Instandhaltung und Erneuerung der Artefakte notwendigen materiellen und menschlichen Ressourcen zu beschaffen. Kriege dienen demnach nicht nur, wie die Aggression von Tieren, der Verteidigung des Reviers und der Jungen, sondern sind auch ein Mittel, die Rekonstruktion der jeweiligen Kultur zu sichern und neue Kulturen aufzubauen. Es gibt kaum eine Hochkultur, bei deren Aufbau Kriege nicht eine große Rolle gespielt hätten. Auch bei der Bildung moderner Nationalstaaten hatten Kriege eine wichtige Funktion. Bis heute sind Armeen in den meisten Ländern ein wichtiger Bestandteil der nationalen Identität.

Funktionswidrigkeit der Institution Krieg

Aber Kriege dienen nicht nur der Rekonstruktion, sondern auch der Zerstörung von Kulturen. Kaum eine Hochkultur existierte länger als tausend Jahre. Und es scheint einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit, mit der Reiche entstehen, und der Geschwindigkeit, mit der sie zerfallen, zu geben. Man könnte auch sagen, je weniger Kriege für die Bildung von Reichen notwendig waren, je langsamer sie entstanden sind, je größer der Anteil der gegenseitigen Assimilation im Vergleich zur militärischen Eroberung und gewaltsamen Unterdrückung war, desto stabiler sind sie gewesen. Das Dilemma, dass auf der einen Seite eine Kultur während einiger Generationen mit Hilfe von Kriegen wachsen kann, langfristig aber jede auf Krieg angewiesene Kultur sich selbst gefährdet, spiegelt sich in der Ambivalenz der Bevölkerung gegenüber Militär und Krieg wider. In den eigenen Armeen kristallisiert sich die Hoffnung einer Bevölkerung auf Sicherheit ebenso wie ihre Furcht vor einem Krieg.

Die Zwiespältigkeit von Kriegen erleben wir zur Zeit auch in unseren hochindustrialisierten Gesellschaften. Auf der einen Seite beschleunigte die kapitalistische Entwicklungsdynamik die Akkumulation von Gütern und Wissen. Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik, quasi unsere ökologische Nische, kann ihrem Anspruch, den Unternehmen Profite und den Beschäftigten Wohlstand und soziale Sicherheit zu garantieren, nur durch ein ständiges Wirtschaftswachstum gerecht werden. Wirtschaftswachstum aber erfordert einen hohen Bedarf an billigen Rohstoffen, weltweite Sicherung von Absatzmärkten, Ausschaltung von Konkurrenz sowie Rüstungsproduktion und Waffenexport. Alles Faktoren, die das Kriegsrisiko erhöhen, denn die Geschichte lehrt uns, dass keine expansive Kultur langfristig auf das Mittel Krieg verzichten konnte.

Müssen wir mit diesem Dilemma leben, weil Krieg der Vater von allem ist? Ist ohne Krieg unsere Zivilisation nicht aufrecht zu erhalten? Ist Krieg gar eine biologische Notwendigkeit? Betrachtet man das Kriegführen unter diesem Blickwinkel, ist es müßig darüber zu streiten, ob Kriege auf die Biologie des Menschen zurückzuführen sind oder gesellschaftliche Ursachen haben. Denn die Kultur ist zwar ein Produkt gesellschaftlicher Tätigkeit, hat aber als ökologische Nische gleichzeitig eine zentrale biologische Funktion, nämlich das Überleben der menschlichen Gattung zu sichern. Dies bedeutet aber nicht, dass Kriege eine zwingende biologische Notwendigkeit sind. Denn zum einen ist Krieg nicht und war nie das einzige Mittel, die für die Rekonstruktion einer Kultur notwendigen Ressourcen zu beschaffen. Zum anderen zeigt uns der Vergleich mit der Tierwelt, dass Kriege spezifisch menschlich sind.

Nicht der Krieg, sondern die Kultur ist für das Überleben der Gattung Mensch eine biologische Notwendigkeit. Ohne Artefakte könnten wir uns weder ernähren noch fortpflanzen. Die Etablierung des Krieges dagegen, durch welche historischen Zufälle und Einflüsse auch immer, als ein Mittel der Kulturrekonstruktion und Kulturentwicklung ist eine historische Tatsache, aber kein Naturgesetz. Heraklit beschreibt einen wichtigen Aspekt von Kriegen, der sich konkret auf die Geschichte unserer Zivilisation bezieht. Dies bedeutet aber nicht, dass die Aussage „Krieg ist der Vater von allem“ ein allgemeines Entwicklungsgesetz ist. Neben den expansiven Kulturen hat es immer Kulturen gegeben, die sich ohne Kriege rekonstruieren konnten und viele Kriege, wenn nicht die meisten, sind nicht um das Überleben einer Ethnie oder Nation geführt worden, sondern um das Überleben einer bestimmten Elite und die Rettung ihrer Privilegien.

Krieg ist also nicht nur keine biologische, sondern auch keine kulturelle Notwendigkeit. Biologisch notwendig ist nur der Erhalt der Zivilisation als ökologische Nische für Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Zunehmend wächst aber die Gefahr, dass Kriege nicht der Rekonstruktion, sondern der Vernichtung unserer zivilisatorischen Errungenschaften dienen. Krieg erfordert die Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte. Für demokratische Abstimmungen, kritische Debatten, Menschenrechte und allgemeinen Wohlstand ist in Kriegszeiten kein Platz. Auch für die kapitalistische Wirtschaft bringt ein Krieg nicht nur Gewinn. Zwar kann die Rüstungsindustrie ihre Profite erhöhen, die übrigen Wirtschaftsbereiche aber müssen, jedenfalls kurzfristig, Einbußen in Kauf nehmen, denn Handel braucht Frieden. Nicht zuletzt besteht bei einem Krieg im 21. Jahrhundert immer die Gefahr, dass die militärisch stärkere zwar die militärisch schwächere Gesellschaft unterwerfen kann, Sieger und Besiegte aber gleichermaßen zu Schaden kommen.

Wir stehen heute vor der Aufgabe, eine Kultur des Friedens zu schaffen, eine Kultur, die auf das Mittel Krieg verzichten kann. Das bedeutet, eine Kultur, die für ihre Rekonstruktion nur so viele Ressourcen benötigt, wie sie aus eigener Kraft und ohne Ausbeutung oder Ausplünderung anderer Kulturen hervorbringen kann. Dies ist, nach mehreren tausend Jahren expansiver Entwicklung, in der das Mittel Krieg ein konstitutiver Faktor war, keine leichte Aufgabe. Inwieweit sie gelingen wird, hängt von jedem einzelnen ab.

Anmerkungen

1) Die Stelle bei Heraklit heißt: „Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ (29 fr. 53, zit. nach W. Capelle (1953): Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenbericht (S. 135). Stuttgart: Kröner). Meine Ausführungen beziehen sich nicht auf das Ursprungszitat, sondern auf die verkürzte Form, in der dieses Zitat in der Friedensdiskussion meist verwendet wird.

2) Tomasello, M. (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (S. 16). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

3) ebd.

4) vgl. 1 Mose, 3.17-19: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweisse deines Ansgesichts sollst du dein Brot essen …“

Dr. Marianne Müller-Brettel ist Psychologin und hat sich als wiss. Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin vor allem mit der Geschichte der Friedenspsychologie auseinandergesetzt

Die Bundeswehr ist keine Polizei

Die Bundeswehr ist keine Polizei

von Helmuth Prieß

Seit Jahren taucht aus dem konservativen Lager immer wieder der Vorschlag auf, die Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen; z.B. zur Abwehr illegaler Einwanderer an den Landesgrenzen oder – seit den Anschlägen vom 11. September 2001 – zur Bekämpfung des Terrorismus.

Diesem Vorschlag steht unsere Verfassung entgegen. Danach stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Seit der verfassungsändernden Auslegung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 bedeutet das nicht nur Landesverteidigung, sondern auch Schutz deutscher Interessen weltweit – bisher nur, wenn dem Einsatz ein UN-Beschluss vorausgegangen ist und wenn der Deutsche Bundestag zugestimmt hat.

Die Sicherung der deutschen Grenzen gegen Schmuggel und illegale Grenzübertritte, d.h. auch zur Verhinderung illegaler Einwanderung, ist Aufgabe von Polizei und Bundesgrenzschutz; ebenso die Gefahrenabwehr im Inneren, also der Kampf gegen den Terrorismus. Das ist auch richtig so, denn die Soldaten der Bundeswehr sind zur Abwehr von Terrorakten im Inneren ebenso ungeeignet wie zur weltweiten Terrorbekämpfung. Der verdeckte Kampf von Terroristen unterläuft – wie das tägliche Geschehen zeigt – die offene Kampfführung militärischer Einheiten.

Für das Aufspüren von Terroristen – auch das belegen die regelmäßigen Erfolgsmeldungen – sind allein nationale und internationale Polizei sowie Geheimdienste geeignet. Deren technische und gegebenenfalls personelle Möglichkeiten müssen ausgebaut werden und die Zusammenarbeit der Dienste innerhalb der Staaten und zwischen ihnen ist zu verbessern. Dass das einer angemessenen parlamentarischen Kontrolle bedarf, ist für mich selbstverständlich.

Wir dürfen auch nicht übersehen, dass der Einsatz von Militär oft dazu beiträgt, terroristische Aktivitäten zu verstärken. Der israelisch-palästinensische Konflikt und die fortlaufende Kette terroristischer Angriffe, wie z.B. in Afghanistan und dem Irak, beweisen dies deutlich. Hinzu kommt, dass die Forderung nach Militär zur Terrorismusbekämpfung im Inneren von dringend erforderlichen zivilen Schutzmaßnahmen bei Atomkraftwerken, Chemieanlagen, Wasserwerken usw. ablenkt.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es auch bei größten Anstrengungen keine absolute Sicherheit geben wird! Unsere dicht besiedelte und hochtechnisierte Welt bleibt gegen Terroranschläge verwundbar!

Auch der im »rot-grünen« Entwurf des Flugsicherheitsgesetzes vorgesehene Einsatz von Kampfflugzeugen gegen Attentate mit gekaperten (Passagier-) Flugzeugen ist im Ernstfall wirkungslos. Falls es Terroristen gelingt, sich Passagiermaschinen zu bemächtigen, werden sie ohne »Sightseeing-Umwege« vom Frankfurter Flughafen direkt in die Frankfurter Bankhochhäuser, vom Düsseldorfer Flughafen direkt ins Mannesmann-Hochhaus oder von Berlin-Tegel direkt ins Sony-Center fliegen. Die Katastrophe wäre eingetreten, bevor die bereitgehaltenen Kampfjets in der Luft sind!

Wirksame Hilfe gegen Terroranschläge bieten nur vorbeugende politische, ökonomische, polizeiliche und technische Schutzmaßnahmen.

Um den Terrorismus in unserem Land und weltweit schrittweise abzubauen, brauchen wir Maßnahmen des politischen Ausgleichs, den Dialogs zwischen allen Religionen und ethnischen Gruppen und die weitestmögliche Herstellung von innerstaatlicher wie weltweiter sozialer Gerechtigkeit. Der größte Nährboden des Terrorismus ist die total ungerechte Verteilung von Chancen zur Lebensgestaltung. Hunger und Elend, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Hass bieten den Scharfmachern die Basis, um »Menschen ohne Lebensperspektive« für den geplanten Terrortod zu rekrutieren.

Der Ruf nach Militär zur Terrorabwehr trifft aber nicht nur ins Leere – er ist auch kontraproduktiv, denn (falls man ihm folgt) bindet er viel Geld und Arbeitskraft, die sinnvoller eingesetzt werden kann, er lenkt nicht nur ab, er behindert die Diskussion um tatsächlich notwendige Maßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismus.

Die Debatte um den Einsatz der Bundeswehr im Inneren hat auch noch eine andere Dimension, die wir nicht übersehen dürfen: Hier könnte unter Umständen ein Tor geöffnet werden für einen missbräuchlichen – den politischen – Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Das Grundgesetz hat die Lehren aus der Weimarer Republik gezogen, als es auch deshalb diesen Einsatz untersagte.

Helmuth Prieß, Oberstleutnant a.D., ist Sprecher des »Arbeitskreises Darmstädter Signal« – eines friedenspolitischen Zusammenschlusses aktiver und ehemaliger Bundeswehroffiziere und Unteroffiziere. Er ist Träger des Gustav-Heinemann-Bürgerpreises und der Clara-Immerwahr-Auszeichnung der IPPNW.

„Kriege enden nicht im Frieden“

„Kriege enden nicht im Frieden“

von Albert Fuchs

Vor jeder konkreten Bilanzierung mag für PazifistInnen klar sein: „Kriege enden nicht im Frieden“ (D. Bach). Denn Krieg impliziert definitionsgemäß die gesellschaftlich sanktionierte Tötung von Artgenossen. Wenn aber alle Artgenossen im Wesentlichen gleich sind, beinhaltet Kriegführen im Prinzip die Bereitschaft, jeden beliebigen Artgenossen umzubringen. Und wie das widerspruchsfrei in ein Friedenskonzept integriert werden könnte, ist nicht einsichtig.

Wer (noch) über solche oder ähnliche Gewissheiten verfügt, mag die Schwerpunktsetzung des vorliegenden Heftes im Ansatz verfehlt, problematisch oder doch unergiebig finden. Allerdings fallen auch pazifistische Gewissheiten nicht vom Himmel, und es dürfte einen großen Unterschied für die Fundierung einer entsprechenden Gesinnung und für Selbstaktivierung und Mobilisierung machen, ob man beispielsweise den angesprochenen Gleichheitsgrundsatz nur als »Dogma« übernommen oder aber durch Empathie mit konkreten Opfern militärischer Gewalt gewonnen oder wenigstens belebt hat. Auch ist eine konsequenzialistisch bilanzierende Betrachtungsweise Grundlage des Gesprächs mit weniger prinzipiellen Militär- und KriegsgegnerInnen und erst recht Grundlage jeder Auseinandersetzung mit »Militärgläubigen«. Wenn VertreterInnnen der letzten Kategorie überhaupt militär- und kriegskritischen Argumenten zugänglich sein sollten, dann solchen des funktionalen Typs, d.h. Problematisierungen des effektiven Beitrags militärischer Gewalt zu einem »gerechten Frieden«. Nicht zuletzt aber müssen PazifistInnen sich immer auch möglichst nüchtern und ressentimentfrei auf die reale Hinterlassenschaft kriegerischer Gewalt einlassen, wenn sie – entsprechend dem strengen Wortsinn von »pacem facere« – als FriedenstäterInnen vernünftig und verantwortungsvoll handeln wollen.

Mit der wohlbegründeten Überzeugung, dass die bilanzierende Perspektive berechtigt und notwendig ist, sind die Probleme aber nicht gelöst, die diese Perspektive mit sich bringt. Sie werden auch, das vornweg, im vorliegenden Heft nicht gelöst. Wir konnten nicht einmal einen Beitrag akquirieren, in dem der Versuch unternommen worden wäre, sie halbwegs systematisch zu reflektieren. Die aufmerksame LeserIn wird sich aber unweigerlich damit konfrontiert sehen, hie und da womöglich in irritierender Weise. Daher soll an dieser Stelle wenigsten auf einige Problemaspekte hingewiesen werden.

Die Auswahl der »Kriegstheater« seitens der Redaktion ist vor allem durch die psychologische Nähe, aber auch durch die erreichbare Fachkompetenz bestimmt. Klar, dass es demnach nicht primär und schon gar nicht ausschließlich um die »Neuen Kriege« i.S.v. H. Münkler und anderen gehen kann; darum geht es wohl am eindeutigsten in dem Beitrag über Somalia. Im Vordergrund stehen die Schauplätze, in denen stabile westliche Staaten in neu-alter kolonialer bzw. imperialer Manier durch »militärische Machtprojektion« dem ad hoc definierten Feind – und dem Rest der Welt gleich mit – beizubringen suchen, wo es langgehen soll: Irak, Afghanistan, Jugoslawien (Kosovo), Kolumbien; die »Neuen Kriege« sind mehr Vorwand als Anlass für das Durchgreifen der westlichen Kriegsherren. Wir glauben, dass deren Kriege uns in besonderer Weise angehen, da sie ja schließlich »in unserem Namen« – und mit unserer mehr oder weniger freiwilligen materiellen und politisch-moralischen Unterstützung – geführt wurden und werden.

Die Ausarbeitung der Beiträge lag natürlich ganz in der Verantwortung der AutorInnen. Damit war ihnen anheimgestellt, was sie in welcher Breite und Tiefe bei gegebenem Thema berücksichtigen wollten. Vor allem blieb ihnen die Wahl des (normativen) Bezugssystems weitestgehend überlassen, auf das jede Kriegsbilanzierung angewiesen ist – kontrafaktische Spekulationen (über das, was wäre oder gewesen wäre, wenn…) nicht ausgeschlossen. Das bedingt einige erstaunliche »Subjektivitäten«. Statt sich jedoch davon irritieren zu lassen, kann man sie als Gelegenheit sehen, konträre eigene Selbstverständlichkeiten selbstkritisch zu prüfen. Hier muss es bei dieser allgemeinen Einladung zu einer möglichst kritischen und selbstkritischen Lektüre der Beiträge (zum Schwerpunktthema) bleiben. Doch sei daran erinnert, dass, da W&F sich auch als Diskussionsforum versteht, Dissens zu einem Beitrag beispielsweise auch in einem LeserInnen-Brief zur Sprache gebracht werden kann und dass von dieser Möglichkeit mehr Gebrauch gemacht werden könnte.

Mir persönlich ist vor allem der »Teufelskreis«-Charakter des Kriegführens aufgestoßen. Er wird – in der Sache – in verschiedenen Beiträgen herausgearbeitet, besonders eindrucksvoll in dem Artikel über Kolumbien: Wie eh und je schafft (oder vergrößert) militärische Gewalt die Probleme, die sie zu lösen vorgibt.

Albert Fuchs

Bush plant den Irak-Krieg

Bush plant den Irak-Krieg

von Jürgen Nieth

„Die Vorbereitungen der USA für einen Krieg gegen den Irak sind weitgehend abgeschlossen“, heißt es in den Spätnachrichten des 7. Dezember, die entsprechenden Truppenkontingente seien im Aufmarschgebiet stationiert.

Zwei Tage vorher habe ich mit meinem 16jährigen Sohn telefoniert, der als Gastschüler seit dem Sommer in West-Virginia lebt. Achtzehn seiner Mitschüler haben im letzten Monat die Schule verlassen, weil sie für diesen Krieg eingezogen wurden. Der Hintergrund: In Gegenden, in denen Arbeitsplätze Mangelware sind, werden bereits während der Schulzeit viele Jungen und Mädchen von der Armee angeworben. Ab dann besteht ein wesentlicher Teil des Unterrichts aus Kampfsport und Militärunterricht. Mit dem Schulabschluss haben die Jugendlichen dann auch ihren militärischen Dienstgrad – oder wie jetzt, ohne Schulabschluss den militärischen Einsatz, u.U. den Kriegseinsatz. Emotional auf den Krieg eingestimmt werden auch die Anderen. Zum Beispiel durch ein öffentliches Bekenntnis: Wer den Präsidenten in seinem Krieg gegen Saddam unterstützt, der darf im Unterricht die Hand heben. In der Klasse meines Sohnes blieb nur eine unten, die des »Ausländers«!

Sicher, die Politik aller US-Regierungen der letzten Jahrzehnte scheute vor dem Einsatz militärischer Mittel nicht zurück, wenn es um die Sicherung politischer und ökonomischer Interessen ging. Die Palette ist breit: Verdeckte Operationen (Kuba) und vom Geheimdienst geförderte Militärputsche (Chile) gehören genauso dazu wie die militärische Einsetzung neuer Regime (Grenada) und langanhaltende Kriege mit hunderttausenden Toten (Vietnam). Der ehemalige amerikanische Justizminster Ramsey Clark spricht von 22 Kriegen, der weltweit bekannteste Friedensforscher, Johan Galtung, von 12 bis 16 Millionen Menschen, die seit dem Zweiten Weltkrieg durch die USA getötet wurden.

Sicher, nicht erst unter Bush jr., sondern bereits unter Clinton wurde – die Tatsache des Zerfalls des großen militärischen Gegenparts nutzend – die eigene Militärstrategie offensiver, man kann auch sagen aggressiver formuliert. Zwar wurde noch der Weg der »Präventiven Verteidigung« beschworen, gleichzeitig aber auch der Einsatz militärischer Mittel angekündigt, „wenn vitale Intreessen der Vereinigten Staaten auf dem Spiel stehen“ (Verteidigungsminister Cohen 1996). Und zu diesen »vitalen Interssen« zählten 1996 wie auch heute die ökonomischen Interessen der USA: In der Nationalen Sicherheitsdoktrin von 1995 gehört die „Förderung der ökonomischen Prosperität Amerikas“ zu den strategischen Kernzielen. In der neuen Sicherheitsdoktrin der Bush-Regierung heißt das, „durch freie Märkte und freien Handel eine neue Ära globalen Wirtschaftswachstums auslösen.“

Die eingangs geschilderte ganz persönliche Erfahrung – auch das Erschrecken darüber, dass es ja fast noch Kinder sind, die da in den Krieg geschickt werden – rundet das Bild ab von einer Gesellschaft, die es gewohnt ist, die eigenen Interessen über alles andere zu stellen.

Es gibt diese Kontinuität, es gibt aber auch eine neue Entwicklung unter Georg W. Bush. Diese zeigt sich in der kompromisslosen Ablehnung einer internationalen Einbindung – Aufkündigung von Rüstungsbegrenzungsverträgen, Nichtakzeptanz des Internationalen Strafgerichtshofs, Blockade der Biowaffenkonferenz usw. – und in dem arroganten Anspruch, das amerikanische Gesellschaftsmodell „Demokratie, Entwicklung, freie Märkte und freien Handel in jeden Winkel dieser Erde zu tragen“. Die Bündnispartnern sind eingeladen, dabei mitzumachen, mitbestimmen dürfen sie nicht, denn die USA „ werden nicht zögern, notfalls allein zu handeln“.

An die Stelle des Begriffs der »Präventiven Verteidigung« rückt der des »Präventiven Krieges«: Die USA reklamieren für sich nicht nur das Recht des atomaren Erstschlags, sondern jetzt auch das Recht des militärischen Erstschlags: Sie werden „die Bedrohung identifizieren und zerstören, bevor sie unsere Grenzen erreicht.“ Am Beispiel des geplanten Krieges gegen den Irak wird deutlich, dass die Bush-Administration selbst bestimmt, wer und was eine Bedrohung für die USA darstellt.

Es ist kein Trost, wenn die amerikanische Regierung in der neuen Sicherheitsdoktrin versichert „nicht in allen Fällen Gewalt anwenden (zu wollen), um aufkommenden Bedrohungen zuvorzukommen.“ Wer einen Angriffskrieg plant – und nichts anderes ist der »Präventivkrieg« – verstößt gegen das Völkerrecht und gehört vor ein Kriegsverbrechertribunal.

Diese neue Sicherheitsdoktrin ist eine Provokation für alle demokratischen Regierungen und eine Motivation für alle am Frieden Interessierten, sich zusammen zu schließen und aktiv zu werden gegen den Alleinherrschaftsanspruch der Bush-Regierung.

Jürgen Nieth

Die Remilitarisierung der inneren Sicherheit

Die Remilitarisierung der inneren Sicherheit

Das Beispiel Argentinien

von Ruth Stanley

Globalisierungsprozesse haben in mindestens drei Dimensionen sicherheitspolitische Diskurse beeinflusst. Erstens: War die Welt der souveränen Territorialstaaten durch die postulierte Einheit von Regierung, Territorium und Wirtschaft gekennzeichnet, so wird diese Kongruenz im Zeitalter der Globalisierung zunehmend brüchig. Territorialgrenzen werden in ihrer Bedeutung relativiert. Die eindeutige Trennung zwischen Innenpolitik und Außenpolitik der voneinander abgegrenzten Nationalstaaten erscheint zunehmend fragwürdig. Zweitens: Erst mit der epochalen Wende in Osteuropa im Jahr 1989 und dem darauf folgenden Zusammenbruch der Sowjetunion erfasste der Transformationsprozess der Globalisierung nahezu alle Staaten; gleichzeitig verloren herkömmliche Bedrohungsszenarien mit dem Kollaps der »zweiten Welt« an Überzeugungskraft und wurden durch neue »Risiken« ersetzt. Drittens: Das Primat des Marktes führt zu einem wachsenden Wohlstandsgefälle sowohl zwischen Zentrum und Peripherie wie auch innerhalb der Staaten der ersten Welt (hier am eindeutigsten in jenen Staaten, die am konsequentesten die neoliberale Doktrin umgesetzt haben, wie etwa in den USA und Großbritannien). Extreme sozioökonomische Ungleichheit, die Anwesenheit der »dritten« in der »ersten« Welt, führt zu einer wachsenden Perzeption von Unsicherheit und zu einer Verschärfung strafrechtlicher Maßnahmen bei gleichzeitigem Rückzug des Staates von anderen Aufgaben. »Kriminalität« – zumeist identifiziert mit Außenseitern (Immigranten, Schwarze) – wird zu einem dominierenden Thema der Politik.
Diese drei Dimensionen fließen in neue Sicherheitsdiskurse ein, die – schon lange vor dem 11. September – neuartige Risiken der Globalisierung ausmachten. Zu diesen Risiken gehören das organisierte Verbrechen, der Drogenhandel, der Terrorismus. Neben den »Schurkenstaaten« werden vor allem nichtstaatliche Akteure als die eigentlichen Feinde ausgemacht. Die prinzipielle Nicht-Unterscheidbarkeit von Krieg und Verbrechen, von innerer und externer Sicherheit, wird zu einem zentralen Thema von Sicherheitsdiskursen im Zeitalter der Globalisierung.

Diese Verwischung der Grenzen zwischen innen und außen hat Konsequenzen für die Arbeitsteilung zwischen Polizei und Militär: Die Polizei wird zunehmend militarisiert als Reaktion auf die Perzeption, dass die innere Sicherheit von quasi-militärischen (Mafia, Drogenkartellen usw.) Kräften bedroht wird. Polizeiliche Überwachungsmaßnahmen und der Strafapparat des Staates werden aber auch zunehmend gegen die Globalisierungsverlierer eingesetzt, gegen diejenigen, die vom neoliberalen Modell ausgeschlossenen werden. Es entsteht der von Loic Wacquant so bezeichnete »état pénal«, der die Exklusion mit Repression, verschärften Strafmaßnahmen und Freiheitsentzug verwaltet (Wacquant 1999). Die Auswirkungen dieser doppelten Tendenz der diskursiven Gleichsetzung von Krieg und Kriminalität und innerer und äußerer Sicherheit einerseits und andererseits die »Versicherheitlichung« sozioökonomischer Probleme sind besonders gravierend in jenen Staaten, die weder auf eine demokratische noch eine rechtsstaatliche Tradition zurückblicken können, wo vielmehr Militärregimes die übliche Regierungsform darstellten und wo entsprechend Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung waren. Denn die Zurückdrängung der Militärs von der Politik, die Achtung von Zivil- und Bürgerrechten setzt eine klare funktionale Trennung zwischen Polizei und Militär voraus, eine Trennung, die gerade durch die neuen Sicherheitsdiskurse erschwert wird.

Diese These lässt sich am Beispiel Argentinien besonders eindrucksvoll illustrieren. Denn auf der einen Seite ist es Argentinien nach der letzten Militärdiktatur gelungen, eine zivile Kontrolle über die Streitkräfte zu etablieren und den Militärs eine innenpolitische Rolle zu verwehren (Stanley 2001a). Auf der anderen Seite sieht sich der argentinische Staat mit den Auswirkungen der getreu den Rezepten der internationalen Finanzinstitutionen durchgeführten neoliberalen Wirtschaftsreformen konfrontiert, die das Land in eine lang anhaltenden Rezession gestürzt haben: Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordhöhen geklettert, über die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, und das Einkommensgefälle zwischen arm und reich ist so groß wie noch nie in der Geschichte dieses einst wohlhabenden Landes (Stanley 2001b). Der Ausschluss beträchtlicher Teile der Bevölkerung aus Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Protestbewegungen der Arbeitslosen rufen polizeiliche Repressionsmaßnahmen zur Verwaltung des Elends hervor; gleichzeitig macht die Abhängigkeit Argentiniens von einer weiteren Kreditgewährung des IWF die Regierung für die Vorstellungen der USA hinsichtlich einer stärkeren Rolle der Streitkräfte in innenpolitischen Fragen empfänglich.

»Globalisierungsrisiken« und die Rolle der Militärs in Argentinien

Anders als ihre brasilianischen oder chilenischen »counterparts« zogen sich die argentinischen Militärs nach der letzten Militärdiktatur weitgehend diskreditiert aus der Politik zurück. Die von der Junta zurückgelassene Wirtschaftskrise, die massiven Menschenrechtsverletzungen und nicht zuletzt der verlorene Malvinenkrieg führten zu einer »transition by collapse«, die es den Streitkräften nicht erlaubte, die Bedingungen der Demokratisierung auszuhandeln. Trotz mehrerer Aufstände in den ersten Jahren des Übergangs (Saín 1994) gilt Argentinien als erfolgreiches Beispiel für die Zurückdrängung der Streitkräfte aus der Politik. Das Gesetz über die Nationale Verteidigung, verabschiedet im Jahr 1988 (Gesetz 23.554, Boletín Ofocial 5.5.1988) zog eine klare Trennlinie zwischen nationaler Verteidigung (Aufgabe der Streitkräfte), innerer Sicherheit (Aufgabe der Polizei) und Grenzschutz(Aufgabe der Gendarmería für den Landesgrenzschutz und der Prefectura Naval für die Kontrolle der Seegrenzen). Eine präzise Mission der Streitkräfte wurde dabei nicht definiert. Unter den Regierungen von Carlos Menem (1989-1999) wurden drei komplementäre Rollen für die Streitkräfte artikuliert. In den Worten des damaligen Verteidigungsministers waren diese zum einen die nationale Verteidigung, zum zweiten auf der regionalen Ebene die Beteiligung an einem System kooperativer Sicherheit und zum dritten ging es um eine Rolle für Argentinien im »globalen Sicherheitssystem« (Dominguez 1997). Diese drei Ebenen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik wurden sehr unterschiedlich ausgestaltet. Während auf der Ebene der nationalen Verteidigung die spezifische Mission der Streitkräfte diffus blieb und die regionale Sicherheitskooperation, nicht zuletzt wegen der Vorbehalte der Nachbarländer, kaum Fortschritte gemacht hat (Escudé/Fontana 1995), hat Argentinien unter den Menem-Regierungen einen wichtigen Beitrag zu Peacekeeping-Maßnahmen der Vereinten Nationen geleistet. Inzwischen ist diese Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen aufgrund von Haushaltsrestriktionen abgebaut worden (La Nación 16.06.2000).

Gemessen sowohl an dem militärischen Selbstverständnis wie auch an der Gesetzgebung über die Funktionen und Aufgaben der Streitkräfte sind seit der Demokratisierung im Jahr 1983 beträchtliche Fortschritte erzielt worden. Der Militärhaushalt wurde drastisch verkleinert, der Militärdienst 1995 abgeschafft. Angesichts der Bestimmungen des Gesetzes über die Nationale Verteidigung und der Diskreditierung der Streitkräfte schien eine interne Rolle der Militärs definitiv gebannt worden zu sein. Der Globalisierungsdiskurs und die Identifikation neuer Risiken zusammen mit den fehlenden Missionsbestimmungen lassen allerdings selbst in diesem Falle gelungener ziviler Kontrolle Raum für neue Szenarien, in denen die Grenzen zwischen innerer und externer Sicherheit verwischt werden und die Streitkräfte erneut Aufgaben zugewiesen bekommen könnten, die über die bloße Verteidigung der Landesgrenzen hinausgehen. Während die Verteidigungspolitik mit der allgemeinen Zielsetzung der argentinischen Außenpolitik konform geht, entspricht sie eher den Erfordernissen der Haushaltsplanung als einer kohärenten Vision über die Aufgaben der Streitkräfte und ist insofern opportunistischen Abwägungen ausgesetzt. Diffuse Bedrohungsperzeptionen lassen sich mangels einer klar definierten Mission der Streitkräfte als potenzielle Gefährdung der nationalen Sicherheit, folglich als ein Aufgabenfeld für die Militärs definieren. Die Risiken der Globalisierung werden zunehmend als Sicherheitsgefährdungen thematisiert, auf die militärisch zu reagieren sei, wobei unter anderem die Immigration, ethnische Konflikte bzw. indigene Aufstände und die sozialen Kosten der Globalisierung erwähnt werden (Martínez 1997). So sprach der damalige Innenminister Argentiniens, Carlos Corach, vor der Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten in Guatemala im Juni 1999 von Drogenhandel, Terrorismus, und organisiertem Verbrechen als den »wahren Herausforderungen« der heutigen Zeit:. Dabei entsprach Corachs Analyse des Terrorismus in vieler Hinsicht der Definition der Subversion aus den 70er und 80er Jahren, die damals Anlass war, die Streitkräfte gegen die eigene Bevölkerungen einzusetzen. Corach sprach von einem asymmetrischen Krieg, in dem die Terroristen die traditionelle, direkte Konfliktaustragung vermieden, um die Vorteile eines stärkeren Feindes – der Streitkräfte – zunichte zu machen; dabei verwendeten die Terroristen das physische, gesellschaftliche und politische Umfeld auf atypische und von den Streitkräften nicht vorhersehbare Weise. Corach verlangte ein »Nachdenken« über die Rolle der Streitkräfte im Kampf gegen diese neuen Sicherheitsgefährdungen, indirekt also ein Plädoyer für eine erneute innenpolitische Rolle der Militärs.

Argentiniens Verteidigungsministerium hat ebenfalls Überlegungen darüber angestellt, wie die Streitkräfte in jenen internen Konflikten intervenieren könnten, die durch die Proteste gegen die Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der seit Jahren anhaltenden Rezession ausgelöst werden. Im März 2000 sprach der damalige Verteidigungsminister, López Murphy, von den »neuen Bedrohungen«, denen sich das Land ausgesetzt sehe: Extreme Armut, Überbevölkerung, Immigration, Terrorismus, Fundamentalismus, ethnische und Rassenkonflikte. Angesichts solcher Bedrohungen wurden die militärischen Geheimdienste in eine neue Organisation zusammengeführt, die sog. Dirección de Inteligencia para la Defensa (DID), die Informationen über die Aktivitäten von Gewerkschaften, politischen Parteien, Nicht-Regierungsorganisationen, Nachbarschafts- und studentische Vereinigungen (CORREPI 2000) sammeln sollte. Gemäß dieser Verwischung der Grenzen zwischen externer und interner Sicherheit argumentierte auch der ranghöchste Heeresoffizier, General Ricardo Brizoni, dass es sehr schwierig sei, „Grenzen zwischen dem, was extern, und dem, was intern ist, zu ziehen“. Impliziert kritisierte er damit die klare Unterscheidung des Gesetzes über die Nationale Verteidigung: „Der Staat muss eine Struktur gewährleisten, die es ermöglicht, das Funktionieren aller seiner (Sicherheits-)Kräfte zu optimieren, um besser auf die diversen Bedrohungen zu reagieren“ (Clarín, 21.02.2000).

Eine interne Rolle zum Schutz der öffentlichen Ordnung wurde bereits vom paramilitärischen Grenzschutz, der Gendarmería, übernommen. Ursprünglich unter der Kontrolle des Heeres wurde die Gendarmería zunächst dem Verteidigungsministerium, später dem Innenministerium unterstellt, ohne dass sie dabei ihr paramilitärisches Ethos verloren hätte. Mitglieder der Gendarmería werden seit Jahren zunehmend vom Grenzschutz abgezogen, um Aufgaben der inneren Sicherheit zu übernehmen. Seit 1990 werden sie verstärkt zur Unterdrückung von sozialen Protesten eingesetzt. Ihr Auftreten war häufig gewalttätig und hat mehrere Tote hinterlassen. Entsprechend ist das Ansehen der Gendarmería nach Meinungsumfragen gesunken (Centro de Estudios Unión para la Nueva Mayoría 1997). Seit dem Frühjahr 2002 wird die Gendarmería auch verstärkt zum Schutz von Warenhäusern vor Plünderungen der hungernden Bevölkerung eingesetzt. Ungeachtet dieser Rolle der Gendarmería zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung kam es unter der Regierung de la Rúas zu einer Initiative des Verteidigungsministeriums, die Gendarmería aus der Zuständigkeit des Innenministeriums zu lösen und erneut dem Verteidigungsministerium zu unterstellen (La Nación, 19.08.2001).

Die Identifikation neuer Sicherheitsrisiken – wie Terrorismus und Drogenhandel – als mögliche Betätigungsfelder der Streitkräfte entspricht dem sicherheitspolitischen Diskurs der USA und soll die bedingungslose Allianz Argentiniens mit der »ersten Welt« signalisieren. Unter Menem zog sich Argentinien 1991 von der Bewegung der Blockfreien zurück und beteiligte sich mit der Entsendung von zwei Kriegsschiffen zum persischen Golf am Krieg gegen den Irak. In der verschärften Krisensituation – seit dem durch Massenproteste erzwungenen Rücktritt der de la Rúa-Regierung Ende 2001 – ist die Einsicht in die Notwendigkeit einer den USA genehmen Außenpolitik größer denn je. In diesem Kontext ist das Angebot der Regierung Duhaldes im Januar 2002 zu sehen, sich militärisch am Konflikt in Kolumbien zu beteiligen. (Clarín, 17.03.2002). Mit dem Angebot an die Adresse Washingtons, kolumbianische Hubschrauberpiloten auszubilden, scherte Argentinien aus der Reihe der lateinamerikanischen Staaten aus, die eine Internationalisierung des Konflikts in Kolumbien strikt ablehnen. Das wurde als eine Geste von hoher symbolischer Bedeutung gegenüber den USA gedeutet, ebenso wie die im Februar 2002 erfolgte Einrichtung des Büros eines »Sonderbeauftragten für Angelegenheiten des Terrorismus und verwandte Delikte« durch das argentinische Außenministerium. Dessen Aufgaben wurden definiert als „die Koordination von Politiken, Aktionen und Maßnahmen, die für die Erfüllung der UN-Sicherheitsratsresolution 1373 relevant sind…wie auch der Politiken, Aktionen oder Maßnahmen, die sich aus dem Handeln Argentiniens im regionalen Kontext des interamerikanischen Systems ergeben“ (Resolution 187 des argentinischen Außenministeriums vom 07.02.2002, nach Clarín 26.03.2002). Nach Einschätzung der Medien Argentiniens sollte der letzt zitierte Halbsatz die Legitimationsgrundlage für eine argentinische Beteiligung am Plan Kolumbien bieten, während das Einlenken auf die Position Washingtons als ein Zugeständnis an die USA wegen der sich langwierig gestaltenden Verhandlungen mit dem IWF gedeutet wurde, auf dessen Kreditgewährung Argentinien dringend angewiesen ist (Clarín 26.03.2002).

Der »Krieg gegen das Verbrechen«

Wie bereits erwähnt ist es in Argentinien im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Reformen zu einer extremen Vergrößerung des sozioökonomischen Gefälles zwischen arm und reich und gleichzeitig zu einem erheblichen Anstieg der Zahl der Armen und der absolut Armen (letztere definiert als diejenigen, deren Einkommen zur Grundernährung nicht ausreicht) gekommen. Damit einher geht ein extrem gestiegenes Unsicherheitsempfinden und eine breite Thematisierung der Kriminalität, besonders der Gewaltkriminalität, in den Massenmedien des Landes. Inwiefern diese Fokussierung auf Sicherheitsgefahren eine tatsächlich gestiegene Kriminalitätsrate widerspiegelt, muss offen bleiben (für Evidenz, dass im argentinischen Fall Medienaufmerksamkeit und tatsächliche Entwicklung der Kriminalität wenig miteinander zu tun haben, siehe UN 1999: 14). Wichtiger als die Bestimmung der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung erscheint im Kontext dieses Beitrags die Analyse der Reaktion von Staat und Gesellschaft auf die Wahrnehmung von zunehmender Unsicherheit, darauf, dass steigende Kriminalität einhergeht mit einer Zunahme illegaler Polizeipraktiken sowie mit einer Duldung, ja Förderung brachialer und illegaler Methoden der »Verbrechensbekämpfung«.

Als ein zentrales Element sowohl der Politik wie auch des Diskurses über öffentliche Sicherheit in Argentinien in den letzten Jahren lässt sich eine zunehmende Militarisierung ausmachen, die nicht auf die Anwendung militärischer und paramilitärischer Kräfte zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung angewiesen ist (obwohl, wie dargelegt, die paramilitärische Gendarmería zunehmend in Konfliktsituationen eingesetzt wird); vielmehr ist ihr auffälliges Merkmal eine diskursive und symbolische Militarisierung von polizeilichen Aufgaben. Die typische Reaktion auf die Perzeption gestiegener Unsicherheit besteht in der Ausstattung der Polizei mit einer Ausrüstung, die man fast als Kriegsmaterial bezeichnen könnte und das wird von einem militarisierten Diskurs über den »Krieg gegen das Verbrechen« begleitet. Beide Elemente trafen eindrucksvoll in einer Zeremonie auf dem Plaza de Mayo am 1. Mai 1999 zusammen, bei der der Bundespolizei eine neue Ausrüstung übergeben wurde, zu der u. a. gepanzerte Fahrzeuge, Wasserwerfer, 2.000 kugelsichere Westen und 2 Millionen Schuss Munition gehörten. Der Symbolismus dieses Aktes wurde durch die Worte des Innenministers, Carlos Corach, unterstrichen: „Wir haben dem Verbrechen den Frontalkrieg erklärt; es wird ein erbarmungsloser Kampf sein“ (Clarín, 02.05.1999). Der »Gesetz-und-Ordnung«-Diskurs wird auf eine Weise geführt, die keinen Zweifel daran lässt, dass für vermeintlich gefährliche Elemente rechtsstaatliche Garantien nicht gelten. Der ehemalige Gouverneur der Provinz Buenos Aires und jetziger Außenminister, Carlos Ruckauf, profilierte sich im Wahlkampf des Sommers 1999 mit einem Diskurs der »harten Hand«: „Was die Sicherheit angeht, werde ich sehr hart sein, denn meine Hand wird nicht zittern, wenn ich die härtesten Maßnahmen ergreifen muss… Wir müssen den Dieben Kugeln geben, wir müssen sie erbarmungslos bekämpfen.“ (Clarín, 04.08.1999)

De facto, so die implizite Aussage, steht auf Eigentumsdelikte die Todesstrafe. Diese Aussage führte zum Rücktritt des Justiz- und Sicherheitsministers der Provinz Buenos Aires, fand aber laut einer Meinungsumfrage die Zustimmung bei 55 Prozent der Bevölkerung (El Cronista 09.08.1999). Die kriminellen Elemente, gegen die der Krieg zu führen ist, wurden gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft lokalisiert: Sie befinden sich laut Ruckauf in den prekären Siedlungen, den »villas de emergencia« (Notstandssiedlungen) oder »villas miseria« (Elendsvierteln), welche die ärmsten Mitglieder der argentinischen Gesellschaft beherbergen: „Es ist notwendig, in alle »villas« reinzugehen…, um mit der Kriminalität Schluss zu machen. Die Polizei ist fähig, es ist nur notwendig, ihr Anweisung und Kampfentscheidungen zu geben. Aber lasst uns ihnen die Normen geben, die sie brauchen; wir können eine Situation nicht haben, in der ein Polizist in einen dieser Orte reingeht und jemanden tötet, und dann erscheint irgendein Anwalt der Verbrecher und sagt, der Polizist sei der Mörder.“ (Página 12, 05.08.1999)

Nach seinem Wahlsieg ernannte Ruckauf Aldo Rico zu seinem Sicherheitsminister. Rico, der Anführer der ersten Heeresaufstände der sog. »carapintadas«1 gegen die neue demokratische Regierung Alfonsíns, vertrat eine ähnlich harte Linie, bei der der »Krieg gegen das Verbrechen« in einen Krieg gegen die Ärmsten der Bevölkerung ausartete. Groß angelegte Razzien in den »villas« unter Einsatz von speziellen Kommandoeinheiten und im Beisein der Massenmedien tragen wenig zur Kriminalitätsbekämpfung, aber viel zur Gleichsetzung der Armen und Ausgeschlossenen mit dem »Verbrechertum« bei, wodurch suggeriert wird, dass die Ausgeschlossenen ihren Ausschluss verdienen, gar selbst verschuldet haben (Stanley 2000).

Das Blutbad kurz vor Weihnachten 2001, als die Polizei das Feuer auf Demonstranten auf dem Plaza de Mayo eröffnete und über 20 Menschen starben, leitete das vorzeitige Ende der de la Rúa-Regierung ein. Es war kein singuläres Ereignis, das Ausmaß der Repression und die Zahl der Opfer waren aber selbst für argentinische Verhältnisse außergewöhnlich. Dass der ehemalige Generalkommissar der Bundespolizei, Rubén Santos, diesen Einsatz jetzt vor Gericht verantworten muss, erklärt sich eher aus der Suche nach einem Sündenbock als aus der Ablehnung der gewalttätigen Repression durch den staatlichen Apparat.

Fazit: Der neue Autoritarismus

Analysen der staatlichen Gewaltapparate in den neuen Demokratien Lateinamerikas haben sich zumeist auf die Frage konzentriert, ob die Streitkräfte durch Putschversuche bzw. durch eine Einflussnahme unterhalb der Schwelle eines Putsches die Überlebensfähigkeit der demokratischen Regime unmittelbar gefährden. Hingegen ist die Polizei als jene Institution, die für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Sicherheit zuständig ist, selten in den Blick geraten (Pereira 2000). Werden die alltäglichen Formen der Staatsgewalt in die Analyse mit einbezogen, so lassen sich Anzeichen eines neuen Autoritarismus ausmachen, der in einem direkten Zusammenhang mit den neoliberalen Reformen des Staates in Lateinamerika steht: Der Rollback des Staates im sozioökonomischen Bereich geht mit einem »Rollforward« des Ausmaßes und des Wirkungsradius des staatlichen Gewalt- und Zwangsapparats einher. Neue Unsicherheitswahrnehmungen und Diskurse über globale Sicherheitsrisiken haben wesentlich zur Ausformung und Rechtfertigung dieser neuen Spielart des Autoritarismus beigetragen. Anders als bei der diskursiven Begründung der autoritären Militärregime zielt die Zwangsgewalt des autoritären neoliberalen Staates sowohl diskursiv als auch in der Praxis weniger auf die »Subversion« als auf »Kriminelle«. Allerdings sind hier die Grenzen fließend: Begriffe wie »narcoterrorismo« und der »Krieg gegen das Verbrechen« dienen dazu, die Unterscheidung zwischen Krieg und Kriminalität zu verwischen. Hierin spiegelt sich die Übernahme von U.S.-amerikanischen Sicherheitsdiskursen mit ihrer Begrifflichkeit von »high-intensity crime« und »low-intensity warfare« wider (Turbiville 1995). Überhaupt gibt sich der neue Autoritarismus als eine Reaktion auf die Risiken der Globalisierung sowie auf neue Sicherheitsbedrohungen, die durch diese entstehen: Terrorismus, Drogenhandel, organisiertes Verbrechen.

Unter den erst vor kurzem abgelösten Militärregimen Lateinamerikas gab es grundsätzlich eine Konvergenz militärischer und polizeilicher Funktionen. Eine klare institutionelle und funktionale Trennung der polizeilichen und militärischen Institutionen steht in fast allen neuen Demokratien Lateinamerikas noch aus; dort, wo diese erreicht wurde, wie in Argentinien, wird sie tendenziell wieder rückgängig gemacht. Daraus ergibt sich keinesfalls eine Verpolizeilichung der Streitkräfte, sondern eine erneute Militarisierung der inneren Sicherheit. Jene Teile der Bevölkerung, die die bevorzugte Zielscheibe militarisierter Repressionsmaßnahmen darstellen, bleiben auch unter einem demokratischen politischen Regime de facto Untertanen des Staates ohne wirksame Garantien individueller Rechte und Freiheiten.

Literatur

Centro de Estudios para la Nueva Mayoría (1997): La imagen de las fuerzas armadas y de seguridad, Cuaderno N° 249, Buenos Aires.

CORREPI (Coordinación contra la Represión Policial e Institucional) (2000): Boletín Informativo No. 68, 23.04.2000.

Dominguez, Jorge (1997): Política de Defensa del Gobierno Nacional, in: Revista de la Escuela Superior de Guerra Área, 1997/2, S. 54-59.

Escudé, Carlos; Fontana, Andrés (1995): Divergencias estratégicas en el Cono Sur: Las Políticas de Seguridad de la Argentina frente a las del Brasil y Chile, Buenos Aires: Universidad Torcuato di Tella, Working Paper Nr. 20.

Martínez, Carlos Jorge (1997) : La Argentina y sus hipótesis de conflicto, in: Revista Militar Nr. 740 (Juli-Sept. 1997), S. 29-36.

Pereira, Anthony (2000): An ugly democracy? State violence and the rule of law in post-authoritarian Brazil, in: Peter Kingstone und Tim Powers (Hrsg.): Democratic Brazil, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, S. 217-235.

Saín, Marcelo (1994): Los levantamientos carapintada, Buenos Aires: CEAL, 2 Bde.

Stanley, Ruth (2001a): Modes of Transition v. Electoral Dynamics: Demnocratic Control of the Military in Argentina and Chile, in: Journal of Third World Studies, Bd. 28/2 (2001), S. 71-91.

Stanley, Ruth (2001b): The Remilitarization of Internal Security in Argentina, in: Dies. (Hrsg.): Gewalt und Konflikt in einer globalisierten Welt. Festschrift für Ulrich Albrecht, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 125-150.

Stanley, Ruth (2000): Polizeigewalt im Großraum Buenos Aires: Braucht der Neoliberalismus eine policía brava?, in: Peripherie 80/2000, S 41-58.

Turbiville, Graham (Hrsg.) (1995): Global Dimensions of High-Intensity Crime and Low- Intensity Conflict, Chicago, Office of International Criminal Justice.

United Nations (1999): United Nations, Office for Drug Control and Crime Prevention, Centre for International Crime Prevention, Global Report on Crime and Justice, New York und Oxford: Oxford Uiversity Press 1999.

Wacquant, Loic (1999): Les prisons de la misère, Paris: Editions Raison d’Agir.

Anmerkungen

1) Wörtlich »bemalte Gesichter«: Die Bezeichnung spielt auf die Gewohnheit der Aufständischen, ihre Gesichter mit Tarnfarben zu bemalen und in Kampfanzügen aufzutreten, womit sie ihre Zugehörigkeit zu den mittleren Rängen des Heeres, der kämpfenden Truppe, signalisieren wollten.

Dr. Ruth Stanley lehrt am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ist im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung

Die Mauer als Organisationsschema

Die Mauer als Organisationsschema

Die organisatorische Durchdringung der chinesischen Gesellschaft

von Andreas Seifert

Die Große Mauer ist lang – 5000 Kilometer schlängelt sie sich durch die chinesische Landschaft. Und die westliche Welt hat sie nicht erst wahrgenommen, seitdem sogar US-amerikanische Astronauten sie vom Mond aus gesehen haben wollen. Der Mythos vom exotischen China ist schon seit Jahrhunderten mit dem steinernen Wall verbunden. Aber eine Mauer grenzt ab – trennt zwei Bereiche. So galt denn auch lange die Große Mauer als steingewordener Wille eines Volkes, das nichts mit anderen Völkern zu tun haben wollte. Doch trifft das noch für das heutige China zu? Was ist geblieben vom Mythos der Mauer, welchen Einfluss hat sie noch in den Strukturen der chinesischen Gesellschaft?
Wenn man vom Mond zurück ist und vor die Große Mauer tritt, so kann man zwei Erfahrungen machen. Die erste: Es handelt sich um eine internationale Touristenattraktion, die heute weit mehr dazu angetan ist, den Dialog der Völker zu befördern, als diese voneinander zu trennen. Die zweite: In den nicht restaurierten Teilen ist die Mauer ein langer Schutthaufen, der heute nicht einmal eine Schafherde zurückhalten kann und schon aus hundert Metern kaum mehr zu erkennen ist. Als Touristenattraktion und Treffpunkt für Reisende aller Herren Länder dient die Mauer als Kommunikationsfläche und sogar der gelben deutschen Post als Schaufläche eigener Leistungsfähigkeit – bestückt mit den Produkten unseres Müllkonsums, arrangiert in einer 1000-köpfigen Armee aus Blechkumpanen, jede ein Unikat, fast wie die Terrakottaarmee am Grab des ersten Kaisers in Xi’an. Aber als Schutthaufen ist die Mauer auch Symbol: Symbol des zerrütteten Abgrenzungswillens des chinesischen Volkes bzw. seiner Führer; die seit den frühen 80er Jahren betriebene Öffnungspolitik findet in diesem Zerfall ihren handgreiflichen Ausdruck.

Die Große Mauer ist aber nicht die einzige Mauer in China. Der Reisende lernt schnell: China ist das Land der Mauern. Man trifft permanent auf sie, sie versperren den Blick, man fährt zwischen Mauern – selbst Bauzäune sind gemauert anzutreffen. Hier ist die Mauer noch das Instrument der Abgrenzung und Integration gleichermaßen – sie grenzen eine äußere Welt von einer inneren ab, für die sie den Stand der Gemeinsamkeit setzten. Und auch die Philosophie bemüht die Mauer für ihre Kulturkritik. In seiner prägnantesten Form bei dem Autor Sun Longji, der mit dem »Ummauerten Ich« eine adäquate Beschreibung der Tiefenpsychologie der Chinesen gefunden hat. Aber taugt die Mauer eigentlich noch als Metapher für ein »abgeschlossenes Volk«, wenn dessen schiere Kopfzahl schon ins Unvorstellbare abgedriftet ist und wenn dessen Produkte in jedem westlichen Kinderzimmer zuhauf herumliegen?

Man wird sehen, das sie nicht (mehr) taugt – dass sich die neuen wie die alten, die realen und gedachten Mauern im Abbröckeln befinden, zum Sichtschutz verkommen und ihre abschottende wie integrierende Funktion verlieren. Man wird aber vielleicht auch erkennen, dass es wieder neue Mauern geben wird, die nicht mehr unbedingt sichtbar, dennoch vorhanden sind: elektronische und psychologische Mauern.

Grenzziehung innerhalb der Gesellschaft

Über lange Zeit waren die Ordnungseinheiten der chinesischen Gesellschaft ein zentrales Thema gegenwärtiger, modern ausgerichteter Chinaforschung: Die eher städtischen Produktionseinheiten (chin: Danwei) und die ländlichen Kommunen, beide in einem restriktiven System der Aufenthaltserlaubnis (chin: hukou) zementiert. Die Volkskommunen haben ihren Niedergang bereits hinter sich – ohne dass sich dadurch die Mobilität verbessert hätte. Ländliche Migration ist heute in Form von leicht in die Illegalität zu drängenden Wanderarbeitern allgegenwärtig. Bessere Verdienstmöglichkeiten in den Boom-Gegenden an der Ostküste und im Süden locken die ländliche Jugend von den Dörfern in die größeren Städte und von dort aus weiter in die entfernten Metropolen – doch jederzeit auf die Gefahr hin, am Zielort von der Polizei wieder heim geschickt zu werden. Ihr Aufenthalt ist abhängig vom »Bedarf« und von der »Genehmigung«.

In städtischen Zusammenhängen ist dies noch ein wenig anders: Jeder ist, oder besser, jeder war in einer Einheit fest organisiert. Sie ist dabei als konkrete organisatorische Kategorie zu verstehen, das kann eine Universität, eine Fabrik, ein Laden oder was auch immer sein. Die Größe einer Danwei kennt letztlich keine natürlichen Grenzen. In erster Linie leistet die »Einheit« für ihre Mitglieder alles zum Leben Notwendige mit unterschiedlicher Vollständigkeit – d.h. eine kleine Danwei organisiert für ihre Mitglieder alles Notwendige durch Allokation externer Leistungen, eine große Danwei hat dies vielleicht schon integriert: eigene Schulen, eigene Krankenhäuser, eigene Läden, etc. Sie ist ein Staat im Kleinen, sie ermöglicht auch alle notwendigen sozialen Kontakte. Die Vollständigkeit des Angebots, die »eiserne Reisschüssel«, als Garantie der Lebensumstände und Grundversorgung ist so zum Sinnbild der Danwei geworden.

Heute wird dieses System von vielen Seiten in Frage gestellt. Der Staat will und kann wohl auch nicht mehr die Garantien übernehmen, für welche die Danwei steht und unrentable Unternehmen möchten den Ballast loswerden, der sich mit den Verpflichtungen gegenüber den alten Mitgliedern angesammelt hat. Sie aufzulösen ist weniger ein Problem für die jungen Arbeiter, als für die alten Rentner. Sie werden plötzlich in eine konsumorientierte Welt entlassen, die für alle Leistungen die Hand aufhält. Krankenversorgung wird für sie zu einem unerschwinglichen Luxus, kann sie und ihre Familie an den Rande des Ruins treiben. Das dichte soziale Netz der Danwei wird löchrig und zwingt z.B. mehr und mehr Menschen ärztliche Behandlungen abzubrechen, da sie für die Kosten nicht mehr aufkommen können. Neue Unternehmen und alte Staatsbetriebe möchten Arbeitskräfte rekrutieren können, ohne die Verpflichtungen einzugehen, die mit dem Status einer Danwei einhergehen. Staatsunternehmen, die sich für den kommenden Beitritt der Volksrepublik China in die Welthandelsorganisation (WTO) fit machen wollen, drängen auf die Flexibilisierung ihrer eigenen Strukturen.

Ist die Danwei also passé? Allen Unkenrufen zum Trotz sind noch die meisten Chinesen in einer Danwei organisiert und nicht allen geht es wirklich schlecht. Reiche Danweis sind die Motoren des Konsums in China und sie lassen sich nur ungern in die Karten schauen – eine weitere Funktion, die Mauern erfüllen können.

Mauern verhindern Transparenz und viele der Entscheidungen scheinen hinter hohen Mauern im Dickicht von Hierarchien und Vetternwirtschaft zu fallen. Dies trägt letztlich dazu bei, den Vorwurf der Korruption zu nähren und ein System der direkten Abhängigkeiten, Beziehungen und willkürlichen Zuständigkeiten zu unterstellen, das vielleicht gar nicht so existiert. Die bürokratische Durchdringung der einzelnen Einheiten ist jedoch eines ihrer bezeichnenden Merkmale und minimiert die Möglichkeiten der Mitglieder, selbst in Entscheidungsprozesse einzugreifen. Wer Beziehungen (chin: guanxi) hat, kann sich Vorteile erarbeiten, die er im verregelten Alltag nicht hat, und damit seinen eigenen sozialen Status aufbessern – wirklich verändern kann er ihn damit allerdings noch nicht. Die Differenzierung zwischen inner- und außerhalb der Danwei wird hier um die der sozialen Staffelung innerhalb der Danwei selbst erweitert und betriebsübergreifende Solidarität damit zusehends in Frage gestellt.

Machtmauern

Die alleinherrschende Kommunistische Partei Chinas bietet den Hintergrund für die klassische Erklärung der chinesischen Realität. Alles Schlechte wird ihr pauschal in die Schuhe geschoben, ihre Macht als nahezu unumschränkt und ihre Legitimität als konstruiert angesehen. So einfach dieses Muster ist, so problematisch ist es auch. Unbestreitbar ist die Partei der Bezugspunkt einer jeden Entscheidung in China – wichtige Entscheidungsposten in Staat und Wirtschaft sind an die Mitgliedschaft in der Partei gebunden. Und es existiert mit der Partei eine parallele Struktur zur staatlichen Bürokratie, die durch straffe Organisation wahrscheinlich sogar schneller agieren kann, als die staatliche. Jedoch einen monolithischen Block zu unterstellen, der jedes Parteimitglied zu einem Büttel Jiang Zemins macht, trägt kaum zur Erklärung der Realität bei. Man kann wiederum die hohen Mauern bemühen, die den Betrachter daran hindern, Strömungen innerhalb der Partei oder des Staatsapparates zu differenzieren, doch kann man die Existenz dieser Strömungen kaum leugnen. Fraktionen hat es in der Partei seit ihrer Gründung gegeben und diese sind nicht allein auf Vetternwirtschaft zu reduzieren, sondern auch Ausdruck von unterschiedlichen Vorstellungen über die Entwicklung des Landes. Längst ist das Bewusstsein, einem ideologischen Auftrag untergeordnet zu sein, der sich auf die Schriften von Mao, Marx und Engels bezieht und in dessen Mittelpunkt die Interessen der Arbeiterklasse stehen, einem institutionellen Pragmatismus gewichen, der sich weit mehr an der Ausgestaltung von Entscheidungen nach nachvollziehbaren Kriterien orientiert. Dengs Reformen und die sozialistische Marktwirtschaft, die eine Mischung sozialistischer Planung und kapitalistischen Marktmechanismen markieren soll, wirken hier auch zurück auf die Partei selbst, die neue Formen der Entscheidungsfindung fordert.

Lokale Interessen von Provinzen, Kreisen und Städten bekommen vor diesem Hintergrund einen höheren Stellenwert und der Staat tritt mehr und mehr in unterschiedlichen Rollen auf, von denen die des gesamtstaatlichen Dirigenten, der fest mit der höchsten Parteiebene verbunden ist, eben nur eine ist. Aufgabenfelder wie die Ansiedelung von Unternehmen, die lokale Bereitstellung von Infrastruktur oder die Aufrechterhaltung des sozialen Systems und die Steuerung des Arbeitsmarktes fallen zusehends aus der zentralen in eine lokale Verantwortung und unterliegen damit auch anderen Mechanismen der Politikfindung. Öffentlich gemachte Korruptionsfälle zeigen die verschiedenen Facetten auf, die staatliche Aktivität auf dem untersten Level angenommen hat: überforderte Beamte und Parteimitglieder, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nach Gutdünken haushalten. In der unglaubwürdigen Erfüllung der ihnen zugedachten Aufgaben liegt das Legitimationsproblem des gesamten Systems. Machtmissbrauch und Korruption sind auch keine Phänomene der untersten Ebene, sondern gehen quer zu allen Entscheidungsstrukturen und -ebenen und stellen die moralische Integrität der Partei als Ganzem, des Staatsapparates und des Wirtschaftssystems in Frage.

Die mangelnde Trennschärfe zwischen Partei, Staat und Wirtschaft bzw. die organisatorische Verflechtung dieser drei Bereiche erweckt bei uns den Eindruck von einem Willkürregime, das dirigistische Methoden bevorzugt und Repression begünstigt. Es fragt sich allerdings, ob die Auswüchse der Machtausübung, die von chinesischer Seite gerne mit der Masse der zu »beherrschenden« Menschen entschuldigt wird, die ihren Anfang in der Gängelung im Kindergarten nehmen und in der Organentnahme Exekutierter ihren wohl barbarischsten Ausdruck finden, nur das gezielte Produkt der Willkürherrschaft der Partei sind. Es erscheint widersprüchlich, auf der einen Seite einen autoritären Staat zu unterstellen, dessen Agenten bis in den letzten Winkel Kontrolle und Repression ausüben können, und auf der anderen Seite ein durch lokale Interessen motiviertes Netzwerk anzunehmen, das mit Beziehungen (guanxi) diese Struktur untergräbt bzw. die Effektivität gesamtstaatlicher Politikentwürfe beeinträchtigt. Staatliche Repression findet nicht hinter geschlossenen Türen statt, sie kann der chinesischen Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden. Auch eine systematische Zensur kann nicht verhindern, dass sich Vorfälle herumsprechen. Indes, was fehlt, ist die Solidarität in der Gesellschaft, denn zu viele leben zu gut mit dem System und es sind wiederum die Mauern um Danweis, Wohnquartiere und soziale Schichtungen, die Solidarität behindern.

Kommunikationsmauern

Der Zugang zu Informationen und die Kommunikation untereinander sind durch die neuen Medien leichter geworden – auch in China. So schnell sich neue Formen der Kommunikation ergeben, z.B. über das Internet, so schnell ist damit zu rechnen, dass Parteimitglieder wie Staatsorgane daran teilhaben wollen. Daran gewöhnt, dass sich der Inhalt der Medien aus dem (von der Partei) angenommenen Konsens speist, sind die vielfältigeren Medienangebote eine erschreckende Vision für die »zuständigen Stellen«. Die technologische Hochrüstung der neuen Medien wie auch das immer unüberschaubarer werdende Angebot von Printprodukten und Fernsehkanälen überfordert die Zensur in gleichem Maße wie die diffusen Wünsche der Konsumenten. Entertainment, Wirtschaftsnachrichten, Klatsch und Tratsch sind immer noch etwas Neues und werden begierig aufgesogen. Die neuen elektronischen Zensur-Mauern haben viel mit der großen chinesischen Mauer gemein, sie sind ähnliche Monumentalprojekte, die zu umgehen kein Ding der Unmöglichkeit ist. Als ein mehr oder minder auf die großen Städte beschränktes Phänomen sollte man hingegen die neuen Medien nicht überbewerten, doch ein Großteil derjenigen, die Zugang zu ihnen haben, besitzt auch genug Knowhow, um mögliche Sperren und Einschränkungen zu umgehen.

Auch kulturell drifteten Stadt und Land auseinander – bäuerlich dominierte Gegenden (ca. 80% Chinas) verharren in ihrer kulturellen Entwicklung auf dem Niveau der 50er Jahre, wohingegen die Großstädte entlang der Küste keine Probleme haben, zu westeuropäischen Metropolen aufzuschließen. Das Angebot von Musik über Film, Theater und Kunst in Beijing und Shanghai kann sich international sehen lassen. Produkte wie die chinesische Kunstavantgarde und Kunst-Filme vornehmlich im Westen bekannter chinesischer Filmemacher finden in China selten ein Massenpublikum, weder in der Stadt noch auf dem Land. Von Städtern bevorzugte Medienformate und ihr Konsum gleichen sich westlichen/japanischen Vorbildern an: schnell produzierte Soap-Opern im Fernsehen, Frauenzeitschriften und Sportnachrichten in sensationslüsterner Aufmachung für die Erwachsenen und katong, die chinesische Variante japanischer Manga (Comics) und Anime (Animationsfilme), für die Jugend. Einem ländlichen Bedarf entsprechen diese Formate kaum und der Preis schließt diese Konsumentenschicht auch weit gehend aus – falls, wie im Falle des Fernsehens, nicht ohnedies technische Hürden zu überwinden sind.

Dermaßen auseinander driftend verfestigen sich die in den 80er und 90er Jahren entstandenen Bilder, die Städter von der Landbevölkerung und umgekehrt die Landbevölkerung von den Städtern haben. Sie speisen sich unter anderem aus den bereits erwähnten Aufenthaltsbeschränkungen und der unterschiedlichen Qualifikation/Ausbildung, sie werden durch enorme Einkommensunterschiede immer weiter verschärft. Der Bauer verschwindet aus dem Bewusstsein der Städter und wird allenfalls noch als verklärte Ikone einen Platz in der Ahnentafel finden, in seinem Verhalten jedoch geht der Städter auf Distanz. Dieser Verdrängungsversuch wird heute noch gestützt durch die rigide Trennung der Bereiche (qua hukou). Doch in dem Maße, wie sich das System der hukou aufzulösen beginnt, werden die Widersprüche zwischen der ländlichen und der städtischen Entwicklung zutage treten und in Konflikte münden. Wie letztlich schon die Wanderarbeiter zeigen: Es sind noch die Mauern der Baustellen, die die Wanderarbeiter von der Urbanität fern halten, die sie selbst mit aufbauen. Heute wird deutlich, dass den divergierenden Bewegungen in dem Riesenreich nicht mit den klassischen Methoden der Abgrenzung beizukommen ist, sondern integrative Strategien gefragt sind, die eine behutsame Angleichung ermöglichen. Das System von Mauern hat ausgedient!

Andreas Seifert ist Doktorand am Seminar für Sinologie und Koreanistik der Universität Tübingen

Frankreichs nationaler Militär-Konsens

Frankreichs nationaler Militär-Konsens

von Johannes M. Becker

Das Militär spielt in der politischen Kultur Frankreichs eine besondere Rolle. Obwohl es nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Kriege führte, obwohl es atomar hochgerüstet länger an A-Waffen-Tests festhielt als die anderen Großmächte, obwohl es so aussieht, als ob sich die Rüstungsexporte ausschließlich an der Profitmaximierung orientieren, ist die Kritik am Militär in der französischen Gesellschaft nicht sehr weit entwickelt.
Johannes M. Becker wirft einen Blick in die jüngere Vergangenheit und untersucht die Gründe für den »Nationalen Militär-Konsens«1 und seine Auswirkungen.

Wilfried von Bredow thematisierte in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie vom Militärisch-Industriellen Komplex (MIK) als eines von dessen Merkmalen die Verwischung „der herkömmlichen Trennlinien zwischen zivil und militärisch„, also, wie Monika Medick sich ausdrückte, die „Erosion der Trennung zwischen zivilem und militärischem Sektor der Gesellschaft“.2

Beide Phänomene lassen sich für Frankreichs Geschichte nach dem Zusammenbruch der III. Republik 1940 und insbesondere für seine Nachkriegszeit an einer langen Kette von Entwicklungen aufzeigen:

  • Schon die Phase der »Résistance« hatte die Trennungslinien verwischt; militärischer und nicht-militärischer Widerstand waren zum einen nur schwer zu unterscheiden gewesen, zum anderen hatte das französische Militär durch sein sukzessives Überwechseln in die Reihen der Résistance-Truppen während des Krieges und durch die Tatsache, dass Frankreich nach 1945 formell zum Kreis der Siegermächte zählte, den 1940 verlorenen Kredit im Massenbewusstsein weitgehend zurückgewonnen. Das Militär hatte durch seine aktive Beteiligung bei der Befreiung und der Besetzung Deutschlands in weiten Teilen der Bevölkerung wahrscheinlich sogar noch an Ansehen gewonnen.
  • Nach 1944/45 erlebte Frankreich dann nur eine kurze und schwache Phase der Demobilisierung; die Besetzung Deutschlands und Österreichs, vor allem jedoch der Indochina-Krieg, der Ende 1946 begann, hielten das Land im Zustand einer (wenngleich begrenzten) Militarisierung: Soldaten mussten rekrutiert und außer Landes geschickt werden, der Staatshaushalt wurde erneut belastet, die Moral sank mit den fortlaufenden Todesnachrichten der Soldaten, vor allem mit der Niederlage u.v.m..
  • Nahtlos an den Indochina-Krieg schloss sich der Algerien-Krieg an, der im Gegensatz zu ersterem zunächst von einem breiten nationalen Konsens getragen wurde – erst in seinem Verlauf rang sich die politische Klasse Frankreichs dazu durch, auch »l'Algérie française« in die Unabhängigkeit zu entlassen; die subsaharischen Kolonien Frankreichs hatten bereits 1956 begonnen, die umfassende »décolonisation« einzuleiten.
  • In der Zwischenzeit bereits hatten die geheimen, illegalen Vorbereitungen für ein atomares Rüstungsprogramm begonnen, das nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch General de Gaulle mit Druck vorangetrieben wurde. Nach den als schmachvoll empfundenen Niederlagen in den Kolonialkriegen sollte die Atombombe, verkörpert in der »Force de frappe«, im französischen Massenbewusstsein der folgenden Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielen beim Versuch der Wiedererlangung der verlorenen Weltgeltung Frankreichs. Dies um so mehr, als sich de Gaulle scheinbar erfolgreich gegen den Zugriff der USA und der NATO auf diese nationale Waffe wehrte3 und 1966 nach einer langen Phase politischer Spannung innerhalb der NATO gar die militärische Integration des atlantischen Bündnisses verließ. Ein Rüstungsakt hatte, so schien es, im Massenbewusstsein die Souveränität der französischen Politik wiederherstellen geholfen (nur die KommunistInnen und ein Teil der SozialistInnen widersetzten sich).
  • Die Atomwaffe markierte mit der Plutoniumproduktion auch einen zentralen Punkt der volkswirtschaftlichen Vermengung von ziviler und militärischer (hier: Energie-)Politik, der große Nuklearanteil am Verteidigungshaushalt in der Aufbauphase der »Force de frappe« verstärkte diesen Effekt.
  • Schließlich das sinnfälligste Beispiel für die oben genannten technologie-, forschungs-, beschäftigungs- und konjunkturpolitischen Funktionen des Militärs – und somit für die „Erosion der Trennung zwischen zivilem und militärischem Sektor“:der Rüstungsexport. Dieser erfuhr unter Staatspräsident Giscard d'Estaing (1974-1981) einen gewaltigen Anstieg, Frankreich wurde zum drittstärksten Waffenexporteur der Erde und beschäftigte am Beginn der 80er-Jahre etwa eine halbe Million Menschen in diesem Bereich. Ein nationaler Konsens zum Erhalt der französischen Rüstungsindustrie lag in der Logik der Entwicklung. Gäbe man beim heute zu konstatierenden hohen Anteil der militärischen an der Gesamtproduktion der großen Technologietrusts (bspw. Thomson oder auch MATRA, von dem Le Monde am 13.01.1981 vieldeutig als „verlängertem Arm der Regierung“ sprach, Aérospatiale oder Dassault) die militärische Sphäre auf, gefährdete man ohne Flankenschutz aus dem Bereich der Konversionsforschung und -politik in der Tat ganze Industriebereiche. Hiergegen wehrten und wehren sich die vom Nationalen Militär-Konsens Begünstigten.

Weitere bekannte Faktoren verstärken die zu Grunde liegende These:

  • Die Streitkräfte haben auch in Frankreich ein hohes innenpolitisches Gewicht; dieses äußert sich bspw. im – von Nationalstolz geprägten – Umgang mit der Befreiung Frankreichs, es äußerte sich im Zusammenhang mit der Regierungsübernahme General de Gaulles im Jahre 1958 und der damaligen tragenden Rolle des Militärs, es wird jedes Jahr bei Gelegenheiten wie dem 8. Mai oder dem 14. Juli auf ein Neues durch große Militärparaden deutlich; auch diese werden von einem breiten Konsens getragen;
  • Durch das Prinzip der Wehrpflicht prägt das Militär bis in unsere Jahre hinein (die Wehrpflicht wird ab dem Jahre 2002 ausgesetzt) auch in Frankreich die politische und soziale Einstellung einer Vielzahl vor allem junger Menschen: Bis in die Endneunzigerjahre hinein waren von etwa 500.000 Soldaten etwa 210.000 Wehrpflichtige, sie machten also über 40 % Prozent der Gesamtstärke der Armee aus.

In dieser Gesamtanlage der Sicherheitspolitik Frankreichs in der Nachkriegszeit, insbesondere während der V. Republik (1958 ff.) kamen – wenngleich diese selbst gänzlich überraschend – die beiden großen Linksparteien PS und PCF (zuzüglich des kleinen PS-Fortsatzes MRG) in die Regierungsverantwortung. Frankreichs SozialistInnen und KommunistInnen hatten freilich bereits wenige Jahre vor dem Mai 1981 in der Kernfrage der Sicherheitspolitik, in der Problematik der strategischen Nuklearbewaffnung, weitreichende Schwenks vollzogen. Von Positionen der radikalen Ablehnung zu Zeiten noch des »Programme commun« (1972 ff.) eingeschlossen das Versprechen, die »Force de frappe« im Falle eines entscheidenden Wahlsieges abzurüsten, zu offenherziger (PS) bzw. zurückhaltender (PCF) Akzeptierung derselben; Akzeptierung eben als Garanten der nationalen Souveränität Frankreichs.4

Dieser Strategiewandel der beiden Linksparteien, der den Nationalen Militär-Konsens für unseren Analysezeitraum erst als geschlossenes Ganzes konstituierte, war nun eingedenk der aufgezeigten Kriegs- und Nachkriegsentwicklung Frankreichs so verwunderlich nicht; wenn PS und PCF auch als Katalysator wesentlich die Linksunion und die Verschiebungen in deren internen Kräfteverhältnissen benötigten – dies alles im Angesicht der greifbar erscheinenden Regierungsgewalt in Paris.

Der Konsens in der Nuklearpolitik, der militärischen wie der sogenannten zivilen, zog dann nach 1981 die Regierungspolitik des Nationalen Militär-Konsenses insgesamt nach sich. Frankreichs SozialistInnen und KommunistInnen bauten die Nuklearstreitkräfte enorm aus, steigerten den Rüstungsexport, stationierten Navigationsinstrumentarien im Weltraum u.v.m.

Gaullistische Renaissance in Frankreich unter Jacques Chirac

Die Wahl des Neogaullisten Jacques Chirac zu Frankreichs Staatspräsidenten im Mai 1995 sollte die Pariser Sicherheitspolitik aktivieren. Chirac eröffnete seine politische Bilanz mit einem Paukenschlag, als er noch im Sommer 1995 die von seinem sozialdemokratischen Vorgänger Mitterrand ausgesetzten französischen Atomversuche im Südpazifik wiederaufnahm. Trotz einer unerwartet großen Welle des internationalen Protestes (selbst das Europäische Parlament verurteilte die Pariser Politik), trotz der Gefahr von Einbußen bei französischen Exporten, trotz des Risikos eines Profilgewinns der politischen Linken – als Entspannungs- und Abrüstungsprotagonisten – blieben Chirac und sein ebenfalls gaullistischer Premier Alain Juppé bei der Test-Linie.

Erneut kam Bewegung in das sicherheitspolitische Gefüge der Nachfolger de Gaulles, als Frankreichs Staatsführung im Herbst – offenbar kurzzeitig beeindruckt von den Protesten der Verbündeten (die Bonner Regierung hielt sich hierbei äußerst zurück) – zwei in höchstem Maße »ungaullistische« Überlegungen äußerte. Erstens, dass es vorstellbar sei, dass der Schutzschirm der Nuklearwaffen Frankreichs auf die Bundesrepublik ausgeweitet werden, ja darauffolgend sogar ins das Gefüge der europäischen Einigung eingebracht werden könne. Zweitens, indem Überlegungen erkennbar wurden, nach denen Frankreich auch militärisch5 wieder in das NATO-Bündnis zurückkehren könnte.6

Beide Entwicklungen wurden in sicherheitspolitischen Kreisen mit viel Aufmerksamkeit, in den meisten nicht-französischen konservativen Zirkeln sogar mit Euphorie bedacht. Bei näherer Analyse kristallisierte sich jedoch ein entscheidendes Pariser Junktim heraus: Chirac und seine BeraterInnen wollten die Integrationen nur dann stärken, wenn sich sowohl im Gefüge der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union (GASP) wie auch bei einer Neudefinition der NATO-Aufgaben für Europa eine größere Eigenständigkeit europäischer Strukturen ergäbe. Das hieß im Klartext: Eine größere Unabhängigkeit von US-Einfluss und dies möglichst mit französischem Profilgewinn verbunden. Das konkretisierte sich im Laufe der folgenden Monate als Forderung nach neuen entscheidenden Kommandoposten der NATO für französische bzw. europäische Generäle.7

Mit noch einer dritten Ankündigung profilierte sich Staatspräsident Chirac in seiner »domaine reservée«, der Sicherheitspolitik: der Abschaffung, korrekter der Aussetzung der Wehrpflicht und der Schaffung einer reinen Berufsarmee bis zum Jahre 2002.8 Auch diese Entscheidung – durchaus vergleichbar mit der derzeit aufkeimenden Debatte in Deutschland – ist nicht einem Legitimationsverlust des französischen Militärs zuzuschreiben. Eine Berufsarmee erscheint der Administration Chirac hingegen weit mehr als eine Armee von Wehrpflichtigen in der Lage, den weltweiten Interventionsansprüchen Frankreichs zu entsprechen, das heißt den Ansprüchen Frankreichs nach Ergänzung der aktuellen Unilateralität um eine entweder französische oder je nach den politischen Konditionen auch eine europäische Komponente.

Die Verweigerung des Militärdienstes hat in Frankreich im Übrigen eine andere Kultur als hierzulande. Nur wenige tausend der ca. 230.000 Wehrpflichtigen verweigerten zu Beginn der 90er-Jahre den Kriegsdienst.9 Allerdings wählt eine recht hohe Zahl junger Menschen den »service civile«, eine Art Sozialdienst. Hierbei handelt es sich um eine, so J. Bechthold, „zivile Form des Militärdienstes, den Rekruten in staatlichen Einrichtungen wie Polizei, Feuerwehr, Zivilschutz, aber auch in Schulen oder der Verwaltung leisten.“ 1994 haben etwa 14 Prozent der französischen Wehrpflichtigen den »service civile« abgeleistet. Dieser wiederum wird von den »objecteurs de conscience«, den französischen Kriegsdienstverweigerern, als pseudo-zivile Form der Wehrpflicht abgelehnt. Die Verweigerung des Wehrdienstes hat in Frankreich tiefere Konsequenzen als hierzulande: Zum Ersten fühlen sich die »objos«, so haben dem Autor viele Gespräche gezeigt, in der Gesellschaft, so bspw. bei der Arbeitssuche, diskriminiert. Zum Zweiten schreckt die mit 20 Monaten (gegenüber den 10 Monaten Wehrdienst) doppelte Dienstdauer der »objecteurs de conscience« viele Jugendliche ab. Zum Dritten verhindert der oben vorgestellte »nationale Militär-Konsens« von links bis rechts die breitere Durchsetzung einer politischen Verweigerungskultur.

Das Verhältnis zu den USA

Zurück zur französischen Kritik an der Unilateralität: Das Verhältnis zu den USA unterscheidet in der Tat die französische Sicherheitspolitik signifikant von der bundesdeutschen. Während die Bundesrepublik sehr stark auf die USA orientiert war und ist, ist das Klima zwischen Frankreich und den USA häufig spannungsgeladen. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:

  • Während des II. Weltkrieges hatte die US-Administration versucht, den Führer der bürgerlichen Résistance, eben den General de Gaulle, zu marginalisieren;
  • Frankreichs Nukleardoktrin lautete (um des nationalen Konsenses willen) bekanntlich »tous azimuts«, also »in alle Richtungen« gewandt, was die USA theoretisch ebenso wie die UdSSR zum Adressaten französischer Atomwaffen deklarierte;
  • in den beginnenden 80er-Jahren, als die USA ein Röhren-Embargo gegen die Sowjetunion nach deren Intervention in Afghanistan verhängten, hielt sich Frankreich demonstrativ nicht an dieses Embargo.

Diese Beispiele, die Liste wäre verlängerbar, sollen dabei allerdings die prinzipielle Westintegration Frankreichs in keiner Phase der V. Republik in Frage stellen.

Der
»Nationale Militär-Konsens«

Der Begriff des »Nationalen Militär-Konsenses« in Frankreich umfasst bei alldem mehr als eine „neuartige Verbindung eines immensen Militärestablishments und einer riesigen Rüstungsindustrie“ (Eisenhower) auf der einen Seite und ein „unheilvolles Bündnis“, das viele „Staaten (…) noch reaktionärer und aggressiver (…) macht“ (Breschnew), auf der anderen – bei beiden Staatsmännern war die Rede vom Militärisch-Industriellen Komplex (MIK). Dass er mehr umfasst als scharf zu umreißende kriegstreiberische Interessenkonstellationen oder aber freies Kräftespiel unabhängiger Variablen wurde oben aufgezeigt. Der Nationale Militär-Konsens ist als eine wesentliche Bestimmungsgröße für das Frankreich der V. Republik insbesondere – dies nach dem Einschwenken der Linksparteien – in der Frage der Atomwaffen geworden.

Spezifisch französisch an der gesamten hier geschilderten Entwicklung ist das weitgehend ungebrochene Verhältnis der großen Mehrheit der Bevölkerung zum nationalen Militär und ist das spezifische Gewicht des Militärischen an der Festigung der heute konstatierbaren Position Frankreichs im weltpolitischen Kräftespiel, das den Konsens aller großen Parteien und politischen Interessenverbände in dieser Frage herstellt. Frankreichs Militär kennt bis heute keine entscheidenden Zäsuren, wie das deutsche Pendant bspw. das Jahr 1945. Weder die umstrittene Niederlage von 1940, noch die verlorenen Kolonialkriege und die entsprechenden Kriegsverbrechen trübten die Stellung des nationalen Militärs im Massenbewusstsein nachhaltig. Militärische Integrationen gingen Frankreichs Nachkriegsregierungen anders als die deutsche Bundesregierung freiwillig, jedenfalls nicht unter dem Druck der Legitimierung der eigenen Existenz, ein. Im Gegenteil: Staatspräsident de Gaulle betonte die militärpolitische nationale Souveränität 1966 durch den (durchaus konfliktträchtigen) Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration der NATO. Insofern bedeuten die derzeitigen Supranationalisierungs- und in ihrem Kern Europäisierungstendenzen, gemeint ist die GASP der EU, für die französische Seite eine neuartige politische Situation.

Die Zeitschrift Armées d'Aujourd-hui veröffentlichte 1995 das Ergebnis von Einstellungsuntersuchungen zur französischen Armee aus den Jahren 1984 bis 1995. In diesem Zeitraum steigerte sich der Anteil der Französinnen und Franzosen mit einer guten Meinung von der Armee kontinuierlich von 65 auf zuletzt 74 Prozent. Eine schlechte Meinung hatten im gesamten Untersuchungszeitraum, ebenfalls recht kontinuierlich, lediglich zwischen 23 (1985) und 17 (1993) Prozent. Für 1995 lautete der Wert auf 22 Prozent.10 Vereinzelte Folgeuntersuchungen zeigen, dass die Einstellung zur Armee bis heute ähnlich geblieben ist.

Allerdings sind diese aktuellen Tendenzen in Frankreich anders als in der Bundesrepublik Deutschland nicht dem Fortfall eines Feindbildes zuzuschreiben. Die Nuklearstrategie »Tous azimuts« hatte – eingeschlossen natürlich die geografische Distanz zur Ost-West-Systemgrenze an der Elbe – vielmehr zur Folge, dass die Zeit vom Fall der Berliner Mauer bis zur Auflösung der Warschauer Vertrags-Gemeinschaft auch nicht im Ansatz eine Legitimationskrise des Militärs heraufbeschwor. Die Feindbilder Sowjetunion, Sozialismus und Kommunismus waren in Frankreich anders als hierzulande immer nur Feindbilder unter anderen. Das problematische Verhältnis zu einigen arabischen Ländern wie Libyen oder Algerien rückten ebenso einen gewissen Anti-Islamismus ins Zentrum

Frankreichs Befassung mit Supranationalität und Europäisierung im militärischen Bereich ist vielmehr Resultat zum einen des neuen, US-dominierten Unilateralismus, ist zum anderen zweifelsohne der Versuch einer angemessenen Reaktion auf die neue politische und militärische Rolle des vereinten Deutschland.

Anmerkungen

1)&nbs;Siehe: Becker, Johannes M.: Der Nationale Militär-Konsens, Marburg (Schriftenreihe der IAFA, Bd. 7) 2. Auflage 1998.
Das Theorem vom Nationalen Militär-Konsens ist der Versuch, die vielfältigen Ansätze, sicherheitspolitischen Determinanten, Faktoren und Subjekte zu fassen (u.a. mit Begriffen wie »Militärisch-Industrieller Komplex«, bspw. vom Bremer Ökonomen Jörg Huffschmid vertreten, oder »Industrialer Militarismus«, so der Berliner Politikwissenschaftler Ulrich Albrecht) und sie für Frankreichs Realität konkret zu benennen.
Ein umfassender Vergleich der Legitimationsmuster von Militär in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland findet sich in: Becker, J. M.: Militär und Legitimation. Marburg (IAFA, Bd. 20) 1997. Dieser Beitrag fußt wesentlich hierauf.

2) von Bredow, Wilfried: Moderner Militarismus: Analyse und Kritik, Stuttgart 1983, S.71; Medick, Monika: Das Konzept des »Military-Industrial-Complex« und das Problem einer Theorie demokratischer Kontrolle. In: Berghahn, Volker R. (Hrsg.): Militarismus, Köln 1975.

3) Am 27.05.1989 berichtet das US-amerikanische Magazin Foreign Policy über ein Geheimabkommen zwischen Frankreich und den USA von 1961 betreffend den Austausch von Informationen bei Atomwaffen und falsifiziert so die völlige Unabhängigkeit der französischen Nuklearwaffen. Das Abkommen sei jedoch erst nach 1972, unter der konservativen Regierung Pompidou, zur Anwendung gekommen, aber 1985, zur Regierungszeit des Sozialisten Mitterrand, erneuert worden.

4) Siehe hierzu ausführlicher meine Schrift: Das französische Experiment. Linksregierung in Frankreich 1981 – 1984. Bonn (Dietz Nachf.) 1985.

5) Das gaullistische Frankreich war 1966 lediglich aus der militärischen, nicht aus der politischen Integration des Noratlantischen Bündnisses ausgetreten.

6) Zu den französischen Atomtests des Jahres 1995/96 hat eine hervorragende, kontrovers angelegte Materialsammlung erstellt das Periodikum Frieden und Abrüstung Nr. 51/51: Der Streit um die französischen Atomwaffenversuche. Bonn (IFIAS) 1995.

7) Siehe hierzu FAZ vom 05.08.96.

8) Zur Abschaffung der Wehrpflicht siehe exemplarisch Le Monde vom 04./05.02.96. Generell setzt sich mit der »Armeereform« unter Chirac auseinander die Zeitschrift DAMOCLES (Lyon) 1996, 69.

9) Janine Bechthold bezifferte in einem Bericht im Neuen Deutschland vom 23.02.1996 die Zahl der französischen »objos « auf bspw. 8.700 im Jahr 1994. Siehe auch Bundestagsdrucksache 12/8326, Antwort des Staatssekretärs Jörg Schönboom vom 15.07.1994.

10) Armées d'Aujourd-hui (Paris) 1995, 204, Octobre, S. 21 ff.. Betreffend den Nutzen der Nuklearstreitkräfte ergab sich im gleichen Zeitraum eine Polarisierung der befragten Bevölkerung: Einen Nutzen für den Schutz Frankreichs sprachen 1987 59 % der Französinnen und Franzosen der Force de frappe zu; 31 % hielten sie für sinnlos. 1995 hatte sich die positive Einschätzung auf 50 % abgemindert; die KritikerInnen machten nun bereites kontinuierlich gestiegene 44 % aus.

Dr. Johannes M. Becker, Mitbegründer der Friedensforschung an der Marburger Universität, ist Privatdozent für Politikwissenschaften und lehrt in Marburg sowie an der Exportakademie des Landes Baden-Württemberg in Reutlingen.