Kaschmir

Kaschmir

von Jochen Hippler

Die Situation im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs trägt alle Anzeichen einer Verhärtung der Krise und einer Verfestigung der dortigen Konflikte. In Indien wie in Pakistan weisen viele Beobachter*innen darauf hin, dass die weiter bestehende Einschränkung der Bürgerrechte und der Bewegungsfreiheit sowie die Blockade der Kommunikationsmittel nicht nur die wirtschaftliche Situation in Kaschmir schwer belasten. Sie führen auch dazu, dass große Teile der dortigen Bevölkerung die indische Regierung immer stärker als Feind wahrnehmen. Der schon lange schwelende
Konflikt wird so massiv verschärft und immer schwerer lösbar.

Nach ihrem großen Wahlerfolg vom April/Mai diesen Jahres setzte die hindunationalistische BJP-Regierung ihre Kampagne fort, Indien von einer säkularen Demokratie zu einem autoritäreren Staat mit ethnoreligiöser Identität umzubauen. Eine radikale Maßnahme war die plötzliche Beseitigung des Sonder- und Autonomiestatus des überwiegend von Muslim*innen bewohnten Bundesstaates »Jammu und Kaschmir« und seine Degradierung zu einem von New Delhi verwalteten »Unionsterritorium«. Dies wurde zur Verhinderung von Protesten von einer Ausgangssperre, der Unterbrechung der Kommunikationsmittel, der
Entsendung zusätzlicher Soldat*innen und anderen Zwangsmaßnahmen begleitet.

Die Beseitigung der kaschmirischen Autonomierechte durch Indien führte sofort zu einer neuen Krise zwischen Indien und Pakistan, die bereits seit ihren Staatsgründungen um Kaschmir streiten. In den letzten Jahren gab es häufig ernste Spannungen zwischen beiden Ländern, die teilweise sogar zum Einsatz militärischer Gewalt führten. Diese Konflikte wurden von der nuklearen Aufrüstung beider Länder begleitet: Indien verfügt seit 1974 über Atomwaffen, Pakistan seit 1998; es geht um jeweils rund 150 Atomsprengköpfe. In den beiden letzten Jahrzehnten beschwörten diese Waffenarsenale einerseits die
Gefahr eines Atomkrieges in Südasien herauf, andererseits wurden beide Seiten dazu gezwungen, die immer wieder aufbrechenden Konflikte und Eskalationen in Grenzen zu halten. Es ist offensichtlich, dass weder Indien noch Pakistan ein Interesse an einem Krieg haben, noch weniger an einem Atomkrieg.

Ein zentrales Problem besteht allerdings darin, dass sich eine Konfliktdynamik verselbständigen und zu einer nicht mehr zu kontrollierenden Eskalation führen könnte. In beiden Ländern hat der Kaschmirkonflikt eine große ideologische und symbolische Bedeutung. Er ist emotional so aufgeladen, dass nicht nur nüchterne außenpolitische Erwägungen eine Rolle spielen, sondern auch Stimmungen, Gefühle, Rhetorik und Demagogie, bis hin zur Androhung von Krieg. Die Regierungen beider Länder treten dieser Emotionalisierung nicht entgegen – weil sie dies aus opportunistischen Gründen nicht für
angebracht halten, weil sie selbst immer mal wieder ihr Süppchen auf nationalistischen Stimmungen kochen wollen oder weil es ihnen als zu riskant erscheint, den Hetzern in der Gesellschaft entschlossen entgegenzutreten, obgleich die Hetze den staatlichen Interessen zuwiderläuft. Manchmal scheint es, als würden Teile der politischen Eliten die Geister nicht mehr los, die sie selbst riefen.

Der Kaschmirkonflikt bedarf dringend einer Lösung, dies wird aber durch innenpolitisch motivierte, taktische Spielchen erschwert. Eine Verständigung der beiden Regierungen reicht schon lange nicht mehr aus, um den Konflikt zu lösen, und ist auch nicht in Sicht. Die religio-nationalistische Hetze hat den Diskurs in beiden Gesellschaften verschoben und ein solches Gewicht gewonnen, dass das jeweilige Gegenüber sogar als Feind definiert wird. An der daraus folgenden, zunehmend identitären Stimmung kann keine der beiden Seiten einfach vorbeiregieren. Eine Lösung des Kaschmirproblems setzt
deshalb neben gesellschaftlichem Fortschritt die Versöhnung der beiden Gesellschaften miteinander voraus und zugleich die Versöhnung beider Gesellschaften mit sich selbst, also die Stärkung einer staatsbürgerlichen Identität gegenüber der ethnonationalistischen. Die Grundlagen dafür zu schaffen ist dringend notwendig, im Interesse beider Gesellschaften. Ein Verlust an politischer Zivilisiertheit ist schließlich nicht allein in den USA, in Russland, der Türkei und vielen europäischen Ländern zu beobachten, sondern auch in Südasien.

Indien und Pakistan stehen also vor einer Herkulesaufgabe, die nicht in wenigen Jahren zu bewältigen sein wird. Werden diesbezüglich keine Fortschritte erzielt, wird es eine Lösung des Kaschmirkonfliktes nicht geben.

Jochen Hippler, Dr. habil., ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher. Nach vielen Jahren als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen ist er seit Mai 2019 Länderdirektor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad, Pakistan.

Eingefrorene Tragödie


Eingefrorene Tragödie

Der Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan ist kaum lösbar

von Jakob Rösel

Schon bei der Sezession Pakistans von Indien 1947 wurde die Region Kaschmir von Bürgerkrieg und Vertreibungen erfasst. Der Kampf um die nationale Zugehörigkeit der muslimischen Mehrheit wird bis heute blutig ausgetragen. Die Situation ist verfahren: Indien reagiert auf alle Autonomiebestrebungen mit harter Repression, Pakistan nutzt den Konflikt für eigene Zwecke.

Der Kaschmir-Konflikt teilt mit dem Konflikt um Israel seine Langlebigkeit, seine Unlösbarkeit und seine großen geopolitischen und potentiell nuklearen Implikationen. Allerdings wird er vom »eurozentrischen« Westen seit 70 Jahren unterschätzt. Russland wurde von Winston Churchill einmal charakterisiert als ein Rätsel, behütet von einem Mysterium, umringt von einem Geheimnis. Kaschmir wäre dann ein Dilemma, am Beginn einer Sackgasse mit einem unausweichlichen Resultat, einer Tragödie.

Kaschmir ist ein Dilemma, weil zwei Konkurrenten, Pakistan und Indien, einmal als islamischer, einmal als säkularer Staat zur moralisch-ideologischen Selbstlegitimierung Kaschmir für sich beanspruchen müssen. Es ist eine Sackgasse, weil diese Konkurrenz nach vier Kriegen und 70 Jahren der Konfrontation kaum Spielraum für dritte Wege, Übergangslösungen, Kompromisse lässt. Und zuletzt ist es eine Tragödie, weil die okkupierte Bevölkerung, die muslimische Mehrheit Kaschmirs, stets Widerstand leisten wird. Dagegen ist der stärkere Akteur, die Regierungs- und Besatzungsmacht Indien, bereit, diesen Widerstand um jeden Preis zu unterdrücken.

Wie konnte es dazu kommen?

Der indische Bundessstaat Jammu und Kaschmir ist aus einem von einer Hindu-Dynastie beherrschten Königreich hervorgegangen. Es wurde im 19. Jahrhundert von der kolonialen East India Company gegen Zahlung einer hohen Anerkennungsprämie bestätigt und anschließend für geostrategische Aufgaben benutzt: eine perfekte imperiale Camouflage. Am Ende des 19. Jahrhunderts umfasste das Königreich ein Terrain von der Größe Großbritanniens und stand formal unter der Herrschaft der Dogra-Dynastie. Die beiden Hauptstädte waren Jammu im überwiegend hinduistischen Süden sowie Srinagar im fast vollständig muslimischen Hochtal von Kaschmir.

Die von Nehru offiziell, von Gandhi »charismatisch« geführte Kongressbewegung entfaltete etwa seit 1920 Massenwirkung und wurde eine politische Partei. Sie forderte ein unabhängiges, säkulares Indien. Aus einer von den Briten angeregten muslimischen Honoratiorenassoziation, der Muslimliga, entstand 1936 eine muslimische Massenpartei, nach dem Modell des Kongress, aber in Feindschaft zu ihm. Die Muslimliga sprach von einem Indien der zwei Nationen, einer Hindu-Nation und einer paritätischen Muslim-Nation. Seit Beginn des Zweiten Weltkrieges forderte sie dafür ein »Pakistan« (Akronym für Punjab-Kaschmir-Sindh-Belutschistan).

Gerade für das riesige und vielschichtige Jammu und Kaschmir wurde dieser Konflikt bedeutsam. Es entstand eine »Jammu und Kaschmir Muslimkonferenz«, die wenig später von Sheikh Abdullah in »National Conference« umbenannt wurde. Abdullah wollte den Widerstand gegen die Dogra-Rajas vereinen. Er sympathisierte seinerzeit mit den Idealen des Kongress und kannte Nehru. Im Winter 1945/46 zeigte eine indische Wahl die Polarisierung an. Der Kongress repräsentierte nun die überwältigende Mehrheit der Hindus. Die Muslimliga hatte die Masse der Muslime hinter sich. Für Jinnah, den Führer der Muslimliga und Wortführer Pakistans, war nun ein Separatstaat unabwendbar. Noch 1946 wurden die Gewaltkreisläufe, die Massaker zwischen Hindus und Muslimen, unkontrollierbar (siehe dazu iz3w 355 über Separatismus, S. 16ff.).

Louis Mountbatten wurde als letzter britischer Generalgouverneur nach Neu-Delhi entsandt. Er sollte das »Endgame« beschleunigen, denn bis zur Jahresmitte 1947 sollte Indien unabhängig und zugleich geteilt sein: in Indien und in West- und Ostpakistan. Damit rückte ein weiteres Problem in das Zentrum der Entscheidungen: Was soll mit den Fürstenstaaten geschehen? Wohin gehen Jammu und Kaschmir?

Das Dilemma

Für Jinnah und die Muslimliga entschied die Religionszugehörigkeit der Mehrheit darüber, ob ein Gebiet Pakistan oder Indien zugeschlagen wird. Pakistan sollte ein Staat für die Muslime werden. Kaschmir als ein mehrheitlich muslimisches Fürstentum an der Grenze gehört für sie natürlicherweise dazu. Für die indische »One Nation«-Theorie bestand ein gegenläufiger Zwang. In der säkularen Nation gab es außer der Inselgruppe der Lakkadiven kein Gebiet mit muslimischer Mehrheit. Kaschmir wurde damit zur Bestätigung des für den Bestand des multireligiösen Indiens unersetzbaren Säkularismus: Auch die Muslime gehören zu uns. Die Zugehörigkeit von Kaschmir stand für Nehru auch demokratisch außer Frage. Der politische Sprecher der Bevölkerung, Sheikh Abdullah, hatte die Muslimkonferenz zur National Conference umbenannt. Die Führer beider Parteien saßen zum Zeitpunkt des »Endgame of Empire« im Gefängnis und waren befreundet.

Die beiden künftigen Staaten, Indien und Pakistan, die säkulare und die muslimische Nation, mussten also aus Gründen ihrer raison d’être auf der Herrschaft über Kaschmir bestehen. Nach dem Teilungsplan des Generalgouverneurs Mountbatten gingen die muslimischen Mehrheitsprovinzen im Westen, Sindh und die North-West Frontier Province, an Pakistan. Das Schicksal Belutschistans wurde 1948 im Rahmen einer pakistanischen Militärintervention erledigt. Die riesigen, bevölkerungsreichsten Provinzen Punjab im Westen und Bengalen im Osten mussten geteilt werden, weil sie jeweils zu einer Hälfte von Hindus und einer Hälfte von Muslimen bewohnt waren. Der Ostpunjab ging an Indien und Ostbengalen bildete Ostpakistan, das künftige Bangladesch. Massenhaft flüchteten Hindus und Sikhs aus dem Westpunjab nach Indien und umgekehrt Muslim*innen aus dem Ostpunjab nach Pakistan. Zwölf Millionen Menschen wurden vertrieben. Die Zahl der Toten kennt niemand; Schätzungen schwanken zwischen einer halben Million und einer Million.

In Punch/Kaschmir begannen im Herbst 1947 Pahari- und Paschtunenkrieger für die muslimische Mehrheitsseite mit der kriegerischen Eroberung kaschmirischer Gebiete. Im Gegenzug drängten Sikh-Eliteregimente die Paschtunen wieder zurück. Nachdem im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Waffenstillstand ausgehandelt wurde, wurde die disparate Front bald zur »Line of Control«, zur neuen De-facto-Grenze. Im Südwesten verlor Indien dabei ein Zehntel des Hochtals und von Jammu. Dieses Gebiet bildet das pakistanische Azad Kashmir. Im Norden waren die Verluste weit größer. Wesentliche Teile der geostrategisch wichtigen Grenze zu China fielen nun an Pakistan, welches wiederum ein beachtliches Terrain nördlich der höchsten Karakorum-Gipfel an China abtrat. Des Weiteren fielen die immensen Eiswüsten, weite Strecken der Indus-Gebirgstäler sowie Gilgit und Baltistan an Pakistan. Dort liefern sich seither indische und pakistanische Truppen auf dem 5.000 Meter hoch gelegenen Gletscher Gefechte, bei Atemnot, in unerbittlicher Kälte. Mit China im Rücken kann das kleine Pakistan die indische Großmacht beliebig provozieren. 1962 besiegte China Indien in einem Grenzkrieg und drängte es entlang des verbliebenen östlichen Grenzverlaufs zurück.

Insgesamt hat Indien rund 40 Prozent der Kaschmirregion verloren. Zugleich tappte Nehru innenpolitisch in eine Falle: Um dem »Beitritt« Kaschmirs zu Indien eine demokratische Legitimation zu verschaffen, versprach er eine Volksabstimmung. Seiner Freundschaft mit Sheikh Abdullah sicher, glaubte er 1948, dass der Sheikh und die National Conference künftig den demokratischen Prozess bestimmen und eine proindische Volksabstimmung gewinnen würden. Sheikh Abdullah aber sollte in den kommenden Jahren zum Quälgeist Nehrus, seiner Tochter Indira Gandhi und seines Enkels Rajiv Gandhi werden.

Die Sackgasse

Noch im Überschwang des Beitritts kam der indische Kongress Sheikh Abdullah entgegen. Die Dogra-Monarchie wurde zügig abgeschafft, der neue Bundesstaat Jammu und Kaschmir erhielt außerordentliche Privilegien: Seine Fahne wehte stets neben der Nationalflagge. Bundesgesetze galten hier nur, wenn sie zuvor vom Regionalparlament ebenfalls verabschiedet wurden. Die Urteile des obersten Verfassungsgerichts galten nicht für den Bundesstaat. Mit diesen einzigartigen Sonderrechten schaffte sich der Sheikh ein Sprungbett für eventuelle weitere Autonomieforderungen. Es dauerte Jahre, bis diese Privilegien partiell zurückgenommen werden konnten.

Diese Rücknahme produzierte ein anderes Dilemma: Mit ihr verengte sich der Spielraum für Autonomiekonzessionen, also Konfliktlösungen. Autonomiekonzessionen könnten einen Präzedenzfall für die übrigen Bundesstaaten schaffen. Sheikh Abdullah errichtete derweil seine eigene »National Conference«-Vorherrschaft und brach eine vermeintlich sozialistische Revolution vom Zaun, von der vorrangig seine Familie und Parteigefolgschaft profitierten. Sein Sohn Farooq führte die Partei zunächst erfolgreich weiter.

Bis Ende der 1980er Jahre trat die Kaschmirpolitik auf der Stelle. Es gab keine Volksabstimmung. Stattdessen behauptete Neu-Delhi, dass die regelmäßig abgehaltenen Provinz- und Nationalwahlen das Äquivalent einer proindischen Abstimmung wären. Hinzu komme, dass Pakistan 40 Prozent des Gebiets besetzt halte und dort eine freie Volksabstimmung nicht zulasse oder nicht garantieren könne. Auch an den vielfachen Wahlmanipulationen, Stimmen- und Abgeordnetenkäufen von allen Seiten änderte sich in den kommenden drei Jahrzehnten wenig. Der Protest der Kaschmiri für mehr Autonomie oder für Unabhängigkeit blieb noch friedlich, allerdings nahm er zunehmend außerparlamentarische Formen an.

Während dieser fast vier Jahrzehnte wurden zwei Kriege zwischen Pakistan und Indien geführt, ein direkter 1965 und indirekt der Bangladesch-Krieg von 1971. Mit dem für Pakistan verheerenden Kriegsausgang nutzte Indien seine Position und diktierte Pakistan einen »Bilateralismus«. In der Folge sollte die Kaschmirfrage zukünftig nur zwischen Indien und Pakistan verhandelbar sein, ohne Einmischung etwa der Vereinten Nationen. Das Trauma der Abtrennung Bangladeschs setzte zugleich auf pakistanischer Seite die Suche nach neuen Bündnispartnern und Waffen frei. Zunächst Staatspräsident Bhutto, dann sein Nachfolger, der Putschist Zia-ul-Haq, suchten die finanzielle Unterstützung Saudi-Arabiens und importierten dessen sunnitischen Fundamentalismus. Sie vertieften die Allianz mit China und fädelten für die US-Regierung von Nixon/Kissinger die Liaison zwischen Peking und Washington ein. Vor allem aber trieben sie heimlich durch Einkauf, Spionage und Schmuggel eine eigene Atomrüstung voran, die seit 1998 von Erfolg gekrönt ist. Die Konsequenzen des Sezessionskriegs 1971 lenken die Verhandlungen um Kaschmir also endgültig in eine Sackgasse.

Dabei liegen seit den 1950er Jahren drei Lösungsansätze auf dem Tisch: erstens das Plebiszit, zweitens die Idee der vier regionalen Plebiszite, drittens die Anerkennung der »Line of Control« als legitime internationale Grenze. Zum ersten: Ein Plebiszit wäre nur sinnvoll, wenn alle Bewohner*innen zwischen »Unabhängigkeit«, »zu Pakistan« oder »zu Indien« wählen können. Aber die Unabhängigkeit Kaschmirs wird von Indien und Pakistan kategorisch ausgeschlossen. Eine »Indien oder Pakistan«-Wahl wird von Indien blockiert – mit dem Hinweis, das besetzte pakistanische Azad Kashmir könne nicht frei wählen, während die seit 1953 im Hochtal abgehaltenen Parlamentswahlen Plebiszit genug seien. Pakistan hingegen ließe eine »Indien oder Pakistan«-Entscheidung eventuell zu, je nach politischer Wetterlage.

Zum zweiten Lösungsansatz: Der kanadische UN-Vermittler Owen Dixon hatte die Idee zu vier regionalen Plebisziten, die der ethnischen und politischen Vielfalt Rechnung trügen: im zu 60 Prozent buddhistischen Ladakh, im zu zwei Drittel hinduistischen Jammu, im nahezu vollständig islamischen Azad Kashmir und Gilgit/Baltit-Territorium und im zu 90 Prozent muslimischen Hochtal. Da Jammu und Ladakh für Indien, jedoch der seit 1948 okkupierte Westen für Pakistan votiert hätten, hätte das Vierer-Plebiszit das Problem vorsortiert und auf das Hochtal begrenzt. Allerdings mit der gleichen Blockade wie bei Option 1: Indien hätte weder ein unabhängiges noch ein pakistanisches Hochtal akzeptiert und Pakistan kein indisches. Somit bleibt nur die dritte Option des »aufgeklärten Eigeninteresses«: die Anerkennung der seit 1948 bestehenden »Line of Control«. Doch vor allem Indien würde niemals abschließend den Verlust von mehr als 40 Prozent des ehemaligen Fürstentums akzeptieren.

In den Jahrzehnten seit 1971 (Phase des »Bilateralismus«) und 1998 (Pakistans Nuklearbewaffnung) hat sich die Konfrontation verhärtet. Für den pakistanischen Militärstaat blieb die Forderung nach der Befreiung der Kaschmir-Muslime unverzichtbar. Die indische Annexion des Hochtals demonstriert fortdauernd die existenzielle Bedrohung Pakistans und legitimiert damit die Vorherrschaft des Militärs. Für die seit 1999 auch hindunationalistisch ausgeprägten Großmachtambitionen Indiens gilt wiederum das Gegenteil: Begrenzte Konzessionen an kaschmirische Autonomiebestrebungen wären ein Zeichen der Schwäche. Das gilt nach außen gegenüber Pakistan und China ebenso wie nach innen gegenüber den Oppositionsparteien und Hindu-Wähler*innen, vor allem im Gebietsteil Jammu. Dadurch werde die Einheit Indiens bedroht.

Hinzu kommt, dass der Weg der kleinen Konzessionen diskreditiert ist: 1975 war unter großem Pomp ein »Kashmir Accord« zwischen Indira Gandhi und Sheikh Abdullah ausgehandelt worden. Dieser Accord ermöglichte es Sheikh Abdullah, wieder in das Amt des Chief Ministers zurückzukehren und in Jammu und Kaschmir eine Autokratie zu errichten. Er fabulierte über Zusammenschlüsse wie Azad Kaschmir mit Kaschmir. Alle Minister schworen ihm einen persönlichen Treueeid. Er brachte den Kongress, die Hindumehrheit in Jammu und die Buddhisten in Ladakh gegen sich auf. Der Tod des »Löwen« 1982 war für den Kongress eine Erlösung. Seitdem hält Neu-Delhi nichts von auch nur begrenzten Autonomieexperimenten. Der Konflikt radikalisierte sich zur Tragödie.

Die Tragödie

Zum Zeitpunkt des Todes von Sheikh Abdullah hatten junge Kaschmiris der National Conference den Rücken gekehrt. Sie galt ihnen als obsolet, korrupt und opportunistisch. Bereits 1977 hatte sich im Exil eine Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF) gegründet. Sie wurde in den 1980er Jahren zum Experimentierfeld einer nicht nur außerparlamentarischen, sondern bald auch militärisch-terroristischen Opposition. Vor allem die pakistanische Diktatur von Zia-ul-Haq, dessen übermächtiger Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) sowie die politische Stütze Zias, die islamfundamentalistische Jamaat-e-Islami Partei, griffen in den Widerstand ein. Die entscheidende Zäsur war das Ende des antisowjetischen Dschihad 1987 in Afghanistan, also die Demobilisierung der »fundamentalistischen Internationale«, etwa der saudi-arabischen, libyschen oder tschetschenischen Mudschaheddin. Diese Krieger stellten für Pakistan ein innenpolitisches Problem dar.

Jamaat-e-Islami und ISI fanden eine Lösung: Die Krieger wurden nicht mehr nach Westen über die Khaibergrenze, sondern nunmehr nach Osten über die »Line of Control« nach Kaschmir geschickt. Von einem Dutzend seit längerem in Pakistan und Azad Kashmir operierenden Terrorgruppen weitergereicht, ausgebildet und mit Waffen versehen, wurden sie ins Hochtal geschickt. Entsprechend radikalisierte sich nun der Widerstand gegen die indische Besatzungsmacht, die Regionalparteien und die innenpolitischen »Verräter«. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob ein eigener, spezifisch kaschmirischer militanter Widerstand politisch rationaler und weniger tödlich gewesen wäre. Der pakistanische Faktor veränderte alles. Den pakistanischen oder internationalen Kombattanten ging es um das Große und Ganze. Einer der Anführer, Azam Inquilabi, erklärte: „Wir haben gesehen, wie das kleine Land Afghanistan gegen eine Supermacht kämpfte, sie zum Rückzug zwang, ihren Niedergang und ihre Auflösung auslöste. Wir sahen, wie am Ende fünf neue islamische Staaten entstanden. Weshalb sollten wir das Gleiche nicht in Kaschmir mit Indien versuchen?“ (Schofield 2002, S. 126)

Diese eigentlich marginalen islamistischen Akteure wollten eine unüberbrückbare Kluft zwischen Hindus und Muslim*innen schaffen. Dies zeigte sich auch bei anderen vergangenen Terrorangriffen auf das indische Parlament, auf das Taj Mahal Hotel in Mumbai und weitere spektakuläre Ziele. Der Zweck der Terrorstrategie ist es, die Panik der Hindus zu schüren, eine kollektive Vergeltung seitens der indischen Sicherheitskräfte und am Ende den Glaubens- und Bürgerkrieg herbeizuführen. Die Dschihadisten kannten und befürworteten den Preis an Menschenleben, den die indische Repression fordert. Denn vor der Haustür Pakistans, im (Ost-) Punjab, hatte die Regierung Indira Gandhi in den 1980er Jahren die Sezessionsbewegung der Sikhs niedergeschlagen, mit mindestens 60.000 toten Zivilist*innen. ISI und Jamaat, bald flankiert von zwei weiteren fundamentalistischen Parteien, sowie die von ihnen geförderten Terrorgruppen trugen im Hochtal ebenfalls ihre Rivalitäten aus. Sie bedrohten und töteten jene Kaschmiris, Journalist*innen, Politiker*innen und Intellektuellen, die ihre Methoden – Geiselnahme, Autobomben, Selbstmord­attentate – oder ihre pro-pakistanische Haltung und Finanzierung kritisierten.

Dieser neue, seit 1987 einsetzende und bis heute andauernde »Dreißigjährige Krieg« kann hier nur grob skizziert werden. Die erste genuin kaschmirische Aufstandsorganisation, die JKLF, war bald fraktioniert, von pakistanischen Gruppen dominiert und diskreditiert. Die Vermehrung der Terrorgruppen und ihre brutale Konkurrenz steigerten das Chaos und die Repression. 1993 entstand eine All Parties Hurriyat Conference, eine Dachorganisation von 26 Gruppierungen unterschiedlichster Orientierung. Terrorgruppen existierten Seite an Seite mit kaschmirischen Kultur-, Partei- oder Propagandaorganisationen. Zweimal gespalten und wiedervereinigt, galt diese von Pakistan und ISI geförderte Dachorganisation als reine »Adressenkartei«. Für Indien ist die »Conference« kein Ansprechpartner. Indien hat aber auch keinen anderen gefunden – oder gesucht.

Vielmehr verfolgt Neu-Delhi seit fast 30 Jahren eine Komplementärstrategie formaler »demokratischer« Repräsentation, ergänzt durch Repression. Die regionale Politik stützt sich auf ein Vierparteiensystem: Die National Conference wird dynastisch vom Enkel Abdullahs, Omar, geleitet. Daneben stehen die regionale Kongresspartei; eine starke hindu-nationale, auf die Jammu-Hindus gestützte BJP [Indische Volkspartei] und eine Abspaltung der indischen Kongresspartei, die dynastisch geleitete PDP [People’s Democratic Party]. Seit 1947 haben elf Regionalwahlen stattgefunden. Seit 2014 regiert eine PDP/BJP-Koalition. Diese formale Kontinuität (elf Regierungen in 65 Jahren) und Stabilität (fünf Familien stellen 16 der 19 Chief Minister) verdeckt die inzwischen unüberwindbare Polarisierung zwischen Hindus und Muslim*innen. Vor allem verschwimmt dabei die Entfremdung zwischen den Muslim*innen, insbesondere der Jugend, und dem indischen Staat.

Auf Ladenschließungen, Straßenblockaden, gewalttätige Proteste sowie insbesondere auf Terroranschläge antwortet Neu-Delhi stets mit Repression. Dabei kann die Großmacht auf die Ressourcen des weltweit drittgrößten Armee- und Sicherheitsapparates zurückgreifen. Zwischen 200.000 und 300.000 Soldaten und Sicherheitskräfte sind im Hochtal stationiert. Über genaue Zahlen und die Kosten, vor allem an Menschenleben, herrscht Ungewissheit. Die Opfer­angaben schwanken zwischen 30.000 und 60.000 Toten. Sicher ist, dass Indien auch künftig diesen Preis in Kauf nehmen wird.

Die Zahl, die Identitäten und die Ziele der Aufstandsbewegungen sind unüberschaubar. Die Spaltungen und Fusionen sowie vielfältige interne Machtkämpfe haben zu einem Schattenkrieg im Schattenkrieg geführt. Einzelne Fraktionen arbeiten für den indischen Geheimdienst und Sicherheitsapparat. Die Grenzen zwischen ethnonationalistischem Irredentismus [Bestrebungen für einen Anschluss an das Mutterland; W&F], Islamismus, Kaschmir-Patriotismus, Mafiatum und bezahltem Verrat sind fließend.

Status quo zu beider Vorteil

Die große Politik, vorrangig der indischen BJP-Regierungen, hat sich von dem unlösbaren Problem abgewendet und verhandelt, wenn überhaupt, über Verbesserungen der Verkehrs-, Wirtschaft- und Handelsbeziehungen zwischen den beiden Staaten. Aber auch Initiativen im »erleichterten Grenzverkehr« werden durch Terroranschläge sabotiert. Sie demonstrieren der indischen Seite stets auf das Neue, dass das pakistanische Militär, ISI, Jamaat-e-Islami und die Terrorgruppen jenseits politischer Kon­trolle stehen. So zettelte das pakistanische Militär unter dem späteren Militärdiktator Pervez Musharraf 1999 einen vierten Krieg um Kaschmir, den Kargil-Krieg an, während Regierungschef Nawaz Sharif in erfolgversprechenden Verhandlungen mit der BJP-Regierung stand.

Seitdem ist das Interesse Indiens selbst an einer minimalen Verhandlungsstrategie geschwunden. Der Status quo, die fortdauernde Tragödie bildet damit nach sieben Jahrzehnten die goldene Mitte, in der die innenpolitischen und geostrategischen Interessen der beiden Kontrahenten konvergieren. Er verschafft der indischen Großmacht innenpolitische Ruhe (keine Autonomiepräzedenz) und schützt ihre geostrategischen Ambitionen. Dem pakistanischen Militär dient der Konflikt als Nachweis für die Unverzichtbarkeit seiner Schutzherrschaft. Zudem kann das Militär nur im Kaschmirkonflikt mit minimalem Einsatz und Risiko den übermächtigen Gegner nach Belieben düpieren.

Literatur

Lamb, A. (1991): Kashmir – A Disputed Legacy, 1846-1990. Hertingfordbury: Roxford Books.

Schofield, V. (2002): Kashmir in Conflict – India, Pakistan and the Unending War. London: I.B. Tauris

Jakob Rösel ist Autor des Buches »Pakistan – Kunststaat, Militärstaat und Krisenstaat«. (Berlin: LIT). Der Artikel wurde für iz3s, Juli/August 2017 geschrieben; eine Langfassung findet sich auf iz3w.org, Ausgabe 361.
W&F dankt dem Autor und dem Informationszentrum Dritte Welt für die Nachdruckrechte.

Pakistan im Visier

Pakistan im Visier

von Graham Usher

Unter dem Kürzel »Afpak« ist die Regionalisierung des Afghanistan-Krieges in der Strategiedebatte der USA bekannt geworden; tatsächlich hat der Krieg zahlreiche regionale Dimensionen und verschiedene Akteure versuchen, die Entwicklung in Afghanistan zu beeinflussen. Dabei ist – wie am Beispiel Pakistans gezeigt wird – das Verhältnis zu den Taliban und aktuellen Entwicklungen, wie etwa dem möglichen Rückzug der US- und NATO-Truppen, von einer Vielzahl von Faktoren abhängig.

Pakistan steht im Mittelpunkt des Plans von Präsident Barack Obama, den US-Krieg in Afghanistan zu beruhigen. Wenn es – wie er beteuert – das „allumfassende Ziel“ ist, „Al Qaeda in Afghanistan zu stören, zu demontieren und zu besiegen“, dann wird der Krieg vor allem in Pakistan geführt werden. Denn in Afghanistan ist Al Qaeda mit seinen weniger als einhundert Kämpfern schon vor längerem besiegt worden.

Und wenn es das Ziel des Militärs ist, die Taliban zu schwächen, dann wird der Kampf vor allem im Süden Afghanistans und an seinen südlichen Grenzen zu Pakistan, dem paschtunischen Kernland des Aufstandes, geführt werden. Wenn die Taliban-Guerilla bloß die Grenze nach Pakistan überschreitet, ist Islamabad als Haltelinie gefordert, die eine Neuformierung der Taliban verhindert und diese stattdessen festsetzt und zerschlägt. Geht es nach den Visionen, die US-General David Petraeus, Kommandierender des US-Zentralkommandos CENTCOM, gegenüber dem US-Kongress formuliert hat, dann sollen die pakistanischen Armee und Sicherheitsdienste als „Fanghandschuh oder als Amboss“ für den US-amerikanischen Werfer bzw. Hammer dienen.

Pakistan allerdings ist geneigt, weder die eine noch die andere Rolle zu übernehmen. Das militärische Establishment des Landes steht Obamas Truppenverstärkung (»surge«) in Afghanistan ablehnend gegenüber, weil es fürchtet, dass die Talibankämpfer dadurch tatsächlich über die Grenze getrieben werden, wo sie sich einem Talibanaufstand auf pakistanischem Gebiet anschließen würden, in den bereits jetzt 200.000 pakistanische Soldaten entlang der Grenze zu Afghanistan verstrickt sind. Pakistans belagerte Zivilregierung will auch keinen Beginn des Rückzugs der US-Truppen im Juli 2011, wie Obama es angekündigt hat. Wie langsam auch immer die Reduzierung stattfinden würde – die Regierung weiß, dass mit dem Abzug der USA aus Afghanistan auch der besondere Status Pakistans als Frontstaat verschwände – und damit auch die damit verbundene Freigebigkeit. Und die Bevölkerung Pakistans lehnt sowohl die Truppenaufstockung als auch den Rückzug ab. Während die Klugen unter ihnen anerkennen, dass sich Pakistan einer im eigenen Land entstandenen islamistischen Rebellion in den Stammesgebieten und in der nordwestlichen Grenzprovinz gegenübersieht, wissen die meisten, dass die historische Ursache ihres Konflikts in der elendigen 30-jährigen Verwicklung des US-Militärs wie der pakistanischen Streitkräfte in die Verhältnisse in Afghanistan zu finden ist.

Bevölkerung, Regierung und Militär teilen die Interpretation, dass Obamas kürzliche Attacke auf die Taliban die Anerkennung der US-Niederlage ist. Für einige ist es zudem die Rehabilitierung der pakistanischen Militärstrategie gegenüber Afghanistan, nachdem General Pervez Musharraf dazu gezwungen worden war, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im »Kampf gegen den Terror« die Seiten zu wechseln.

Die Strategie bestand in selektiver Aufstandsbekämpfung. Auf Drängen der USA haben Agenten der Armee und der Geheimdienste Jagd auf Al Qaeda gemacht und der CIA bzw. den Visieren von »Predator«-Drohnen eine große Zahl von Flüchtlingen und Verdächtigen – aber auch etliche einheimische Gegner, die nichts mit Al Qaeda zu tun haben – ausgeliefert. Der bekannteste Gefangene ist Khalid Sheikh Mohammed, der angebliche Vordenker der Anschläge vom 11. September, den die Obama-Administration vor ein Zivilgericht in New York stellen möchte. Im Jahr 2009 hat die Armee – in einer verspäteten Offenbarung von Eigeninteresse – den Kampf mit den pakistanischen Taliban und anderen mit diesen kooperierenden sunnitischen Jihad-Gruppen in deren neuen »Emiraten« in Swat, Bajaur und Südwasiristan gesucht, also in jenen Gebieten, die Obama als das Epizentrum des gewaltsamen, von Al Qaeda praktizierten Extremismus bezeichnet hat. Als Vergeltung und in Erinnerung an Al Qaeda im Irak richten diese Gruppen in pakistanischen Städten wie Peschawar Massaker an.

Allerdings hat die Armee niemals die afghanischen Taliban und deren Anführer Mullah Omar verfolgt. Auch hat sie nie mit den afghanischen Taliban verbündeten Kommandeuren wie Jalaluddin und Sirajuddin Haqqani oder Gulbuddin Hekmatjar zugesetzt, deren Bataillone sich in Balutschistan und Stammesgebieten wie Nordwasiristan aufhalten. Diese Milizen bekämpfen die US- und NATO-Streitkräfte in Afghanistan, haben aber kein Interesse daran bzw. lehnen es explizit ab, den Aufstand auf Pakistan auszuweiten. Die Armee hat stattdessen – wie der pakistanische Militärexperte Ayesha Siddiqa formuliert – vielfältige Beziehungen zu diesen »pro-pakistanischen« Gruppen als „eine Art Versicherung“ gepflegt. „Das Militär hat vor 9/11 in den Taliban einen Aktivposten gesehen. Warum sollte es diesen zerstören, besonders wenn die ausländischen Truppen abziehen und in Afghanistan ein Machtvakuum entsteht?“

In den kommenden 18 Monaten wird Washington enormen Druck auf Islamabad ausüben, um eine Änderung dieses Kalkül zu erreichen. Nur wenige pakistanische Beobachter gehen davon aus, dass die Armee und ihre Geheimdienste dies können oder wollen. Diese gutbezahlten Klienten der USA wollen ihre Förderer nicht unbedingt bluten sehen in Afghanistan, aber sie sind widerspenstig gegenüber dessen Mahnungen, weil kein Staat zu Handlungen gezwungen werden kann, die er als selbstzerstörerisch ansieht. Kein pakistanischer General glaubt, dass Obamas Truppenaufstockung die Taliban innerhalb von 18 Monaten zum Rückzug zwingen kann, wo dies doch US- und NATO-Truppen seit acht Jahren vergeblich versuchten haben. Und sobald im Endergebnis die Auseinandersetzung von Washington für beendet erklärt wird, benötigt Pakistan die früheren Mitspieler, die afghanischen Taliban, die Haqqanis und Hekmatjar, um den Kampf in dem nach-amerikanischen afghanischen Kriegen aufzunehmen.

Eine Front zuviel

Während Obama sehr klar formulierte, was in Afghanistan zu tun sei, blieb er anlässlich der Verkündung der Truppenaufstockung vor Kadetten in West Point am 1. Dezember 2009 bezüglich Pakistan recht bedeckt. Er konterte den Vorwurf, die USA seien – wie bereits nach dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan 1989 – wieder dabei, die Region Hals über Kopf zu verlassen, mit einem Bekenntnis zur Fortsetzung der Engagements zugunsten Islamabads. „Amerika wird ein starker Unterstützer der pakistanischen Sicherheit und Prosperität auch noch lange nach der Einstellung der Kampfhandlungen bleiben“, betonte er. Aber Washington werde „keine sicheren Rückzugsorte für Terroristen, deren Aufenthalt bekannt und deren Ziele eindeutig seien, tolerieren“, fügte er mit Blick auf die Praxis Pakistans, einige radikale Islamisten zu bekämpfen, andere jedoch ungestört zu lassen, hinzu.

Vor dem Senatskomitee für die Streitkräfte äußerte sich Außenministerin Hillary Clinton am 2. Dezember 2009 über die neue Politik hingegen deutlicher. „Es ist schwierig, die verschiedenen Gruppen, die in Pakistan operieren und die alle – so denken wir – in der einen oder anderen Weise mit Al Qaeda in Verbindung stehen, auseinander zu halten, einige auszulassen und andere zu verfolgen“, sagte sie. „Es wird unser fortgesetztes Bemühen sein (…), zu einer Situation zu kommen, in der die Pakistani mehr gegen all die aufständischen terroristischen Gruppen tun, die sie bedrohen, die uns und die afghanische Bevölkerung in Afghanistan bedrohen sowie andere Nachbarn in der Region.“

Um zu einer solchen Situation zu kommen, schlagen die USA einen Deal vor. Die Obama-Administration wird Islamabad anbieten, dass die US-Hilfs- und Handelszusagen „unbegrenztes Potential“ haben und dass ihre Diplomaten dabei helfen werden, die Spannungen mit Indien um die umstrittene Region Kaschmir und bezüglich der Anschläge in Mumbai 2008, bei denen New Delhi von einer Beteiligung pakistanischer Stellen ausgeht, zu reduzieren. Im Gegenzug wird von der pakistanischen Armee erwartet, dass sie gegen die Rückzugsorte der afghanischen Taliban und mit ihr verbündeter Aufständischer auf dem eigenen Staatsgebiet vorgeht – oder US-Spezialeinheiten die Möglichkeit dazu gibt. Ein pakistanischer Offizieller interpretierte die Botschaft der Obama-Administration so: „Wenn pakistanische Hilfe nicht stattfindet, müssen die USA es selbst in die Hand nehmen.“

Die deutliche Sprache ist kein Bluff. Obama hat bereits einen neuen CIA-Plan bestätigt, demzufolge das Einsatzgebiet der »Predator«-Drohnen innerhalb Pakistans von den Stammesgebieten auf die »befriedeten« Regionen wie Balutschistan ausgedehnt wird, wo Mullah Omar angeblich zeitweise Zuflucht sucht. Der Plan sieht bei der Verfolgung von Taliban- und/oder Al Qaeda-Kämpfern zudem Kommando-Aktionen auf pakistanischem Gebiet vor. Während seiner bisherigen Amtszeit hat Obama mehr Angriffe mit Drohnen autorisiert und dadurch sind mehr pakistanische, afghanische oder andere Menschen innerhalb Pakistans ums Leben gekommen als in den acht Jahren von Präsident George W. Bush. Einige dieser Operationen – gewöhnlich Mordanschläge auf vermutete Al Qaeda-Flüchtige oder ausländische Kämpfer – wurden in Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst durchgeführt.

Andere hingegen nicht. Zahlreiche Raketenangriffe haben zudem ZivilistInnen getötet, was zu einer weiteren Intensivierung der ohnehin in vielen Teilen des Landes bereits anzutreffenden anti-amerikanischen Stimmung geführt hat. In der Öffentlichkeit verurteilt die Armee die Drohnen-Angriffe als kontraproduktiv bezüglich des Versuchs der Spaltung der Militanten von den Stämmen im Grenzgebiet. Im privaten Gespräch ätzen die Generäle, dass jede »Hellfire«-Rakete, die in Süd- und Nord-Wasiristan die Erde umgräbt, die Aussagen der radikalen Islamisten (und anderer Oppositionskräfte) bestätigen, dass Pakistan nur ein Handlanger im »Krieg der USA« ist.

Trotz der tatsächlichen und stillschweigenden Drohungen aus Washington ist die Armee nicht besonders willens, mehr als das zu tun, was bisher bereits getan wird. Ein Grund dafür liegt in der Geschichte. Unter Druck der USA drang das pakistanische Militär zunächst 2004 in Süd-Wasiristan ein, um Flüchtige der Al Qaeda zu jagen. Damit begann eine vierjährige Serie von Offensiven, die von »Friedensabkommen« mit Stämmen unterbrochen wurde, die mit den pakistanischen Taliban kooperierten. Diese »Stammeskampagnen« waren ein Desaster. Sie führten lediglich dazu, dass die pakistanischen Taliban von einem Ableger des großen afghanischen Bruders zu einer lebendigen, mit Al Qaeda verbündeten Stammesbewegung wurden, die im Jahr 2008 etwa 30.000 Männer unter Waffen hatte und den Großteil der Stammesgebiete und weite Gebiete der ruhigen nordwestlichen Grenzprovinz kontrollierte.

Der Armee gelang es 2009, einen Teil dieses Gebietes durch Counterinsurgency-Kampagnen zurückzugewinnen. Einerseits verfügt sie über Waffenüberlegenheit, aber sie hat zugleich Mühe darauf verwandt, zwischen jenen Stammesgebieten zu unterscheiden, die pakistanische Taliban beherbergen, die dem Staat feindlich gegenüberstehen, und jenen, die afghanischen Taliban Zuflucht ermöglichen, die gegen US- und NATO-Truppen kämpfen, gegenüber Islamabad jedoch untätig sind. Geht es nach Obama, dann soll Pakistan auf diese Unterscheidung verzichten.

Es ist eine Front zu viel, sagt der Armeesprecher, Generalmajor Athar Abbas. „Wenn wir es mit allen Stammesmilizen aufnehmen, einschließlich den Haqqanis und anderen pro-afghanischen Talibangruppen, und die USA das Land morgen verlassen, werden wir uns allein einem Aufstand der Stämme gegenüber sehen. Wir möchten nicht, dass ihr kurzfristiger Vorteil unsere langfristige Pein wird.“

Einkreisung

Es gibt weitere Gründe für die Zurückhaltung der Armee, sich an Obamas Truppenaufstockung zu beteiligen. Historisch hat die Armee sich mit den afghanischen Taliban verbündet, um pakistanische Einflussnahme in Afghanistan zu ermöglichen, insbesondere im paschtunischen Gürtel, der durch beide Länder verläuft. Aus diesem Eigeninteresse hat Islamabad die Taliban zwischen 1996 und 2001 unterstützt, als die Miliz eine de facto Regierung errichtete, die den Großteil Afghanistans kontrollierte. Daher rühren die noch immer existierenden Kontakte mit den afghanischen Taliban, den Haqqanis und Hekamtjar. Es ist illusorisch anzunehmen, diese Kontakte würden von der Armee angesichts eines absehbaren Rückzugs der USA aufgegeben. Die Verbindungen werden enger, nicht nur um der Truppenaufstockung zu widerstehen, sondern auch um den Einfluss der Armee nach dem US-Rückzug zu stärken.

Soweit es das pakistanische Militär betrifft, so sieht es sich in Afghanistan zwei Gegnern gegenüber – und das sind weder die Taliban noch Al Qaeda. Ein Feind ist das Regime von Präsident Hamid Karzai, insbesondere seine entstehenden militärischen und Geheimdienstabteilungen. Diese Kräfte werden zumeist von tadschikischen Warlords kommandiert, die früher zur »Nordallianz« gehörten, ein Konglomerat von anti-Taliban-Milizen, das 2001 gemeinsam mit US-Spezialeinheiten die Taliban-Regierung gestürzt hat. Die Pakistani betrachten die Tadschiken als feindlich und aufständisch gegenüber den sich beidseits der Grenze erstreckenden paschtunischen Gebieten, von denen die Karzai-Regierung glaubt, sie vielen zur Gänze unter afghanische Souveränität. Zudem macht die Armee die von Tadschiken dominierten Geheimdienste für einen Teil der Unruhen in Pakistan verantwortlich.

Der zweite Gegner ist Indien, mit dem Pakistan in einem lang-dauernden Konflikt verwickelt ist. Der Einfluss Indiens in Afghanistan ist – in den Worten eines in Kabul ansässigen Botschafters – „strategisch und weitreichend“, so dass Pakistan gebührend alarmiert ist. Die Regierung in Neu Delhi war der regionale Rückhalt der »Nordallianz« und ist nun Karzais stärkster Verbündeter in Südasien. Indien ist einer der größten ausländischen Kreditgeber Afghanistans und hat zur Ausbildung der Streitkräfte beigetragen. Zusammen mit dem Iran hat Indien in Westafghanistan ein Straßennetz gebaut, das Kabul Zugang zum Persischen Golf ermöglicht, ohne pakistanische Häfen nutzen zu müssen – Kapazitäten also, die Islamabad als lebensnotwendig für seine ökonomische Zukunft betrachtet.

Angesichts der fortgesetzten Stationierung des Großteils der Streitkräfte an der Ostgrenze zu Indien und eines nicht beigelegten Konflikts in Kaschmir ist es der Albtraum Islamabads, dass indische und pro-indische afghanische Streitkräfte die Lücke füllen, die auf der westlichen Flanke durch den Abzug der US- und NATO-Truppen entstehen wird. „Wir sind besorgt über das übertriebene Engagement Indiens in Afghanistan“, sagt Abbas. „Wir betrachten es als Einkreisung. Was wird morgen geschehen, wenn amerikanische Ausbilder durch indische ersetzt werden? Die Führung in Afghanistan ist vollständig dominiert durch die Indien-freundliche »Nordallianz«. Deren Angliederung an Indien betrachten wir mit großer Sorge. Wir sehen darin ein zukünftiges Zwei-Fronten-Szenario.“

Historisch gesehen haben bewaffnete Einheiten ethnischer Gruppen – teilweise auf Geheiß von Regionalmächten – Machtvakua in Afghanistan gefüllt. Die afghanischen Taliban sind die stärkste Kampftruppe unter den Paschtunen, der größten ethnischen Gruppe in Afghanistan. Sie sind in der Vergangenheit von Pakistan gegen tadschikische, hasarische und usbekische Kämpfer, die wiederum von Indien, dem Iran und Russland unterstützt wurden, gefördert worden. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Machtbalance in Zukunft umkippt noch dass die Loyalitäten sich verschieben werden, sagt Ahmed Rashid, ein altgedienter Analytiker der Situation Afghanistans. „Liegt es im Interesse Pakistans, die afghanischen Taliban gegen sich aufzubringen, wenn diese in den kommenden zwei bis drei Jahren wieder an die Macht kommen?“ fragt er.

Wiederholt sich Geschichte?

Gibt es irgendeine Hoffnung darauf, dass sich eine düstere Wiederholung der afghanischen Geschichte vermeiden lässt? Statt die Taliban in Afghanistan zu schwächen, könnten USA und NATO anfangen, mit ihnen zu verhandeln. Die Grundlage der Gespräche ist klar: Rückzug gegen die Zusicherung der Taliban, die Macht mit anderen afghanischen Gruppen zu teilen und transnationale Akteure wie Al Qaeda daran zu hindern, von afghanischem Territorium aus andere anzugreifen, sei es in der Nähe oder in der Ferne.

Pakistanische Regierungen haben diese Linie seit den späten 1990er Jahren angeboten; die Logik von Verhandlungen beinhaltet, dass das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Taliban und Al Qaeda weniger ideologischer Art ist, sondern von materiellen oder taktischen Interessen bestimmt ist, und dass die Taliban im Kern eine paschtunische Bewegung und keine islamistische sind. Als Gegenleistung für eine Beteiligung an der Macht würden sich die Anführer der Taliban gegen ihre jihadistischen Verbündeten wenden, argumentiert Asif Ahmed Ali, ein ehemaliger pakistanischer Außenminister: „Wir müssen mit den Taliban sprechen. Es gibt keinen Frieden in Pakistan und in Afghanistan ohne solche Gespräche. Die Taliban sind die einzige Kraft, die Al Qaeda vertreiben kann.“

Ein nationaler Pakt, der den Taliban und anderen afghanischen Gruppen gerecht würde, könnte in ein umfassenderes regionales Abkommen eingebettet werden, bei dem alle Nachbarn Afghanistans ihre Verbündeten bzw. die ihnen nahestehenden Gruppen dazu drängen müssten, einer fairen Vertretung in einem »neutralen« afghanischen Gemeinwesen zuzustimmen. Iran, Saudi-Arabien, Russland, China und die zentralasiatischen Republiken würden alle Einfluss auf ein solches Abkommen haben, aber die entscheidenden Akteure sind Pakistan und Indien.

Zur Beendigung der Stellvertreterkriege in Afghanistan wäre es notwendig, dass Islamabad seine Unterstützung jihadistischer Gruppen beendet, die Indien und Neu Delhi angreifen, und zu ernsthaften Verhandlungen zur Beendigung des Kaschmir-Konflikts findet. Bewegung zugunsten eines indisch-pakistanischen Friedens könnte der Schlüssel für eine Reduzierung der autochthonen Kämpfe in Afghanistan sein. Frieden zwischen den beiden bedeutendsten südasiatischen Mächten ist tatsächlich, wie Obama JournalistInnen im Rahmen eines Mittagessens im Weißen Haus sagte, „das Wichtigste für eine lang andauernde Stabilität in der Region“.

Leider hat der Präsident diese Einsicht im Rahmen seiner Rede in West Point nicht weiter ausgeführt, die die Bedeutung einer regionalen Perspektive für das Afghanistanproblem kaum erwähnte. Auch hat er bisher keine ernsthaften Aufrufe an die Taliban zu Verhandlungen gerichtet, sondern den Olivenzweig nur jenen gereicht, die „der Gewalt abschwören und die Menschenrechte ihrer Mitbürger respektieren“ – Bedingungen, die die Mehrheit der Minister Karsais, die Gesamtheit seiner bewaffneten Verbände und die Mehrheit des US- und NATO-Militärs ausschließen.

Stattdessen scheint Obama in Afghanistan – ganz wie Bush im Irak – ganz auf eine Erhöhung der Truppenzahl und der Waffen zu vertrauen, um eine Phase im Kampf zu ermöglichen, die für die Installierung eines Regimes nötig ist, das in den kommenden regionalen Kriegen für die Interessen Washingtons kämpfen wird. Im schlechtesten Fall kann die Truppenaufstockung Afghanistan jene Art intergruppaler Metzelei hinterlassen, die sich bereits in den 1990er Jahren als Inkubator für Al Qaeda erwiesen hat. Der günstigste Fall könnte darin bestehen, dass durch die Truppenzuführung „die Taliban gezwungen werden, sich mit den USA auf einen Abzug zu verständigen“, meint der Pakistanexperte Shuja Nawaz. Aber Verhandlungen könnten ein solches Ergebnis rascher bringen als eine Fortsetzung des Krieges.

In jedem Fall erkennt das pakistanische Militär derzeit nichts, das es zu einer Revision der Strategie selektiver Aufstandsbekämpfung veranlassen könnte. Die Armee wird nicht der »Amboss« sein, gegen den der US-»Hammer« schlägt, um die afghanischen Taliban zu zerschlagen. Sie könnte zwar als »Fanghandschuh« fungieren, aber nicht in dem von Petraeus metaphorisch gemeinten Sinne. Im »Fanghandschuh« ruht der Ball, nachdem der gegnerische Schlagmann ausgeholt hat; aber viel öfter nimmt der Fänger den Ball heraus und wift ihn direkt zum Werfer zurück.

Graham Usher ist Mitherausgeber des »Middle East Report«.

Anhaltendes Nichtscheitern eines Krisenstaates

Anhaltendes Nichtscheitern eines Krisenstaates

Pakistan tanzt weiterhin auf dem Vulkan

von Peer Bruch

Allen Unkenrufen zum Trotz weigert sich das oft als »failing state« bezeichnete Pakistan beharrlich zu scheitern. Stattdessen beweist das südasiatische Land, dass es angesichts zahlreicher Bedrohungsfaktoren durchaus Krisen bewältigt, wenn bisweilen auch mit eher zweifelhaften Erfolgen. Der Kampf gegen die »Talibanisierung« spielt dabei eine zunehmend wichtiger Rolle, wird jedoch von einem Geflecht aus Partikularinteressen konterkariert.

Pakistan durchlebte in den über 60 Jahren seit seiner Unabhängigkeit viele Krisen und Spannungen, von denen etliche sich in den letzten Jahren zuspitzten. In der westlichen Wahrnehmung dominiert heutzutage der Nexus von Talibanisierung, Anti-Terrorkampf und der Drohkulisse eines implodierenden Staates mit vagabundierenden Atomwaffen. Beim genaueren Betrachten erschließen sich sowohl positive als auch negative Entwicklungen. Auf der einen Seite stehen ein politischer Neuanfang mit der Rückkehr einer demokratisch legitimierten Regierung, ein zeitweilig ansehnliches Wirtschaftswachstum und das Erstarken zivilgesellschaftlicher Strukturen. Diesen Erfolgen stehen ein drohender Staatsbankrott, Korruption, massive Sicherheits- und Versorgungsprobleme, mangelhafte Rechtspflege und eine Vielzahl an Binnenkonflikten entgegen.

In der pakistanischen Politik hat man es mit sehr stark ausgeprägten klientelpolitischen Strukturen zu tun. Parteien werden meist von einflussreichen Familien geführt. In den Städten entscheidet oft die Zugehörigkeit zu Bevölkerungsgruppen und Konfessionen über die Stimmabgabe. Im ländlichen Raum definieren die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Grundbesitzern und traditionelle Regeln, ein Gemisch aus »Volksislam« und Stammesgebräuchen, den Alltag.

Nepotismus ist an der Tagesordnung. Familienangehörige tauchen in verschiedensten Positionen auf und Töchter dienen der Heiratspolitik. Die einflussreichen Familien befinden sich im stetigen Wettbewerb miteinander und teilen das Land, die Macht und die Ressourcen unter sich auf. Dieses Modell beschränkt sich nicht auf die Oberschicht, denn die Mittelschicht adaptiert es fleißig.

Pakistans Armee ist ein Staat im Staate. Das Militär besitzt die größten und wichtigsten Fabriken, im Finanz- und im Dienstleistungssektor, aber auch im Immobilienmarkt und bei der Stadtentwicklung mischen die Offiziere kräftig mit. Größter Arbeitgeber Pakistans ist zweifelsohne der sogenannte Sicherheitsapparat. Damit nicht genug: Nahezu jede Universität und Fachhochschule wird von ehemaligen Offizieren geleitet und insbesondere in den Städten soll ein dichtes Informantennetz des militärischen Geheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI) existieren.

Neuanfang unter alten Vorzeichen

Mit der Abdankung des Präsidenten Pervez Musharraf im August 2008 endete eine fast neunjährige, durch gefälschte Plebiszite nachträglich legitimierte Militärdiktatur. Diese führte zu einer taktischen Allianz der beiden größten, einst verfeindeten Parteien des Landes, der Pakistan Peoples Party (PPP) mit Asif Ali Zardari, Witwer der 2007 ermordeten Benazir Bhutto, an der Spitze, und der Pakistan Muslim League (PML-N) des ehemaligen Premierministers Nawaz Sharif. Unterstützung erfuhren sie dabei durch die oppositionelle Juristenbewegung um den im November 2007 im Zuge der Verhängung des Notstands von Musharraf abgesetzten Obersten Richter des Landes Iftikhar Chaudhry. Andere zivilgesellschaftliche Akteure wie Menschenrechtsorganisationen und Journalistenverbände beteiligten sich am Protest gegen das Notstandsregime – sofern man aufgrund der vorherrschenden Klientel- und Interessensnetzwerken von einer pakistanischen »Zivilgesellschaft« sprechen möchte.

Schrittweise gingen auch wichtige internationale Verbündete und Geldgeber, allen voran die USA und Saudi-Arabien, auf Distanz zum Präsidenten und intensivierten ihre Vermittlungsbemühungen zwischen Regierung und Opposition. Einen weiteren wichtigen Anteil am Ende des Notstands und der Durchführung der Wahlen im Februar 2008 dürfte die schwindende Unterstützung Musharrafs seitens der Armee gespielt haben. Nach und nach hatten immer mehr pensionierte, aber noch einflussreiche Militärs Kritik geäußert und den massiven Ansehensverlust des Militärs beklagt.

Das politische Zweckbündnis zwischen PPP und PML-N fand erwartungsgemäß mit dem Rücktritt des General a.D. Musharraf sein Ende. Zardari wurde im September 2008 Präsident. Sharif dagegen blieb bis zur Wiedereinsetzung des Obersten Richters Chaudhry durch Premierminister Yousaf Gilani (PPP) im März 2009 jede offizielle politische Betätigung verwehrt. Zuvor hatte die PML-N landesweite eine massive Unterstützungskampagne für Chaudhry gestartet. Einer der Gründe für die ein Jahr währende Verzögerung der richterlichen Wiedereinsetzung seitens der PPP-Regierung dürfte die Befürchtung sein, dass dieser eine vom Musharraf-Regime erlassene Amnestie anfechten könnte, die wie maßgeschneidert für Zardari erscheint, der sich in früheren Positionen der Korruption sehr zugeneigt gezeigt hatte. Die konkurrierenden politischen Lager scheinen die Justiz vor allem als Instrument zur Schwächung der Gegenseite zu betrachten. Welchen Verlauf das Hochverrats-Verfahren gegen den im saudi-arabischen Exil lebenden Musharraf nimmt, erscheint unklar – sicher ist, dass Sharif mit ihm eine tiefe Feindschaft verbindet, schließlich hatte der General 1999 erfolgreich gegen ihn geputscht.

Während die zwei einflussreichsten politischen Lager um die Macht streiten, konnten die islamistischen Kräfte ihren Einfluss von der pakistanisch-afghanischen Grenze ins Landesinnere ausbreiten. Bis zum Mai diesen Jahres versuchte die Regierung in Islamabad Teile der Gotteskrieger mit Zugeständnissen ruhig zu halten, scheiterte damit jedoch kläglich. Erst als islamistische Milizen weniger als 100 Kilometer von der Hauptstadt entfernt ihre Macht festigten, beschlossen PPP und PML-N angesichts dieser Bedrohung ihre Streitigkeiten aufzuschieben. Das Parlament stimmte im Mai mit großer Mehrheit der Militäroffensive mit dem vieldeutigen Namen »Der rechtschaffene Weg« zu; lediglich die Abgeordneten der islamistischen Jamiat-e-Ulema Islami (JUI) widersetzten sich.

Gefährlich oder gefährdet?

Häufig divergieren Außen- und Innenwahrnehmung von Konflikten vehement; im Falle Pakistans ist dies nicht anders. So stößt der seit einem Jahr im Kreise von US-Strategen kursierende und von den Medien mittlerweile bereitwillig übernommene Neologismus »AfPak« – er soll verdeutlichen, dass Entwicklungen in Afghanistan und Pakistan in Verbindung stehen – in der Region auf starke Ablehnung. Von außen stehen die suboptimalen militärischen Erfolge im Antiterrorkampf in den Rückzugsräumen von al-Kaida und den mit ihnen verbündeten Taliban- und Stammesmilizen in den Grenzgebieten zu Afghanistan in der Kritik. In Pakistan selbst stellt dieser Konflikt ein umstrittenes Thema dar, schließlich wird dabei größtenteils gegen die eigenen Landsleute vorgegangen. Wiederholte US-Kommandoaktionen und Raketenangriffe diesseits der afghanisch-pakistanische Grenze, teils mit, teils ohne Wissen und Duldung der pakistanischen Sicherheitskräfte, werden von vielen Pakistanis als Affront gegen die staatliche Souveränität wahrgenommen. Außerdem sterben dabei oft Familienangehörige der Zielpersonen und andere Unbeteiligte.

Zwar ist Pakistan nach Bekunden der US-Administration der wichtigste Verbündete in der Region, gleichwohl bezeichnen viele westliche Analysten den Staat auch gerne als das gefährlichste Land der Welt. Mit letzterer Aussage macht man sich jedoch keine Freunde in Pakistan – dort empfindet man sich eher als das »gefährdetste« Land. Wobei die Ursachen vorrangig im Ausland verortet werden, sei es beim verfeindeten Bruderstaat Indien oder im »Westen«, allen voran den USA. In der Vergangenheit gab es immer wieder Wege, sich mit den Djihadisten zu arrangieren und diese für eigene Interessen zu instrumentalisieren. Lange Zeit setzten Strategen der pakistanischen Armee, des ISI und des politischen Establishments auf die Gotteskrieger, um beispielsweise den indischen Teil Kaschmirs zu destabilisieren oder in Afghanistan Einfluss zu gewinnen.

Ein Teil der heutigen Führungsriegen in den islamistischen Terrorgruppen der Region wurde in den vergangenen drei Jahrzehnten von Vertretern der Sicherheitsdienste geschult und ihre Organisationen finanziell unterstützt, wobei diese oft auch in mildtätigen Bereichen aktiv wurden und sowohl ein Netz aus Koranschulen als auch Hospitälern aufbauten. Während der Staat nun gegen die militanten Zweige dieser Netzwerke kämpft, leisten deren Hilfswerke dringend benötigte Arbeit. Die Falah-i-Insaniat-Foundation, Nachfolgerin der Wohltätigkeitsorganisation Jamaat-ud-Dawa, aus deren Umfeld Attentäter der Mumbai-Anschläge von 2008 stammen sollen, zeigte bei den Kämpfen ums Swat-Tal im Mai diesen Jahres, wie schon nach dem Erdbeben in Kaschmir 2005, ihr organisatorisches Talent und errichtete in kürzester Zeit drei große Flüchtlingslager.

Innerhalb der Armee scheint die Begeisterung für einen intensiveren Kampf gegen die in Guerilla-Taktik agierenden Djihadisten und Stammesmilizen ebenfalls begrenzt zu sein. Das Militär ist dafür bislang unzureichend geschult und ausgerüstet, der Blutzoll ist verhältnismäßig hoch. Die größeren Offensiven der letzten Monate haben nicht die erwünschte Wirkung gezeigt, bis zu 2,5 Mio. Flüchtlinge erzeugt und das Ansehen der Armee vor Ort aufgrund massiver, oft nicht zielgerichteter Bombardements geschädigt.

Fortdauernde Rivalität mit Indien

Bis heute wird Indien in Pakistan als eine Bedrohung wahrgenommen. Wiederholt unternahm Zardari im ersten Jahr seit seiner Amteinführung kleine Schritte in Richtung des großen Bruderstaates Indiens, mit dem sich sein Land in den 62 Jahren seit der Teilung im Zuge der Unabhängigkeit von Britisch-Indien dreimal auf dem Schlachtfeld gemessen und kein Mal dabei gewonnen hatte. Zardari und seinen Mitstreitern ist nicht entgangen, dass sich die USA und Indien seit 2001 immer mehr annähern, so dass Pakistan anscheinend ins Hintertreffen gerät.

Das Trauma der blutigen Teilung ist in den Köpfen präsent und wird weiterhin tradiert. Über 16 Mio. Menschen wurden seinerzeit zur Flucht gezwungen, bis zu 1 Mio. Opfer hatte der Ausbruch der Gewaltwelle beiderseits der neuen Grenzen gefordert. Viele Politiker beider Staaten stammen aus Familien der Vertriebenen, die Traumata warten noch immer auf eine offene Aufarbeitung. Neben dem geteilten Kashmir mit seiner muslimischen Bevölkerungsmehrheit wurden andere Regionen ebenfalls zerrissen, darunter das Fünfstromland (Punjab), die bevölkerungsreichste Provinz Pakistans. Die Ansätze zur Versöhnung zwischen beiden Staaten wurden regelmäßig von Konflikteskalationen seitens des pakistanischen Militärs sowie Extremisten auf beiden Seiten torpediert.

Gerade der Dauerkonflikt mit Indien prägte die Entwicklung Pakistans und führte zu jener Entwicklung, welche die Armee zum Staat im Staate werden ließ. Um im Wettrüsten mitzuhalten und die enormen finanziellen Folgen halsbrecherischer Prestigeprojekte wie der atomaren Aufrüstung und der waffenstarrenden Frontlinie in Kaschmirs Hochgebirgsregion abzusichern, wurden und werden andere Bereiche fatal vernachlässigt.

Trotzdem nähern sich beide Staaten vorsichtig an. Die von pakistanischem Gebiet aus koordinierten Terroranschläge im November 2008 führten zwar zu verbalem Schlagabtausch, aber nicht zu einer militärischen Eskalation. Hinter den Kulissen scheint einiges in Bewegung geraten zu sein; so nahm in diesem September der ISI-Chef Ahmad Shuja Pasha an einem vom indischen Hochkommissar gegebenen Festmahl anlässlich des Fastenbrechens im Ramadan teil.

Der Afghanistan-Faktor

Der anhaltende Konflikt in Afghanistan wirkt sich einerseits destabilisierend auf Pakistan aus, andererseits profitieren Teile des politischen Establishments und das Militär davon, schließlich werden sie als Verbündete gebraucht und hofiert. Gemäß der Fersenhalterstrategie (angelehnt an das Arthashastra des »indischen Machiavelli« Kautilya, 300 v.u.Z.) konkurrieren Indien und Pakistan um Einfluss in Afghanistan. Die Regierung von Präsident Karzai verfügt über gute Beziehungen zu Neu-Delhi und kritisiert deutlich die fortdauernde Existenz von Rückzugsgebieten der Taliban auf pakistanischem Staatsgebiet. Der verheerende Anschlag auf die indische Botschaft im Juli 2008 zeigt nach Ansicht Kabuls eine Verstrickung pakistanischer Sicherheitsdienste.

Außerdem verdienen, teils seit Jahrzehnten, viele Menschen in Pakistan an der Situation in Afghanistan: Sowohl der Großteil des Nachschubs für die Nato/ISAF-Truppen als auch ihrer Widersacher läuft über Pakistan. Hinzu kommt der alltägliche Schmuggel. Das Schutzgeld-Geschäft scheint so erträglich, dass es des Öfteren zu Kämpfen zwischen konkurrierenden Milizen kommt.

Die über Jahrzehnte gewachsenen grenzübergreifenden Vernetzungen zwischen den Djihadistengruppen bereiten auch außerhalb der Stammesgebiete (FATA) Probleme, wie es die Entwicklungen in der Nordwest-Grenzprovinz (NWFP) und in der Millionenstadt Peschawar zeigen, wo Nachschubdepots der Nato wiederholt angegriffen wurden und die einen wichtigen Knotenpunkt für terroristische Netzwerke darstellt. Angesichts dieser Bedrohung versuchen Afghanistan und Pakistan enger zu kooperieren, beispielsweise im Bereich der militärischen Aufklärung im gemeinsamen Grenzgebiet. Die US-Regierung hat zwar die Forderung der pakistanischen Verbündeten auf Überlassung von raketenbestückten Aufklärungsdrohnen abgelehnt, indessen eine engere Zusammenarbeit bei deren Nutzung angeboten. US-Amerikaner, Pakistanis und Afghanen arbeiten gemeinsam in einem lokalen Koordinationszentrum, in dem Aufklärungserkenntnisse ausgewertet werden. Allerdings ereignen sich trotz aller Kooperationsabsichten weiterhin kleinere militärische Zwischenfälle zwischen den Truppen der Beteiligten entlang der bis heute umstrittenen Grenzlinie.

Verhandlungen und Anti-Terrorkampf

In den letzten Jahren entwickelte sich die Nordwest-Grenzprovinz zu einem bedeutenden Nebenschauplatz im Kampf gegen islamistische Milizen. Im Februar 2009 unterzeichneten Vertreter der eher säkular-paschtunischen Awami National Party (ANP) geführten Provinzregierung und Maulana Sufi Mohammad, geistiger Führer der Scharia-Bewegung Tehrik-i-Nifaz-e-Shariat-e-Mohammadi (TNSM), ein Friedensabkommen. Im Gegenzug wurde in den Distrikten Swat und Malakand sowie in angrenzenden Gebieten die Einführung des islamischen Rechts bei Zivil- und Strafrechtsfällen erlaubt. So hoffte man die Islamisten in einen »Friedensprozess« einzubinden. De facto war dies eine Anerkennung der bestehenden Situation, da die TNSM in den von ihnen dominierten Gebieten schon längst die Scharia gemäß ihrer eigenen Interpretation praktizierte. Im Gegenzug verpflichteten sich die Milizen, ihre Waffen abzugeben und die Exekutivgewalt wieder in die Hände der Polizei zu geben.

Die Befürworter des Abkommens betonten, dass durch die Einbindung des zentralen Scharia-Bundesgerichtshofs, der seit 1979 darüber wacht, dass die nationalen Gesetze der Islamischen Republik Pakistan nicht dem Koran widersprechen, eine Vereinheitlichung des Rechts gewährleistet wäre und etwaigen Exzessen vorgebeugt würde. Dadurch sei ein Konstrukt geschaffen worden, dass das Rechtsmonopol des Staates aufrechterhalte. Die Kritiker wiederum sahen darin eine signifikante Bedrohung und den Anfang vom Ende des pakistanischen Rechtstaates, dessen reguläre Gesetze nun für einen Teil der Bevölkerung nicht mehr gelten sollen.

Allerdings wurde bei dieser Diskussion verdrängt, warum gerade die islamische Rechtsprechung so eine Strahlkraft entwickeln konnte. Das bestehende Rechtssystem funktioniert vielerorts mehr schlecht als recht. Verfahren werden in die Länge gezogen, weshalb bei den zukünftigen Scharia-Gerichten eine Prozessdauer von höchstens sechs Monaten angestrebt wurde. Mittellose konnten sich bislang selten vor Gericht durchsetzen – einflussreiche Menschen erkauften sich ihren Sieg oder ihren Freispruch. Diese Missstände trugen neben Armut und dem Mangel an Entwicklungsperspektiven in dieser von der Zentralregierung vernachlässigten Region zur Unterstützung der TNSM bei.

Präsident Zardari stimmte diesem umstrittenen Abkommen persönlich zu. In den folgenden Wochen zeigte sich jedoch, dass die Jihadisten sich durch das Einknicken des Staates eher zu weiteren Aktionen ermutigt fühlten. Weder ließen sie die versprochene Wiederherstellung der staatlichen Ordnung in ihrem Gebiet zu noch gaben sie ihre Waffen ab. Als sie sahen, dass Politik und Militär sie weiterhin gewähren ließen, rückten sie in den Nachbardistrikt Buner vor – bis sie nur noch rund 80 Kilometer von der Hauptstadt Islamabad trennten. Erst jetzt stießen sie auf Widerstand. Derweil festigten sie ausgehend von Mingora, der größten Stadt im Swat-Distrikt, ihre Macht, zwangen der Bevölkerung ihre Regeln auf und rekrutierten neue Kämpfer. Beide Seiten schienen auf Zeit zu spielen, doch allmählich wurden die Entwicklungen dem politischen Etablissement und der Sicherheitsdienste zu unheimlich und zu kostspielig – im April begannen die Gotteskrieger lokale Bankfilialen und Firmen zu plündern.

Das Verhalten der Jihadisten kam der PPP-geführten Regierung zugute und sorgte so für Ablenkung von den latenten Machtkämpfen mit der oppositionellen PML-N. Während Präsident Zardari in der ersten Maiwoche dieses Jahres beim Washingtoner Dreiergipfel mit seinen Amtskollegen aus den USA und Afghanistan zusammentraf, erging daheim der Marschbefehl, um verlorenes Terrain zurückzuerobern. Nun sollte die Armee das Versagen der Politik richten.

Trotz der weitverbreiteten Vogel-Strauß-Politik und der beliebten Verschwörungstheorien, meist einhergehend mit einem latenten Anti-Amerikanismus, wuchs in der pakistanischen Gesellschaft offenbar die Erkenntnis, dass die bisherige Beschwichtigungspolitik nicht fruchtete. In der pakistanischen Presse fanden sich zunehmend selbstkritische Töne, wie die von Tariq Rahman, Direktor des Nationalinstituts für Pakistanstudien der Quaid-I-Azam Universität, der in einem Leitartikel der Tageszeitung Dawn deutlich aussprach, dass man selbst und nicht das Ausland seine eigenen »Frankensteins« kreiert hätte (Dawn, 14. Mai 2009).

Folgen der Armeeoffensiven

Es folgte eine militärische Eskalation, die in ihrer Intensität bisherige, oft eher halbherzige Aktionen in den Schatten stellte. Das Militär zählte rund 2.000 getötete Kämpfer – über zivile Opferzahlen schwieg es sich aus. Hunderttausende Menschen flohen aus der Region und verschärften das Binnenflüchtlingsproblem vehement. Landesweit wird von rund 2,5 Mio. Menschen ausgegangen, die größte Anzahl seit dem Drama der indisch-pakistanischen Teilung im Jahr 1947. Die Bewohner der Swat-Region werden auch nach dem Ende der Kampfhandlungen noch lange auf Hilfe angewiesen sein, da mindestens für diese Saison die Ernte ausfällt, Viehbestände dezimiert sind und die Infrastruktur zerstört ist.

Infolge der Offensive intensivierten islamistische Terrorgruppen landesweit ihre Aktionen, wobei sie auch in den Metropolen der bislang eher ruhigen östlichen Punjab-Provinz zuschlugen. Zwar rückte das Militär nun ebenfalls in den Stammesgebieten vor, konnte bislang jedoch nur kleinere Erfolge erzielen, weil die dortigen Milizen im Angesicht der Bedrohung enger zu kooperieren scheinen. Ob die gezielte Tötung des Anführers der Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP) durch einen US-Raketenangriff im August eine mittelfristige Schwächung der Gegenseite bewirkt hat, ist zum jetzigen Zeit schwer einzuschätzen. Zumindest zeigte sich anhand der Meinungsverschiedenheiten über die zukünftige Strategien, dass es sich noch um Zweckbündnisse heterogener Akteure handelt.

Angesichts dessen und der bislang begrenzten militärischen Erfolge ist zu erwarten, dass wieder jene Fraktion aus Geheimdienst und Militär Aufwind erfährt, welche die abwartende Taktik des Ausspielens einzelner Gruppierungen gegeneinander einer Fortführung der Militäroffensive mit ebenfalls ungewissem Ausgang vorzieht. Eine wirkliche Strategie zur Befriedung der Stammesgebiete ist derzeit nicht erkennbar, zumal hier ein nahezu unvereinbares Interessengeflecht von internationalen, regionalen, nationalen und lokalen Akteuren mit konträren Ideologien und Partikularinteressen involviert ist. Falls sich dies in Zukunft ändern sollte, wären Werkzeuge einer Konfliktbearbeitung hilfreich, die auf traditionelle, lokale Verfahren setzen, insbesondere auf Stammesversammlungen (jirgas). Doch unter den vorherrschenden Rahmenbedingungen scheint dies kaum umsetzbar.

Der Krisenstaat Pakistan wird noch lange nicht zur Ruhe kommen. Weite Teile des politischen Establishments, der Geheimdienste und des Militärs sind die Säulen dieses oligarchischen Systems, das gesellschaftliche Demokratisierung und gerechte Entwicklung nicht zulässt – für zu Viele lässt es sich mit dem Tanz auf dem Vulkan gut leben.

Literatur

Pfeffer, Georg (2008): Der Problemfall Pakistan. Verdrängung als Politik, suedasien.info, 08. September 2008, http://www.suedasien.info/analysen/2556 [download 28. September 2009].

Rashid, Ahmed (2009): Descent into Chaos. Pakistan, Afghanistan and the Threat to Global Security. London: Penguin Books.

Rahman, Tariq (2009): A Cobweb of Myths, Dawn, 14. Mai 2009, http://www.dawn.com/wps/wcm/connect/dawn-content-library/dawn/news/pakistan/11-a-cobweb-of-myths-04 [download 28. September 2009].

Siddiqa, Ayesha (2007): Military Inc. Inside Pakistan’s Military Economy. London: Pluto Press.

Peer Bruch ist Geschäftsführer des Südasien-Informationsnetz e.V. in Berlin und Redaktionsmitglied bei suedasien.info; er hat Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin studiert.

Nach den Wahlen ist vor den Wahlen

Nach den Wahlen ist vor den Wahlen

Die Hindu-nationalistische Bewegung zwischen Machtverlust 2004 und Neuwahlen 2009

von Uwe Skoda

Durch den gewaltsamen Abriss der Babri-Moschee in Ayodhya 1992, durch den Regierungsantritt 1998 und die unmittelbar folgenden ersten offiziellen Atomtests sowie durch das anti-moslemische Pogrom im Bundesstaat Gujarat 2002 geriet die Hindu-nationalistische Bewegung in Indien international in die Schlagzeilen, sorgte gleichermaßen für Aufsehen und Entsetzen. Mit der Niederlage der Hindu-nationalistischen »Indischen Volkspartei« (Bharatiya Janata Party/BJP) und ihrer Allianzpartner bei den Unionswahlen 2004 wurde es dagegen vergleichsweise still um diese politisch-religiöse Bewegung. Nachrichten über die boomende Wirtschaft des »erwachenden Elephanten« und über die bunte, aber wenig repräsentative Bollywood-Welt bestimmen stattdessen das aktuelle Indienbild. Was aber ist aus dem Projekt zur Schaffung einer »Hindu-Nation« geworden? Wohin steuern die BJP und die Hindu-nationalistische Bewegung vor den nächsten Wahlen 2009?

Nach dem Verlust der Regierungsmacht auf nationaler Ebene sind die ausgesendeten Zeichen durchaus widersprüchlicher Natur. In der »Doppelzüngigkeit« bzw. Polyphonie – hardline-Ideologie mit moderateren Tönen gemischt – dürfte eine Ursache des Erfolges der Bewegung zu finden sein und hierin liegt auch eine Kontinuität. Auf eine inklusivere Strategie der Partei scheint in den letzten Jahren die häufigere Verwendung des Konzeptes »Bharatiyata« (Indianness/Indientum) zu deuten, das gerade vom früheren Premierminister A.B. Vajpayee und dem ehemaligen Vize-Premier und jetzigen Oppositionsführer L.K. Advani aufgegriffen und gegenüber dem Begriff »Hindutva« (Hindutum) stärker akzentuiert wird. Anfang des 20.Jh. hatte V.D. Savarkar, Begründer und Vordenker der »Hindutva«-Ideologie einen Hindu als „jede Person“ definiert, „die dieses Land Bharat Varsha, vom Indus bis zu den Meeren als Vaterland und heiliges Land, d.h. als Wiege seiner Religion“ betrachtet1, wodurch er auf geschickte Weise Jainismus, Buddhismus und Sikhismus einschloss, während gleichzeitig Islam und Christentum als »Andere« ausgeschlossen werden, da deren Heiligtümer außerhalb Indiens liegen. In den letzten Jahren argumentiert Vajpayee dagegen, dass „Hindutva umdefiniert worden sei und nun Bharatiyata meine“ 2, ohne genau zu erklären, was es nun bedeutet. Möglich erscheint ein verstärkt territorialer Bezug der Identitätsbildung gegenüber den Abgrenzungen auf religiöser Ebene, aber es kann letztlich nur spekuliert werden, ob es sich nicht schlicht um einen »Etikettentausch« handelt, um die Ideologie für neue Wählerschichten und Allianzpartner salonfähiger zu machen. Denn während einerseits Advani beteuert, die Ideologie der BJP werde heute besser durch den Begriff »Bharatiyata« ausgedrückt, denn die Partei müsse „aggregative“ (zusammenfügend) und „inclusive“ sein3, kann man andererseits auf der Homepage der BJP lesen: „Wir wiederholen, dass für die BJP »Hindutva«, »Bharatiyata« and »Indianness« synonyme Begriffe sind.“ 4, was nicht auf ein Abrücken von früheren Positionen schließen lässt.

Offenbar steht eine solche Begriffsverschiebung im Zusammenhang mit zögerlichen Versuchen insbesondere Vajpayees, die Parteibasis zu erweitern und unter bestimmten Umständen auch Moslems zu integrieren. So erhielt Najma Heptullah, langjährige Congress-Politikerin, ehemalige Vize-Präsidentin des Oberhauses und Großnichte des Freiheitskämpfers Maulana Abdul Kalam Azad, nach ihrem Parteiwechsel 2004 ein BJP-Mandat für das Oberhaus und wurde 2007 gar zur BJP-Kandidatin bei der Wahl um das Amt des indischen Vizepräsidenten auserkoren – allerdings eine Nominierung mit eher symbolischem Wert und vergleichsweise geringen Chancen, tatsächlich ins Amt gewählt zu werden.5 2002 hatte die Partei – auch mit Blick auf die wichtigen Allianzpartner innerhalb der National Democratic Alliance (NDA) – bereits dem angesehenen Luftfahrtingenieur AJP Abdul Kalam, ebenfalls Moslem, zum Präsidentenamt verholfen.

Das Image des Hardliners relativieren

Der Besuch Advanis in seiner Heimatstadt Karachi im heutigen Pakistan im Juni 2005 und die dortige, später kontrovers diskutierte Rede können als Versuch gelesen werden, sein durch die Ayodhya-Kampagne erworbenes Image als Hindu-nationalistischer Hardliner – gerade im Gegensatz zu dem als moderater angesehenen Vajpayee – wenigstens zu relativieren. In einer emotionalen Rede stellte Advani den pakistanischen Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah, dessen Grab er ebenfalls besuchte, zumindest in Teilen seiner politischen Biographie als säkularen Politiker und gar als „Vertreter hinduistisch-muslimischer Einheit“ dar. Mehr noch, er erteilte der Idee eines »Groß-Indien« (Akhand Bharat) eine Absage, erkannte die Existenz des pakistanischen Staates an und bezeichnete gleichzeitig die Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya als „traurigsten Tag in seinem Leben“.6 Mit diesen Äußerungen stand er gleich in mehrfacher Hinsicht im Konflikt mit Grundsätzen des Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationales Freiwilligen Corps/RSS). Die bereits 1925 gegründete Kaderorganisation der Bewegung, personell und logistisch eng mit der BJP und anderen Organisationen der »Sangh-Familie“ auch im Ausland verflochten, sieht in Jinnah den Protagonisten eines moslemischen Separatismus, der zur Teilung des Subkontinents führte.

Allerdings könnte es Advani mit seiner Preisung Jinnahs auch darum gegangen sein, indirekt einen solchen Kommunalismus, d.h. die Ideologie, wonach Menschen einer Religionsgemeinschaft auch die gleichen sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Interessen teilen, zu rechtfertigen. In jedem Fall folgte auf die Rede, vermutlich auf Druck des RSS zunächst der Rücktritt Advanis vom Amt des Parteichefs, den er zwar Tage später zurücknahm, das er aber Ende 2005 schließlich an Rajnath Singh übergab. Dieser – langjähriger »Parteisoldat« der jüngeren Generation mit bäuerlichen Wurzeln in Uttar Pradesh – führt die Partei seither in einer Art Troika – mit Advani als designiertem Spitzenkandidaten für die Unionswahlen und dem sich gesundheitsbedingt zunehmend zurückziehenden Vajpayee als »elder statesman«. Der Rücktritt Advanis vom Amt des Parteivorsitzenden warf wiederum die alte Frage auf, wie unabhängig die BJP vom RSS ist oder ob sie nicht vielmehr von diesem »ferngesteuert« wird. Die Frage verliert allerdings an Brisanz, wenn man berücksichtigt, dass alle drei Politiker und viele weitere Funktionsträger der BJP langjährige Mitglieder des stark hierarchischen RSS sind.

Eine Öffnung für neue Wählerschichten erscheint auch mit Blick auf eine seit langem angestrebte Südausdehnung der Bewegung geboten. Erst 2008 gewann die BJP erstmals einen Bundesstaat im Süden, d.h. in Karnataka – mit einer Wahlkampagne, die neben spezifischen regionalen Faktoren »Development« statt »India Shining« oder Hindutva in den Vordergrund rückte. Allerdings lag der absolute Stimmenanteil des Congress immer noch leicht höher als der BJP-Anteil, was sich aber unter den Bedingungen des indischen Mehrheitswahlrechts nicht in Parlamentssitzen niederschlug. In anderen Südstaaten mit relativ stabilen Zweiparteien- bzw. Zweiallianzen-Systemen dürften Wahlerfolge noch schwieriger sein. Abgesehen von Karnataka lässt sich eine Verbreiterung der Basis nur in den Stammesgebieten Zentralindiens erkennen, wo sich der RSS und insbesondere die 1952 gegründete Unterorganisation Vanvasi Kalyan Ashram (VKA) um Anhängerschaft bemühen – u.a. durch die Gründung eigener Schulen. Im Hindu-nationalistischen Diskurs gilt die Stammesbevölkerung weniger als Ureinwohner (Adivasi) mit eigenen religiösen Ideen und Praktiken, sondern primär als Waldbewohner (Vanvasi), die den Bezug zum »Mainstream-Hinduismus« verloren hätten bzw. konvertiert seien. Sie müssten nun zum Hinduismus, präziser zu einer vom RSS propagierten Form des Hinduismus »re-konvertiert« bzw. zurück »in den Schoß der (primordialen) Hindu-Gemeinschaft« geführt werden, deren Schaffung Ziel der Bewegung ist. Die kommunalistischen Gewaltexzesse zwischen Hindu-Nationalisten und Christen in den bergigen Stammesgebieten Orissas Weihnachten 2007, bei denen mehrere Tote zu beklagen waren, stehen in Zusammenhang mit diesen Bestrebungen. Während die BJP unter Stämmen zwar an Einfluss gewinnt, schwindet er in der Gangesebene, im bevölkerungsreichsten Unionsstaat Uttar Pradesh, wo die Partei bei den Wahlen 2007 nur den dritten Platz belegte, während sie in den meisten anderen Bundesstaaten des Hindi-Gürtels Nordindiens die Regionalregierung stellt oder daran beteiligt ist und in Gujarat unter Narendra Modi auch dem Pogrom 2002 gar ein drittes Mal in Folge alleine siegreich war.

Schattenseiten des Sieges

Doch die Siege auf Unionsebene (1998-2004) sowie in vielen Bundesstaaten haben auch eine Schattenseite. Es wird für die Partei zunehmend schwieriger, sich als »party with a difference«, als disziplinierte Kaderpartei, zu präsentieren. Advani selbst charakterisierte seit 2004 diese Entwicklung als »Congressisierung« der BJP und meinte damit vor allem eine zunehmende Ausbildung von Fraktionen (factionalism) bzw. Machtkämpfe in der Partei, eine verbreitete Kriecherei (sycophancy) und die wachsende Korruption bzw. eine mangelnde Integrität der Politiker.7 Ihren vermutlich größten, aber bei weitem nicht alleinigen Korruptionsskandal hatte die Partei bereits 2001, als ihr damaliger Parteivorsitzender Bangaru Laxman bei der Annahme von Schmiergeldern gefilmt wurde. Die Rivalitäten innerhalb der BJP sind schon länger sichtbar – insbesondere zwischen Advani einerseits und der charismatischen Populistin und ehemaligen Ministerin und Ministerpräsidentin von Madhya Pradesh, Uma Bharti, andererseits. Bharti, eine Mischung aus politischer Asketin, »firebrand leader« und »Hindutva's postergirl« mit OBC-Hintergrund8, einst neben Advani führende Protagonistin der Ayodhya-Bewegung und heute ebenso wie Advani daher Angeklagte im noch immer andauernden Gerichtsprozess um den Abriss der Moschee, verließ schließlich die BJP, um 2006 ihre eigene Partei, die Bharatiya Janshakti Party zu gründen. Diese beansprucht, die »wahre« Partei zu sein, die keine Kompromisse bezüglich der Ideologie mache und sich für »Rashtravad« (Nationalismus) einsetze. Ihr Austritt bildet die erste signifikante Spaltung der Partei auf nationaler Ebene, während sich gleichzeitig auch einer der ältesten und treuesten Allianzpartner der BJP, die ebenfalls nationalistisch orientierte Shiv Sena, spaltete. Inwiefern diese Spaltungen die gesamte Bewegung schwächen werden, bleibt abzuwarten – interne Dissidenten schadeten der Partei bisher, z.B. bei den Wahlen in Gujarat, ebenso wenig wie Bhartis neue Partei.

Trotz der Erfolge der BJP in verschiedenen Regionalwahlen der letzten Jahre ist nicht zu übersehen, dass die früheren Mobilisierungsstrategien – insbesondere die »Yatras« bzw. Wagenprozessionen in Anlehnung an mythisch-religiöse Vorbilder – im Vergleich zu den 80er und 90er Jahre nicht mehr die Breitenwirkung erzielen, auch wenn sie weiterhin ein wichtiges Instrument der politischen Kultur bleiben werden. So wurde im April 2006 eine Kampagne für die Sicherheit Indiens, betitelt als »Bharat Suraksha Yatra«, zeitgleich von L.K. Advani und Rajnath Singh in verschiedenen Landesteilen gestartet.9 Anlass dieser Agitation gegen die Regierung waren Bombenanschläge in Varanasi. Mit der Ermordung von Pramod Mahajan, eines führenden BJP-Politiker und Parteiorganisators, wurde die Kampagne abgebrochen, wobei das relativ geringe Interesse der Bevölkerung an der »Yatra« die Entscheidung zumindest erleichtert haben dürfte.

Auch die Agitation der Partei gegen das sogenannte Sethu Samudram Projekt im Herbst 2007 konnte nur kurzfristig Anhänger mobilisieren. Dieses Regierungsvorhaben zur Schaffung einer Schiffsfahrrinne durch die flache Palk Street zwischen Indien und Sri Lanka soll einen direkten Gütertransport zwischen den indischen Küsten, d.h. ohne Umweg um Sri Lanka, ermöglichen. Hindu-Nationalisten dagegen deuten die lose Kette aus Sandbänken, Riffs und Untiefen zwischen beiden Ländern als Brücke (»sethu«), die Lord Ram mit seinen Helfern erbaut habe, um seine Frau Sita aus den Fängen des in Lanka beheimateten Dämon Ravan zu retten. Das Projekt zerstöre somit ein historisches Monument von nationalem Rang. Die Sangh Parivar hoffte dabei, an ihre früheren erfolgreichen Kampagnen bezogen auf Lord Ram und seinen vermeintlichen Geburtsort Ayodhya anknüpfen zu können. Eine »eigene« Hindu-Geschichte, elementarer Bestandteil der Schaffung einer Hindu-Identität, sollte auch hier durch eine Fokussierung auf Lord Ram bzw. Ram Sethu als Kristallisationspunkt verdinglicht werden. Wurden in Ayodhya Mosleme als Fremde, Andere, Eindringlinge und Unterdrücker dargestellt und die Geschichte Ayodhyas als Hindu-Moslem-Antagonismus gedeutet, so ging nun nach Hindu-nationalistischer Lesart die Bedrohung von einer pseudo-säkularen Regierung aus, die Minderheiten mit Privilegien beschwichtige und die Gefühle von Millionen Hindus verletze. Die Hoffnung auf Breitenwirkung der Kampagne erfüllte sich vermutlich aber auch deswegen nicht, weil die BJP in ihrer Regierungszeit selbst an der Umsetzung des Projektes, dessen Wurzeln bis in die Kolonialzeit zurückreichen, mitgewirkt hatte. Allerdings spielte der Congress in der Debatte eine bestenfalls als ungeschickt zu bewertende Rolle, indem er die auf wissenschaftliche Gutachten gestützte Erklärung bezüglich der natürlichen Ursprünge der vermeintlichen Brücke wieder zurückzog und damit der BJP Auftrieb verschaffte.10

Auch wenn die Resonanz auf die Kampagne zur Rettung von Ram Sethu bescheiden ausfiel, ist die Sangh Parivar mit ihren Unterorganisationen dennoch in der Lage, jeder Zeit Gruppen von Aktivisten oder/und Schlägern (»goondas«) zu mobilisieren, die auch vor gewalttätigen Angriffen nicht zurückschrecken. So geschehen beispielsweise im Fall von M.F. Husain, einem der bekanntesten Maler Indiens. Ihm wurde von fanatischen Nationalisten u.a. vorgeworfen, als moslemischer Künstler hätte er mit der obszönen Darstellung einer nackten Frau in Verbindung mit den Umrissen Indiens – gedeutet als Göttin Bharat Mata (Mutter Indien) – bewusst Hindus verletzt. Auch wenn antike Tempelskulpturen Göttinnen ebenfalls häufig nackt darstellen, wurde Husain dennoch mit Klagen überzogen; Galerien, die seine Werke ausstellen wollten, wurden bedroht und er selbst ins Exil getrieben. Im vergangenen Monat wies der Delhi High Court zwar alle Klagen gegen Husain als unbegründet ab, aber es bleibt dennoch die Frage, warum untergeordnete Gerichte die Verfahren überhaupt annahmen und es bleibt die Gefahr neuerlicher Attacken, die jeweils als spontane Ausbrüche eines vermeintlichen Volkszornes inszeniert werden.

Ambivalenz des Hindu-Nationalismus

Hindu-Nationalisten fokussieren dabei immer wieder auf eine vermeintliche Herabwürdigung von Hindus – das angebliche Sakrileg von Husain wird dabei als Teil eines andauernden Hindu-Moslem-Konfliktes verstanden – und verbinden dies mit der Besetzung öffentlicher Räume, einschließlich medialer Räume, als permanenter, eigener Machtdemonstration. Ein weiteres Beispiel dieser Taktik war der gewaltsame Protest der Studentenorganisation der Sangh (ABVP) im Februar dieses Jahres an der Delhi University, wo vor den Augen von Journalisten ein Professor angegriffen und sein Büro vandalisiert wurde, weil er in seinem Kurs einen Text verwendet hatte, der angeblich Hindu-Götter diffamiere. Auch Beteuerungen, dass es Ziel der Universitäten an sich sei, kritische Auseinandersetzungen mit Texten zu lehren, ließ man nicht gelten.11 Stattdessen versuchte man hier augenscheinlich, in einem seit längerem schwelenden ideologischen Streit um Lehre und Schulbücher, insbesondere für den Geschichtsunterricht, den eigenen Positionen bzw. der eigenen Konstruktion von Geschichte durch Einschüchterungen Nachdruck zu verleihen.

Schaut man rückblickend auf die Entwicklung des Hindu-Nationalismus nach dem Verlust der Regierungsmacht auf Unionsebene so zeigt sich ein geradezu institutionalisiert ambivalentes Bild mit häufig parallelen Akzentuierungen hin zu einer national-konservativen Partei und zu faschistoiden Tendenzen. Letztere sind nach dem Pogrom in Gujarat besonders mit dem Namen Modi verknüpft, dem viele eine stärkere Rolle in der Partei, über seinen Bundesstaat hinaus, zutrauen. Gleichzeitig setzt sich die BJP, wie auch der Congress, für die bereits mehrfach diskutierte und immer wieder verzögerte sogenannte »Women's Reservation Bill« ein, d.h. für Frauenquoten im Parlament und damit für ein Empowerment von Frauen. Andererseits wird eine Rückkehr zur alten Hindutva-Agenda offen diskutiert – mit den zentralen Themen Einführung eines Uniform Civil Code, einer einheitlichen Zivilgesetzgebung ohne gesonderte Regeln für Minderheiten, und Abschaffung des Artikels 370 der Verfassung, der den speziellen Status Kashmirs innerhalb der Indischen Union behandelt. Zudem wird die vermeintlich massive Infiltration von Flüchtlingen aus Bangladesh angeprangert und die Gefahr des Terrorismus beschworen, der nur mit der Wiedereinführung drakonischer Anti-Terrorgesetze (POTA) begegnet werden könne. POTA, von der letzten BJP Regierung eingeführt und vom Congress wieder außer Kraft gesetzt, war von den Gesetzesgegnern insbesondere wegen der kommunalistischen Ausrichtung bzw. der überproportionalen Anwendung gegenüber Moslems kritisiert worden. Unklar bleibt zudem die Position der BJP gegenüber dem Nuclear Deal mit den USA, der Indien den Zugang zu ziviler Nukleartechnik und konventionellen Waffensystemen der USA ermöglichen soll, aber gleichzeitig zumindest die zivilen Nuklearanlagen unter internationale Beobachtung stellt und den Teststopp für Atomwaffen verlängert. Lehnte die Partei den Deal 2006 noch ab oder verlangte eine Neuverhandlung, so mehren sich nun Stimmen der Befürworter, darunter die des ehemaligen Sicherheitsberaters von Vajpayee, Brajesh Mishra.

In Ayodhya regiert derweil der status quo und es ist gegenwärtig weder an einen Wiederaufbau der Moschee noch an eine Errichtung des von den Hindu-Nationalisten geplanten Ram-Tempels, der in Einzelteilen bereits existiert, zu denken. Die Diversität Indiens, die sprichwörtliche Einheit in der Vielfalt, hat eine weitergehende Umsetzung der homogenisierenden Hindu-nationalistischen Agenda bisher verhindert. Der Widerstand geht aber häufig weniger vom Congress als vielmehr von regionalen Kräften aus. So war die eher einen tamilischen bzw. dravidischen Nationalismus verfolgende Partei Dravida Munnettra Kazhagam (DMK) bzw. ihr Vorsitzender Karunanidhi, Allianzpartner des Congress aus Tamil Nadu, schärfster Kritiker der Ram-Sethu-Kampagne der BJP. Gleichzeitig gelang Mayawati, Parteichefin der Bahujan Samaj Party (BSP) in der Gangesebene, eine neue Art des »social engineering«, wie sie es nennt, indem sie eine politische Allianz zwischen Dalits bzw. untersten Kasten im weiteren Sinne und Brahmanen (traditionellen Priesterkasten) schuf und den Einfluss der BJP in Uttar Pradesh damit deutlich schwächen konnte. Neben vielen regionalen Erfolgen bildeten die Wahlen in Uttar Pradesh die vielleicht schmerzlichste Niederlage für die BJP nach dem Machtverlust. Nichtsdestotrotz hat auch Mayawati in der Vergangenheit gezeigt, dass sie die BJP unter Umständen durchaus unterstützen kann, wenn es ihr opportun und vorteilhaft erscheint – zumal im Falle einer, angesichts steigender Lebensmittel- und Brennstoffpreise bzw. der Inflation allgemein, möglichen Niederlage der gegenwärtigen, Congress-geführten Unionsregierung bei den nächsten Wahlen.

Anmerkungen

1) Savarkar in: van der Veen, P. (1994): Religious Nationalism. Hindus and Muslims in South Asia. Berkeley: University of California Press., S.1 (Übersetzung vom Verfasser; im Original heißt es: „a person, who regards this land of Bharat Varsha, from the Indus to the Seas, as his Father-Land as well as his Holy-Land that is the cradle of his religion“. »Bharat« wird im Hindi allgemein als Bezeichnung für Indien verwandt, »varsha« kann auch als »Kontinent« übersetzt werden.

2) The Hindu, 12/02/2003, http://www.thehindu.com/2003/02/12/stories/2003021204141100.htm (aufgerufen: 19/05/2008).

3) The Tribune, 10/09/2004, http://www.tribuneindia.com/2004/20040910/nation.htm#3, (aufgerufen: 19/05/2008).

4) National Convention Rajat Jayanti Nagar 28th – 30th December, 2005 RAJAT JAYANTI SANDESH, vgl. http://www.bjp25.org/newsdetails6.html, (aufgerufen: 19/05/2008).

5) Zusammen mit dem einzigen moslemischen Vize-Präsidenten der Partei, Mukhtar Abbas Naqvi, einem von insgesamt zwölf Vize-Präsidenten, wird sie als eine Art »moslemisches Aushängeschild« der BJP betrachtet.

6) Frontline, Vol. 22, Issue 13, 2005, http://www.hinduonnet.com/fline/fl2213/stories/20050701004511400.htm, (aufgerufen: 19/05/2008).

7) Times of India, 12/04/2004, http://timesofindia.indiatimes.com/articleshow/956204.cms, (aufgerufen: 19/05/2008).

8) Die administrative Kategorie OBC (Other Backward Classes) bezeichnet sozio-ökonomisch und vom Bildungsgrad her als rückständig klassifizierte Gruppen, die weder zu den sogenannten »Scheduled Castes« (Dalits bzw. »Unberührbare«) noch zu den »Scheduled Tribes« (Adivasis bzw. Stammesbevölkerung) gehören. In der gesellschaftlichen Realität handelt es sich vielfach um bäuerliche Kasten.

9) Siehe auch Skoda, U. (2006): BJP-Rath Yatra in Orissa, http://www.suedasien.info/nachrichten/471, (aufgerufen: 12/06/2008).

10) Frontline, Vol. 24, Issue 19, 2007, http://www.flonnet.com/fl2419/stories/20071005500500400.htm, (aufgerufen: 21/05/2008).

11) Tetzlaff, S. (2008): Hindu-Nationalismus, Historiographie und Haudrauf, siehe http://www.suedasien.info/nachrichten/2375, (aufgerufen: 22/05/2008).

Dr. Uwe Skoda arbeitet als Assistant Professor für South Asian Studies am Institute of History and Area Studies der Universität Århus, Dänemark.

Talibanistan

Talibanistan

oder das Ende staatlicher Ordnung

von Conrad Schetter

Dieser Artikel leistet einen Beitrag zu den gegenwärtigen Debatten um failed states und um den »Krieg gegen den Terrorismus«. So führt das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet, das hier als Talibanistan bezeichnet werden soll, nicht allein das Versagen und die Abwesenheit von Staatlichkeit vor Augen, sondern verkörpert Anti-Staatlichkeit per se. In Talibanistan offenbaren sich daher nicht allein Funktionsschwächen moderner Staatlichkeit, sondern dort ist das Handeln der Bevölkerung Ausdruck einer anti-staatlichen Grundhaltung.

Seit dem 11. September 2001 befindet sich die Region, die sich mondsichelförmig von Westafghanistan über die Städte Kandahar und Quetta bis nach Ostafghanistan und Nordwestpakistan erstreckt, im Fadenkreuz der Operation Enduring Freedom (OEF). Dieses Gebiet wird mehrheitlich von Paschtunen, der größten Stammesgesellschaft der Welt, bewohnt. Hatten die OEF-Kräfte die Taliban im Winter 2001/2 aus den Städten Afghanistans vertrieben, so kehrte diese Bewegung in den letzten Jahren allmählich zurück: Auf pakistanischer Seite errichteten die Taliban in einigen grenznahen Regionen wie Swat oder den Federal Administered Tribal Areas (FATA) Emirate, in denen die shari'a zur Rechtsgrundlage erhoben wurde. Auf weite Teile Süd- und Südostafghanistans hat die afghanische Regierung ebenfalls kaum Einfluss. So gruppiert sich um das Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan eine neue Machtordnung, für die sich in den Medien die Bezeichnung Talibanistan einbürgerte (Roggio 2006, Baker 2007).

Vom Failed State zum Anti-Staat

Auf den ersten Blick könnte man die Situation in Talibanistan als das komplette funktionelle Versagen zweier Staaten deuten: Weder ist der afghanische noch der pakistanische Staat in der Lage, seine territoriale Souveränität und sein Gewaltmonopol in dieser Region aufrecht zu erhalten. Hierdurch unterscheidet sich bereits die Situation fundamental von den meisten failed states, in denen die Vermischung von staatlichen Funktionslogiken, persönlichen Interessen und patrimonialen Abhängigkeiten die Aushöhlung des Ideals einer Weberschen Staatlichkeit bedingt.

Talibanistan befindet sich demnach im Gegensatz zu all dem, was moderne Staatlichkeit ausmacht: Definiert sich der moderne Staat über ein klar begrenztes Territorium, so verfügt Talibanistan weder über klar definierte physische Grenzen noch über eine territoriale Binnengliederung, da Macht auf persönlichen Netzwerken und nicht auf der Kontrolle von Raum basiert. Auch zerfällt Talibanistan in unzählige, hoch dynamische Mikrokosmen, die territorial kaum zu gliedern sind. Schließlich stellt die afghanisch-pakistanische Grenze für die Entstehung Talibanistans eher einen Gunstfaktor als eine Barriere dar. Auch haben die lokalen Eliten weder ein Interesse an der Etablierung eines Gewaltmonopols noch sind sie an einer einheitlichen Verwirklichung bestimmter Normen und Werte in Talibanistan interessiert – etwa der Durchsetzung eines einheitlichen Rechts oder einer übergreifenden Ideologie. Schließlich fühlt sich die Bevölkerung von Talibanistan nicht den Spielregeln der internationalen Gemeinschaft gegenüber verpflichtet: Wir finden eine Gesellschaft, in der international als illegal geächtete Wirtschaftsaktivitäten (z.B. Anbau von Schlafmohn) Normalität genießen und internationale Menschenrechtsstandards als fremd und die soziale Ordnung gefährdend gelten (z.B. Stellung der Frau).

Talibanistan steht daher nicht für ein territoriales Gebilde, in dem eine orthodoxe islamistische Bewegung eine eigene Regierungsform – etwa einen islamischen Gottesstaat – ins Leben ruft und die Gesellschaft von einer islamistisch-orthodoxen Ideologie durchdrungen ist. Talibanistan steht für das genaue Gegenteil, nämlich für die Wiederkehr lokaler Herrschaftsansprüche, die häufig in radikalisierter Form vorgebracht werden, staatliche Einflussnahmen ablehnen und in transnationale Netzwerke eingebunden sind. So bezieht sich der Begriff »Taliban« nicht allein auf religiöse Eiferer; weit mehr wird der Begriff für die Vielzahl an lokalen Kommandeuren, Selbstverteidigungsfronten, Stammesmilizen, Drogenringen, arbeitslosen Jugendlichen und einfachen Straßenräuber verwendet, die je nach Kontext mit- oder gegeneinander kämpfen; selbst der Übergang zu staatlichen Organen ist fließend. Die Eigenbezeichnung »talib« [Religionsschüler] ist heutzutage weit weniger Ausdruck einer religiös-ideologischen Überzeugung als eines diffusen life style, der gegen eine externe Einmischung ausgerichtet ist.

In Talibanistan finden wir eine politische Ordnung, die durch eine hohe Skepsis gegenüber einer Modernisierung in Form staatlicher und internationaler Präsenz geprägt ist. Diese politische Ordnung verbindet lokale Vorstellungen mit militant islamistischen. Jedoch stehen sich lokale und islamistische Vorstellungen je nach Kontext unterschiedlich gegenüber: Mal gehen sie eine Symbiose ein, mal überlappen sie sich, mal schließen sie sich völlig aus und münden in Konflikten. Diese Radikalisierung des Lokalen hat vor allem in den Regionen Erfolg, wo die Bevölkerung niemals die Wohltaten des Staats spüren konnte und in denen der transnationale Handel im Staat und seiner Territorialität nur ein Hindernis erblickt. Talibanistan bedeutet daher die Verteidigung des Lokalen gegen jegliche von außen herangetragene Einflussnahme – ob in Form militärischer Präsenz, staatlicher Ordnung oder auf Modernität beruhender Entwicklungsprogramme – bei einer direkten Verflechtung in globale Netzwerke. Diese gegen Modernität und Staatlichkeit ausgerichtete Grundhaltung lässt sich aus den gesellschaftlichen Prozessen während des 30-jährigen afghanischen Kriegs erklären: So verbanden sich lokale Normen und Wertevorstellungen mit einem militanten Islamismus, und avancierte eine grenzübergreifende (Drogen-)Ökonomie zur materiellen Grundlage weiter Teile der Bevölkerung.

Tribale Ordnung

Die Verwendung des Terminus »tribal« ist im Zusammenhang mit den Paschtunen – anders als in Afrika – keineswegs negativ konnotiert. So drückt die Zugehörigkeit zu einem Stamm aus, dass man auf eine Genealogie verweisen kann und kraft Abstammung eine Legitimationsberechtigung im Hier und Jetzt hat. Jedoch weniger die tribale Ordnung, sondern die Wertevorstellungen, die in der paschtunischen Stammesgesellschaft konserviert werden, formieren die entscheidende Kluft hin zur modernen Gesellschaft. So ist der Grundgedanke, auf dem paschtunische Wert- und Rechtsvorstellungen aufbauen, dass die Existenz des einzelnen Mannes, des Familienverbandes, der Lineage, des Clans, ja aller Paschtunen sich in ständiger Bedrohung befindet und gegen äußere Feinde zu verteidigen ist (Janata & Hassas 1975; Steul 1981). Diese Sicht der Welt als einer feindlichen bildet den Rahmen, in dem sich jedes männliches Stammesmitglied bewegt, um seine Ehre zu verteidigen. Im Kontext dieses männlichen Idealbilds werden etwa Frauen als fehlerhaft verstanden, die durch ihr Verhalten die Ehre der Männer stets gefährden können (Barth 1969). Obgleich der geteilte Wertekanon den Referenzrahmen für alle Stammesmitglieder darstellt, beinhaltet er ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den eigenen männlichen Stammesmitgliedern. Dies erklärt, weshalb die paschtunischen Stammesstrukturen dem Aufbau jeglicher politischer Institutionen, in denen nicht die individuelle Autonomie innerhalb des Kollektivs gewahrt wird, entgegenstehen. Einer Einflussnahme von Außen, die die Gesellschaft grundlegend zu verändern droht, wird stets mit Gegenwehr begegnet. Der Konflikt »Stamm gegen Staat« durchzieht daher die gesamte Staatswerdung Afghanistans und Pakistans im 20. Jahrhundert; beide Staaten waren daher nur ansatzweise in der Lage, die Stämme zu kontrollieren und in den Gesamtstaat einzubinden (Tapper 1983). Die militärische Intervention nach dem 11. September 2001 bedingte, dass in beiden Ländern die lokalen Autonomien der Stammesgebiete mit einem Mal in Frage gestellt wurden. So sehen viele Stämme den »Kampf gegen den Terror« als Vorwand, um den staatlichen Herrschaftsanspruch in den Stammesgebieten durchzusetzen.

Verstärkt wird der Gegensatz zwischen Stamm und Staat durch die Durand Line, die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan. Diese verläuft mitten durch die Stammesgebiete und wird alltäglich von Tausenden Stammesmitgliedern ohne Papiere überquert. Die Durand Line wurde 1893 von einer britischen Grenzkommission festgelegt, wird aber bis heute von Afghanistan aus ethno-nationalistischen und geo-strategischen Gründen nicht anerkannt. Dass die Durand Line gegenwärtig das Epizentrum der gewaltsamen Auseinandersetzungen darstellt, mag nicht verwundern. So ist es den Gegnern der Coalition Forces immer wieder möglich, über die Durand Line nach Pakistan zu flüchten und sich von hier aus neu zu formieren. Die FATA, bei denen es sich um autonome Stammesgebiete mit einer eigenen Gerichtsbarkeit auf pakistanischem Boden handelt, gelten als »sicherer Hafen« für die Taliban (Rubin 2007). Jedoch kann der Durand Line in diesen Auseinandersetzungen auch eine symbolische Bedeutung beigemessen werden. Denn der Widerstand gegen die äußere Einflussnahme erfolgt von der Grenze aus – also dem Ort, an dem sich eigentlich Staatlichkeit territorial manifestieren sollte. Die Durand Line stellt daher ein »terrain of resistance« (Routledge 1993) einer nicht-staatlich verfassten Welt dar.

Militanter Islam

Wenngleich es eine ganze Fülle an Abweichungen und Gegensätze zwischen Schriftislam und paschtunischen Stammesvorstellungen gibt, sehen die Paschtunen selbst keine Unterschiede oder gar Widersprüche zwischen diesen beiden Referenzrahmen. Islamische Geistliche, wenngleich diese aufgrund des Eigenverständnisses der Paschtunen als Bekehrte aus erster Hand keinen hohen gesellschaftlichen Stellenwert genießen, nehmen als außerhalb der tribalen Ordnung stehend in Krisensituationen immer wieder Schlüsselpositionen ein: So sind sie in der Lage, tribale Spaltungen zu überwinden und kurzfristige Allianzen zu stiften (Edwards 1996). Wenn diese Sonderrolle islamischer Geistlicher in der Vergangenheit nur situativ war, so verfestigte sich die Stellung islamischer Eliten aufgrund des nun über 30jährigen Afghanistankriegs in der paschtunischen Gesellschaft beidseits der Durand Line.

Denn mit der Besetzung Afghanistans durch sowjetische Truppen 1979 fand aus den afghanischen Stammesgebieten heraus ein Massenexodus statt, der in einigen afghanischen, grenznahen Provinzen nahezu die ganze Bevölkerung erfasste. Während das Gros der Flüchtlinge in Lagern auf pakistanischer Seite entlang der Grenze aufgefangen wurde, wanderten die Stammeseliten in die Städte Pakistans, nach Europa oder in die USA aus. Damit ging in vielen Stämmen der Einfluss der tribalen Führerschaft auf den Alltag der Stammesbevölkerung verloren. Seit Mitte der 1980er Jahre drängten vor allem einfache Geistliche, die überwiegend aus Medresen in Pakistan stammen, in diese Führungsrollen und stiegen zu wichtigen mujahidin-Kommandeuren auf. Diese Entwicklung lag ganz im Interesse Islamabads, um die tribalen Strukturen zu brechen, die paschtunische Identität abzuschwächen und Kämpfer für den jihad in Afghanistan zu mobilisieren.

Besonders in den Flüchtlingslagern, die von den afghanischen mujahidin-Parteien kontrolliert wurden, gewannen islamistische gegenüber tribalen Momenten in der politischen Kultur der Lager sowie in der Sozialisierung der Flüchtlinge an Bedeutung. Wesentlich war, dass in den Flüchtlingslagern tribale Vorstellungen kaum noch aufrechterhalten werden konnten (Edwards 1986). Islamistische Vorstellungen, die die Widerstandsparteien propagierten, boten sich als Kompensation zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildnisses an. Hier ist besonders das Konzept von muhajir [Flüchtling] und mujahid [Kämpfer für die Angelegenheiten Gottes und des Glaubens] zu nennen. Denn ein muhajir handelt in gleicher Weise wie der Prophet, der die hijrah [Flucht] aus Mekka nach Medina vollzogen hat. Nahmen die muhajirin [Pl. von muhajir] den Heiligen Krieg um ihr verlorenes Terrain auf, wurden sie zu mujahidin [Pl. von mugahid] und folgten damit dem Beispiel Mohammeds. Gerade die Vorstellung des mujahid, der im jihad gegen die gottlosen Kommunisten kämpft, konnte somit das paschtunische Stammesideal ersetzen (Ansari 1990).

Im Verlauf des Krieges verschmolz die Kompromisslosigkeit des Stammesdenkens mit einem militanten Islam. Ein militantes, auf der Unterscheidung in »gut« und »böse« aufbauendes Islamverständnis akzeptierten große Teile der Stammesbevölkerung gerade aufgrund seiner einfachen und radikalen Erklärung der Welt und der Aufrechterhaltung von Normen und Wertvorstellungen, die im Stammeskontext entstanden waren. Zum Feindbild avancierten die Einführung modernen Vorstellungen von Gesellschaft, die Gleichstellung von Mann und Frau, Demokratie, Trennung von Religion und Staat etc. Demnach finden Konzepte von Staatlichkeit in den Geisteshaltungen, wie sie gegenwärtig in Talibanistan vorherrschen, keinen Platz. Die starke Betonung des Islam in Talibanistan verfügt daher über eine Innen- und eine Außensicht. In der Außensicht wird mit einem militanten Islam – gerade seit dem 11. September – der Kampf gegen jegliche externe Einflussnahme aufgenommen. So steht der radikalisierte Islam für den Kampf gegen Moderne, Staat und den Westen als Ganzes. In der Innensicht wird gerade im militanten Islam eine Emphase lokaler Werte- und Normvorstellungen gesehen. So bedeutet die Betonung des Islam eine verkürzte Bejahung lokaler Identität. Das Gros der Einwohner Talibanistans versteht den Islam als Referenzrahmen für die Interpretation alltäglicher Handlungen und Entscheidungen und zeigt kein Interesse daran, diesen in eine staatliche Form zu gießen. Jedoch ist dieses Weltbild nicht abgeschlossen oder kohärent, sondern es werden je nach lokalem Kontext einzelne religiöse und tribale Versatzstücke miteinander kombiniert. Daher wäre es verfehlt, hierunter die ideologische Durchsetzung radikaler Islamvorstellungen in einer tribalen Gesellschaft zu verstehen. So spielen ideologische Fragen in der alltäglichen Praxis eine marginale Rolle und stehen häufig orthodoxe, heteropraxe sowie tribale Vorstellungen nebeneinander. Diese Vermischung tribaler mit militant islamischen Elementen ist umso interessanter, da islamistische Strömungen, wie sie etwa Osama bin Laden oder auch Gulbuddin Hekmatyar vertreten, tribale Identitäten und Gesellschaftsformen explizit als unislamische Anachronismen, die sich gegen die Reinheit der ummah richten, kategorisch ablehnen und bekämpfen. Daher ist es eine gewisse Ironie der Geschichte, dass seit dem 11. September ausgerechnet die paschtunische Stammesgesellschaft das Rückgrad des militanten Islamismus bildet.

Der globalisierte Stamm

Die Flüchtlingsbewegung aus Afghanistan in die pakistanischen Grenzgebiete bedingte eine enorme Verstärkung des bereits sehr hohen Bevölkerungsdrucks in dieser ressourcenarmen Region. Die Folge war, dass seit den 1980er Jahren Paschtunen kontinuierlich aus den pakistanischen Stammesgebieten in die großen Städte Pakistans und in die Golfstaaten abwanderten. Seit den 1990er Jahren etablierte sich ein auf Stammesidentitäten beruhendes Handelsnetzwerk, das seine Netzwerke vom Mittleren Osten bis nach Indien und Europa spannt, aber die Gelder in erster Linie zurück in die Stammesgebiete fließen lässt. Die Stammesgebiete erfuhren hierüber einen Anschluss an die globalen Märkte und entwickelten sich – bei Umgehung der pakistanischen Zölle – seit Mitte der 1990er Jahre zu einer Drehscheibe des Warenaustauschs zwischen Südasien, den Golfstaaten, Iran und Zentralasien. Die Grenzregion wird zudem vom Schlafmohnanbau beherrscht. Das Gebiet entlang des Hilmand in Südafghanistan und die ostafghanische Provinz Nangrahar stellen die zwei wichtigsten Opiumanbaugebiete der Welt dar; allein in der Provinz Hilmand werden ca. 40% des weltweiten Opiums angebaut. Die spezifische Rolle der Durand Line als eine »Nicht-Grenze« verstärkt die herausragende Stellung der Stammesgebiete für diese ökonomischen Kreisläufe.

Die Taliban-Bewegung

Im Unterschied zu den 1990er Jahre sind die Taliban gegenwärtig stärker als früher auf lokale Strukturen angewiesen, weshalb sie in den letzten Jahren bewusst tribale Vorstellungen aufgriffen. Gerade die Einbettung in lokale Strukturen trug so zum Wiedererstarken der Taliban bei. Jedoch stellen diese lokalen Strukturen gleichzeitig die größte Herausforderung für die Bewegung dar. So gewannen mit der Rückkehr der Taliban vielerorts Banditen und Drogenhändler, die Seite an Seite mit den militanten Islamisten gegen die OEF/ISAF-Truppen kämpften, an Macht. Diese verfolgen häufig eher Ziele wie Selbstbereicherung oder die Wiederherstellung ihrer persönlichen Machtbasis. Damit kontrastiert ihr Handeln das positive Selbstbild, das die Taliban von sich als Garant für Sicherheit und Ordnung haben. Auch die Tatsache, dass lokale Führer oftmals allein an der Erhaltung ihrer tribalen Autonomie interessiert sind und dementsprechend mal mit der Regierung, mal mit den Aufständischen zusammenarbeiten, ist den Taliban ein Dorn im Auge. Daher sind die Taliban seit geraumer Zeit bemüht, sich als Ordnungsfaktor in Talibanistan durchzusetzen und eine klare Trennlinie hin zum afghanischen Staat und dessen Verbündeten zu ziehen. So wurden beidseits der Durand Line in den letzten Jahren tribale Eliten, die nicht mit den Taliban paktierten, zum Ziel von Attentaten und Lynchprozessen. Weitere Indizien sind Säuberungsaktionen innerhalb der eigenen Reihen, die Zerstörung von Schulen als Symbole der Modernisierung, die schriftliche Erlassung eines Ehrencodex, der so genannten leyah, die Einsetzung eigener Gouverneure und Polizeichefs in eingenommenen Distrikten sowie die wiederholte Erwähnung einer straffen Organisationsstruktur (Giustozzi 2007). All dies soll dokumentieren, dass die Taliban für die Errichtung einer durchstrukturierten Ordnung stehen und eben nicht eine anti-staatliche Bewegung darstellen. Trotz dieser Versuche, ihre Bewegung zu formalisieren und zu vereinheitlichen, zeichnen sich die Taliban durch Heterogenität und interne Zerklüftung aus, zumal die Grenzen hin zu islamistischen Bundesgenossen wie Gulbuddin Hekmatyars hizb-i islami oder den mujahidin-Netzwerken von Jalaluddin Haqqani und Anwar ul-Haq fließend sind.

Die Rückkehr des Lokalen

Ich verstehe Talibanistan nicht als das Gebiet, das von der Bewegung der Taliban kontrolliert wird. Vielmehr ist Talibanistan eine Region, in der durch einen lang anhaltenden Krieg tribale und militante islamistische Normen und Wertvorstellungen radikalisierten und sich miteinander verbanden. In Talibanistan werden die Bedingungen für Herrschaft und Zusammenleben lokal ausgehandelt und variieren je nach Kontext. Gleichwohl bleibt die lokale Ebene an die globale über vielfältige Beziehungsgeflechte angebunden. Jede externe Einflussnahme, die die lokale Ordnung zu stören droht, erlebt eine militante Ablehnung. Die Taliban sind daher ein Produkt von Talibanistan, das jedoch gegenwärtig bemüht ist, sich selbst von den gesellschaftlichen Strukturen Talibanistans abzugrenzen; jedoch zeigt die Fragmentierung entlang lokaler und tribaler Bruchlinien die Tendenz, dass die Taliban-Bewegung selbst wieder in partikulare Strukturen zurückgeführt werden kann.

In Talibanistan erleben wir „den Aufstieg des Lokalen“ (von Trotha 2005), der sich in der Bildung von Stammesherrschaft, lokalen Emiraten oder Kriegsfürstentümer niederschlägt. Die Tatsache, dass die Bevölkerung ihre lokalen Ordnungen gegen sämtliche Versuche, eine übergreifende, staatliche Ordnung zu etablieren, verteidigt, wird von westlichen Betrachtern als Chaos oder Anarchie gewertet. So wird ein westlicher Botschafter zitiert: „Ungoverned spaces are a problem. The whole tribal area is a problem“ (zit. in Gall & Khan 2006); und der Kommentar eines NATO-Befehlshaber schließt sich nahtlos an: „Until we transform the tribal belt, the U.S. is at risk“ (zit. in Rubin 2007: 57). Vor diesem Hintergrund entlarvt sich der »Krieg gegen den Terrorismus« als ein extern geführter Staatsbildungskrieg, in dem lokale Ordnungsmuster bekämpft und staatliche Grenzen durchgesetzt werden müssen, damit Staatlichkeit die Kontrolle über Bevölkerung und Raum gewinnen kann. Die ambivalente Rolle der afghanischen und pakistanischen Regierung, die selbst stark von den anti-staatlichen Strukturen Talibanistans beeinflusst sind, erleichtert diesen Staatsbildungsprozess nicht gerade.

Jedoch ist Talibanistan nicht allein auf die paschtunischen Stammesgebiete beschränkt, weshalb eine Gleichsetzung von Paschtunen und Taliban in die falsche Richtung deutet. Wenngleich ich die Strukturen der paschtunischen Stämme zum Ausgangspunkt meiner Argumentation machte, lautet die These, dass eine radikale Ablehnung von Moderne und Staat im Namen des Islam gerade dort erfolgt, wo tradierte lokale Ordnungen unter Bedingungen wie Flüchtlingsdasein, Urbanisierung oder Krieg nicht mehr ohne Weiteres aufrecht erhalten werden können und militante islamistische Strömungen, die als anti-staatlich, anti-modern oder anti-westlich verstanden werden, an Einfluss gewinnen. Dieses Phänomen des Ineinanderfließens lokaler und militant islamitischer Vorstellungen lässt sich daher auch außerhalb der paschtunischen Stammesgebiete beobachten. So entstanden bereits in den 1990er Jahren wahabitische Emirate in Nuristan, Kunar und in Badakhshan (Roy 1995: 82). Aber auch außerhalb Afghanistans wie im tschetschenisch-georgischen Grenzgebiet (u. a. Pankisi-Tal) oder im Rasht-Tal in Tadschikistan entstanden zeitweise Kleinreiche, in denen lokale mit islamistischen Vorstellungen verschmolzen. Aber nicht nur in entlegenen Bergregionen, sondern auch in den Vororten von Großstädten wie Karatschi, Bagdad und Mogadischu ist Talibanistan längst angekommen.

Literatur

Ansari, Zafar Ishaq (1990): Hijrah in the Islamic Tradition, in: Ewan Anderson & Nancy Dupree (Hrsg.): The Cultural Basis of Afghan Nationalism. London: Pinter, S.3-20.

Baker (2007): The Truth about Talibanistan, in: Time, 22. März, http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,1601850,00.html

Barth, Fredrik (1969): Pashtun Identity and Maintenance, in: Fredrik Barth (Hrsg.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Differences. Bergen: Universitets Forlaget, S.117-134.

Edwards, David (1986): Marginality and Migration: Cultural Dimension of the Afghan Refugees' Problem, in: International Migration Review Jg. 22, Nr. 2, S.313-325.

Edwards, David (1996): Heroes of the Age. Moral Fault Lines on the Afghan Frontier. Berkeley: University of California Press.

Gall, Carlotta & Ismail Kan (2006): Taliban and Allies. Tighten Grip in North of Pakistan, New York Times 11.12.2006.

Giustozzi, Antonio (2007): Koran, Kalashnikow and Laptop. The Neo-Taliban Insurgency in Afghanista. London: Hurst

Janata, Alfred & Reihanodin Hassas (1975): Ghairatman – der gute Paschtune. Exkurs über die Grundlagen des Pashtunwali, in: Afghanistan Journal Jg. 2, Nr. 3, S.83-97.

Roggio, Bill (2006): Fighting in Afghanistan, Talibanistan, in: The Toronto Times, 21 Mai, http://thetorontotimes.com/content/view/420/69/

Routledge, Paul (1993): Terrain of Resistance. Nonviolent Social Movements and the Contestation of Place in India, Westport: Praeger.

Roy, Olivier (1995): Afghanistan. From Holy War to Civil War. Princeton: Darwin Press

Rubin, Barnett (2007): Saving Afghanistan, in: Foreign Affairs January/February, S.57-78.

Steul, Willy (1981): Pashtunwali. Ein Ehrenkodex und seine rechtliche Relevanz, Wiesbaden: Ergon Verlag (Beiträge zu Südasienforschung 54).

Tapper, Richard (Hrsg.) (1983): The Conflict of Tribe and State in Iran and Afghanistan, New York: St Martin's Press.

von Trotha, Trutz (2005): Der Aufstieg des Lokalen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 28/29, S.32-38.

Dr. Conrad Schetter ist Senior Research Fellow am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, wo er die Forschungsgruppe »Governance and Conflict« leitet. Der vorliegende Beitrag ist die gekürzte Version eines Artikels, der im Inernationalen Asienforum 2008 (3-4) erschien.

Es geht nicht nur um Kashmir

Die Konfliktkonstellation Pakistan – Indien1

Es geht nicht nur um Kashmir

von Diethelm Weidemann

Einleitung

Es sind nicht semantische Gründe, wenn nachfolgend vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichend die Formulierung pakistanisch-indischer Konflikt verwendet wird, sondern historische Erwägungen:

  • Der erste Kashmirkrieg wurde durch eine von der pakistanischen Armee personell und logistisch unterstützte Operation pashtunischer Stammeskrieger aus der Nordwest-Grenz-Provinz ausgelöst, die den letzten Maharaja zum Anschluss an Indien veranlasste, was dann den Einsatz indischer Truppen nach sich zog.
  • Der zweite Kashmirkrieg war die logische Folge der von Ayub Khan abgesegneten Operation Gibraltar, an der auch Zulfikar Ali Bhutto eine erhebliche Aktie hatte, und in deren Ergebnis etwa 8.000 Angehörige der Armee und der Grenztruppen nach Kashmir eingeschleust und dort durch Hinweise der lokalen Bevölkerung vorzeitig entdeckt wurden, bevor sie operativ werden konnten, was im Herbst 1965 zu einem sofortigen und massiven Gegenangriff Indiens führte.
  • Der Krieg von 1971 war das Ergebnis der eklatanten Missachtung des Ergebnisses der pakistanischen Parlamentswahlen von 1970 und des von einem Teil der westpakistanischen Generalität in Ostpakistan, heute Bangladesh, inszenierten Massakers, das übrigens in den letzten Monaten des Jahres 2000 die Beziehungen zwischen Pakistan und Bangladesh erneut ernsthaft belastet hat.
  • Die pakistanische Kargil-Operation von 1999 war ein einseitiger und unprovozierter Krieg Pakistans gegen Indien, dass er ein »begrenzter« Konflikt blieb, ändert nichts an diesem Sachverhalt.

Deshalb ist es aus meiner Sicht historisch-politisch korrekter, diese Auseinandersetzung als pakistanisch-indischen Konflikt zu bezeichnen statt, wie es zumeist geschieht, als indisch-pakistanischen.

1. Der pakistanisch-indische Konfolikt – Ursachen, Charakter und Einzugsbereich

Die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien sind eines der kompliziertesten bilateralen und regionalen Probleme in Asien seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Bei der seit 1947 anhaltenden und bisher in drei Kriegen kulminierenden Auseinandersetzung zwischen diesen beiden südasiatischen Staaten 2 handelt es sich um einen vielschichtigen Konflikt, der nicht nur aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher konkreter Konfliktlagen besteht, sondern im Verlauf der Jahrzehnte auch eine eigentümliche Konfliktkonstellation mit einer spezifischen Dynamik herausgebildet hat. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass einflussreiche und teilweise auch dominante Gruppen der politischen und militärischen Eliten auf beiden Seiten die pakistanisch-indische Konfrontation von Anfang an und, präzise gesagt, bereits vor dem 15. August 1947, als machtpolitisches Nullsummenspiel perzipiert und betrieben haben. Dieser Faktor hat zählebige Denkstrukturen geschaffen, die auch heute noch politikgestaltend wirken. Jeder Versuch, die Komplexität des indisch-pakistanischen Verhältnisses und die damit verbundenen mannigfachen Interessengegensätze und Kollisionen auf die Kashmir-Frage zu reduzieren, wie seit langer Zeit von Pakistan offiziell praktiziert, ist entweder ein zutiefst illusionistischer Ansatz oder eine bewusste Verdrängung der großen Zahl realer Probleme zwischen beiden Staaten – z.B. die kontroversen Selbst- und extremen Feindbilder3 , die unterschiedlichen Perzeptionen von Nation mit ihren gravierenden Folgen seit 1947, die direkt kollidierenden Auffassungen von nationaler Sicherheit und die damit gesetzte Sicherheitspolitik sowie die fundamentalen strategischen Gegensätze. Alle diese Widersprüche sind in der Realität vorhanden, d.h. unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz der Kashmir-Frage und sie können daher nicht von der Kashmir-Frage abgeleitet werden. Dass sie sich in der Kashmir-Frage direkt reflektieren, ist dagegen nur folgerichtig. Auf diese Amalgamierung hat die United Nations Commission for India and Pakistan (UNCIP) bereits 1949 in einem Bericht aufmerksam gemacht.4 Wer die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation dennoch auf Kashmir reduziert, nimmt eine Position ein, die zwischen politischem Wunschdenken und taktischer Propaganda angesiedelt ist, die keiner historisch-politischen Analyse standhält und im Interesse einer tatsächlichen Normalisierung zwischen Pakistan und Indien nicht akzeptiert werden sollte. Und wenn der Chef des im Oktober 1999 installierten Militärregimes am 23. Oktober 2000 in Sudhnoti erklärte: „Kashmir ist der einzige Streit zwischen Indien und Pakistan, während der Rest zweitrangige Probleme sind“5 , dann ist das ein klassisches Beispiel für die Grenzen des Realitätsbewusstseins in Pakistans militärischer und politischer Führung.

1.1 Zu wesentlichen historischen Wurzeln des Konflikts

Das Jahr 1947 markierte das Ende der Herrschaft Großbritanniens über Südasien, die Wiedergewinnung eigener Staatlichkeit in Indien und die Konstituierung Pakistans aus den Provinzen Britisch-Indiens mit mehrheitlich moslemischer Bevölkerung (Sindh, Baluchistan, North West Frontier Province), jenen Gebieten der großen Provinzen Punjab und Bengalen, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung für Pakistan optiert hatte und einer Reihe von Fürstenstaaten. Das war ein tiefer historischer Einschnitt für Südasien, wurde doch Großbritannien gezwungen, seine direkte Herrschaft über den Subkontinent aufzugeben und den Weg für eine souveräne nationale Entwicklung in Südasien freizumachen. Dieses Datum war zugleich der Ausgangspunkt für markante staatliche und politische Prozesse, wirtschaftliche und soziale Umwälzungen, die in den zurückliegenden fünfzig Jahren das Gesicht Südasiens drastisch verändert haben.

Jedoch haben sich die spezifischen Bedingungen, unter denen die neuen Staaten ihre politische Selbständigkeit erlangten, bis auf den heutigen Tag auch als schwerwiegende Hypothek, als Konfliktpotential von gefährlicher politischer Brisanz erwiesen. Ihre Langzeitwirkung hat die Gesamtentwicklung in Südasien seit 1947 überschattet.

Die multiethnische, multikulturelle und polykonfessionelle Struktur Britisch-Indiens erforderte unabweisbar die föderale staatliche Gliederung eines nachkolonialen Indien, um die für eine souveräne Entwicklung essentiellen gesamtstaatlichen Interessen und die legitimen Interessen der zahlreichen großen und kleinen Gemeinschaften möglichst weitgehend zu harmonisieren und einen von allen akzeptierten Rechtsrahmen für ein Zusammenleben in einem Staat, für die Regulierung von Interessendivergenzen und für die Bewältigung von Konflikten mit rechtsstaatlichen Mitteln zu schaffen.

Die Provinzen Britisch-Indiens waren keine historisch gewachsenen Strukturen, sondern das Resultat eines vom 18. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh. andauernden und mit unterschiedlichem Tempo verlaufenden Eroberungsprozesses. Ihre Grenzen deckten sich keineswegs mit den ethnischen und linguistischen Trennlinien. Diese Situation wurde zusätzlich durch die ausgesprochene Streulage der Fürstenstaaten kompliziert. Daher hatte die nationale Frage in Indien neben ihrer dominierenden antikolonialen, auf die Befreiung von der Fremdherrschaft zentrierten Stoßrichtung, im 20. Jh. auch eine bedeutsame innere Komponente – das Ringen großer, bereits auf den Wege der nationalen Formierung befindlicher ethnischer Gruppen, sowie religiöser Gemeinschaften und traditioneller tribaler Gruppen um das Recht, sich frei auf der Grundlage ihrer eigenen Kultur, ihrer eigenen Sprache und ihrer eigenen Wertesysteme entwickeln zu können.

Diese starke regionale Triebkraft des nationalen Befreiungskampfes wurde jedoch in den letzten Jahrzehnten der britischen Herrschaft durch das Zusammenspiel eines prononciert antiindischen Flügels im britischen Establishment und in der Kolonialadministration mit kommunalistischen Kräften, Vertretern beschränkter Gruppeninteressen unterschiedlichster Couleur und bigotten religiösen Fanatikern faktisch paralysiert. Alle die Verfassung Britisch-Indiens betreffenden Grundsatzdokumente vom Government of India Act (1935)6 über die Cripps Proposals (1942)7 bis zu den Indien-Erklärungen der Labour-Regierung von 1945 bis 19478 legen Zeugnis davon ab, wie Föderalismus und Schutz der Minderheiten zu Instrumenten für die Schürung innerer Konflikte und zur Waffe gegen ein einheitliches unabhängiges Indien verkamen. Großbritannien wurde in die Lage versetzt, einzelnen Interessengruppen Konzessionen zu machen und diese unter Hinweis auf die indolente Haltung rivalisierender Kräfte zu widerrufen, und somit durch die Begünstigung oder direkte Schürung der inneren Widersprüche und Konflikte seine eigene Herrschaft über den zweiten Weltkrieg hinaus zu verlängern.Die inneren Widersprüche und Konflikte, die Großbritanniens Indienpolitik ungemein erleichterten, waren breit gefächert. Sie umfassten die seit den zwanziger Jahren zunehmenden sozialen Auseinandersetzungen, nationale, ethnisch-kulturelle und konfessionelle Differenzen sowie politische Machtkämpfe innerhalb der Oberschichten der indischen Gesellschaft. Zum Kern dieser Konfliktpotentiale wurde die Rivalität zwischen den beiden größten politischen Parteien, dem Indian National Congress und der All-India Muslim League. Sie wurde faktisch zum Kulminationspunkt der inneren Konfliktsituation in Indien. Die Anfänge dieser bis heute folgenreichen Auseinandersetzung lagen in der von den Briten aus ihren Herrschaftsinteressen heraus künstlich neu belebten Konfrontation zwischen Hindus und Moslems mit ihrer traditionellen Vernetzung sozialer, politischer und religiöser Fragen.9 Der »Hindu-Moslem-Konflikt« war kein religiöser Antagonismus. Selbst in seinen »heißen« Phasen war keine substantielle Bedrohung der Religionsgemeinschaften oder der Freiheit der Religionsausübung gegeben. Es ging für die Arbeitenden primär um mehr soziale Gerechtigkeit, für die noch schwache islamische Mittelklasse um den Zugang zu sozial gehobenen Positionen (z.B. in der Administration) und für die Oberklassen um Machtanteile. Das heißt, dieser Konflikt war ein politischer Kampf, dem handfeste soziale und ökonomische Interessen zu Grunde lagen. Humayun Kabir, selbst der islamischen Aristokratie entstammend, schrieb noch vor dem zweiten Weltkrieg: „Der kommunalistische Konflikt ist letztlich ein Kampf zwischen den Mittelklassen der beiden Gemeinschaften um den Anteil an den guten Dingen des Lebens.“10 Wir haben aber zu berücksichtigen, dass bis 1947 die populistische Hervorhebung der religiösen Komponente die dominante Oberflächenerscheinung dieses Machtkampfes zwischen INC und AIML war. Und es ist eine historische Groteske, dass es in Pakistan und Indien Kräfte gibt, die diese Schimäre auch heute noch als den Kern des pakistanisch-indischen Verhältnisses ansehen.

So wie der Hindu-Moslem-Konflikt war auch die Zweinationentheorie eine markante Ausdrucksform des politischen Machtkampfes zwischen den indischen Oberschichten mit unterschiedlichem kulturell-konfessionellem Hintergrund. Der Nationalkongress war zweifelsfrei eine nationale Sammlungsbewegung, die gebetsmühlenartige Unterstellung der Moslemliga, der INC sei nur eine Repräsentanz der Hindus, war eine später auch von den Briten aus ähnlichen politischen Motiven übernommene politische Propagandathese. Der Kongress war aber zugleich die Partei des aufstrebenden indischen Bürgertums und erheblicher Teile der Intelligenz und damit ein Instrument zur Generierung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Interessen. Er führte einen langjährigen und opferreichen Kampf gegen das Kolonialregime, aber er wollte auch die alleinige Macht im nachkolonialen Indien. Daher kam eine tatsächliche Machtteilung mit der Moslemliga ebenso wenig in Frage wie die Anerkennung der Interessen und Forderungen der indischen Linkskräfte. Für das Verhältnis zur Moslemliga war es ausgesprochen fatal, dass der sich gandhistisch drapierende konservativ-hinduistische Flügel in der INC-Führung seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre erheblichen Einfluss gewann. Die Negierung berechtigter Erwartungen der moslemischen Bevölkerungsgruppe nach den Wahlen von 1937, die Verdrängung Subhas Chandra Boses aus dem Kongress und gravierende politische Fehlentscheidungen während des zweiten Weltkrieges sowie zwischen Juni 1945 und August 1947 ist direkt damit verbunden und fünfundfünfzig Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit wäre es hohe Zeit, die Politik dieser Babu-Gruppe und ihre Langzeitfolgen einer objektiven historischen Analyse zu unterziehen.

Die Moslemliga erkannte nach den Wahlen von 1937. dass die realen Macht- und Mehrheitsverhältnisse ihr bei einer politisch ausgehandelten Unabhängigkeit Indiens und einer parlamentarischen Staatsordnung keine Chance geben würden, an die Macht zu kommen. Mohammed Ali Jinnah, ein glänzender Rechtsanwalt und Präsident der Moslemliga, erklärte am 22. März 1940 in Lahore: „Wenn Hindus und Moslems in einem den Minderheiten aufgezwungenen demokratischen System zusammengebracht werden, kann dies nur zu Hindu raj (Hinduherrschaft, d. V.) führen.“11 Die Liga erteilte daher einem parlamentarisch-demokratischen Weg zur Unabhängigkeit eine prinzipielle Absage12 , machte die bis dahin relativ bedeutungslose Zweinationentheorie13 zu ihrer ideologischen Kernthese, stellte das Postulat auf, dass Moslems und Hindus grundverschiedene Nationen seien, die nicht auf dem Territorium eines Staates zusammenleben könnten14 .Sie versuchte folgerichtig mit der Pakistan-Resolution von Lahore (1940) einen eigenen Staat für die islamische Bevölkerungsgruppe durchzusetzen15 – d.h. die moslemischen Ober- und Mittelklassen wenigstens in einem Teil Indiens an die Macht zu bringen. 1941 erklärte Mohammad Ali Jinnah, in Madras: „Moslem-Indien wird sich niemals einer gesamtindischen Verfassung und einer Zentralregierung unterwerfen. Die Ideologie basiert auf dem fundamentalen Prinzip, dass die Moslems in Indien eine unabhängige Nationalität sind, und jedem Versuch zur Assimilierung ihrer nationalen und politischen Identität wird Widerstand entgegengesetzt werden.“16 Damit war der Kurs eingeschlagen, der geraden Weges zur Teilung Indiens führte.

Das Inkrafttreten des Indian Independence Act am 15. August 194717 war nur der formelle Vollzug von Entscheidungen, die bereits zwischen 1937 und 1945 gefallen waren. Zugleich haben die Jahrzehnte seit 1947 deutlich gemacht, dass die Teilung Indiens keine Lösung der »indischen Frage« war. Die inneren Grundprobleme blieben in den Nachfolgestaaten Britisch-Indiens auf der Tagesordnung und das Unvermögen der regierenden Eliten, sie zu bewältigen, hat ein ganzes Bündel von Konfliktpotentialen geschaffen und die innere Sicherheit beider Staaten einer enormen und zunehmenden Belastung ausgesetzt. Die Transformation des innenpolitischen Machtkampfes AIML-INC in die Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen hat Pakistan in drei Kriege mit Indien gestürzt und einen chronischen Spannungszustand in Südasien geschaffen.

Pakistan trat mit dem Vorsatz in die internationale Arena, mit allen Nachbarn in Frieden und guter Nachbarschaft zu leben und brüderliche Beziehungen mit allen islamischen Staaten zu pflegen. Bereits 1940 erklärte Jinnah vor der Jahrestagung der AIML in Lahore: „Wir wünschen als ein freies und unabhängiges Volk mit unseren Nachbarn in Frieden und Harmonie zu leben.“18 Er bekräftigte diese Position 1947 als Generalgouverneur Pakistans: „Unser Ziel sollte Frieden nach innen und nach außen sein. Wir wollen in Frieden leben und freundschaftliche Beziehungen zu unseren unmittelbaren Nachbarn und zur ganzen Welt pflegen.“19

Pakistan wurde 1947 auch mit der Überzeugung gegründet, dass die Teilung Indiens nicht zwangsläufig zu einem feindseligen Verhältnis zwischen den Nachfolgestaaten führen müsse. Jinnah entwickelte 1940 folgende Perzeption: „Es gibt keinen Grund, dass diese Staaten (Indien und Pakistan – D.W.) sich antagonistisch zueinander verhalten sollten. Im Gegenteil, die Rivalität zwischen ihnen, das Streben und die Anstrengungen einer Seite, die soziale Ordnung der anderen Seite zu dominieren und eine politische Suprematie in der Regierung des Landes über sie zu erlangen, wird verschwinden. Das wird zu mehr natürlichem guten Willen führen und sie können durch internationale Abkommen zwischen ihnen in vollständiger Harmonie als Nachbarn leben.“20

Wenn man die Schärfe der Auseinandersetzung um die Pakistan-Forderung der Moslemliga zwischen 1940 und 1947 in Rechnung stellt, erhebt sich natürlich spontan die Frage, mit welchen Realien Jinnah diese Hoffnung verband. Tatsächlich entwickelten sich die pakistanisch-indischen Beziehungen – konträr zur Erwartung Jinnahs – vom ersten Tage an konfliktiv.

Das ist nicht primär den gravierenden Fehlern, der Kurzsichtigkeit und dem strategischen Versagen der Regierungen oder den Pogromen in den Monaten nach dem 15. August 1947 geschuldet, obwohl alle diese Momente eine erhebliche Rolle gespielt haben. Mohammed Ali Jinnah und nach ihm viele andere pakistanische Politiker erkannten nicht, dass der Kampf um einen eigenen Staat einen hohen Preis hatte:

  • Die gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung Britisch-Indiens von der Moslemliga politisch erzwungene Teilung musste einen strategischen Langzeitkonflikt zwischen den beiden Nachfolgestaaten nach sich ziehen, da die bisherigen innenpolitischen Hauptrivalen nunmehr in beiden Ländern an der Macht waren.
  • Das Pakistan-Konzept der Moslemliga hatte in Britisch-Indien über die unmittelbaren Konfliktparteien hinaus zu einer Polarisierung der Gesellschaft mit kontroversen und teilweise extrem überhöhten Selbst- und Feindbildern geführt, die nach 1947 nicht nur dramatisch verstärkt, sondern auch offiziell nationalistisch sanktioniert wurden.
  • Die von der Moslemliga zum ideologischen Fundament der Pakistanforderung erhobene Zweinationentheorie führte nicht nur zu einem tiefgreifenden Dissens in der antikolonialen Bewegung Indiens, sondern hatte prinzipielle Konsequenzen für die Perzeption von Nation in den Nachfolgestaaten.
  • Schließlich übersah die Führung der Moslemliga, dass die Bildung des Staates Pakistan im Kontext und auf der Grundlage dieser Widersprüche zu direkt kollidierenden Auffassungen von nationaler Sicherheit und damit zu einer konfrontativen Sicherheitspolitik Pakistans und Indiens führen musste.

Pakistan trat 1947 in die staatliche Selbständigkeit ohne ein konzises außenpolitisches Konzept, waren doch die All India Muslim League und Mohammad Ali Jinnah persönlich völlig durch den Kampf um die Erlangung der Staatlichkeit Pakistans absorbiert. In der außenpolitischen Konfusion 1947/48 war für nahezu das gesamte politische Spektrum Pakistans eines völlig klar: Angesichts der Schärfe der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen der Moslemliga und dem Nationalkongress um die Schaffung Pakistans und der Weigerung des Kongresses bis zum Frühjahr 1947, Pakistan zu akzeptieren, stand der Hauptfeind in Indien, das bei der ersten günstigen Gelegenheit versuchen würde, die Teilung zu revidieren.

Diese Ausgangsposition hatte langfristig wirksame Konsequenzen:

  • Sie bestimmt bis heute das pakistanische Selbstbild und Feindbild.
  • Sie führte zu einer Sicherheitsperzeption, die ausschließlich auf eine Bedrohung von außen – und das hieß im Klartext immer Indien – ausgerichtet war. Kernstück dieser Sicherheitsperzeption war das Paritätsparadigma, das auch vor 1947 bereits zum Arsenal der Moslemliga gehörte. Politisch artikulierte sich dieser Anspruch seit dem ersten Tagen in der Forderung nach nicht nur gleicher, sondern auch gleichrangiger Behandlung mit Indien. Militärisch führte das Paritätsparadigma zur jahrzehntelangen forcierten Aufrüstung Pakistans mit allen hinreichend bekannten Folgen für die Wirtschaft, den Staatshaushalt und die politischen Verhältnisse des Landes.
  • Die eigentliche Abkunft der pakistanisch-indischen Konfrontation von der machtpolitischen Auseinandersetzung in Britisch-Indien führte zum eigentümlichen Konstrukt eines Konfliktes, der noch lange Jahre nach 1947 eine auf zwischenstaatlicher Ebene ausgetragene, aber faktisch innere Auseinandersetzung blieb. Daraus erklärt sich auch der überdurchschnittlich hohe Stellenwert der ideologischen Faktoren. Man kann feststellen, dass Pakistan und Indien sich jahrzehntelang, auch in den Perioden ohne bewaffnete Konflikte, in einem offenen ideologischen Krieg befanden.

Das heißt: Selbstbild und Feindbild Pakistans, seine Sicherheitsperzeption und Sicherheitspolitik sowie seine Machtprojektion waren immer eindeutig auf Indien oder präziser gesagt, gegen Indien ausgerichtet.

Gleichzeitig war sich das politische und militärische Establishment – trotz aller gegenteiligen offiziellen Beteuerungen – immer der außerordentlich ungünstigen strategischen Position Pakistans bewusst. Die Konsequenz war nicht nur die Anlehnung an die USA, die einen ersten Höhepunkt während des Frontstaaten-Status Pakistans im Afghanistan-Krieg der 80er Jahre erreichte, sondern auch das ständige Streben nach strategischer Tiefe. Dafür war man sogar bereit, einen Identitätswechsel anzubieten.

  • 1947-1971 legte Pakistan außerordentlichen Wert auf die Anerkennung als mit Indien gleichrangiger südasiatischer Staat.
  • Von 1971 bis hoch in die achtziger Jahre definierte sich das pakistanische Establishment immer stärker als Westasien zugehörig, da Pakistan ein islamischer Staat sei, und die Staaten Westasiens wurden aufgefordert, die islamischen Brüder gegen Indien zu unterstützen. Dieser Ruf verhallte nahezu ungehört, überdies waren weder Iran noch Saudi-Arabien an einem neuen Prätendenten für die regionale Vormacht in Westasien interessiert.
  • Mit dem Zerfall der UdSSR und der Konstituierung der unabhängigen Republiken in Zentralasien entdeckte Islamabad schließlich seine zentralasiatische Identität, da die Vorfahren von 60 Prozent der jetzigen Bevölkerung aus dieser Region stammten.

In diesen Wendungen manifestiert sich eine grundlegende Unsicherheit hinsichtlich des Verständnisses, was Pakistan eigentlich ist. Damit kann man weder nationale Kohäsion schaffen noch eine einigermaßen strukturierte Außenpolitik betreiben.

Das Scheitern der strategischen Offerten an das muslimische Umfeld und der folgenreiche Verlust des Frontstaaten-Bonus warf Pakistan wieder auf die sogenannte One Point Foreign Policy zurück, d.h. auf Indien. Diese Fixierung Pakistans auf Indien ist in hohem Maße konfliktgeladen. Das haben die zurückliegenden fünf Jahrzehnte hinlänglich bewiesen und das ergibt sich aus einem ganzen Bündel spezifischer Wirkungsfaktoren, von denen nachstehend nur einige stichwortartig genannt werden können:

  • Die eingeschränkte Wahrnehmung der Ursachen und der Ergebnisse der pakistanisch-indischen Konflikte von 1947/48, 1965 und 1971 und der damit verbundene Verlust realen Einschätzungsvermögens in den Entscheidungsgremien.
  • Die Zählebigkeit der Selbsttäuschung durch die These von der geringen Kampfmoral der indischen Armee, die auch mitverantwortlich für das Kargil-Desaster war.
  • Die gering ausgebildete Fähigkeit, die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Folgen eigener Entscheidungen hinreichend real zu kalkulieren (Kernwaffentests, Kargil-Operation). Seit Jahrzehnten galt in Pakistan beispielsweise eine Machtübernahme in Indien durch die Hindunationalisten als »worst case scenario« für Pakistan und dann leistete man Vajpayee mit der Kargil-Operation die beste nur denkbare Wahlhilfe.
  • Und schließlich ist auf die erneute Paritätsfalle nach den Kernwaffentests von 1998 zu verweisen.

Zusammengenommen bedeutet dies, dass das pakistanische Indienbild weitgehend auf den konfrontativen Prämissen von 1947 beruht, d.h. auf Annahmen, die sich in den letzten fünfzig Jahren weitgehend als gegenstandslos erwiesen haben.

Das pakistanisch-indische Konfliktverhältnis ist daher weder eine Verkettung unglücklicher Umstände noch ein historischer Betriebsunfall im Gefolge des Kashmir-Problems, sondern eine komplexe und angesichts der Ausgangslage und der Herrschaftsverhältnisse in beiden Staaten zum Zeitpunkt ihrer Konstituierung weitgehend unvermeidbare Interessenkollision.

Drei Kriege und ein Dauerkonflikt mit Indien, ein gestörtes Verhältnis mit dem moslemischen Nachbarn Afghanistan seit den späten vierziger Jahren (Problem der Durand-Linie, Pashtunistan-Frage), keineswegs brüderliche Beziehungen zu anderen Staaten mit islamischer Bevölkerung,21 und eine langjährige schmerzliche Isolierung Pakistans in der Dritten Welt infolge seiner engen militärisch-politischen Bindung an die Vereinigten Staaten – das sind die bitteren Realitäten.

1.2 Der pakistanisch-indische Konflikt als komplexe zwischen staatliche Interessenkollision

Der pakistanisch-indische Konflikt begann, wie bereits dargelegt, historisch in Britisch-Indien als Kampf um die politische Macht zwischen zwei Fraktionen der indischen Mittel- und Oberklassen mit unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrund, der auch durch unterschiedliche konfessionelle Bindungen geprägt war, die ihre jeweilige politische Repräsentanz im Indian National Congress und der All India Muslim League fanden. Mit der Teilung Britisch-Indiens in die Dominien Indien und Pakistan am 15. August 194722 verschwand diese Rivalität keineswegs, sondern wurde nahtlos in der postkolonialen Konstellation weitergeführt und auf die Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen gehoben. Im Jahre 1947 und unmittelbar danach ging es zunächst um die Maximierung des jeweiligen territorialen, materiellen und finanziellen Anteils am britisch-indischen Erbe,23 während nach der Herausbildung eines gewissen status quo in den fünfziger Jahren der Konflikt als frontale bilaterale Konfrontation und regionalstrategische Auseinandersetzung fortgesetzt wurde.

Wesentliche individuelle Konfliktlagen in dieser Grundkonstellation waren:

  • Der Konflikt um den Verlauf der Grenze zwischen West- und Ostpunjab im Gefolge der Teilung der großen Provinz Punjab;
  • der Konflikt um die Verteilung des Indus-Wassers angesichts der Disparitäten hinsichtlich der Kontrolle über die entscheidenden Zuflüsse in der Himalaya-Karakorum-Region;
  • der Konflikt um das Fürstentum Jammu & Kashmir;
  • die Auseinandersetzung um die Aufteilung der Ressourcen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Kapazitäten und Finanzen Britisch-Indiens;
  • sowie die Ansprüche Pakistans auf indische Fürstenstaaten mit moslemischen Herrschern (z.B. Junagadh, Manowar, Hyderabad).

Der machtpolitische Aspekt der Konfliktkonstellation wird markant im pakistanischen Paritätssyndrom sichtbar, in dem der politische und konstitutionelle Paritätsanspruch der All India Muslim League vor der Teilung Britisch-Indiens auf nunmehr zwischenstaatlich-politischer, militärischer und international-rechtlicher Ebene weitergeführt wurde.

Es ist keineswegs überraschend, dass diese Konstellation Sicherheitsperzeptionen und Sicherheitspolitik zum Kern des pakistanisch-indischen Konflikts machte. Aus der Teilung Britisch-Indiens resultierende Wirkungsfaktoren dafür waren:

  • Die Teilung hinterließ auf dem Subkontinent ein markantes Ungleichgewicht der Streitkräfte – zahlenmäßig, hinsichtlich der Bewaffnung und Logistik sowie im Bereich der Möglichkeiten einer eigenen Rüstungsproduktion. Dieses Ungleichgewicht hat sich in den letzten mehr als fünfzig Jahren im Bereich der konventionellen Waffen nicht nur nicht verringert, es ist eher noch größer geworden. Selbst wenn wir pakistanische Angaben (aus der Zeit der Nukleartests von 1998), dass sich das konventionelle Kräfteverhältnis auf 5:1 beläuft, als weitgehend der Rechtfertigung der eigenen Nuklearisierung geschuldet betrachten, so steht doch eine eindeutige und massive konventionelle Überlegenheit Indiens außer Frage.
  • Beide Länder befanden sich nach der Teilung in einer grundsätzlich unterschiedlichen strategischen Situation. Von der territorialen Komposition und der strategischen Tiefe (nach damaligen militärischen Kriterien) her war Indien in einer weitaus günstigeren Lage. Es war aus seiner kompakten Landmasse heraus fähig, nach allen Richtungen zu agieren. Dagegen war Pakistan mit seiner Teilung in West- und Ostpakistan, die mehr als 1.500 km Luftlinie durch indisches Territorium getrennt waren, nur begrenzt fähig, seine Grenzen im Konfliktfall zu verteidigen. Selbst heute, nach der 1971 erfolgten Sezession Bangladeshs, könnte eine massiv aus den Ebenen der westlichen indischen Unionsstaaten vorgetragene Offensive gepanzerter Verbände in wenigen Tagen den Indus erreichen und damit für Pakistan elementare Verteidigungsprobleme schaffen.

Diese strategische Konstellation machte ein grundlegendes Sicherheitsarrangement zwischen beiden in die Selbständigkeit entlassenen Staaten auf der Basis einer verbindlichen Nichtangriffserklärung und der gegenseitigen Anerkennung und Respektierung der territorialen Integrität Indiens und Pakistans in ihren nachkolonialen Grenzen geradezu zu einer existentiellen Forderung. Die tatsächliche Entwicklung führte aber zum Gegenteil, sie brachte beide Länder aufs Schlachtfeld und produzierte spezifische Militärdoktrinen.

2. Die Stellung der Kashmir-Frage im pakistanisch-indischen Konflikt

Die seit Jahren andauernde Kashmir-Debatte ist gekennzeichnet durch ein verwirrendes Knäuel von widersprüchlichen Fakten, Halbwahrheiten, bewussten Auslassungen und schlichten Fälschungen, die in ihrer Gesamtheit den Kern eines offenen ideologischen Krieges zwischen Indien und Pakistan ausmachen und auf den eine – zurückhaltend formuliert – mäßig informierte Außenwelt entweder mit emotionaler Entrüstung (gravierende Verletzung der Menschenrechte) oder nach politischer Opportunität reagiert. Wenn man den Rauchvorhang wechselseitiger Unterstellungen und Vorwürfe, wohlfeiler Propagandathesen und unverhüllt chauvinistischer Perzeptionen durchstoßen will, um zum eigentlichen Gegenstand des Konflikts vorzudringen, muss man zunächst auf die oszillierende Verwendung der Begriffe Kashmir-Frage und Kashmir-Konflikt eingehen.

2.1 Der Inhalt der Kashmir-Frage

Als Inhalt der Kashmir-Frage werden hier die Voraussetzungen, Bedingungen und Formen einer verfassungs- und staatsrechtlichen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen sowie kulturellen Gestaltung der Verhältnisse im ehemaligen Fürstenstaat Jammu & Kashmir definiert, die sich in Übereinstimmung mit dem legitimen Recht aller Kashmiris (nicht nur der Moslems) auf Selbstbestimmung, mit den historischen und kulturellen Traditionen der Bevölkerung und der hochkomplizierten und spezifischen ethnischen und religiösen Grundkonstellation befindet.

Der Staat Jammu & Kashmir umfasste 1947 vor Beginn des Konflikts insgesamt 222.236 qkm mit etwas mehr als 4 Mio. Einwohnern. Das eigentliche Kashmir – im wesentlichen das Kashmir-Tal, machte lediglich 10 Prozent der Gesamtfläche aus, Jammu etwa 15 Prozent, während drei Viertel des Territoriums auf die nördlichen Gebiete und Ladakh entfielen. Aber nicht weniger als 92 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten in Kashmir und Jammu.24 Von diesem Gesamtterritorium befinden sich heute 78.932 qkm unter pakistanischer Verwaltung, 5.180 qkm wurden in einem völkerrechtlich irrelevanten Grenzvertrag, da es sich selbst nach pakistanischem Verständnis um ein »disputed area« handelt, von Pakistan an China abgetreten,25 37.555 qkm sind von China besetzt (Aksai-Chin), die restlichen derzeit 121.667 qkm konstituieren den indischen Unionsstaat Jammu & Kashmir, der sich aber als Rechtsnachfolger auf dem gesamten Territorium des ehemaligen Fürstenstaates betrachtet.26

Nach dem letzten im indischen Unionsstaat Jammu & Kashmir durchgeführten Zensus im Jahre 1981, (bei den nächsten indischen Volkszählungen von 1991 und 2001 konnte wegen des Aufstandes und des verhängten Ausnahmezustandes keine Datenerhebung durchgeführt werden), ergab sich in diesem Gebiet folgende Struktur. Im Kashmir-Tal lebten 52,35 Prozent der Bevölkerung (3.134.904), von denen 94,96 Prozent Moslems, 4,59 Prozent Hindus und 0,05 Prozent Andere waren. In Jammu lebten 45,39 Prozent der Gesamtbevölkerung (2.178.113), von denen 29,60 Prozent Moslems, 66,25 Prozent Hindus und 4,15 Prozent Andere waren. In Ladakh (ohne von China besetzte Gebiete) lebten auf dem größten Teilterritorium nur 2,26 Prozent der Bevölkerung (134.372), von denen 46,04 Prozent Moslems, 2,66 Prozent Hindus und 51,30 Prozent Andere (in der Regel Buddhisten) waren. Für den gesamten Unionsstaat (ohne besetzte Gebiete) ergab das 1981 eine Gesamtbevölkerung von 5.987.389 mit 64,19 Prozent Moslems, 32,24 Prozent Hindus und 3,57 Prozent Anderen.27 Hinzu kommt die unterschiedliche Bevölkerungsdynamik. Der Anteil der Moslems ging von 68,30 (1961) auf 64,19 Prozent zurück (1981), der Anteil der Hindus erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 28,45 auf 32,24 Prozent, die Sikh-Bevölkerung stieg von 1,77 auf 2,24 Prozent. Dagegen geht der Anteil der Buddhisten, der autochthonen Bewohner Ladakhs, seit 1961 geringfügig, aber stetig zurück und liegt heute wahrscheinlich unter ein Prozent der Gesamtbevölkerung des indischen Bundesstaates Jammu und Kashmir. Dieser Trend bedeutet, dass die Ladakhis in ihrem eigenen Land zur Minderheit geworden sind.28 Für 1991 schätzte die Zensus-Kommission die Gesamtbevölkerung auf 7,7 Mio.29 bei einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum der Bevölkerung des Unionsstaates von 2,9 Prozent dürfte die Zahl für 2001 bei etwa 10,6-10,8 Mio. liegen.

Diese wenigen Zahlen machen die Spezifik der Lage in Kashmir sowie die Schwierigkeiten deutlich, die einer Lösung der Kashmir-Frage im weiter oben definierten Sinne entgegenstehen.

Ob und in welchem Maße eine adäquate Lösung, d.h. eine Lösung unter Wahrung der legitimen Interessen und Rechte der kashmirischen Bevölkerung, im Rahmen des indischen Staatsverbandes möglich ist und durchgesetzt werden kann, hängt primär von der Perzeption der Kashmir-Frage durch die beteiligten Seiten ab. Grundsätzlich gilt zunächst einmal, dass eine Regelung nicht a priori mit Eigenstaatlichkeit oder mit dem Beitritt zu einem anderen Staat gleichgesetzt werden kann. Selbstbestimmung ist nicht identisch mit dem Anspruch auf Sezession, sondern auf das Recht und die Möglichkeit, auf der Grundlage der eigenen Werte, Normen und Traditionen selbstbestimmt zu leben. Die von Pakistan und den in seinem Orbit befindlichen militanten Gruppen im Kashmir-Tal vertretene Version von Selbstbestimmungsrecht ist substantiell ausschließlich auf eine als Anschluss an Pakistan verstandene Selbstbestimmung der kashmirischen Moslems orientiert. Es handelt sich dabei um die Forderung nach einem exklusiven Selbstbestimmungsrecht unter Nichtberücksichtigung der Rechte und Interessen großer nichtmoslemischer Bevölkerungsgruppen. Diese Segmente der Bevölkerung in Jammu (vornehmlich Hindus) und in Ladakh (sino-tibetische Gruppen mit buddhistischer Konfession) sind zwar im Maßstab des gesamten strittigen Territoriums Minderheiten, nicht aber in den von ihnen bewohnten Gebieten, wo sie zudem in der Regel zugleich die indigene Bevölkerung sind.

Gleichzeitig kann die formalistisch-legalistische Formel von Kashmir als »integraler Bestandteil Indiens« und die Behandlung Kashmirs als einer von vielen indischen Staaten mit ständiger massiver Einmischung der Zentralregierung trotz der Existenz des speziellen Artikels 370 der indischen Verfassung und die langjährige Negierung der legitimen Rechte der kashmirischen Bevölkerung nicht toleriert und akzeptiert werden. Die Kashmir-Frage würde in der Form des heutigen militanten Konflikts nicht existieren, wenn der in der indischen Verfassung festgeschriebene Föderalismus konsequent durchgesetzt worden wäre. Es war die Ignoranz und Indifferenz der herrschenden Eliten, die zunehmende Zentralisierungstendenz, die negativen Einwirkungen des innenpolitischen Machtkampfes in Indien auf die Kashmir-Politik und auf die Lage in Kashmir selbst sowie die einseitige und sachlich falsche Betrachtung des politischen und ethno-nationalen Dissens in Kashmir als bloßes »law and order«-Problem, die im Laufe der Jahrzehnte zur völligen Entfremdung der Kashmiris und zur späteren Insurrektion führte. Und die seit März 1998 regierende BJP ist wegen ihrer langjährigen Intransigenz nicht weniger verantwortlich für die Malaise in Kashmir wie die Schlampigkeit mehrerer Kongressregierungen. Aber pakistanische Selbstgerechtigkeit in dieser Frage wäre auch völlig unangebracht, haben doch alle pakistanischen Regierungen auf substantiellen Dissens größerer Bevölkerungsgruppen, z.B. in Balochistan und in Sindh, in gleicher Weise reagiert. Die Opfer des pakistanischen Militärs zählen gleichfalls nach Tausenden.30

Eine weitere spezifische Frage ist darin zu sehen, dass die pakistanische Forderung nach dem Recht auf nationale Selbstbestimmung für Kashmir ipso facto überhaupt nicht einen Anspruch Pakistans auf dieses Gebiet stützt. Wenn die Kashmiris ernsthaft als »national entity« gesehen werden, d.h. wenn es das »Kashmiriyat« definitiv gibt, dann muss ihnen grundsätzlich auch das Recht auf eine dritte Option, nämlich die Eigenstaatlichkeit, zugestanden werden. Die emphatische Ablehnung einer solchen Option durch Regierung und veröffentlichte Meinung in Pakistan lässt zumindest die Interpretation zu, dass es Islamabad weniger um die Selbstbestimmung der Kashmiris geht, als vielmehr um die Erweiterung des pakistanischen Staatsgebietes. In diesem Kontext macht auch die Forderung nach dem gesamten Territorium des ehemaligen Fürstenstaates, trotz der nichtmoslemischen Bevölkerungsmehrheiten in Jammu und Ladakh, erst Sinn.

Überschauend betrachtet zeigt sich, dass es zweifelsfrei eine sehr komplizierte und schwer zu lösende Kashmir-Frage gibt, dass ihre Regelung aber keineswegs naturnotwendig mit Militanz, Konflikt und Krieg verbunden sein muss und aus meiner Sicht eine Regelung durch Konflikt sogar auszuschließen ist und auch ausgeschlossen werden muss. Weder die islamistische Irredenta noch Pakistan können Indien mit den bisherigen Kampfmitteln aus Kashmir vertreiben. Eine Entscheidung der regierenden Eliten Pakistans für einen offenen Krieg mit Indien um Kashmir hätte jedoch verheerende Folgen auch für Pakistan selbst, ganz abgesehen davon, dass er Kashmir weitestgehend unbewohnbar machen würde, da die Zeiten der selektiven oder punktuellen Kriegsführung angesichts der heute zur Verfügung stehenden Waffensysteme vorbei sind. Das Desaster der pakistanischen Kargil-Operation von 1999 hat einen drastischen Anschauungsunterricht für die Aussichten und Folgen einer derartigen Option geboten. Wie die Erfahrungen zeigen, wird Indien auch keineswegs vor Druck kapitulieren, weil die Kashmir-Frage nun einmal für Pakistan zu einer Frage der Staatsräson gemacht wurde, und auch nicht vor internationalen Pressionen auf Kosten der indischen Staatsräson zurückweichen. So schwer es in der Praxis auch sein mag, es geht essentiell um die Regelung der Kashmir-Frage. Der gleichzeitig existierende Kashmir-Konflikt ist eine falsche, destruktive und, politisch betrachtet, faktisch degenerierte Form eines Regelungsversuchs. Deshalb sollte man die Begriffe Kashmir-Frage und Kashmir-Konflikt auch nicht synonym verwenden.

2.2 Konflikte in und um Kashmir als ein Komplex unterschiedlicher Konfliktlagen und als spezifische Interaktionskonstellation

Eine historisch-politische Analyse der Konfliktlage in und um den Staat Jammu und Kashmir zeigt, dass es »den« Kashmir-Konflikt, wie er ständig in den Medien und in der politischen Diskussion reflektiert wird, nicht gibt. Was vereinfachend als Kashmir-Konflikt bezeichnet wird, ist vielmehr ein sehr kompliziertes Geflecht von Interessenkollisionen und akuten Konfrontationen, sind mehrere Konfliktlagen mit unterschiedlicher Entstehungszeit, mit durchaus verschiedenen Inhalten, Stoßrichtungen und Austragungsformen.

Es muss unterstrichen werden, dass diese Komplexität der Kashmir-Problematik von den Konfliktseiten nur partiell wahrgenommen, ausgesprochen zögerlich resp. widerwillig reflektiert und von den Hardlinern auf allen Seiten schlicht ignoriert oder bewusst auf die eigene Lesart reduziert wird – das ist auf der pakistanischen Seite nationale Selbstbestimmung plus Menschenrechte und auf der indischen Seite die stereotype Formel vom bewaffneten Terrorismus plus verdeckter Intervention von außen.

Wir haben es in Kashmir erstens mit einem historischen Konflikt zu tun, der einen ständigen Dissens bedeutender ethnischer Gruppen mit der jeweiligen zentralen Macht reflektierte, vornehmlich in der Region Poonch, in Baltistan und Gilgit, und der sich periodisch in Aufständen, z.B. gegen die Dogra-Herrscher bis 1947, entlud. Eine solche Revolte im Sommer 1947 im Distrikt Poonch war die Initialzündung für die Ereignisse, die im Oktober des gleichen Jahres zur Konfrontation zwischen Pakistan und Indien in Kashmir führten. Er ist auch heute noch als historische Unterströmung zu aktuellen Prozessen zu beachten und würde beispielsweise bei einer »pakistanischen Lösung« der Kashmir-Frage sehr schnell wieder an die Oberfläche treten. Die seit Jahren schwelende Unzufriedenheit mit der Politik Islamabads in den Northern Territories, die 1947 selbst für Pakistan optierten, ist dafür ein Indikator.

Zweitens ist die sichtbare Hauptform des Kashmir-Konflikts und die Dimension, die auch seit langem von der Außenwelt wahrgenommen wird, der Territorialkonflikt zwischen Pakistan und Indien um Kashmir. Er brach im Ergebnis der umstrittenen Option des letzten Maharaja Hari Singh für den Anschluss an Indien (26. bzw. 27.10.1947) aus, wurde aber de facto bereits seit August 1947 von der pakistanischen Armee mit Hilfe beutelustiger pashtunischer Stammeskrieger geführt.31

Der Territorialkonflikt um Kashmir hat bisher zu zwei Kriegen geführt (1947/48 und 1965, 1971 war Kashmir nur ein Nebenkriegsschauplatz), in deren Ergebnis Kashmir faktisch entlang der seitdem bestehenden Line of Control geteilt wurde. Dieser Territorialkonflikt ist der materielle Kern der gesamten pakistanischen Kashmir-Strategie, die Akquisition Kashmirs ist das zentrale Ziel, alle anderen offiziellen Argumente fallen in die Rubrik Propaganda.

Beide Konfliktseiten, Indien und Pakistan, haben den Territorialkonflikt über die Jahrzehnte hinweg zu einer nationalen und politischen Existenzfrage aufstilisiert und damit praktisch jeden für eine politische Regulierung notwendigen Manövrierraum sowie die Fähigkeit zu einem akzeptablen Kompromiss verloren.

Drittens gibt es einen strategischen Konflikt um Kashmir im Rahmen der seit 1947 andauernden machtpolitischen Konfrontation zwischen Pakistan und Indien. Kashmir ist dabei nur einer der strategischen Widersprüche zwischen beiden Staaten, dieser Konflikt kann aber zweifelsfrei als Kern der bilateralen Konfliktkonstellation angesehen werden. Seine Dimension ist nicht in territorialen Kategorien erklärbar, es geht um die strategischen Gesamtinteressen beider Länder und im Falle Kashmirs konkret um die Kontrolle über einen bedeutenden Teil der Wasserressourcen Südasiens und um wichtige Zugänge nach Zentralasien. Diese Dimension des Kashmir-Konflikts wird von pakistanischer Seite nicht offiziell reflektiert, da sie mit der Attitüde des selbstlosen Kampfes für das Selbstbestimmungsrecht der Kashmiris kollidiert, während sie in Indien seit Jahren Bestandteil der öffentlichen Diskussion ist.

Es gibt viertens einen Konflikt in Kashmir zwischen Teilen der Bevölkerung und der indischen Zentralregierung, der als innerer Konflikt 1989/90 akute und militante Formen annahm, in eine bürgerkriegsähnliche bewaffnete Insurrektion mit massiver Unterstützung von außen überging und schließlich eine gleitende Umfunktionierung in einen offenen Sezessionskrieg unter der Losung der nationalen Selbstbestimmung (azadi) durchlief. Dieser Sezessionskrieg wurde zur historischen Chance für die pakistanische Kashmir-Politik, die nunmehr zum ersten Mal seit dreißig Jahren eine Möglichkeit sah, das eigene Hauptziel – die Gebietserweiterung Pakistans und die strategische Schwächung des Hauptkontrahenten – unter dem international wirksamen Banner des Rechts auf nationale Selbstbestimmung und der Verteidigung der Menschenrechte durchzusetzen.

Die Immobilität der indischen Innenpolitik, die arrogante Attitüde von Regierung und Parlamentsparteien, ihre Ignoranz gegenüber legitimen Forderungen der kashmirischen Bevölkerung, ihr »Fremde Hand«-Syndrom und die damit verbundene engstirnige »law and order«-Politik; sowie die Unfähigkeit der Zentralregierung, unangemessenes und brutales Vorgehen von paramilitärischen Verbänden und Truppen zu zügeln, Übergriffe und offene Menschenrechtsverletzungen wirksam zu ahnden, hat zu einem Autoritätsdesaster und zu einem eklatanten Legitimitätsverlust Indiens in Kashmir geführt.32 Sie hat zugleich den massiven Propagandakrieg Pakistans gegen Indien in erheblichem Maße erleichtert und ihn zunehmende internationale Resonanz finden lassen.Es gehört zu diesem Bild, dass das brutale und eindeutig terroristische Auftreten militanter Sezessionsgruppen und ihre nur notdürftig verhüllte direkte Unterstützung aus dem Ausland undifferenzierte Reaktionen auf der indischen Seite stark beeinflusst haben. In Kashmir agieren nicht nur unbewaffnete und bewaffnete Ethnonationalisten, nicht nur mit modernen Subversionsmitteln ausgerüstete fanatisierte Islamisten, sondern auch schlichte kriminelle Gangs, die sich wie zuvor in Afghanistan als Freiheitskämpfer bezeichnen und es ist eine bedauerliche Tatsache, dass die große Mehrheit der Bevölkerung, die diesen Konflikt und die Gewalt nicht will, sondern in Frieden leben möchte, keine politische Stimme hat und von einer lautstarken und militanten Minderheit an die Wand gedrückt wird. Trotz der von interessierter pakistanischer Seite seit 1996 geführten abwertenden Kampagne und eines bis ins Irrationale getriebenen Terrors der Militanten gegen die Wahlen, ist es dennoch ein Hoffnungszeichen, dass sich im Herbst des Jahres 2002 prozentual mehr Kashmiris an den Wahlen zum Staatenparlament beteiligten als pakistanische Wähler an den letzten wirklichen, nicht wie 2002 vom Militär manipulierten, Parlamentswahlen am 3. Februar 1997.33

Bei einem weiteren längeren Anhalten der bewaffneten Auseinandersetzungen in Kashmir erhebt sich die Frage, ob wir es fünftens nicht auch mit einer militärischen Intervention islamistisch-terroristischer Gruppen aus dem Ausland (Afghanen, Araber, Tschetschenen) zu tun haben, die derzeit das Rückgrat der Sezessionskräfte bilden und die für die aktuellen Formen des Konfliktaustrags (Massenmorde an Zivilisten) die Hauptverantwortung tragen.

Die vorstehend genannten unterschiedlichen Konfliktlagen sind die Ebenen, die im Zusammenhang mit dem Begriff Kashmir-Konflikt unbedingt zu berücksichtigen sind und die zugleich deutlich machen, dass die Bewertung dieser komplexen Konfliktlage ein differenziertes Herangehen und die exakte Benennung des jeweiligen Konfliktgegenstandes, also der tatsächlichen und durchaus unterschiedlichen Streitmasse, erfordert.

Die als Kashmir-Konflikt bezeichneten Erscheinungen sind darüber hinaus eine charakteristische und zugleich sehr spezifische Interaktionskonstellation, in der folgende zentrale Konfliktpotentiale wirken und miteinander reagieren:

  • Ein traditionelles ethnokulturelles Konfliktpotential, eng mit der historisch gewachsenen kashmirischen Identität (Kashmiryat) verbunden und auf verbindliche Anerkennung dieser Identität durch eine weitgehende Autonomie gerichtet.
  • Ein in den letzten Jahren entstandenes und zunehmend schärfer konturiertes ethnosoziales Konfliktpotential, stimuliert durch die auch Kashmir treffenden Entwicklungsdisparitäten in Indien und das Unvermögen des Staates, der jüngeren Generation in Kashmir die Chance einer eigenen sozialen Existenz zu geben. Eine stetig wachsende Zahl junger Kashmiris erhielt die Chance, Bildung bis hin zum Universitätsabschluss zu erwerben, fand aber nach Abschluss ihrer Ausbildung keine Beschäftigung. Faktisch bildete sich ein ethnisch definiertes bzw. ethnisiertes explosives soziales Krisen- und Konfliktpotential heraus. Zusammen mit den ständigen politischen Eingriffen bewirkte es die fortschreitende Entfremdung eines erheblichen Teils der kashmirischen Bevölkerung von Indien und hat wesentliche Voraussetzungen für die spätere Insurrektion geschaffen. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Kader der militanten islamistischen Gruppen und Organisationen aus diesem zutiefst frustierten intellektuellen bzw. halbintellektuellen »Proletariat« rekrutierten und dass die heutige Dominanz der sogenannten Kalaschnikow-Kultur das Resultat einer nicht durchdachten Politik der indischen Zentralregierung ist.
  • Ein aus dem Zusammenwirken des ethnokulturellen und ethnosozialen Dissens entstandenes neues ethnonationales Konfliktpotential, d.h. aus einer traditionellen ethnisch-kulturellen Bewegung ist eine nationale Bewegung geworden, das Kashmiriyat wurde nunmehr als nationale Eigenständigkeit perzipiert und definiert, woraus sich unvermeidlich über den bisherigen Zielhorizont Autonomie hinaus die Forderung nach Sezession ergab. Diese Transformation ethnischer in nationale Bewegungen ist eine jener Erscheinungen, die wir als neue Konfliktphänomene in Asien bezeichnen. Der Umschlag einer traditionellen autonomistischen Bewegung in eine nationale Bewegung ist ein Resultat der Zugehörigkeit Kashmirs zum indischen Staatsverband und der in ihm wirkenden widersprüchlichen Einheit von Zentralisierung und Regionalisierung, aber nicht das Werk Pakistans. Denn eine wirkliche nationale Bewegung der Kashmiris ist auf Selbstbestimmung gerichtet und damit überhaupt nicht im Interesse Pakistans.
  • Die Herausbildung eines spezifischen sozialen Krisen- und Konfliktpotentials in Kashmir und der neue nationale Zielhorizont der ethnischen Bewegung schufen die Voraussetzungen für das Wirken weiterer neuer Konfliktphänomene: Die angesichts der historischen, traditionellen Toleranz der Kashmiris schockierende extreme Gewaltbereitschaft von Teilen der Bevölkerung, vor allem der jüngeren Generation, einschließlich der brutalen Anwendung physischer Gewalt auch gegen Mitglieder der eigenen Volksgruppe aus politischen und ideologischen Gründen;34 die hochgradige Ideologisierung aller Lebensäußerungen durch militante islamistische Gruppen und die sogenannte Allparteienkonferenz. Auch wenn es sehr unpopulär ist, muss festgestellt werden, dass diese Allparteien-Konferenz in keiner Weise eine legitimierte Repräsentanz der kashmirischen Bevölkerung ist. Sie ist nicht durch eine demokratische Willensäußerung zustande gekommen und vertritt nichts und niemand als sich selbst, ausgenommen vielleicht ihre Sponsoren jenseits der Grenze. Die Poussierung dieser selbsternannten Konstruktion nicht nur durch westliche Menschenrechts-Professionals, durch einige islamische Staaten und der Empfang ihrer Abgesandten selbst durch Mächte wie Großbritannien und die USA ist bei Lichte betrachtet, eine politische Groteske, völkerrechtlich irrelevant und dient keineswegs einer Konfliktregelung in Kashmir. Und an dieser Stelle kommt auch der äußere Faktor massiv ins Bild: Die direkte Einwirkung Pakistans, speziell des Geheimdienstes ISI und militanter islamischer Parteien, sowie die Benutzung Kashmirs als neuen Kriegsschauplatz für fanatische islamische Söldner aus Afghanistan, einigen arabischen Ländern und sogar aus dem Kaukasus, die absolut unzutreffend als Mujahieddin bezeichnet werden. D.h. die bewaffnete Insurrektion und ihre Islamisierung hat bereits zu einer partiellen Internationalisierung des Konflikts geführt.
  • Wie dargelegt, spielt im Kashmir-Konflikt ein klassisches traditionelles Konfliktpotential wie der Territorialkonflikt eine zentrale Rolle. Seinen eigentlichen Stellenwert hat er jedoch erlangt, weil er zugleich eine strategische Auseinandersetzung zwischen Pakistan und Indien ist und weil Pakistans Außenpolitik seit Jahren praktisch weitestgehend Kashmir-Politik ist, um die strategische Balance in Südasien – mit einer relativ eindeutigen hegemonialen Position Indiens – zu seinen Gunsten zu verändern.

Soweit zur Frage einer spezifischen Interaktionskonstellation am Beispiel des Kashmir-Konflikts, die nicht nur sehr deutlich das Zusammenwirken oder die Wechselwirkung, die wechselseitige Bedingtheit einer ganzen Reihe von Konfliktpotentialen zeigt, sondern auch die enge Verbindung innerer und äußerer Faktoren sichtbar macht.

3. Der nukleare Faktor im pakistanisch-indischen Konflikt

Für etwa sechs Wochen waren im Frühsommer 1998 die indischen und pakistanischen Kernwaffenversuche das beherrschende Medienthema, und man konnte den Eindruck gewinnen, dass in Südasien aus schierem Übermut die Welt an den Rand eines atomaren Krieges gebracht worden wäre. Der Verurteilungsdrang der etablierten Kernwaffenmächte und der Medien nimmt sich bei insgesamt 11 unterirdischen Versuchen Indiens und Pakistans auf eigenem Territorium doch etwas merkwürdig aus, wenn man die 2.046 Tests der »Großen« mit ihrer Verseuchung weiter und z.T. fremder Gebiete dagegen hält. Wo war das Entsetzen der anderen Großmächte bei der Serie französischer Kernwaffenversuche im Jahre 1995 auf dem Mururoa-Atoll? Und wo war der Moralismus Chinas und seine Sorge um den Weltfrieden, als es selbst am 16. Mai und 28. August 1995 sowie am 6. Juni und 29. Juli 1996 Atomwaffenversuche in seiner westlichsten Provinz durchführte?

3.1 Zur Einordnung der indischen und pakistanischen Kernwaffentests vom Mai 1998

Nun sind Kernwaffenversuche wahrlich nichts, was die Welt begrüßen oder auch nur tolerieren sollte, aber für eine realistische und ausgewogene Einschätzung der Kernwaffentests Indiens und Pakistans ist es notwendig, nach den Hintergründen, Triebkräften und konkreten Auslösern der Versuche zu fragen. Damit verbundene Fragen sind unter anderem:

  • Warum haben beide Staaten die nukleare Option gewählt?
  • Seit wann sind diese Staaten faktisch Atommächte?
  • Warum haben sie sich im Mai 1998 entschlossen, ihre Option offen zu legen?
  • Welche Resultate hat die Erklärung zur Kernwaffenmacht gebracht und was ist bei der Sanktionsfrage zu bedenken?

Die Wahl der nuklearen Option – Ursachen und Argumente

Zunächst ist angesichts der zahlreichen eilfertigen Einschätzungen und Verurteilungen festzuhalten, dass beide Länder ihr Nuklearprogramm nicht mit der Absicht begannen, Kernwaffen zu produzieren. Sie versuchten vielmehr, ihr enormes Energiedefizit mit Hilfe der Kernkraft zu schließen, die bis Tschernobyl weitgehend als die modernste und sauberste Art der Energieerzeugung betrachtet wurde. Es waren erst massive Bedrohungsperzeptionen und selbst prononcierte Bedrohungssyndrome in Indien und Pakistan, die den Auf- und Ausbau von Forschungsreaktoren immer weiter in die Nähe der Waffenoption drängten. Für Indien war der entscheidende Punkt die traumatische Nachwirkung des Himalaya-Krieges mit China (1962), die nur zwei Jahre später erlangte Kernwaffenfähigkeit Chinas und dessen in den sechziger Jahren anlaufende massive rüstungstechnische Unterstützung für Pakistan. Seit 1962 befanden sich die indisch-chinesischen Beziehungen am Rande des Krieges, waren sie hochgradig ideologisiert und in Wahrheit gab es bis zum Beginn der achtziger Jahre nichts, was man als bilaterale zwischenstaatliche Beziehungen bezeichnen könnte. Indien antwortete auf die Ereignisse nach 1962 mit einer vollständigen Reorganisierung seiner Streitkräfte und einem umfassenden Auf- und Umrüstungsprogramm. Chinas Verfügung über Kernwaffen und Trägermittel löste in Indien die systematische Vorbereitung eines eigenen Nuklearprogramms zur Erlangung eines entsprechenden Abschreckungspotentials aus, die in der Folgezeit auch zur Eigenproduktion eines breiten Fächers von Trägersystemen führte.35 Der Erfolg des Nuklearprogramms wurde 1974 mit dem ersten unterirdischen indischen Test in Pokhran (Rajasthan) sichtbar, dessen Hauptziel die Demonstration der indischen nuklearen Kapazität gegenüber den Großmächten und im besonderen in Richtung China war.

Dieser erste indische Nukleartest löste umgehend ein pakistanisches Gegenprogramm aus. Pakistan hatte seit dem Krieg von 1971 keine Chance mehr, in einem künftigen konventionellen Waffengang gegen Indien zu bestehen, selbst pakistanische Militärexperten räumten die Überlegenheit Indiens in allen Teilstreitkräften ein. Nicht nur Militärs, sondern auch Wissenschaftler erklärten seit der Mitte der siebziger Jahre immer wieder, dass Pakistan einen konventionellen Rüstungswettlauf mit Indien nicht bestehen könne, weil er zum wirtschaftlichen Kollaps des Landes führe und dass nur eine nukleare Option die Existenz Pakistans dauerhaft nach außen sichern könne.36 Diese Argumentationslinie war übrigens auch in Indien gegen China angesichts der anhaltenden konventionellen Übermacht Chinas durchaus verbreitet, wenn auch lange Zeit von den jeweiligen Regierungen nicht offiziell akzeptiert.

Die Erlangung der Kernwaffenfähigkeit

Wenn wir die Entwicklungen seit 1974 berücksichtigen, dann war es also keineswegs neu, überraschend oder bestürzend, dass beide Länder ziemlich frühzeitig die Kernwaffenfähigkeit erlangten, wie übrigens Israel auch. Beide Länder wurden jahrzehntelang von internationalen Institutionen, den Geheimdiensten der Großmächte, aber auch von zivilen Experten beobachtet, sie waren seit vielen Jahren als atomare Schwellenmächte klassifiziert und ihre Produktion spaltbaren, waffenfähigen Materials konnte ziemlich exakt hochgerechnet werden. Seit der indischen Explosion von 1974 wussten die Eingeweihten, dass Indien nicht nur über eine größere und angesichts der umfänglichen Erzeugung von Nuklearstrom ständig wachsende Menge von waffenfähigem Plutonium verfügte, sondern auch in der Lage war, die entsprechenden Sprengköpfe zu bauen. Pakistans Führer haben ihrerseits seit dem Ende achtziger Jahre immer wieder öffentlich erklärt, dass sie im Besitz der Bombe sind. Beide Staaten haben sich mit Hinweis auf den diskriminierenden Charakter des Kernwaffensperrvertrages (NPT), der das Kernwaffenmonopol der Etablierten festschreibt, und wegen der arroganten Verweigerung wirklicher nuklearer Abrüstung durch die Großmächte in den letzten drei Jahrzehnten strikt geweigert, diesem Vertrag beizutreten und haben auch seine unbegrenzte Verlängerung (1996) und den anschließenden Teststopvertrag (CTBT) nicht unterschrieben. Daher konnten weder die Geheimdienste noch die militärischen und politischen Führungen der Kernwaffenmächte den geringsten Zweifel haben, dass Indien und Pakistan seit den achtziger Jahren kernwaffenfähig waren. Thomas W. Graham prognostizierte bereits vor 1990, dass Indien und Pakistan spätestens im Jahre 2000 mittlere Kernwaffenmächte sein werden.37 Die unmittelbar nach der Bekanntgabe der pakistanischen Tests vom indischen Präsidenten K.R. Narayanan bei seinem Staatsbesuch in Nepal getroffene Feststellung kann eigentlich nur unterstrichen werden: „All die gutunterrichteten Agenturen in der Welt, einschließlich der amerikanischen Geheimdienste, hatten gesagt, dass Pakistan nur eine Schraubenzieher-Drehung von der Durchführung nuklearer Tests entfernt sei.“38 Die öffentliche »Fassungslosigkeit« Präsident Clintons und des deutschen Außenministers Klaus Kinkel im Mai 1998 war daher in hohem Maße erstaunlich und merkwürdig.

Die Tests vom Mai 1998 – zur Frage des Zeitpunktes

Dass Indien und Pakistan im Mai 1998 Kernsprengsätze zündeten und sich offiziell selbst zu Nuklearmächten erklärten, war weder ein Zufall noch ein Mysterium. Indien hätte sich bereits 1974 zur Kernwaffenmacht erklären können, aber Indira Gandhi ging aus außenpolitischen Gründen diesen Schritt nicht, ihr war das Risiko der möglichen internationalen Sanktionen zu hoch. Auch die vorbereiteten Tests von 1990 und 1995 wurden aus den gleichen Gründen abgebrochen. Aber Indien hat in den zurückliegenden 25 Jahren bei aller Zurückhaltung, diesen Schritt zu gehen, niemals auf die nukleare Option verzichtet und das schloss trotz aller gegenteiligen Erklärungen auch die Weiterentwicklung der militärischen Komponente ohne Tests ein. Die im März 1998 an die Macht gekommene hinduchauvinistische BJP hat andererseits immer offen die Bombe gefordert39 und es war absolut klar, dass sie, einmal an den Schalthebeln der Macht, sofort nach der nuklearen Option greifen würde. Andererseits, und Atal Behari Vajpayee wies in seiner Regierungserklärung vom 27. Mai 1998 vor dem Parlament selbst darauf hin40 , war er nur der Exekutor einer Entscheidung, die bereits Jahre zuvor gefallen, aber noch nicht vollzogen worden war.

Vajpayees Zündungsorder vom 11. Mai hatte drei außenpolitische Hauptziele:

  • Den Anspruch Indiens, als Großmacht respektiert und behandelt zu werden. Entsprechend der Denkmuster der Hinduchauvinisten glaubte man diese seit Jahren auf der politischen Ebene erhobene Forderung am wirkungsvollsten durch eine militärische Machtdemonstration untersetzen zu können.41 Der Präsident der Vishwa Hindu Parishad (VHP), Ashol Singhal, reklamierte, dass die Tests Indien als eine globale Macht etabliert hätten.
  • Eine machtpolitische Geste gegenüber dem nuklear nach wie vor überlegenen China, das zweifellos eine deutliche Aktie am pakistanischen Kernwaffen- und Raketenprogramm hat, was allerdings den antichinesischen Irrationalismus einiger Kräfte in Vajpayees Regenbogen-Koalition keineswegs rechtfertigte.
  • Eine gezielte Warnung an Pakistan, das den ersten Testflug seiner mit ostasiatischer Hilfe gebauten Mittelstreckenrakete »Ghauri« (6.4.1998) mit nassforschen Erklärungen begleitet hatte, dass man nun alle wichtigen indischen Städte mit der Bombe erreichen könnte.

Das heißt, die indischen Tests zielten weder primär auf Pakistan noch auf China ab, sondern hatten eine weit darüber hinausgehende Bedeutung, auch wenn sie vordergründig mit feindseligen Aktivitäten dieser beiden Staaten gerechtfertigt wurden. Die Behauptung Präsident Narayanans, „die Versuche (Pakistans – D.W.) haben deutlich gezeigt, dass es die Vorbereitung dafür begann, lange bevor Indien seine Tests durchführte,42 ist von geradezu rührender Naivität, denn diese Logik schließt ja ein, dass die indischen Testvorbereitungen noch früher angeordnet wurden. Der RSS-Generalsekretär Sudarshan war in seiner Bombeneuphorie unvorsichtig genug, stolz zu erklären, dass „die BJP einen Test in ihrer dreizehntägigen Amtszeit von 1996 plante, obwohl sie offenkundig die Vertrauensabstimmung verlieren würde.“43

Ebenso klar ist, dass die Kernwaffentests auch eine wichtige innenpolitische Funktion hatten. Die von der BJP geführte Koalition hatte in nahezu keiner nationalen Grundfrage eine einheitliche Position, in nicht wenigen wirtschafts-, sozial- und innenpolitischen Fragen existierte ein offener Dissens. Konsens bestand faktisch nur im Übergang zu einer stärker machtpolitisch orientierten Außenpolitik und in der Nuklearoption. Die Explosionen gaben der Regierung zumindest zeitweilig Profil und neues Selbstbewusstsein. Eine für sie höchst erwünschte Nebenwirkung war der nationalistische Taumel der Mittelschichten, unter den Studenten und in den Strukturen des politischen Hinduismus. Die Kritiker der Testentscheidung hatten in der nationalistischen Flutwelle keine Chance, Gehör zu finden.44 Auch in den Streitkräften und der Bürokratie konnte die BJP einen deutlichen Bodengewinn erzielen. Das bedeutet, dass mögliche innenpolitische Wirkungen der Bombe mittelfristig gefährlicher sein können als die Existenz der Bombe selbst, zumal Indien sie militärisch gegen Pakistan nicht benötigt. Und genau hier haben wir die wirklichen innenpolitischen Zielsetzungen der Nuklearpolitik Vajpayees und der hinter ihm stehenden Kreise zu suchen. Natürlich gab es im Mai 1998 und danach deutliche tagespolitische Motive und das Bestreben, die innenpolitische Position der BJP zu stärken. Aber tatsächlich geht es für die Hinduchauvinisten um eine solche Konsolidierung ihrer Machtposition, die es ihnen gestattet, die säkularistischen Prinzipien und Strukturen des politischen Systems Indiens zu eliminieren und das Land bereits im ersten Anlauf so weit wie nur möglich in die Richtung ihres Hindutva-Modells zu drängen.45 Das indische politische Magazin »Frontline« machte unmittelbar nach den Tests auf die Instrumentalisierung der Kernwaffen als Ausdruck von Hindutva und ihre pseudoreligiöse Stilisierung als »Agni ban« aufmerksam.46 Pokhran II, das unter dem Code-Namen »Shakti 98« lief, wurde nicht zufällig mit dem religiösen Feiertag »Buddha Jayanti« verbunden, schon Indira Gandhi hatte am 18. Mai 1974 Pokhran I unter Bezeichnung »Buddha is smiling« am Feiertag »Buddha Purnima« durchgeführt.47 Der religiösen Manipulation setzte die VHP die Krone auf, als sie forderte, auf dem Testgelände einen »Shakti Peeth«, einen Tempel zu Ehren Shivas und Durgas, zu errichten.48 Davor schreckte aber selbst Vajpayee zurück. Dieser Zusammenhang zwischen dem Nuklear-Nationalismus der Parivar-Gruppe und ihrem fundamentalistischen Gesellschaftsmodell ist in der bisherigen Diskussion entschieden zu wenig berücksichtigt worden.

Pakistan hat sich in den 50 Jahren seines Bestehens ein gelegentlich pathologisch anmutendes antiindisches Bedrohungssyndrom aufgebaut und glaubt sich täglich einem indischen Angriff auf seine schiere Existenz ausgesetzt, obwohl es aktenkundig ist, dass Pakistan zwei der drei Kriege selbst ausgelöst hat (Kashmir-Krieg 1947/48 und Operation Gibraltar 1965). Die Eliten des Landes sind so in ihren eigenen Vorstellungen gefangen, dass sie sogar die einfache Tatsache verdrängen, dass Indien nicht das mindeste Interesse daran haben kann, 140 Millionen pakistanische Muslime in die fragile Konstruktion des multiethnischen und polyreligiösen indischen Staates eingliedern zu wollen. Und wenn Indien Pakistan beseitigen wollte, hätte es nicht damit gewartet, bis Pakistan über die Atombombe verfügt. Aber dieses Bedrohungssyndrom ist eine zentrale politische Realität in Pakistan, und es war völlig klar, dass jede andere Reaktion als die Zündung eigener Kernsprengsätze für das Selbstverständnis Pakistans eine Katastrophe gewesen wäre. Klassische Beispiele für diese Denkweise kann man in den Ausgaben des Defence Journal (Karachi) nach den Tests finden.49 Auch der ehemalige Chef des Militärgeheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI), Generalleutnant Hameed Gul, der ohne Übertreibung zum islamistischen Flügel im höheren pakistanischen Offzierskorps gerechnet werden kann, forderte schon am 12. Mai 1998 eine „gleichwertige und machtvolle“ Demonstration der Kernwaffenfähigkeit Pakistans. Selbst die zweimalige Ministerpräsidentin Benazir Bhutto durfte in diesem Chorus nicht fehlen und verlangte von Nawaz Sharif Tests in spätestens einem Monat. Eine andere Strömung war durchaus bereit, für den Augenblick auf eigene Versuche zu verzichten, wenn die Gegenleistung der USA groß genug wäre.50 Wie in Indien, hatten auch in Pakistan gemäßigte Kräfte und Vertreter einer ausgewogeneren Sicht keine Chance.51 Auch darum musste Präsident Clintons Versuch, die zu erwartende pakistanische Reaktion in letzter Minute zu verhindern, trotz aller großzügigen Offerten (Sicherheitsgarantien, Wirtschafts- und Rüstungshilfe) scheitern. Im letzten von fünf dringlichen Telefongesprächen, die Clinton mit dem pakistanischen Premier Nawaz Sharif führte, erklärte dieser, dass er in zwei Tagen nicht mehr Ministerpräsident sei, wenn er nicht den Befehl zur Zündung gebe.52 . Eine Äußerung, die im Lichte des Militärputsches vom Oktober 1999 durchaus plausibel erscheint. Die pakistanischen Tests waren somit eindeutig eine Antwort auf die indischen Versuche und international der atomar gestützte Anspruch auf eine künftige Gleichbehandlung mit Indien. Aber die pakistanische Argumentationslinie, dass man nach der Erklärung Indiens zum Kernwaffenstaat nicht anders handeln konnte und dass Pakistan ausschließlich aus Sicherheitsgründen testete, kann nicht unbesehen akzeptiert werden. Wir müssen die eigenen machtpolitischen Aspirationen des pakistanischen Establishments und den hochgradig wirksamen ideologischen Faktor in eine Bewertung mit einbeziehen.Nur beiläufig soll erwähnt werden, dass einflussreiche Kreise Pakistans die Bombe auch als eine islamische betrachten, selbst wenn Mushahid Hussain und andere Offizielle dies wortreich dementieren,53 für Zulfikar Ali Bhutto war schon 1974 eine pakistanische Atombombe eine Bombe für die islamische Zivilisation.54 Das innenpolitische Kalkül war in Pakistan noch pointierter als in Indien. Die Regierung Nawaz Sharif hatte trotz einer Zweidrittelmehrheit im Parlament und der direkten Kontrolle aller entscheidenden staatlichen Funktionen in 15 Monaten weder die langjährige Staatskrise beenden noch eine Wende in der desolaten wirtschaftlichen und sozialen Situation herbeiführen können. Die indischen Kernwaffentests waren für sie ein Geschenk des Himmels, denn der allgemeine Bombentaumel, den die Medien mit allen Mitteln herbeigeführt hatten55 , drängte die tatsächlichen Probleme Pakistans zunächst weit in den Hintergrund und Nawaz Sharif war endlich, wenigstens für kurze Zeit, der »Premier der Nation«.Die innenpolitischen Reaktionen in beiden Ländern machen aber zugleich nachdrücklich auf die hochgradige Emotionalität und partielle Irrationalität der öffentlichen Meinung in der Nuklearfrage aufmerksam. In Indien traf die BJP unbedrängt, aber mit einer klaren innenpolitischen Zielsetzung, ihre Entscheidung, von Druck kann bis zum 11. Mai 1998 nicht gesprochen werden. Daher kam das überwältigende positive Echo auch für sie selbst unerwartet. In Pakistan war die Regierung infolge der voraufgegangenen indischen Tests tatsächlich einem derartigen innenpolitischen Druck ausgesetzt, dass sie faktisch nicht mehr Herr ihrer Entscheidungen war. Die mentale Überforderung Pakistans selbst noch im Juni 1998 konnte keinen deutlicheren Ausdruck finden als in der Tatsache, dass eine solche Tatarenmeldung wie die angebliche Landung israelischer Kampfflugzeuge in Srinagar, um die pakistanischen Kernwaffenzentren anzugreifen, zu Panikreaktionen in Parlament und Regierung führte.56 Aber in beiden Ländern schlug die Stimmung bereits nach sehr kurzer Zeit wieder um. In Indien, weil die erfolgreichen pakistanischen Tests die nationalistische Hochstimmung merklich dämpften, und zunehmend auch wegen der inkompetenten Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Vajpayee; und in Pakistan, weil die Panikreaktionen der Regierung (Verhängung des Ausnahmezustandes, wirtschaftliche Restriktionen, Sperrung der Valutakonten aller Bürger) die Jubilierenden jäh ernüchterte, sowie weil deutlich wurde, dass mit dem nuklearen »coming out« nicht eines der gravierenden Probleme des Landes gelöst worden war.

Damit stellt sich natürlich grundsätzlich die Frage nach der Bewertung der Wahl des Zeitpunktes für die Nukleartests durch die Führungen Indiens und Pakistans.

Die Kernwaffentests – Erwartungen, Realitäten und die Sanktionsproblematik

Es dürfte Konsens darüber bestehen, dass man diese Tests nicht einfach hinnehmen und zur Geschäftsordnung übergehen konnte. Auch wenn beide Staaten nicht Signatare der betreffenden internationalen Verträge sind und daher deren Bestimmungen nicht gebrochen haben, war ihr Vorgehen eine Gefährdung der internationalen Sicherheit, wirft den ohnehin schwierigen Prozess der nuklearen Abrüstung weit zurück, und macht die Sicherheitslage in Südasien noch instabiler.57 Hinzu kommt die Unbedenklichkeit, wenn nicht sogar Leichtfertigkeit des Handelns der indischen und pakistanischen Entscheidungsträger. Wenn man den Prozess verfolgt, kommt man unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass beide Seiten nach der Devise vorgingen: »Erst zünden, dann nachdenken«. Keine Seite hat die mit den Tests verbundenen Risiken und Konsequenzen vorher ernsthaft kalkuliert, wie auch die mit ihnen verbundenen hochfliegenden Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.

  • Beide Seiten haben ihre internationale Position mit den Tests nicht verbessert, sie sahen sich im Gegenteil schlagartig international in empfindlichem Maße isoliert. Beide Staaten sehen sich damit konfrontiert, dass sie bis jetzt nicht als Kernwaffenstaaten anerkannt werden, also trotz des Besitzes von Kernwaffen Staaten zweiter Ordnung bleiben. Indien hat seinem Anspruch, als Großmacht behandelt zu werden, einen denkbar schlechten Dienst erwiesen, die Aussicht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat scheint für lange Zeit verspielt worden zu sein. Die Regierung Vajpayee hat darüber hinaus die sich seit 1988 hoffnungsvoll entwickelnden Beziehungen zu China zumindest auf Sicht ruiniert. Der Nationalkongress warf der Regierung vor, leichtfertig die über Jahrzehnte hinweg mit großen Anstrengungen verbesserten Beziehungen zerstört zu haben. Natwar Singh erklärte: „Sie haben die Sicherheitsbedrohung durch China erfunden, und unser Sicherheitsumfeld hat sich dadurch verschlechtert.“58 Pakistan hat sich der historisch einmaligen Chance begeben, durch einen Verzicht auf Tests für wirksame internationale Sicherheitsgarantien seinen eigenen Status in der Region signifikant zu erhöhen und ein neues Image zu gewinnen. Die Tests haben im Gegenteil eine weitere Belastung der Beziehungen zu einigen Nachbarstaaten (Iran, zentralasiatische Republiken) nach sich gezogen. Das pakistanische Establishment war außerordentlich enttäuscht, dass, mit Ausnahme Irans, keine freudige Zustimmung zu den Tests aus der islamischen Welt erfolgte, und dass einige arabische Staaten diese sogar verurteilten. Die Islamisten verlangten von den islamischen Ländern mit kritischer Attitüde, Haltung zu beweisen und Agha Hamid Ali Shah Mausavi, der Chef der Tehrik Nifaz Fiqh-i-Jafriya (TNFJ), forderte sie auf, einen Boykott „aller zionistischen und indischen Waren“ auszurufen.59
  • Die Tests haben die tatsächlichen strategischen Kräfteverhältnisse zwischen Indien und China sowie zwischen Pakistan und Indien nicht qualitativ verändert. In einem Konfliktfall kann Indien nach wie vor die Kerngebiete Chinas nicht erreichen, während das gesamte Territorium Indiens seit vielen Jahren im Einzugsbereich chinesischer Nuklearwaffen liegt. Die antichinesischen Drohgebärden des Verteidigungsministers George Fernandes waren daher nicht nur politisch unverantwortlich, sondern zeugen auch von völliger militärischer Inkompetenz. Pakistan ist seinerseits immer noch weit von tatsächlicher Parität mit Indien entfernt. Ohne dass auf diese Frage hier im Detail eingegangen werden kann, bleibt festzustellen, dass einige gezündete Kernsprengsätze noch keine strategische Parität schaffen. Dazu gehört dann doch einiges mehr, denn alle anderen Parameter für die Überlegenheit Indiens bleiben bestehen. Indien wiederum hat sich durch die Tests sogar ohne Not bisheriger strategischer Vorteile gegenüber Pakistan begeben und selbst die Kashmir-Frage kompliziert, indem die BJP-Regierung mit der faktischen Kriegshetze des Innenministers L.K. Advani, er drohte faktisch mit der Atombombe, wenn Pakistan im Kashmir-Konflikt kein Wohlverhalten zeige, es Pakistan erlaubte, dieses Problem propagandistisch mit der Nuklearfrage zu verbinden.60
  • Keine Seite hat die realen Kosten der offenen Kernwaffenoption kalkuliert, nicht die inneren Konsequenzen für Wirtschaft und Finanzen, und auch nicht die externen Folgen, d.h. für Außenwirtschaft und die Akquirierung von Kapital.61 Die regierenden Elitenfraktionen in Indien und Pakistan haben ihre Länder und Völker entweder sehenden Auges oder blind in eine überaus unglückliche Lage gebracht.62

Insgesamt gesehen, bedeuten die vorstehend genannten Momente, dass die Nukleartests beider Staaten trotz aller hochtönenden Erklärungen weder die erwarteten Ergebnisse gebracht haben noch angesichts der »Nebenwirkungen« überhaupt als Erfolg zu bewerten sind.

Doch dieses festzustellen, schließt die Frage nicht aus, wer das Recht auf moralische Entrüstung und Sanktionen hat. Aus meiner Sicht ist die moralische Position der Großmächte sehr zweifelhaft – auf die Fragwürdigkeit chinesischer und französischer Positionen wurde bereits verwiesen und der Sicherheitsrat ist immer noch mehr oder weniger ein „Joystick“ der ständigen Mitglieder. Wo ist also die vielzitierte Weltgemeinschaft, und existiert sie überhaupt? Sanktionen sind überdies ein sehr zweischneidiges Schwert. Sie drohen hr Ziel völlig zu verfehlen und die Situation noch zusätzlich zu verschärfen, wenn sie zur Destabilisierung der betreffenden Staaten führen.63 Das heißt, sie müssen einerseits fühlbar und andererseits angemessen sein. Zweitens wird ein gefährliches Signal gesetzt, wenn man für das gleiche »Vergehen« unterschiedliche Sanktionen verhängt. In den Außenämtern einiger großer Akteure gab es Überlegungen, Pakistan nur abgestuft zu bestrafen, und die offizielle Politik der USA folgte diesem Modell zumindest zeitweise, um, wie erklärt, den wirtschaftlichen Zusammenbruch und damit die völlige Destabilisierung Pakistans zu verhindern. Die realpolitische Irrelevanz dieser Frage in der Haltung der USA zu Pakistan nach dem Beginn des Afghanistan-Krieges zeigt die Priorität tagespolitischer Opportunität in der Nichtweiterverbreitungspolitik der Vereinigten Staaten. Vor einer derartigen Strategie kann nur gewarnt werden. Sie droht die Situation in Südasien auf Jahrzehnte hinaus irreparabel zu vergiften und einen Konflikt eher noch wahrscheinlicher zu machen.

Es muss noch einmal betont werden, dass Indien und Pakistan keinen Vertrag bzw. kein Abkommen verletzt haben, dessen Signatarstaaten sie sind, und dass überdies die geltenden Verträge nicht einmal Sanktionen vorsehen. Es ist daher auch höchst bezeichnend, dass die verhängten Sanktionen einseitige – nicht durch internationales Recht gedeckte oder geforderte – Maßnahmen der USA sind, denen sich einige Gesinnungsfreunde Washingtons anschlossen.

Genau betrachtet, ist der Sanktionseifer vor allem der USA und Großbritanniens nicht auf die Tests an sich zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass mit ihnen das von den Großmächten ausgeklügelte und die anderen Staaten diskriminierende Non-Proliferationssystem faktisch zusammengebrochen ist und ihr Kernwaffenmonopol nicht mehr besteht. Auch deshalb ist die Sanktionsfrage mit Zurückhaltung zu betrachten. Viel wichtiger wäre, beide Länder völkerrechtlich verbindlich darauf zu verpflichten:

  • keine Tests mehr durchzuführen,
  • auf eine Truppeneinführung der Kernwaffen über ein strikt begrenztes Abschreckungspotential hinaus – das alle offiziellen Kernwaffenmächte für sich auch in Anspruch nehmen – zu verzichten,
  • den internationalen Verträgen beizutreten und die übliche internationale Kontrolle ihres Nuklearprogramms zu akzeptieren.

Denn eines ist klar: Der status quo ante, also die Lage vor dem 11.Mai 1998, kann nicht wieder hergestellt werden.64

  • Beide Länder haben sich nach Mehrfachtests offiziell zu Kernwaffenmächten erklärt, ohne dass die Großmächte dies verhindern konnten oder rückgängig machen können. Und die Zeichen mehren sich, dass sie gezwungen sind, diese Tatsache hinzunehmen, auch wenn sie sie nicht offiziell anerkennen. Inoffiziell war an der Jahreswende 1999/2000 bereits davon die Rede, dass die USA als ersten Schritt Indien als Kernwaffenmacht »tolerieren« wollen, also eine Art Wahrung des machtpolitischen Gesichts angesichts eines irreversiblen Sachverhalts.
  • Beiden Ländern sind Sanktionen auferlegt worden, die zwar fühlbar sind, aber keineswegs existenzbedrohend, und die zwischenzeitlich bereits teilweise wieder aufgehoben wurden. Andere Länder, die technisch bereits heute oder in absehbarer Zeit in der Lage wären, eine Kernladung zu zünden, wird das veranlassen, nüchtern die möglichen Folgen eines solchen Schrittes zu kalkulieren und daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen.
  • Seit dem Mai 1998 existiert das über Jahrzehnte hinweg aufgebaute und von den USA mit höchster außenpolitischer Priorität behandelte Non-Proliferationssystem de facto nicht mehr; die mit nicht geringem Druck der Großmächte durchgesetzte unbefristete Verlängerung des Kernwaffensperrvertrages und der noch nicht in Kraft getretene Teststopvertrag sind weitgehend Makulatur, solange Indien und Pakistan nicht beitreten. Das alte System kann auch nicht mit Gewalt wiederhergestellt werden. Damit steht die Schaffung eines gleichermaßen nichtdiskriminierenden und nichtprivilegierenden Systems der Kontrolle und der schrittweise Eliminierung der Kernwaffen sowie aller anderen Massenvernichtungswaffen auf der Tagesordnung.65

Und vor beiden Staaten steht die schwerwiegende Entscheidung, ob sie die beiden Verträge unterzeichnen, auch wenn die diskriminierenden Klauseln des NPT von 1968 nicht geändert werden, oder nicht. Wenn sie die unveränderten Texte unterzeichnen, muss man sich die Frage stellen: Warum dann der Theaterdonner vom Mai 1998? Andererseits muss man ganz nüchtern feststellen, dass nach den indischen und pakistanischen Kernwaffentests von 1998 die Ablehnung des Teststop-Vertrages durch den USA-Senat im Herbst 1999 – mit einer für die übrige Welt kaum nachvollziehbaren Argumentation – das gesamte System erneut ausgehebelt hat und Indien und Pakistan in die Lage versetzte, allen weiteren Beitrittsaufforderungen sehr gelassen entgegenzusehen.

3.2 Die Nuklearisierung und die südasiatische Konfliktkonstellation

Die Rolle der inneren Faktoren und darüber hinaus der inneren Zwänge bei der Entscheidung über die Nukleartests wirft aber auch eine grundsätzliche Frage für die Forschung auf – nämlich die nach dem Stellenwert und der Bedeutung des in Südasien besonders markanten Geflechts zwischen inneren Problemen und der Außenpolitik sowie der spezifischen Rolle innenpolitischer Aspekte in den bilateralen Beziehungen. Die außenpolitische Forschung wird gut beraten sein, wenn sie diesen Fragen künftig wesentlichen größeren Raum bei der Analyse zwischenstaatlicher Prozesse in Südasien einräumt. Wir haben es dabei mit vier Bezugsebenen zu tun:

  • Der allgemeinen, nicht regionalspezifischen Interaktionsweise zwischen inneren wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Determinanten und Außenpolitik.
  • Der Wirkung der innenpolitischen Wurzeln der Außenpolitik.
  • Der Rolle des innenpolitischen Faktors in den bilateralen Beziehungen südasiatischer Staaten.
  • Den sich in grundsätzlicher Weise wandelnden inneren und äußeren Bedingungen für Politik insgesamt und für Außenpolitik im besondern in Südasien.66

Wenn wir die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse in der Region an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert betrachten, gehört keine besondere prognostische Verwegenheit dazu, eine weitere Zunahme der Rolle innerer Faktoren für die außenpolitische Perzeption, für die Entscheidungsfindungsprozesse und für die Hauptrichtungen der Außenpolitik als sehr wahrscheinlich anzunehmen.

Das hat auch eine erhebliche Relevanz für die nukleare Problematik, denn die vorstehend genannten vier Bezugsebenen schlagen auch in der Nuklearpolitik Indiens und Pakistans voll durch. Das kann angesichts der historischen Wurzeln und des Charakters der indisch-pakistanischen Verhältnisses, der konfrontativen Selbst- und Feindbilder sowie der nach wie vor nicht kompatiblen Sicherheits- und Bedrohungsperzeptionen in beiden Staaten gar nicht anders sein.

Das Wort »Kashmir« ist bei der Reflexion der nuklearen Problematik bisher mit voller Absicht nicht gefallen. Das ist keine Unterschätzung der Gefährlichkeit dieses Konfliktes. Es ist im Gegenteil zu unterstreichen, dass die Leiden der Bevölkerung Kashmirs schnellstmöglich durch eine Konfliktregelung unter Wahrung ihrer legitimen Interessen beendet werden müssen, und dass alle beteiligten Seiten, besonders aber Pakistan und Indien, für die heutige Lage in diesem Gebiet die Verantwortung tragen. Aber es muss in aller Eindeutigkeit gesagt werden, dass der Kashmir-Konflikt erstens nur eine, wenn auch sehr wichtige und komplizierte Facette der jahrzehntelangen, komplexen machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen beiden Staaten ist. Zweitens ist festzustellen, dass das von pakistanischen Politikern und in der Medienberichterstattung hergestellte Junktim zwischen den Kernwaffenversuchen und dem Kashmir-Konflikt sachlich keiner Analyse standhält und gleichzeitig eminent gefährlich ist. Es gibt keine kausale Verbindung zwischen der nuklearen Option beider Seiten und der Kashmir-Frage. Niemand hat die Bomben wegen der Kashmiris gezündet.67 Jeder Versuch, dieses Problem zu nuklearisieren, muss nicht nur schärfstens zurückgewiesen werden, er wäre für seine Initiatoren zugleich selbstmörderisch. Die Außenwelt sollte daher nicht auf zielgerichtete Propagandathesen hereinfallen, sondern nüchtern den tatsächlichen Platz der Nuklearfrage im Gefüge der südasiatischen Konfliktkonstellation bestimmen.

Doch welchen Stellenwert hat die nukleare Frage, die heute von interessierter Seite als der pakistanisch-indische Konflikt und die Hauptgefahr für den Frieden in Südasien definiert wird, im Kontext sowohl des pakistanisch-indischen Konflikts als der südasiatischen Konfliktkonstellation? Selbstverständlich hat die Nuklearisierung Südasiens der Konfliktlage in der Region eine neue Dimension hinzugefügt, indem sie nicht nur die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien, sondern auch den Konflikt zwischen ihnen nuklearisiert hat. Neues, zusätzliches Konfliktpotential ist entstanden, das mit unabsehbaren Folgen für die ganze Region freigesetzt werden könnte. Natürlich müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um die aus der Kernwaffenfähigkeit beider Staaten resultierenden Gefahren zu minimieren. Aber auch auf die nukleare Konfrontation trifft im Grundsatz das gleiche zu, was hinsichtlich Kashmirs gesagt wurde: ohne die Wahrnehmung der eigentlichen Konfliktlage, ohne die Erkenntnis, dass auch die nukleare Frage nur eine Folgeerscheinung der gesamten Konfliktkonstellation, ein Ausdruck des pakistanisch-indischen Grundverhältnisses ist, ohne Bewegung und Anstrengungen zur Entmilitarisierung und Normalisierung eben dieses Grundverhältnisses werden alle Versuche zur Schaffung einer Friedensordnung in Südasien auch weiterhin scheitern. Es ist daher unproduktiv, wenn nicht sogar kontraproduktiv, die Nuklearfrage in Südasien isoliert von der grundlegenden Konfliktsituation zu betrachten und zu bewerten.

4. Wege zur Normalisierung der indisch-pakistanischen Be- ziehungen und zur Regulierung des Kashmir-Konflikts

Wenn wir versuchen, mögliche Wege aus der Sackgasse des pakistanisch-indischen Konflikts und besonders der Konfrontation um Kashmir und in Kashmir zu finden, dann dürfen wir nicht übersehen, dass es sich nicht eindimensional um einen Konflikt zwischen Pakistan und Indien handelt, sondern, wie bereits ausgeführt, um eine komplexe Konfliktsituation. Daher geht es auch nicht nur um die spezifische Politik jeweils konkreter Regierungen, sondern, um die Frage, in welchem Maße die beiden Staaten und die Gesellschaften, die sie repräsentieren, fähig sind, Konflikte innerhalb der eigenen Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften resp. Staaten ohne Druck, Militanz oder die direkte Anwendung von Gewalt zu lösen. Die gegenwärtige Konfliktkonstellation in Südasien und die nunmehr fünfzigjährige eigene Beschäftigung mit dem Subkontinent geben in dieser Frage keinen Anlass zu übertriebenem Optimismus.

4.1 Voraussetzungen für ein konstruktives Krisenmanagement und Konfliktregulierung in Südasien

Die Konfliktforschung hat hinreichend Evidenz dafür geliefert, dass jeder Konflikt seine eigenen Wurzeln und Ursachen, seinen spezifischen Entfaltungsrahmen hat und daher auch ein spezifisches Regelungskonzept erfordert. Das trifft sowohl auf die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation als auch auf den komplexen Kashmir-Konflikt zu, der eben mitnichten in allen seinen Erscheinungsformen zwischen Indien und Pakistan geregelt werden kann, sondern hinsichtlich seines inneren Aspekts eine direkte Übereinkunft zwischen der indischen Zentralregierung und den Kashmiris verlangt. Pakistan hat in dieser Frage überhaupt keinen »locus standi«, da es sich nicht um seine Staatsbürger handelt und Pakistan auch von niemand als internationaler Patron muslimischer Volksgruppen außerhalb der Grenzen Pakistans anerkannt ist.

Gleichzeitig gibt es jedoch eine Reihe von grundsätzlichen Voraussetzungen, die für jeden Versuch einer Konfliktbeilegung und Konfliktregelung gelten68 und die auch eine unmittelbare Relevanz für den Kashmir-Konflikt besitzen.

  • Zunächst und vor allem haben die beteiligten Seiten zu akzeptieren, dass tatsächlich ein Konflikt existiert. In vielen Fällen haben Regierungen, politische Kräfte und die Öffentlichkeit sich geweigert, die Existenz von Konflikten anzuerkennen. Sie haben damit die Chance vergeben, Krisensituationen und Konflikte zu regulieren, bevor sie das Stadium der Militanz oder sogar der bewaffneten Konfrontation erreichten. Die Verdrängung offener innerer Konfliktsituationen und damit auch das Fehlen jedes konstruktiven Krisenmanagements war über Jahrzehnte hinweg eine charakteristische Verhaltensweise der politischen Klasse in Südasien, wie die Ereignisse in Indien, Pakistan, Bangladesh und Sri Lanka nachhaltig belegen. Die langanhaltende Ignoranz der indischen Regierung gegenüber einem sich über Jahre hinweg aufbauenden explosiven Gemenge von Konfliktpotentialen in Kashmir ist dafür ebenso ein klassisches Beispiel wie die Reaktion des pakistanischen Establishments auf die Entwicklung in Karachi.
  • Eine ungemein wichtige Frage in diesem Kontext – und auch hinsichtlich der genannten Beispiele – ist, nicht in politisch wohlfeilen Selbstbetrug zu verfallen und in jedem Konflikt »fremde Hände« zu sehen. Die häufig zitierten »fremden Hände« sind, obwohl sie existieren, in keinem Falle die eigentliche Ursache der Konflikte, und ihre ständige Beschwörung ist daher kaum mehr als die gewollte Verschleierung der in der eigenen Gesellschaft vorhandenen akuten Konfliktpotentiale, sowie ganz offenkundig ein Faktor im anhaltenden ideologischen Medienkrieg mit seinen nachhaltig negativen Auswirkungen auf den Zustand der bilateralen Beziehungen zwischen Pakistan und Indien.
  • Wenn wir auf die nachkolonialen Staaten blicken, dann sind sie durch tiefgreifende Widersprüche und Konflikte charakterisiert, die in drei unterschiedlichen Zeitebenen entstanden sind – in ihrer vorkolonialen Geschichte, während der Kolonialzeit und im Verlauf der eigenen nationalen Entwicklung seit der Erlangung bzw. Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Modernisierungskonflikte verschiedenen Typs, konfliktgeladene Defizite des Nation-Building, Interessenkonflikte infolge der Befriedigung der Forderungen verschiedener ethnischer Gruppen, unzureichende politische und soziale Partizipationsmöglichkeiten großer Teile der Bevölkerung, Disparitäten in der Ressourcenverteilung etc. sind nicht vom nachkolonialen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen System zu trennen und die Staaten müssen sie als Krise ihres gegenwärtigen nationalen Systems begreifen und annehmen, denn sie können nur innerhalb dieses Systems und von ihnen selbst bewältigt werden.
  • Die elementare Schwierigkeit, sich darüber zu verständigen, worum es in Kashmir überhaupt geht, resultiert aus der Tatsache, dass dieser Konflikt in die genannte Kategorie der systemimmanenten Konflikte gehört und Konfliktpotentiale aus allen drei Zeitebenen aufweist. Bestenfalls in zweiter Linie ist er auch ein gewöhnlicher zwischenstaatlicher Konflikt. Der Umgang mit innerstaatlichen bzw. innergesellschaftlichen Krisen- und Konfliktsituationen ist aber zugleich auch ein Indikator für das Grundverhalten bei grenzüberschreitenden Interessenkollisionen.
  • Damit sind wir unmittelbar bei einer weiteren Vorbedingung für Konfliktregelung, nämlich dass die Konfliktseiten bereit sind, das Wesen, den Gegenstand, den Einzugsbereich und die Konsequenzen des Konflikts zur Kenntnis zu nehmen. Das ist eine sehr ernste Frage, denn in vielen Fällen deckt sich das äußere Erscheinungsbild eines Konflikts (national, ethnisch, religiös) überhaupt nicht mit der tatsächlichen Streitmasse, die in der Regel viel prosaischer und handfester ist, wie sich beispielsweise in der pakistanischen Perzeption der Territorialfrage zeigt. Das lädt geradezu zur bewussten politischen, ethnischen und/oder ideologischen Manipulation von Konflikten ein, wofür der Kashmir-Konflikt bedauerlicherweise ein geradezu klassisches Beispiel ist. Er ist einerseits nicht nur ein innerindisches »Law and Order«-Problem, wie nicht nur die BJP, sondern auch andere Parteien und ein bedeutender Teil der veröffentlichten Meinung glauben machen wollen, und er kann andererseits auch nur partiell mit den Kriterien der nationalen Selbstbestimmung erfasst werden, denn die eigentliche Anlass des seit 1947 andauernden Konflikts sind die historisch belegten pakistanischen Macht- und Territorialambitionen. Daher sind die offiziellen Perzeptionen aller Konfliktseiten in hohem Maße einseitig und stehen im Widerspruch zu den Realitäten.

Die charakteristischen Fehlperzeptionen in der Kashmir-Frage resultieren ihrerseits aus dem Unvermögen der Akteure, den wirklichen Charakter und den Einzugsbereich des Konflikts zwischen Pakistan und Indien wahrzunehmen und daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen – sowie aus den hochentwickelten Verdrängungskünsten bestimmter politischer und ideologischer Gruppierungen in Indien und Pakistan. Wenn man aber nicht fähig ist, einen bestehenden Konflikt, seine Ausdrucksformen und seine Folgen realitätsnah zu definieren, ist man auch nicht in der Lage, Wege und Mittel zum Abbau der Konfrontation zu bestimmen.

Aber eine Bewegung auf diesem Gebiet setzt zunächst die Erkenntnis voraus, dass die alles überwölbende Konfliktlage der macht- und sicherheitspolitische Konflikt zwischen Pakistan und Indien ist, der seit 1947 eine Art de facto-Kriegszustand mit bislang vier »heißen« Phasen geschaffen hat. Solange weiter Realität verdrängt und in massivem Selbstbetrug postuliert wird, dass »nur Kashmir zwischen Indien und Pakistan steht«, wird es keine substantielle Veränderung des pakistanisch-indischen Verhältnisses geben.

  • Eine sehr praktische Bedingung von Konfliktregelung ist der tatsächliche Wille der Konfliktseiten, den Konflikt beizulegen und zu regeln und ihn nicht als Instrument zur Erreichung bestimmter Ziele zu missbrauchen. Das schließt auch die bindende Verpflichtung ein, ausschließlich friedliche Mittel bei der Konfliktregulierung einzusetzen. In nicht wenigen Ländern sind wir mit der brutalen Realität konfrontiert, dass Regimes und andere innere Akteure ohne existierende oder von ihnen selbst geschaffene Konflikte kaum eine Chance für ein politisches Überleben hätten. Selbst wenn bei derartigen Auseinandersetzungen auch legitime Interessen und Forderungen artikuliert werden, bleibt es eine Tatsache, dass nicht wenige Akteure überhaupt nicht politikfähig sind. Das trifft auf die Mehrheit der in Kashmir agierenden militanten Gruppierungen ebenso zu wie auf sezessionistische Kräfte im Nordosten Indiens. Während bei bestimmten Gruppen die Grenze zwischen Politik und Terrorismus sehr fließend ist, sind andere nichts weiter als terroristische Gangs. Hinsichtlich des Kashmir-Konflikts kann daher wesentlichen beteiligten Akteuren, und zwar nicht nur den bewaffneten islamistischen Gruppen oder der Hurriyat-Konferenz, eben der politische Wille zur Konfliktbeilegung nicht attestiert werden. Was die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation als Ganzes betrifft, so dürfen wir nicht übersehen, dass die Konfrontation seit 1947 für erhebliche Teile der pakistanischen Eliten ein Identitätsproblem, für die pakistanische Staatsidee und für die Selbstperzeption Pakistans letztlich sogar ein sinnstiftendes Element war. Es ist nicht aus der Welt zu diskutieren, dass die ursprüngliche pakistanische Identität mit Ausnahme des Bezugs auf den Islam als alle einigendes Band faktisch eine Anti-Identität war – ihre Proponenten wollten nicht mehr Inder sein, und der pakistanische Staat war explizit und offiziell als Gegenmodell zu Indien konzipiert. Darüber hinaus gab es keine positive Aussage, was pakistanische Identität eigentlich ist. An diesem Problem hat Pakistan heute noch zu tragen und die Infragestellung des pakistanischen Zentralstaates durch regionale Interessen, vor allem aber zunehmend durch militant islamistische Strömungen, Gruppierungen und Parteien hat unmittelbar mit der Identitätsfrage zu tun.69 Und obwohl es zynisch klingen mag, es war und ist der alles andere überlagernde Konflikt mit Indien, der Pakistan und seine divergierenden politischen und ideologischen Kräfte bisher zusammengehalten hat.
  • Eine weitere Voraussetzung für eine Regelung von Konflikten ist die Erkenntnis, dass sie nicht ohne Berücksichtigung der Interessen aller Seiten möglich ist und dass sie Verhandlungen auf gleicher Ebene, d.h. mit gleichen Rechten, unabhängig von der Größe der Macht und dem Potential der jeweiligen Seiten erfordert. Das gilt ohne Einschränkung für das pakistanisch-indische Verhältnis im allgemeinen und ganz spezifisch für den Kashmir-Konflikt – hier vor allem für die Respektierung der legitimen Rechte und Interessen der Kashmiris durch beide in den Konflikt involvierten Staaten. Das ist bedauerlicherweise für Südasien noch ein fernes Ziel und, neben dem Versuch, massiv die eigenen Interessen durchzusetzen, auch bedingt durch die sehr geringe Fähigkeit der Konfliktparteien, die Tatsache in Rechnung zustellen, dass solche komplexen und komplizierten Probleme wie die Kashmir-Frage nicht im ersten oder zweiten Anlauf gelöst werden können und dass deshalb auch Augenmaß und Geduld wichtige politische Tugenden sind. Das Festhalten an nicht verhandelbaren und nicht kompromissfähigen Positionen ist ein Ausdruck mangelnder politischer Kompetenz. Konflikte werden niemals gelöst, wenn eine Seite ihren Standpunkt durchsetzen will, es sei denn, sie hat die Macht und die Mittel, die Gegenseite physisch zu eliminieren oder zur Kapitulation zu zwingen. Das aber können nur Zyniker als »Konfliktlösung« bezeichnen. Außerdem hat die Geschichte gezeigt, welche Konsequenzen solche »Lösungen« haben. Diese Feststellung betrifft die jahrzehntelange pakistanische Junktim-Politik ebenso wie die starrsinnige Vorbedingungsstrategie der gegenwärtig in Indien an der Macht befindlichen Hindunationalisten von der BJP.
  • Eine zentrale Bedingung und das gilt sehr direkt für den pakistanisch-indischen Konflikt und die Kashmir-Frage, ist schließlich die Entideologisierung des Konflikts. Die Friedenswilligkeit und Friedensfähigkeit von Regierungen und Gesellschaften ist nicht zuletzt daran zu messen, ob sie bereit sind, nicht nur auf die Kolportierung plakativer, häufig genug bösartiger Feindbilder zu verzichten, sondern auch einen konkreten Beitrag zur Zurückdrängung von Denken und Handeln in Feindbild-Kategorien zu leisten, also auch ihre eigene politische Sprache grundlegend zu verändern. Es muss zugleich mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass im Erziehungsprozess von der Elementarschule bis zur Universität, ganz zu schweigen von der Ausbildung administrativer, politischer und militärischer Eliten, Feindbilder nicht nur gepflegt, sondern ständig auch produziert werden. Ein Blick in die respektiven Textbücher liefert nicht nur eine Fülle von Beweisen, sondern auch einen schockierenden Einblick in Denkstrukturen und ideologiegesteuerte Deformationen des Bildes vom Anderen, aber auch der eigenen Geschichte.

Wir sollten zugleich nicht übersehen, dass Entideologisierung von Widersprüchen und Konflikten, der Abbau von Feindbildern, von politischem oder religiösem Fanatismus und von ethnischer Feindschaft nicht ohne qualitative Wandlungen in der Politik selbst möglich ist. Mit allem notwendigen Realismus muss gesagt werden, dass dies in unserer Zeit für Staaten, die sich primär ideologisch definieren und das ist in Pakistan bis heute der Fall, eine unübersteigbare Hürde zu sein scheint.

4.2 Internationale Rahmenbedingungen für einen Konfliktregulierungsprozess in Südasien

Wenn wir die internationalen Aspekte für eine Regulierung des Kashmir-Konflikts ins Auge fassen, dann ergeben sich aus der Bestimmung von Interessenlagen und Positionen der für diesen Gegenstand wichtigsten internationalen Akteure einige auch durch andere Konfliktregulierungsansätze seit der Mitte der achtziger Jahre (Afghanistan, Somalia, Kambodscha) verifizierte Schlussfolgerungen:

  • Versuche, bilaterale oder andere externe Konflikte durch die direkte Unterstützung außerregionaler Mächte zu lösen, sind in der Regel gescheitert. Dabei zählen auch alte Bindungen, Verpflichtungen oder Bündnisse nicht mehr. In der postbipolaren Welt ist kein Raum für eine derartige Nostalgie. Die USA, Russland und China operieren ausschließlich in ihrem jeweiligen eigenen Interesse – Großbritannien und Frankreich spielen in diesem Kontext keine eigenständige Rolle mehr, sie sind nur in ihrer Selbstperzeption noch Großmächte. Jeder Versuch südasiatischer Staaten, heute unter Hinweis auf traditionelle Freundschaft etc. Großmächte für eigene Interessen mobilisieren zu wollen, ist im Prinzip Verschwendung von Zeit und Energie. Das gilt auch für die in Pakistan und Indien verbreiteten Illusionen, aus ihrer bereitwilligen Kooperation mit den USA in George W. Bushs »Krieg gegen den Terror« messbare Vorteile in ihrer bilateralen Konfliktsituation ziehen zu können.
  • Es ist eine gesicherte Erkenntnis des letzten Jahrzehnts, dass die Internationalisierung der Regelung bilateraler oder regionaler Konflikte eine ausgesprochen zweischneidige Angelegenheit ist, da sie immer ihren Preis für die Konfliktseiten hat. Das zeigte sich bereits in der Frühphase des Kashmir-Konflikts, als Nehru die Vereinten Nationen anrief, in der liberalen Illusion, dass die UNO selbstverständlich Indiens Position unterstützen würde.70 Wäre Indien damals dem westlichen Bündnis in irgendeiner Form beigetreten, hätte es in den letzten 45 Jahren überhaupt keine Kashmir-Frage gegeben. Aber er übersah, dass in jener Phase die UNO direkt durch den Westen dominiert war und dass der Westen gegenüber einer auf Nichteinordnung ausgerichteten Außenpolitik ausgesprochen misstrauisch war. Und es war damals im Interesse des Westens, die Resolutionen so formulieren, wie sie noch heute im Raum stehen. Das war weder eine Frage von Altruismus oder Ethik, Moral oder etwa von Selbstbestimmung für die Kashmiris, sondern von Machtpolitik. Und falls die UNO die Frage im kommenden Jahrzehnt erneut aufwerfen sollte, kann unter vollständig veränderten internationalen Bedingungen niemand das Ergebnis auch nur abschätzen.

Die von Pakistan seit Beginn der neunziger Jahre mit großem Aufwand und unter Vernachlässigung anderer wichtiger Politikfelder betriebene Internationalisierung des Kashmir-Konflikts muss hinsichtlich ihrer Folgen für die pakistanisch-indischen Beziehungen, aber auch für Pakistan selbst, mit großer Zurückhaltung betrachtet werden. Und es gibt hinsichtlich der Lernfähigkeit der pakistanischen Führung und der veröffentlichten Meinung doch sehr zu denken, wenn man geradezu euphorisch die Kernwaffentests als endgültige Internationalisierung des Kashmir-Konflikts feierte. Das wahrscheinlich einzige reale Ergebnis dieser Strategie wird die Eliminierung der letzten noch vorhandenen Chancen für eine politische Lösung der zwischen beiden Staaten bestehenden Konflikte sein.

  • Es ist gleichfalls eine Erfahrung asiatischer Staaten, dass Konfliktseiten zweimal nachdenken sollten, bevor sie außerregionale Mächte oder internationale Organisationen um Vermittlung im Konflikt ersuchen. In den meisten Fällen werden die Vermittler mehr in ihrem eigenen Interesse denn in dem der Konfliktparteien agieren. Internationale Organisationen reflektieren ein spezifisches Geflecht von Macht und Interessen und die in ihnen vorhandenen Widersprüche sind in der Regel nicht allzu hilfreich für den komplizierten Prozess der Konfliktregulierung. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass selbst wenn der Vermittler sich mit den besten Vorsätzen und aufrichtig um unparteiische Vermittlung im Konflikt bemüht, das normale Resultat darin besteht, dass keine Seite befriedigt werden kann. Daher war die klare Ablehnung einer deutschen Vermittlung im Kashmir-Konflikt durch Bundespräsident Herzog während seines Staatsbesuchs in Pakistan im Jahre 1995 nicht nur verständlich, sondern auch politisch richtig. Deutschland ist an stabilen freundschaftlichen Beziehungen zu beiden Staaten interessiert. Eine Vermittlung unter den derzeitigen Bedingungen, die durch kontroverse und einander ausschließende Regelungsperzeptionen beider Seiten und ihre evidente Kompromissunfähigkeit determiniert sind, würde daher Deutschlands Verhältnis zu Indien und Pakistan gravierend belasten.
  • Eine Schlussfolgerung, die die Konfliktseiten aus der internationalen Entwicklung seit 1990 mit Sicherheit ziehen müssen, besteht darin, dass asiatische Staaten in ihren bilateralen Konflikten in erster Linie eigene Anstrengungen für ihre Beilegung unternehmen müssen und Regulierungen im wesentlichen auf bilateralen Entscheidungen und Übereinkünften beruhen werden. Keine auswärtige Macht kann eigene Konzepte zur Konfliktbewältigung und eigene Maßnahmen zur Beendigung von Konflikten ersetzen, mögen diese auch noch so diffizil und scheinbar unlösbar sein. Das trifft auch voll auf die zwischenstaatliche Dimension des Kashmir-Konflikts zu und Pakistan sollte dies in seinem ureigensten Interesse begreifen. Wenn man sich nicht erneut in folgenschwerer Weise von äußeren Kräften abhängig machen will, gleichgültig ob dies die Golfstaaten, die OIC oder die USA sind, dann führt kein Weg an einem Kurs auf einen politischen Interessenausgleich mit Indien vorbei.

Damit sind wir wieder beim Grundproblem – der komplexen pakistanisch-indischen Konfliktkonstellation und dem eingangs erwähnten modus vivendi zwischen Pakistan und Indien als elementare Voraussetzung für eine konstruktive Bewegung in den bilateralen Beziehungen und auch im Konflikt um Kashmir.

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die Aussichten dafür gegenwärtig nicht besonders günstig sind. Wenn wir den skizzierten Typ von Sicherheitsvorstellungen, die Tiefe des wechselseitigen Misstrauens und die direkte politische Wirkung von Fehlperzeptionen sowie den chronischen »Krieg der Worte« zwischen beiden Ländern in Rechnung stellen, der von Dezember 2001 bis zum Herbst 2002 zu einem beiderseitigen massiven Militäraufmarsch führte, ist es schwer, an eine substantielle Abschwächung der Konfliktfaktoren in den nächsten Jahren zu glauben. Das würde eine umfassende Reorientierung in den bilateralen Beziehungen, einen grundlegenden Wandel in der Politik gegenüber dem Nachbarn erfordern. Dafür sind aber offensichtlich die Eliten in beiden Ländern noch nicht vorbereitet, darum bemühen sich leider noch zu kleine Gruppen in beiden Gesellschaften.

Aber es ist zugleich eine fast als banal zu bezeichnende Grundwahrheit, dass Pakistan und Indien um eine grundlegende Revision ihres Bildes vom Anderen und ihrer bilateralen Beziehungen nicht herumkommen, weil die einzige verbleibende, andere Option ein erneuter Waffengang und zwar möglicherweise unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen wäre. Der längst überfällige politische Interessenausgleich ist aber für beide Länder nicht zum Nulltarif zu haben, sondern mit möglicherweise schmerzlichen Kompromissen verbunden.

Ohne die gegenseitige Akzeptanz der existierenden politisch-territorialen Realitäten und der legitimen Interessen der jeweiligen Seite, ohne die Aufgabe jedes Revisionismus – mag er historisch oder religiös-kulturell definiert sein, ohne die definitive Abkehr von Versuchen der Einmischung in die inneren Angelegenheiten, ohne den Verzicht auf regionale Hegemonialkonzepte; d.h. ohne grundsätzlichen Interessenausgleich zwischen Indien und Pakistan ist keine substantielle Bewegung in der pakistanisch-indischen Konfliktkonstellation zu erwarten – und damit auch nicht hinsichtlich einer Beilegung des Kashmir-Konflikts.

Diese Feststellung bedeutet in keiner Weise eine Geringschätzung oder den Verzicht auf die mögliche Regulierung einzelner Konfliktfelder, das ist sogar im Sinne einer Entspannung der Situation am Rand des Krieges und einer schrittweisen Vertrauensbildung eine konstitutive Voraussetzung für eine spätere Überwindung der Konfliktkonstellation. Sie will aber auf dabei zu berücksichtigende Zusammenhänge aufmerksam machen.

Der hier skizzierte allgemeine Rahmen und der Charakter der pakistanisch-indischen Beziehungen ist zugleich die eigentliche Ursache dafür, dass die Kashmir-Frage jene Bedeutung und internationale Aufmerksamkeit gefunden hat, die sie heute charakterisiert. Der Stellenwert, den Kashmir bilateral, regional und international erlangt hat, leitet sich nicht primär aus Selbstbestimmung, Menschenrechten und anderen noblen Prinzipien ab. Er ist Resultat der Tatsache, dass im Kashmir-Konflikt nahezu alle pakistanisch-indischen Interessenkollisionen reflektiert werden, dass Kashmir für beide Seiten ein konkretes machtpolitisches Problem ist und dass Kashmir wirkungsvoll für ganz andere Ziele, innenpolitische und außenpolitische, instrumentalisiert werden kann. Aber, und das muss immer aufs Neue wiederholt werden, die Kashmir-Frage ist nicht der pakistanisch-indische Konflikt per se, sondern nur einer der Hauptwidersprüche zwischen Pakistan und Indien, wenngleich ein sehr wichtiger und der bisher folgenreichste.

Daher sind substantielle Fortschritte in der Kashmir-Frage ohne einen Minimalkonsens zwischen beiden Staaten, ohne eine Vertrauensgrundlage und ohne eine anhaltende Verbesserung der Gesamtbeziehungen zwischen Pakistan und Indien nicht möglich. Die bisherige Strategie aller pakistanischen Regierungen im letzten Jahrzehnt, jegliche Teilschritte zu einer Normalisierung abzulehnen und die Kapitulation Indiens in der Kashmir-Frage zur Vorbedingung einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu machen, war bedauerlicherweise eine Strategie gegen eine politische Lösung und war, ganz eindeutig durch die schwierigen innenpolitischen Verhältnisse in Pakistan bedingt, der Verzicht auf Politik zugunsten von Ideologie. Und es bleibt zu hoffen, dass das Land für eine solche Strategie nicht einen hohen Preis zahlen muss. Das internationale Echo auf die Kargil-Affäre hat Pakistan dafür bereits einen gewissen Vorgeschmack geboten. Die Tatsache, dass in den künftigen Gesprächsrunden auf der Ebene der Foreign Secretaries beide Seiten nach der zweiten Machtübernahme Nawaz Sharifs im Jahre 1997 wieder über alle anstehenden Fragen diskutieren wollten, war noch kein Wandel, denn Pakistan hat die Kröte nur geschluckt, um seine Perzeption der Kashmir-Frage auf die Tagesordnung zu bringen, während für Indien in der Tat alles verhandelbar ist, aber nicht die Zugehörigkeit Jammu und Kashmirs zum indischen Staatsverband. Solche Verhandlungen ändern daher nichts am status quo der Perzeptionen, der jeweiligen Zielhorizonte und der praktischen Politik der beiden Seiten. Nach Kargil und dem Militärputsch in Pakistan lagen die staatlichen Beziehungen zwischen Pakistan und Indien lange Zeit völlig auf Eis, ein erster Anlauf scheiterte 2001 in Agra am Widerstand der Hardliner in der BJP, und die Entwicklung nach dem Terroranschlag auf das indische Parlament am 13. Dezember 2001 brachte beide Länder erneut unmittelbar an den Rand eines Krieges. Es ist nicht abzusehen, wann es wieder zu Verhandlungen kommen wird, die diese Bezeichnung auch verdienen.

Aber auch die faktische Erfolglosigkeit der indischen Pazifizierungsstrategie in Kashmir, die Blockierung eines erheblichen Teils der indischen Streitkräfte in diesem Gebiet, die steigende Belastung des indischen Staatshaushalts und das Festhalten der entscheidenden Gruppen der politischen Elite an historisch obsolet gewordenen Positionen birgt erhebliche Risiken in sich.

Überschauend betrachtet, bedeuten die insgesamt getroffenen Feststellungen, dass ein substantieller Perzeptions- und Verhaltenswandel auf beiden Seiten, eine Phase tatsächlicher Regulierungsbemühungen weder kurz- noch mittelfristig in Aussicht steht. Es kann daher im Augenblick realistisch nur darum gehen, Schaden zu begrenzen und keine weitere Eskalation des Konflikts zuzulassen.

Anmerkungen

1) Der dem Dossier zu Grunde liegende Text musste leider wesentlich gekürzt werden. Dieser Kürzung sind u.a. zwei Abschnitte über die ideologischen Faktoren im pakistanisch-indischen Konflikt und dessen Ausstrahlung auf die südasiatische Konfliktkonstellation zum Opfer gefallen sowie zahlreiche erläuternde Fußnoten und Literaturhinweise. Auf Wunsch kann die Redaktion das Originalmanusskript nach Abstimmung mit dem Autor zur Verfügung stellen.

2) Nach indischer Auffassung war die Kargil-Operation bereits der vierte Krieg Pakistans gegen Indien. Siehe dazu u.a. Singh, Jasjit, Pakistan’s Fourth War. In: Strategic Analysis, New Delhi, XXIII (1999/2000) 5, August 1999, pp. 685-702 (im folg. Str. A); From Surprise to Reckoning. Kargil Review Committee Report. New Delhi, December 15, 1999. New Delhi Sage Publ. 2000, Chapter XIII Findings.

3) Siehe z.B. Hexamer, Eva-Maria, Images and Counter-Images: The Cultivation of Mutual Threat Perceptions in India and Pakistan. In: Relationen. Internationale Politik in Asien & Afrika. Probleme – Analysen – Berichte, Berlin, 1 (1995) 1, pp. 7-24 (im folg. Relationen)

4) United Nations Nations Commission for India and Pakistan. Third Interim Report (5.12.1949). In: Kashmir Papers. Reports of the United Nations Commission for India and Pakistan (June 1948 to December 1949). New Delhi Government of India, Ministry of External Affairs 1952, pp. 184-185 (im folg. UNCIP ThIR; Papers 1952)

5) India Impeding Kashmir Solution, Says Musharraf. In: The News International, Karachi, 11 (24.10.2000) 293, p. 1 (im folg. News)

6) Wortlaut mit Kommentar in: Anand, C.L., The Government of India: Being a Survey of Constitutional Development during the British Period, including the Reform of 1935. 5th ed. Lahore Univ. Book Agency 1936.

7) Draft Declaration for Discussion with Indian Leaders. 30 March 1942. London His Majesty’s Stationary Office 1942 (Cmd. 6350) (im folg. H.M.S.O.).

8) Für die Zeit seit dem Ende des Krieges in Europa siehe unter anderem Statement of the Policy of His Majesty’s Government made by the Secretary of State for India on July 14, 1945. In: Coupland. Reginald, India: A Restatement. London 1945, pp. 295-298; India: Statement by the Cabinet Mission and His Excellency the Viceroy. 16 May 1946. London H.M.S.O. 1946 (Cmd. 6821); Attlee, Clement R., Statement on the Transfer of Power. 20 February 1947. In: Philips, C.H. / Singh, H.L. / Pandey, B.N. (eds.), Select Documents on the History of India and Pakistan Vol. IV. The Evolution of India and Pakistan, 1857-1947. London 1962, pp. 391-393.

9) Hier wird ausdrücklich von „neu belebt“ gesprochen, denn diese Konfrontation war seit der Errichtung der moslemischen Herrschaft ein Faktum, wenngleich sie über eine lange historische Periode keine akute Form annahm. In Indien verbreitete Auffassungen, der Hindu-Moslem-Konflikt sei von den Briten „geschaffen“ worden, halten erstens keiner ernsthaften Analyse stand und sind zweitens – wie die Umdeutungen des Hindu-Moslem-Konflikts in einen islamischen Befreiungskampf – nur mühsam kaschierte Versuche, die hohe Mitverantwortung der rivalisierenden politischen Kräfte an der Austragungsform des Konflikts und an der Teilung Indiens zu verdrängen

10) Zit. n. Alexander, Harold, India since Cripps. Harmondsworth/ New York 1944, p. 54.

11) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah to the All-India Muslim League at Lahore. 22 March 1940. In: Ahmad, J., Some Recent Speeches and Writings of Mr. Jinnah. Vol. I. Lahore Sheikh Mohammad Ashraf 1952, pp. 159-181. Nachgedruckt in: Hasan, K.Sarwar (ed.), Documents on the Foreign Relations of Pakistan. The Transfer of Power. Karachi Pakistan Institute of International Affairs 1966, pp. 1-18; zit. Stelle p. 17.

12) Ebenda, pp. 15-17.

13) Der eigentliche Vater der Zweinationentheorie war der in Cambridge lebende und sich als Präsident der Pakistan National Movement bezeichnende C. Rahmat Ali, der am 8. Juli 1935 ein Memorandum an Regierungen, Politiker und Medien versandte, das offensichtlich ein Positionspapier gegen den Government of India Act war. Eine Kopie befindet sich in den Handakten des Staatssekretärs z.b.V. im Auswärtigen Amt, Wilhelm Keppler. PA / AA R 27 501 2/1-2, 4 Bl. Wenig später wurde diese Theorie von Mohammad Iqbal, einem bedeutenden Urdu-Poeten und Philosophen übernommen, der kurz vor seinem Tode Mohammed Ali Jinnah überzeugen konnte, die Pakistan-Forderung zur Kampflosung der Moslemliga zu machen.

14) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O.

15) Resolution Adopted by the All-India Muslim League at Lahore. 23 March 1940. In: Central Office All-India Muslim League. Jinnah-Gandhi Talks (September 1944). Delhi 1944, pp. 83-84.

16) The Indian Year Book 1941/42. Vol. XXVIII. Bombay/Calcutta 1942, p. 921.

17) Text in: Hasan, Documents on the Foreign Relations of Pakistan…, a.a.O., pp. 263-276.

18) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O., p. 17.

19) Jinnah,M.A., Message to the Nation.on the Occasion of the Inauguration of the Pakistan Broadcasting Service, August 15,1947. In: Quaid-i-Azam Mohammad Ali Jinnah. Speeches and Statements as Governor General of Pakistan, 1947-48. Islamabad Government of Pakistan, Ministry of Information and Broadcasting 1989, pp. 55-56 (im folg. QiA).

20) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O., p. 15

21) Ägypten, Syrien, Irak, Libanon und andere Staaten mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung standen über Jahrzehnte hinweg Indien weitaus näher als Pakistan.

22) Es gehört zu den elementaren Unsinnigkeiten des pakistanisch-indischen Verhältnisses, dass die Pakistan Constituent Assembly die vom britischen Gesetzgeber im Indian Independence Act auf den 15. August festgelegte Souveränitätsübergabe an beide Staaten auf den 14. August vorzog, um sich auf diese Weise demonstrativ von Indien abzusetzen.

23) Zu einigen Fakten: Weidemann, Diethelm, Die Entstehung des Staates Pakistan. In: Asien. Afrika. Lateinamerika, Berlin, 2(1974)2, S. 241-252 (im folg. AAL).

24) Government of India. Census of India 1941. India Part I Vol. 1. New Delhi, pp. 98-101 (im folg. Census 1941).

25) Dieses Grenzabkommen wurde von Indien niemals anerkannt und Indien betrachtet das betreffende Territorium als „…illegally handed over by Pakistan to China“. In: Government of India. Census of India 1981. Series 1 India Part II-A(I) General Population Tables. New Delhi 1985, p. 72 (im folg. Census 1981).

26) Ebenda, pp. 72-73.

27) Ebenda, pp. 75, 110-113, 576, 604-606; Census 1981, Part XII Census Atlas Jammu and Kashmir. Series 8. New Delhi 1988, pp. 248-250.

28) So betrug bereits 1981 der Anteil der Moslems im Distrikt Kargil 77,40%. Siehe Census Atlas Jammu and Kashmir, a.a.O.

29) Government of India. Census of India 1991. Series 1 India Paper 1 of 1992 Vol. II Final Population Tables. New Delhi 1993, p. 16 (im folg. Census 1991).

30) Siehe u.a. Schied, Michael, Indien – Pakistan – Sindh – Karachi. Wechselnde Machtverhältnisse und Staatsformierung (Zur Entwicklung der Mohajir Qaumi Movement). In: Hexamer, Eva-Maria / Oesterheld, Joachim (Hrsg.), Innere Konflikte in Indien und Pakistan und die ideologische Dimension der Konfliktlage in Südasien. Berlin Humboldt-Universität 1998, S. 355-382 (Schriften IBA, Bd. 8).

31) Im Kontrast zur konstanten Leugnung dieses Sachverhalts durch das offizielle Pakistan gibt es dazu nicht nur einen detaillierten internen Report der Armee, sondern auch eine Art Bekenner-Literatur. Islam, Ziaul, The Revolution in Kashmir. Karachi Pakistan Publ. 1948; Khan, Akbar, Raiders in Kashmir. Story of the Kashmir War (1947-1948). Karachi Pakistan Publ. 1970.

32) Dazu speziell Hexamer, René, Der Kashmir-Konflikt – Fallbeispiel eines Legitimitätskonfilikts. Berlin 1992 (Arbeitspapiere des LFG Internationale Beziehungen in Asien und Afrika. Reihe C: Aktuelle Fragen der internationalen Beziehungen in Asien Nr. 7 (im folg. IBA-Texte C); Ders., Kashmir 1989-1996: Zur Relevanz der inneren Konfliktdimension im Kontext der indischen Staatskrise. In: Hexamer, Eva-Maria / Oesterheld, Joachim (Hrsg.), Innere Konflikte in Indien und Pakistan und die ideologische Dimension der Konfliktlage in Südasien. Berlin Humboldt-Universität zu Berlin 1998, S. 251-321 (Schriften IBA 8, 2. Aufl.).

33) Während die Wahlbeteiligung bei den Staatenwahlen von 2002 in Kashmir bei 46 Prozent lag, betrug sie im Frühjahr 1997 in Pakistan landesweit nur 35,92 Prozent und erreichte ihren markanten Tiefpunkt in Baluchistan mit 22,84 und in der Nordwest-Grenzprovinz mit 29,67 Prozent. Quellen: Husain, Z., Clean Sweep. In: Newsline, Karachi, 8(1996/97)9, February1997, p. 36; Khan, A.A., The Anatomy of a Landslide. In: The Herald, Karachi, 28(1997)3, p. 46ff.

34) Die Zahl der von den Militanten getöteten Moslems ist höher als die der getöteten Hindus. Vor dem Ausbruch der Insurrektion war das Verhältnis etwa 30:1. Zum großangelegten Vertreibungsfeldzug der Islamisten und ihrer militant-terroristischen Ableger gegen die eingesessenen Kashmiri-Hindus siehe u.a. Genocide of Hindus in Kashmir. Jammu Kashmir Sahayata Samiti. New Delhi Suruchi Prakashan 1991.

35) Nolan, Janne N., Trappings of Power: Ballistic Missiles in the Third World. Washington Brookings 1991, zu Südasien besonders pp. 86-91.

36) Die Argumente der nuklearen Lobby sind repräsentativ konzentriert in Pakistan’s Security and the Nuclear Option. Islamabad Institute of Policy Studies 1995 Die Hauptpositionen einiger Opponenten finden sich in Mian, Zia (ed.), Pakistan’s Atomic Bomb & The Search for Security. Lahore Gautam Publ. 1995.

37) Graham, Thomas W., Rethinking Nonproliferation Policy: Increasing Effeciency and Enhancing Stability. In: Aspen Strategy Group. New Threats: Responding to the Proliferation of Nuclear, Chemical and Delivery Capabilities in the Third World. Aspen/Lanham 1990.

38) The Hindu, Madras, 121(29.5.1998) (im folg. Hindu).

39) Ihre direkte Vorgängerin, die Bharatiya Jana Sangh, verabschiedete bereits im Dezember 1962 die erste Resolution mit der Forderung nach dem Bau von Kernwaffen in Indien und startete 1964 die erste antichinesische Kernwaffenkampagne. Zur hindunationalistischen Kernwaffenlobby siehe Mirchandani, a.a.O., pp. 55-65.

40) Vajpayee, A.B., Paper laid on the table of the House on Evolution of India’s Nuclear Policy, May 27, 1998. – http://www.indianembassy.org/pic/nuclearpolicy.htm Siehe auch Prakash, Surya, All Were Party to the Nuclear Gatecrash. In: Pioneer CXXXIV (25.5.1998) 144, p. 8; Subrahmanyam, K., Politics of Shakti. Old Wine in a New Bomb. In: ToI CLXI (26.5.1998) 115.

41) Zu diesem Aspekt siehe Chaska, C. Uday, India’s Security No Longer Depends on Others Goodwill. In: Sunday Times of India, New Delhi, VII(17.5.1998) (im folg. SToI); Vice Adm. (R.) Quadir, Iqbal F., India Opts for World Status. In: Defence Journal, Karachi, 2(1998)6, pp. 25-25 (im folg. DJ); Sharma, L.K., India’s Tests Puts the Nuclear Haves in the Dock. In: ToI CLXI(13.5.1998)104 -http://www.timesofindia.com/130598/13worl3.htm; Varadarajan, Siddharth, Testing the World Order. In: Nuclear (In)Security. Seminar No 468, New Delhi August 1998, pp. 24-32.

42) Hindu (29.5.1998).

43) Bidwai, Praful, India Has Shot Itself in the Head. In: SToI VII(17.5.1998) -http://www.timesofindia.com/170598/17edit4.htm4.

44) Zu kritischen Positionen siehe Aiyar, Swaminathan S.A., Is India Stronger for the Nuclear Tests? In: SToI VII (17.5.1998) http://www.timesofindia.com/170598/17edit5.htm; Bidwai, Praful, Dangerous Descent. In: ToI CLXI(15.5.1998)106 -http://www.timesofindia.com/150598/15edit10.htm; ders., India Has Shot Itself…, a.a.O.; Mishra, Bisheshwar, India Needs Bread, Not Bombs: CPML. In: ToI CLXI(26.5.1998)115, p. 9; Ramachandaran, Shastri, Test of Liberalism. Trapped Between Bomb and Bombast. In: ToI CLXI(21.5.1998)111, p. 9; Varadarajan, Siddharth, Pokhran as Pandora. In: ToI CLXI(16.5.1998)107 -http://www.timesofindia.com/16edit9.htm.

45) Aiyar, Swaminathan S.A., Saffron Storm Rising. In: SToI VII(24.5.1998) -http://www.timesofindia.com/240598/24busi3.htm; Subhan, Taufiq, Artha, Not Dharma Propels the BJP. In: ToI CLXI(23.5.1998)113, p. 10.

46) Siehe Ahmad, Aijaz, The Hindutva Weapon. In: Frontline, Madras, 15(1998)11, May 23-June 5; Karat, Prakash, A Lethal Link. In: Ebenda, 15(1998)12, June 12-19.

47) Thapa, Kamal, Lessons from Pokhran. In: Kathmandu Post, (30.5.1998).

48) The Telegraph, Calcutta, (21.5.1998).

49) Siehe unter anderem Lt. Gen. (R.) Durrani, Mohammad A., Pakistan’s Nuclear Card. In: DJ 2(1998)6, pp. 10-13; Air Marshal (R.) Khan, Ayaz A., The Nuclear Indecision. In: Ibidem, pp. 26-28; Mazari, Shireen M., In the Aftermath of the Indian Tests. In: Ibidem, pp. 4-6; Rahman, S.M., Brandishing the Nuclear Sword. The Shakti Syndrome. In: Ibidem, pp. 20-22; Zehra, Nasim, Nuclear Test the Only Option. In: Ibidem, pp. 2-3. Siehe ferner Babar, Farhatullah, To Test Or Not to Test. In: The Nation, Islamabad/Lahore, X(18.5.1998), p. 9 (im folg. Nation); Koreshi, Samiullah M., Time Is Running Out for Pakistan to Test. In: Ibidem (19.5.1998), p. 9.

50) Beispielsweise Shafi, Kamran, Don’t Go Off Half-cocked. In: Nation X(16.5.1998), p. 9; Qureshi, Yusuf, To Test Or Not to Test, That Is the Question: In: Ibidem (20.5.1998), p. 9.

51) Siehe beispielsweise Hasan, Ahson S., Think Well Before Testing. In: Nation X(20.5.1998), p. 9; Inayatullah, Can We Eat Grass? In: Ibidem, p. 9; Naqvi, Hussain, Dispassionate Dialogue Required. In: Ibidem (19.5.1998), p. 9; Rahman, Asad, A Question of Priorities. In: Ibidem (22.5.1998), p. 9; Sehgal, Ikram, Fail-safe Limits of Dynamic Restraint. In. Ibidem (23.5.1998), p. 8.

52) Widmann, Carlos, Jenseits des Rubikon. In: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 24/1998, 8.6., S. 148; Pressures on Pakistan (Editorial). In: Nation X(16.5.1998), p. 8.

53) Widmann, a.a.O., S. 149 Siehe auch Malik, Saeed, Islamic Bomb, Why Not? In: Nation X(26.5.1998), p. 8.

54) Er bestätigte das explizit in seinem politischen Testament. Bhutto, Z.A., „If I am Assassinated…“ New Delhi Vikas Publ. House 1979, pp. 115 ff..

55) Hussain, Fahd, Why Fear Nuclear Frenzy? In: Nation X(17.5.1998), p. 8.

56) Dawn, Karachi, LII(10.6.1998); Ebenda (11.6.1998) Der Anlaß war die Ortung einer nichtidentifizierten F-16 im pakistanischen Luftraum, und die Regierung ersuchte auf einem geheimen Weg Israel um eine Klarstellung, die unverzüglich durch Tel Avivs UNO-Botschafter Ben-Elissar erfolgte, dass keine israelische Maschine sich auch nur in der Nähe Pakistans befinde, und dass Israel unter keinen Umständen in den pakistanisch-indischen Konflikt hineingezogen werden möchte.

57) Zu den geostrategischen resp. geopolitischen Rückwirkungen siehe Cheema, Zafar I., South Asian Security after India-Pakistan Nuclear Tests. In: Pakistan Defence Review, Rawalpindi, 11(1998/99)1, Summer 1998, pp. 9-20 (im folg. PDR); Junaid, Shahwar, The Region and a Nuclear India. In: Nation X(21.5.1998), p. 8; Lt. Gen. (R.) Lodi, Sardar F.S., South Asia Goes Nuclear. In: DJ 2(1998)7, pp. 14-16; Mazari, Shireen M., Nuclearization of South Asia: The Geopolitical Dimension. In: Ibidem 2(1998)10, pp. 28-34; Rahman, Asad, Nuclear Escalation in South Asia. In: Nation X(15.5.1998), p. 9; Shaukat, Sajjad, Balance of Nuclear Terror in South Asia. In: Ibidem (18.5.1998), p. 9; Subrahmanyam, K., A Nuclear Strategy for India. In: Economic Times, New Delhi, 38(28.5.1998)73, p. 10 (im folg. EcT); Ullah, Ikram, Security Hazards in South Asia. In: Nation X(31.5.1998), p. 8.

58) Cooper, Kenneth J., India Revises Prohibition on First Strike – Delhi Government Offers to Negotiate Nuclear Issue with Pakistan, Other Nations. In: WashP (28.5.1998).

59) Dawn LII(5.6.1998) Es ist übrigens interessant, dass indische Medien aus erkennbar propagandistischen Motiven versuchten, ihrer Leserschaft vorzuspiegeln, dass die Moslems weltweit die pakistanische Bombe begrüßt hätten.

60) Advani’s Threat (Editorial). In: Nation X(20.1.1998), p. 8; Response to Advani (Editorial). In: Ibidem (21.5.1998), p. 8; Varadarajan, Siddharth, A Nuclear Lesson from Bhasmasura. In: ToI CLXI(28.5.1998)117, p. 9. Zu den ausgeprägt negativen deutschen Reaktionen auf Advanis Ausfälle vgl. die überregionalen Blätter zwischen dem 20. und dem 24.5.1998.

61) Bhattacharjee, Jay, Show Solidarity to Beat Sanctions. In: ToI CLXI(28.5.1998)117, p. 10; Singh, Ajay, Test Effects May Alter the Budget. In: Pioneer CXXXIV (21.5.1998) 140, p. 5.

62) Naqvi, M.B., Sharif Saves Pakistan’s Honour But At What Price? In: ToI CLXI (29.5.1998) 118, p. 1.

63) Kissinger, Henry, Sanctions Are Not the Answer. In: DJ 2(1998)10, pp. 90-92.

64) Hussain, Fahd, US Non-Proliferation Policy: An Obituary: In: Nation X(31.5.1998), p. 9; Köttler, Wolfgang, Der nukleare Dammbruch. In: Neues Deutschland, Berlin, 53(18.5.1998)114, S. 8 (im folg. ND).

65) Indische und pakistanische Positionen zu dieser Frage siehe bei Mazari, Shireen M., The CTBT Debacle: Need for a Comprehensive Approach. In: DJ 2(1998)8, pp. 20-21; Rahman, S.M., CTBT – A Psychological Profile. In: Ibidem, pp. 22-25; Riding the Storm (Editorial). In: ToI CLXI(15.5.1998)106 -http://www.timesofindia.com/150598/15edit1.htm; Col. Salik, Naeem A.,Future of Non-Proliferation in South Asia. In: PDR 11(1998/99)1, Summer 1998, pp. 45-55; Sharma, L.K., Indian Tests Reopen the Nuclear Question. In. ToI CLXI(15.5.1998)106. Siehe auch Hippler, Jochen, Atomwaffen für alle. In: Freitag, Berlin, Nr. 24/1998, 5.6., S. 1.

66) Zu den grundsätzlichen Aspekten dieser Problematik siehe Weidemann, Diethelm, Domestic Problems and Foreign Policy in South Asia – Changing Interactions in the Post-Bipolar World. Paper to the XVth European Conference on Modern South Asian Studies, Prague, September 8-12, 1998.

67) Niazi, M.A., The BJP’s Next Agenda Item. In: Nation X(29.5.1998), p. 8; Venzky, Gabriele, Kaschmir und die Bombe. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 24/1998, 4.6., S. 5-6.

68) Die folgenden Ausführungen sind eine Fortschreibung eines Positionspapier des Verfassers zur Konfliktregulierungsproblematik. Siehe Weidemann, Diethelm, Krisen- und Konfliktmanagement in der postbipolaren Welt: Möglichkeiten und Grenzen von Konfliktregulierung in Asien, Juni 1995.

69) Ausführlich dazu Weidemann, Diethelm, Gefährliche Identitätssuche. Pakistan zwischen Orientierungslosigkeit und Indien-Fixierung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, 47 (2002) 7, S. 846-854.

70) Siehe Government of India, Ministry of External Affairs. Letter from the Representative of India addressed to the President of the Security Council, dated 1 January 1948 (S/628, 2 January 1948). In: UNCIP First Interim Report (9.11.1948), Annex 28 Para III, Papers 1952, pp. 112-116.

Prof. Dr. Diethelm Weidemann war 1975-1988 Direktor der Sektion Asienwissenschaften, 1989-1992 Direktor des Instituts für Friedens- und Konfliktforschung und 1992-2000 Lehrbeauftragter am Insti- tut für Asien- und Afrikawissenschaften der Berliner Humboldt-Universität

Dem Andrang der Hungernden hält kein Riegel stand

Dem Andrang der Hungernden hält kein Riegel stand

Probleme der Globalisierung aus indischer Sicht

von Subhoranjan Dasgupta

Die Einsicht, dass es ohne soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit kein friedliches Zusammenleben von Menschen, Völkern und Staaten geben kann, wird seit Jahrzehnten von diversen Kanzeln und Kathedern herab verkündet, muss unter den Bedingungen der beschleunigten »raubtierkapitalistischen« Globalisierung aber neu durchbuchstabiert werden. In W&F 2-2004 hat sich deshalb Johannes Lauterbach mit den handelspolitischen Aktivitäten der EU auf der 5. Ministerkonferenz der WHO in Cancun befasst. In vorliegendem Beitrag erschließt der Autor aus der Sicht des »Schwellenlandes« Indien bemerkenswert konkrete neue Aspekte der alten Erkenntnis.

Unter Globalisierung ist Verschiedenes zu verstehen. So ist die Ausbreitung der Zivilisation, von Werkzeugen, Institutionen, Lebensstilen, von Information und Wissen, eine Form der Globalisierung, und zwar eine wünschenswerte. Um die geht es hier jedoch nicht. Hier geht es um die bewusste und gewollte Verbreitung bestimmter Institutionen, einer bestimmten Art und Weise, Handel zu treiben, Waren zu produzieren und auszutauschen und Dienstleistungen weltweit zu erbringen.

Zivilgesellschaftliche Herausforderungen

Einerseits spielen Finanzmärkte und Handelsbeziehungen (i.B. multinationale) eine entscheidende Rolle im Rahmen der Globalisierung in diesem zweiten Sinn. Andererseits ist zu erwarten, dass die Zivilgesellschaft eine ähnlich bedeutsame Funktion hat. Sie müsste vor allem den schädlichen Einfluss von Finanz- und Wirtschaftsinteressen bekämpfen und ihnen Widerstand entgegensetzen. Um nur ein Beispiel für solch einen absolut schädlichen Einfluss, der abgewehrt werden muss, zur Sprache zu bringen: Wenn ein völlig diskreditierter und korrupter Multi wie Enron, an den sich viele große Tiere der US-amerikanischen Administration buchstäblich verkauft hatten, uns in Indien immer noch zu exorbitant hohen Preisen Elektrizität zu verkaufen versucht, sollte die indische Zivilgesellschaft hartnäckig Widerstand lei sten.1

Man kann die Globalisierung nicht rückgängig machen. Unser Bedürfnis aber, ihre Ziele und weitere Gestaltung leidenschaftlich zu diskutieren, belegt als solches, dass einschneidende Veränderungen unabdingbar sind. In der Tat hat Joseph Stiglitz in seiner scharfen Globalisierungskritik gezeigt, dass auch die Weltbank sich dieses tiefgreifenden Reformbedarfs bewusst zu sein scheint, während der Internationale Währungsfonds unflexibel bleibt.2 Die dringende Notwendigkeit einer besseren Form der Globalisierung hat Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, mit den Worten auf den Punkt gebracht: „Obwohl ich für die Globalisierung bin, danke ich Gott für die Antiglobalisierungsbewegung.“3 Diese Bemerkung bringt keinen kindischen Widerspruch zum Ausdruck, sondern unterstreicht unser schwerwiegendes Dilemma. Kein Wunder, dass der deutsche Bundespräsident, Johannes Rau, diese Äußerung in seiner Berliner Rede zur Globalisierung vor zwei Jahren zitiert und schlicht kommentiert mit: „Er hat Recht!“4

Selbstkritik

Erinnert man an den Raubzug von Enron in Maharashtra in Indien, liegt natürlich die Frage nahe: „Warum hat eure Regierung – genauer: die Zentralregierung in New Delhi und dann auch die Regierung von Maharashtra – es Enron erlaubt, in euer Land zu kommen und es auszubeuten?“ Eine legitime Frage, die uns zum nächsten wichtigen Punkt führt. Der heißt: Was sollte in diesem Kontext die Rolle von Bevölkerungen und Regierung in den Entwicklungsländern sein?

Ich möchte dieser delikaten Frage nicht ausweichen, weil ich sehr viel von Gandhis zentralem Prinzip halte: „Kritisiere und korrigiere dich selbst, bevor du andere kritisierst!“ Freilich erwarten wir in unserem Teil der Welt, dass die entwickelten Länder und die Welthandelsorganisation sich ebenso verhalten. Selbstkritik kann keine Einbahnstraße sein. Legen wir also ein paar skandalöse Fälle unseres Versagens als Inder auf den Tisch:

  • Experten, die das Kapitel Indien des Enron-Skandals analysiert haben, haben schlüssig gezeigt, wie sowohl die Zentralregierung in Neu Delhi als auch die Staatsregierung von Maharashtra jedwede noch so befremdliche Forderung von Enron akzeptiert haben. Anders gesagt: Unsere eigenen Regierenden haben die Plünderungen ermöglicht – und doch waren sie nicht groß genug, um den Kollaps von Enron im Mutterland USA abzuwenden. Die Unterwürfigkeit meiner eigenen Regierung legt eine andere Frage nahe: Wäre es Enron gelungen, China in ähnlicher Weise in den Schwitzkasten zu nehmen? China, das die Herausforderungen der Globalisation viel besser als mein eigenes Land angenommen hat, hätte Enron lange vorher hinausgeworfen!
  • Mein zweites Beispiel beinhaltet zahlreiche kleinere Versionen von Enron Indien. Fast alle indischen Großkonzerne – ausgenommen Tata House, das sich ob seiner Transparenz und seines Gemeinschaftsethos empfiehlt – haben Milliarden Rupien als Anleihen von Staatsbanken aufgenommen, um Industrien aufzubauen, aber keinen Penny zurückgezahlt. Staatsbanken funktionieren und operieren in meinem Land mit dem Geld der Bürger. Das bedeutet, diese Raffkes haben das Geld von Millionen einfacher Inder gestohlen. Das ist etwas anderes als die viel simplere Kapital- und Profitflucht in ein Steuerparadies wie Mauritius; auch hat kein Kreditnehmer-Konzern sich selbst für bankrott erklärt. Sie prosperieren alle, weigern sich aber zurückzuzahlen. Darüber hinaus sind ihre Macht und ihr Einfluss so enorm, dass die Regierung sie nicht einmal anfassen kann. Wo aber sind diese Milliarden hingekommen? Ein kleiner Teil davon wurde in demonstrativen Konsum gesteckt, sagen wir in vergoldete Waschbecken und Kommoden – wir haben in Indien viele Badezimmer dieser Art! Aber der größere Teil wurde auf Geheimkonten bei Schweizer Banken deponiert und ein noch größerer Teil vagabundiert in unserem Finanzmarkt als heißes Spekulationsgeld, das kleinen Anteilseignern schweren Schaden zufügt.

Ich denke, diese beiden einheimischen Beispiele unter vielen möglichen offenbaren hinreichend deutlich unser eigenes Verfehlen.

Die Kehrseite der Medaille

Das ist allerdings nur ein Teil der Geschichte, nur die eine Seite der Medaille. Als zweiten Teil müssen wir ein paar beispielhafte »globalisierte« Skandale in Erinnerung rufen, die mit den nationalen indischen nichts oder wenig zu tun haben. Beide ergänzen und vervollständigen sich. Bevor ich aber auf diese spezifischen Beispiele internationalen Mafiatums eingehe, möchte ich ein paar einschlägige Feststellungen zur Kenntnis bringen.

  • Feststellung 1: „Die Globalisierung gestalten kann nur, wer klare Wertvorstellungen jenseits des Wirtschaftlichen hat.“
  • Feststellung 2: „Freiheit und Gerechtigkeit – das sind Werte, an denen wir uns orientieren müssen, wenn wir die Globalisierung wirtschaftlich und politisch auf einen guten Weg bringen wollen.“
  • Feststellung 3: „Wir brauchen eine Insolvenzordnung für Staaten, mit dem die Überschuldungsprobleme gelöst werden können.“
  • Feststellung 4: „Heute haben neunzig Prozent der Gelder, die täglich um die Welt zirkulieren, nichts mehr mit dem Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu tun. Über zwei Billionen Euro, über zweitausend Milliarden, wechseln täglich aus spekulativen Gründen immer wieder den Ort. Das kann ganze Länder sozial und politisch destabilisieren, ja das kann sie in den wirtschaftlichen Ruin treiben.“
  • Feststellung 5: „Es ist schon ein seltsames Verständnis von Ethik und Moral, wenn reiche Länder die technischen Eliten aus Entwicklungsländern anheuern, gleichzeitig aber den Produkten, die in diesen Ländern mit billiger Arbeit produziert werden, den Zugang versperren.“
  • Feststellung 6: „Die extremen Ungleichgewichte in der Verteilung des Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilität.“
  • Feststellung 7: „Die Entwicklungsländer müssen stärkeres Gewicht bekommen in den Entscheidungsgremien von Weltbank, Weltwährungsfonds und Welthandelsorganisation. Diese Organisationen sind den Menschen auf dem ganzen Globus verpflichtet und nicht wirtschaftlichen oder anderen Einzelinteressen.“

Wer hat diese Feststellungen getroffen? Ich kann versichern, weder Noam Chomsky, noch Naomi Klein, noch der Geist von Carlo Guiliani. Die ersten vier und die siebte stammen von dem deutschen Bundespräsidenten, Johannes Rau, die fünfte wurde von Ottmar Isssing, dem Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, geäußert, und die sechste von Horst Köhler, seinerzeit Chef des Internationalen Währungsfonds.5 Diese Feststellungen sind zu begrüßen, denn sie zeigen: Erstens, dass die Globalisierungskritik eine solide Grundlage hat, zweitens, dass das Bewusstsein des Reformbedarfs und der Antrieb zu politischen Reformen an Boden gewinnen, und drittens, dass wir, wenn wir uns wirklich anstrengen, eine andere Globalisierung haben können, eine Globalisierung mit einem warmen menschlichen Gesicht

Es erübrigt sich wohl nach diesen Zugeständnissen, spezifische Beispiele für den zutiefst inhumanen Charakter von Globalisierungsprozessen zu bemühen. In der Tat kann man schmerzhaftes Bedauern seit den 70er Jahren finden, als beispielsweise Willy Brandt mit der Intervention der Nord-Süd-Kommission sein Bestes versuchte, um die Ungleichheiten zu reduzieren. Ich hatte Gelegenheit, ihn zweimal zu interviewen. Als ich das eigene Versagen Indiens betonte, meinte er nur in bewegendem Tonfall: „Unsere eigenen Schränke sind so voller Gerippe, dass wir die in Euren nicht zu zählen brauchen.“6 Hier eine kurze Liste solcher im Bereich des Finanzmarkts, des Warenaustauschs und transnationaler Projekte umherklappernder Gerippe:

  • Die transnationalen Pharmakonzerne – oder sollten wir von einer Medizin-Mafia sprechen? – benutzen immer noch gerne die Entwicklungsländer als Testfeld für ihre risikoreichen Arzneien oder Ladenhüter-Medikamente, auch wenn diese in der »entwickelten« Welt längst verboten sind. Beispiel: Verwendung von Deprovera oder anderen gefährlichen Mitteln, um die Geburtenkontrolle in Ländern der »Dritten Welt« zu beschleunigen. Hunderte von Untersuchungsberichten auf der Grundlage solider Feldforschung haben das Unheil an den Tag gebracht, das von den Profit-Multis aus dem Westen und Norden angerichtet worden ist.
  • Seit dem Beginn der finanzwirtschaftlicher Liberalisierung in Indien, d.h. seit der Liberalisierung des Bankensystems 1991 und der Liberalisierung der Beteiligungsverfahren für ausländische Institute 1992 wurde der indische Aktienmarkt von einem Betrug nach dem andern in schockierender Abfolge getroffen. Diese Betrügereinen großen Stil machten Millionen von Anteilseignern aus der Mittelklasse über Nacht bettelarm. Gespeist von heißen Spekulationsgeldern kam es zunächst zu beispiellosen Aufschwüngen, dann zu den vorprogrammierten niederschmetternden Kurstürzen. Wer drehte an diesen Zusammenbrüchen, nicht ohne zuvor die Riesendifferenzen zwischen Kauf und Verkauf genau zu berechnen? Augenscheinlich kriminelle indische Makler wie Harshad Mehta and Ketan Parekh, unter einer Decke mit ausländischen Banken wie der First National City Bank, ANZ Grindlays, der Bank of America und größeren indischen Nationalbanken wie der National Housing Bank und der Bank of Baroda. Abermals wurde in Hunderten von Untersuchungen gezeigt, wie das dunkle Getriebe des indischen Finanzmarktes funktioniert, in einem geradezu kumpelhaften Zusammenspiel globaler und nationalen Partner, um die einfachen Leute zu beschwindeln.
  • »Terms of Trade«. Das Wirkprinzip in diesem Bereich ist beunruhigend einfach: Euer Markt ist unser Markt; unser Markt ist aber nicht euer Markt. Ihr senkt die Zolltarife, so dass wir euch mit unserem Zucker und unseren Äpfeln überschwemmen können, wir aber erhöhen weiter die Tarifschranken, damit euer Reis und die anderen Agrarprodukte nicht auf unseren Markt kommen. Wenn sie aber, wie der Kaffee, doch kommen, setzen wir die Preise herab – oder wir erwerben das Patent, wenn der Reis so gut schmeckt wie der Basmati.

Während die OECD-Länder die Subventionen in ihrem Agrarbereich von 300 Milliarden Dollar im Jahr 1980 auf 360 Milliarden 1999 steigerten, werden wir von der Welthandelsorganisation ständig unter Druck gesetzt, unsere Subventionen abzubauen. Während die USA ihren Farmern für jede Tonne Sojabohnen 193 Dollar Subventionen bieten, leiden unsere Farmer, da sie nicht in der Lage sind, es mit diesen massiven staatlichen Subventionen aufzunehmen, Hunger und begehen schließlich Selbstmord. Ist das ein freier Markt? Adam Smith müsste sich in seinem Grab umdrehen, wenn er von dieser Art von freiem Markt erführe, der den Reichtum nur einiger weniger Nationen mehrt. Um es kurz zu machen: Zwischen April 2001 und 2002 hat Indien unter Druck die Einfuhr von 852 Agrarprodukten, von Kartoffelchips bis Blumenkohl, gebilligt, und das hat zu einem unermesslichen Elend unserer Bauern geführt.7

Auch die entwickelte Welt hat mittlerweile realisiert, dass es so einfach nicht weitergehen kann. Um nochmals aus der Globalisierungsrede von Johannes Rau zu zitieren: „Deshalb ist es richtig, dass die Europäische Union ihre Export-Subventionen für Getreide in wenigen Jahren ganz abbauen will.“ Und er vergaß nicht, hinzuzufügen: „Ich weiß freilich, dass das zu Strukturproblemen in unserer eigenen Wirtschaft führt.“

Fazit

Was also ist zu tun? Die Antworten auf diese Fragen sind im Kern recht einfach:

  • Entwicklungsländer wie etwa Indien müssen ihren eigenen Augiasstall ausmisten. Auch wenn man beispielsweise im Agrarsektor gerechte »Terms of Trade« einführt, bleiben Millionen armer Bauern hierzulande arm – es sei denn, wir bringen auf dem flachen Land eine tiefgreifende Landreform zustande. Der semi-feudalistische Würgegriff in unserem Landwirtschaftssystem muss gelöst werden. Andernfalls kommen die Wohltaten eines wirklich offenen Agrarmarkts hauptsächlich der Sahneschicht der Großgrundbesitzer zugute.
  • Die Entwicklungsländer müssen in dieser Nach-Cancún-Phase eine gemeinsame und einheitliche Position einnehmen.8 Die indische Regierung hat einen Ansatz gemacht, die Entwicklungsländer von China bis Bangladesh zusammen zu bringen. Weiter müssen die anderen Länder von der Erfahrung Chinas lernen; denn China hat es verstanden, die Globalisierung in höchst beachtlicher Weise für seine nationalen Zwecke nutzbar zu machen. Selbst hinsichtlich der ausländischen Direktinvestitionen war China 50 mal erfolgreicher als Indien. In der Tat wird sich die nächste heikle Debatte um die Fragen drehen: Ist ein globales Investitionsprogramm überhaupt erforderlich und ist die Welthandelsorganisation das geeignete Forum zur Diskussion dieser Frage?
  • Während die ersten beiden Anregungen vornehmlich Sache der Entwicklungsländer sind, liegt die überaus bedeutsame dritte in den Händen der entwickelten Länder. Halten wir uns an Günter Grass, den kreativsten Autor, den Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat. Er hat diese dritte Anregung in glasklaren Worten zum Ausdruck gebracht. Als er gegen die anhaltende immense Ungerechtigkeit der Globalisierung vom Leder zog, berief Grass sich auf seinen Mentor Willy Brandt, um hervorzuheben, wie wichtig eine Entscheidungsinstanz von Gleichberechtigten ist. In einem Interview vor einiger Zeit sagte er mir: „Ich erwarte, dass eines Tages die Verteilung und Aufteilung der Reichtümer der Welt – Kapital, Technologie, Waren, menschliche Ressourcen – nicht unter Gesichtspunkten der Profitsteigerung, sondern nach Kriterien von Moral und Gerechtigkeit vorgenommen werden. Dazu muss die Majorität der Armen und Ausgebeuteten gleiche Macht und Autorität erhalten. An dem Tisch, an dem die Entscheidungen fallen, müssen zwei Stuhlreihen stehen, nicht nur eine.“9

Was aber, wenn es nicht dazu kommt? Grass schließt seine Nobelpreisrede mit der Warnung: „Mit der Globalisierung wurde die freie Marktwirtschaft dogmatisiert; von ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten berauscht spielt sie verrückt, einzig, um den Profit zu maximieren… Der reiche Norden und Westen mag sich noch so sicherheitssüchtig abschirmen und als Festung gegen den armen Süden behaupten wollen; die Flüchtlingsströme werden ihn dennoch erreichen, dem Andrang der Hungernden wird kein Riegel standhalten.“10

Anmerkungen

1) Der korrupte amerikanische Multi Enron drang in den 90er Jahren in den indischen Einflussbereich ein und bürdete der Zentralregierung in Neu Delhi und der Bundesstaatsregierung von Maharashtra völlig unfaire Bedingungen auf. Unter dem Druck der US-Regierung musste Indien die harten Bedingungen von Enron akzeptieren.

2) Stiglitz, Joseph (2000): Globalisation and its Discontents. Harmondsworth: Penguin Books.

3) Zit. nach Rau, Johannes (2002): Chance, nicht Schicksal – die Globalisierung politisch gestalten. »Berliner Rede« von Bundespräsident Johannes Rau am 13. Mai 2002 im Museum für Kommunikation Berlin. Verfügbar unter: http://www.bundespraesident.de [14.05.05]

4) Ebd.

5) Alle in Rau, Johannes (2002): s. Anm. 3.

6) Aus einem Interview mit Willy Brandt im Jahr 1981.

7) Alle Zahlen und statistischen Angaben basieren auf der von Professor Amiya Kumar Bagchi herausgegebenen zweibändigen Aufsatzsammlung zur Globalisierung. Kalkutta, 2002.

8) Vom 10. bis 14.09.03 fand im mexikanischen Cancún die 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation statt. Ziel war es vor allem, die wirtschaftliche Liberalisierung weiter voranzutreiben. EU und USA versuchten, neue Themen einzubringen und bestehende Abkommen auf noch mehr Lebensbereiche auszuweiten, ohne Rücksicht auf die Interessen der Entwicklungsländer und auf Umweltbelange. Die Konferenz wurde ohne Ergebnis abgebrochen; erstmals hielt eine starke Gruppe von Entwicklungsländern dem Druck der mächtigsten Player stand.

9) Aus einem Interview mit Günter Grass im Jahr 2002.

10) Grass, Günter (1999). Nobelpreisrede. Verfügbar unter: http://www.nobel.se/literature/laureates/ [19.05.04]

Subhoranjan Dasgupta ist Associate Professor am Institute of Development Studies Kolkata. Forschungsgebiete: Marxistische Ästhetik, Teilung Bengalens, deutsche Zeitgeschichte und zeitgenössische Literatur. Übersetzung von Albert Fuchs. Zitate aus deutschsprachigen Quellen wurden aus diesen übernommen.