Die Konfliktkonstellation Pakistan – Indien1
Es geht nicht nur um Kashmir
von Diethelm Weidemann
Einleitung
Es sind nicht semantische Gründe, wenn nachfolgend vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichend die Formulierung pakistanisch-indischer Konflikt verwendet wird, sondern historische Erwägungen:
- Der erste Kashmirkrieg wurde durch eine von der pakistanischen Armee personell und logistisch unterstützte Operation pashtunischer Stammeskrieger aus der Nordwest-Grenz-Provinz ausgelöst, die den letzten Maharaja zum Anschluss an Indien veranlasste, was dann den Einsatz indischer Truppen nach sich zog.
- Der zweite Kashmirkrieg war die logische Folge der von Ayub Khan abgesegneten Operation Gibraltar, an der auch Zulfikar Ali Bhutto eine erhebliche Aktie hatte, und in deren Ergebnis etwa 8.000 Angehörige der Armee und der Grenztruppen nach Kashmir eingeschleust und dort durch Hinweise der lokalen Bevölkerung vorzeitig entdeckt wurden, bevor sie operativ werden konnten, was im Herbst 1965 zu einem sofortigen und massiven Gegenangriff Indiens führte.
- Der Krieg von 1971 war das Ergebnis der eklatanten Missachtung des Ergebnisses der pakistanischen Parlamentswahlen von 1970 und des von einem Teil der westpakistanischen Generalität in Ostpakistan, heute Bangladesh, inszenierten Massakers, das übrigens in den letzten Monaten des Jahres 2000 die Beziehungen zwischen Pakistan und Bangladesh erneut ernsthaft belastet hat.
- Die pakistanische Kargil-Operation von 1999 war ein einseitiger und unprovozierter Krieg Pakistans gegen Indien, dass er ein »begrenzter« Konflikt blieb, ändert nichts an diesem Sachverhalt.
Deshalb ist es aus meiner Sicht historisch-politisch korrekter, diese Auseinandersetzung als pakistanisch-indischen Konflikt zu bezeichnen statt, wie es zumeist geschieht, als indisch-pakistanischen.
1. Der pakistanisch-indische Konfolikt – Ursachen, Charakter und Einzugsbereich
Die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien sind eines der kompliziertesten bilateralen und regionalen Probleme in Asien seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Bei der seit 1947 anhaltenden und bisher in drei Kriegen kulminierenden Auseinandersetzung zwischen diesen beiden südasiatischen Staaten 2 handelt es sich um einen vielschichtigen Konflikt, der nicht nur aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher konkreter Konfliktlagen besteht, sondern im Verlauf der Jahrzehnte auch eine eigentümliche Konfliktkonstellation mit einer spezifischen Dynamik herausgebildet hat. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass einflussreiche und teilweise auch dominante Gruppen der politischen und militärischen Eliten auf beiden Seiten die pakistanisch-indische Konfrontation von Anfang an und, präzise gesagt, bereits vor dem 15. August 1947, als machtpolitisches Nullsummenspiel perzipiert und betrieben haben. Dieser Faktor hat zählebige Denkstrukturen geschaffen, die auch heute noch politikgestaltend wirken. Jeder Versuch, die Komplexität des indisch-pakistanischen Verhältnisses und die damit verbundenen mannigfachen Interessengegensätze und Kollisionen auf die Kashmir-Frage zu reduzieren, wie seit langer Zeit von Pakistan offiziell praktiziert, ist entweder ein zutiefst illusionistischer Ansatz oder eine bewusste Verdrängung der großen Zahl realer Probleme zwischen beiden Staaten – z.B. die kontroversen Selbst- und extremen Feindbilder3 , die unterschiedlichen Perzeptionen von Nation mit ihren gravierenden Folgen seit 1947, die direkt kollidierenden Auffassungen von nationaler Sicherheit und die damit gesetzte Sicherheitspolitik sowie die fundamentalen strategischen Gegensätze. Alle diese Widersprüche sind in der Realität vorhanden, d.h. unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz der Kashmir-Frage und sie können daher nicht von der Kashmir-Frage abgeleitet werden. Dass sie sich in der Kashmir-Frage direkt reflektieren, ist dagegen nur folgerichtig. Auf diese Amalgamierung hat die United Nations Commission for India and Pakistan (UNCIP) bereits 1949 in einem Bericht aufmerksam gemacht.4 Wer die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation dennoch auf Kashmir reduziert, nimmt eine Position ein, die zwischen politischem Wunschdenken und taktischer Propaganda angesiedelt ist, die keiner historisch-politischen Analyse standhält und im Interesse einer tatsächlichen Normalisierung zwischen Pakistan und Indien nicht akzeptiert werden sollte. Und wenn der Chef des im Oktober 1999 installierten Militärregimes am 23. Oktober 2000 in Sudhnoti erklärte: „Kashmir ist der einzige Streit zwischen Indien und Pakistan, während der Rest zweitrangige Probleme sind“5 , dann ist das ein klassisches Beispiel für die Grenzen des Realitätsbewusstseins in Pakistans militärischer und politischer Führung.
1.1 Zu wesentlichen historischen Wurzeln des Konflikts
Das Jahr 1947 markierte das Ende der Herrschaft Großbritanniens über Südasien, die Wiedergewinnung eigener Staatlichkeit in Indien und die Konstituierung Pakistans aus den Provinzen Britisch-Indiens mit mehrheitlich moslemischer Bevölkerung (Sindh, Baluchistan, North West Frontier Province), jenen Gebieten der großen Provinzen Punjab und Bengalen, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung für Pakistan optiert hatte und einer Reihe von Fürstenstaaten. Das war ein tiefer historischer Einschnitt für Südasien, wurde doch Großbritannien gezwungen, seine direkte Herrschaft über den Subkontinent aufzugeben und den Weg für eine souveräne nationale Entwicklung in Südasien freizumachen. Dieses Datum war zugleich der Ausgangspunkt für markante staatliche und politische Prozesse, wirtschaftliche und soziale Umwälzungen, die in den zurückliegenden fünfzig Jahren das Gesicht Südasiens drastisch verändert haben.
Jedoch haben sich die spezifischen Bedingungen, unter denen die neuen Staaten ihre politische Selbständigkeit erlangten, bis auf den heutigen Tag auch als schwerwiegende Hypothek, als Konfliktpotential von gefährlicher politischer Brisanz erwiesen. Ihre Langzeitwirkung hat die Gesamtentwicklung in Südasien seit 1947 überschattet.
Die multiethnische, multikulturelle und polykonfessionelle Struktur Britisch-Indiens erforderte unabweisbar die föderale staatliche Gliederung eines nachkolonialen Indien, um die für eine souveräne Entwicklung essentiellen gesamtstaatlichen Interessen und die legitimen Interessen der zahlreichen großen und kleinen Gemeinschaften möglichst weitgehend zu harmonisieren und einen von allen akzeptierten Rechtsrahmen für ein Zusammenleben in einem Staat, für die Regulierung von Interessendivergenzen und für die Bewältigung von Konflikten mit rechtsstaatlichen Mitteln zu schaffen.
Die Provinzen Britisch-Indiens waren keine historisch gewachsenen Strukturen, sondern das Resultat eines vom 18. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh. andauernden und mit unterschiedlichem Tempo verlaufenden Eroberungsprozesses. Ihre Grenzen deckten sich keineswegs mit den ethnischen und linguistischen Trennlinien. Diese Situation wurde zusätzlich durch die ausgesprochene Streulage der Fürstenstaaten kompliziert. Daher hatte die nationale Frage in Indien neben ihrer dominierenden antikolonialen, auf die Befreiung von der Fremdherrschaft zentrierten Stoßrichtung, im 20. Jh. auch eine bedeutsame innere Komponente – das Ringen großer, bereits auf den Wege der nationalen Formierung befindlicher ethnischer Gruppen, sowie religiöser Gemeinschaften und traditioneller tribaler Gruppen um das Recht, sich frei auf der Grundlage ihrer eigenen Kultur, ihrer eigenen Sprache und ihrer eigenen Wertesysteme entwickeln zu können.
Diese starke regionale Triebkraft des nationalen Befreiungskampfes wurde jedoch in den letzten Jahrzehnten der britischen Herrschaft durch das Zusammenspiel eines prononciert antiindischen Flügels im britischen Establishment und in der Kolonialadministration mit kommunalistischen Kräften, Vertretern beschränkter Gruppeninteressen unterschiedlichster Couleur und bigotten religiösen Fanatikern faktisch paralysiert. Alle die Verfassung Britisch-Indiens betreffenden Grundsatzdokumente vom Government of India Act (1935)6 über die Cripps Proposals (1942)7 bis zu den Indien-Erklärungen der Labour-Regierung von 1945 bis 19478 legen Zeugnis davon ab, wie Föderalismus und Schutz der Minderheiten zu Instrumenten für die Schürung innerer Konflikte und zur Waffe gegen ein einheitliches unabhängiges Indien verkamen. Großbritannien wurde in die Lage versetzt, einzelnen Interessengruppen Konzessionen zu machen und diese unter Hinweis auf die indolente Haltung rivalisierender Kräfte zu widerrufen, und somit durch die Begünstigung oder direkte Schürung der inneren Widersprüche und Konflikte seine eigene Herrschaft über den zweiten Weltkrieg hinaus zu verlängern.Die inneren Widersprüche und Konflikte, die Großbritanniens Indienpolitik ungemein erleichterten, waren breit gefächert. Sie umfassten die seit den zwanziger Jahren zunehmenden sozialen Auseinandersetzungen, nationale, ethnisch-kulturelle und konfessionelle Differenzen sowie politische Machtkämpfe innerhalb der Oberschichten der indischen Gesellschaft. Zum Kern dieser Konfliktpotentiale wurde die Rivalität zwischen den beiden größten politischen Parteien, dem Indian National Congress und der All-India Muslim League. Sie wurde faktisch zum Kulminationspunkt der inneren Konfliktsituation in Indien. Die Anfänge dieser bis heute folgenreichen Auseinandersetzung lagen in der von den Briten aus ihren Herrschaftsinteressen heraus künstlich neu belebten Konfrontation zwischen Hindus und Moslems mit ihrer traditionellen Vernetzung sozialer, politischer und religiöser Fragen.9 Der »Hindu-Moslem-Konflikt« war kein religiöser Antagonismus. Selbst in seinen »heißen« Phasen war keine substantielle Bedrohung der Religionsgemeinschaften oder der Freiheit der Religionsausübung gegeben. Es ging für die Arbeitenden primär um mehr soziale Gerechtigkeit, für die noch schwache islamische Mittelklasse um den Zugang zu sozial gehobenen Positionen (z.B. in der Administration) und für die Oberklassen um Machtanteile. Das heißt, dieser Konflikt war ein politischer Kampf, dem handfeste soziale und ökonomische Interessen zu Grunde lagen. Humayun Kabir, selbst der islamischen Aristokratie entstammend, schrieb noch vor dem zweiten Weltkrieg: „Der kommunalistische Konflikt ist letztlich ein Kampf zwischen den Mittelklassen der beiden Gemeinschaften um den Anteil an den guten Dingen des Lebens.“10 Wir haben aber zu berücksichtigen, dass bis 1947 die populistische Hervorhebung der religiösen Komponente die dominante Oberflächenerscheinung dieses Machtkampfes zwischen INC und AIML war. Und es ist eine historische Groteske, dass es in Pakistan und Indien Kräfte gibt, die diese Schimäre auch heute noch als den Kern des pakistanisch-indischen Verhältnisses ansehen.
So wie der Hindu-Moslem-Konflikt war auch die Zweinationentheorie eine markante Ausdrucksform des politischen Machtkampfes zwischen den indischen Oberschichten mit unterschiedlichem kulturell-konfessionellem Hintergrund. Der Nationalkongress war zweifelsfrei eine nationale Sammlungsbewegung, die gebetsmühlenartige Unterstellung der Moslemliga, der INC sei nur eine Repräsentanz der Hindus, war eine später auch von den Briten aus ähnlichen politischen Motiven übernommene politische Propagandathese. Der Kongress war aber zugleich die Partei des aufstrebenden indischen Bürgertums und erheblicher Teile der Intelligenz und damit ein Instrument zur Generierung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Interessen. Er führte einen langjährigen und opferreichen Kampf gegen das Kolonialregime, aber er wollte auch die alleinige Macht im nachkolonialen Indien. Daher kam eine tatsächliche Machtteilung mit der Moslemliga ebenso wenig in Frage wie die Anerkennung der Interessen und Forderungen der indischen Linkskräfte. Für das Verhältnis zur Moslemliga war es ausgesprochen fatal, dass der sich gandhistisch drapierende konservativ-hinduistische Flügel in der INC-Führung seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre erheblichen Einfluss gewann. Die Negierung berechtigter Erwartungen der moslemischen Bevölkerungsgruppe nach den Wahlen von 1937, die Verdrängung Subhas Chandra Boses aus dem Kongress und gravierende politische Fehlentscheidungen während des zweiten Weltkrieges sowie zwischen Juni 1945 und August 1947 ist direkt damit verbunden und fünfundfünfzig Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit wäre es hohe Zeit, die Politik dieser Babu-Gruppe und ihre Langzeitfolgen einer objektiven historischen Analyse zu unterziehen.
Die Moslemliga erkannte nach den Wahlen von 1937. dass die realen Macht- und Mehrheitsverhältnisse ihr bei einer politisch ausgehandelten Unabhängigkeit Indiens und einer parlamentarischen Staatsordnung keine Chance geben würden, an die Macht zu kommen. Mohammed Ali Jinnah, ein glänzender Rechtsanwalt und Präsident der Moslemliga, erklärte am 22. März 1940 in Lahore: „Wenn Hindus und Moslems in einem den Minderheiten aufgezwungenen demokratischen System zusammengebracht werden, kann dies nur zu Hindu raj (Hinduherrschaft, d. V.) führen.“11 Die Liga erteilte daher einem parlamentarisch-demokratischen Weg zur Unabhängigkeit eine prinzipielle Absage12 , machte die bis dahin relativ bedeutungslose Zweinationentheorie13 zu ihrer ideologischen Kernthese, stellte das Postulat auf, dass Moslems und Hindus grundverschiedene Nationen seien, die nicht auf dem Territorium eines Staates zusammenleben könnten14 .Sie versuchte folgerichtig mit der Pakistan-Resolution von Lahore (1940) einen eigenen Staat für die islamische Bevölkerungsgruppe durchzusetzen15 – d.h. die moslemischen Ober- und Mittelklassen wenigstens in einem Teil Indiens an die Macht zu bringen. 1941 erklärte Mohammad Ali Jinnah, in Madras: „Moslem-Indien wird sich niemals einer gesamtindischen Verfassung und einer Zentralregierung unterwerfen. Die Ideologie basiert auf dem fundamentalen Prinzip, dass die Moslems in Indien eine unabhängige Nationalität sind, und jedem Versuch zur Assimilierung ihrer nationalen und politischen Identität wird Widerstand entgegengesetzt werden.“16 Damit war der Kurs eingeschlagen, der geraden Weges zur Teilung Indiens führte.
Das Inkrafttreten des Indian Independence Act am 15. August 194717 war nur der formelle Vollzug von Entscheidungen, die bereits zwischen 1937 und 1945 gefallen waren. Zugleich haben die Jahrzehnte seit 1947 deutlich gemacht, dass die Teilung Indiens keine Lösung der »indischen Frage« war. Die inneren Grundprobleme blieben in den Nachfolgestaaten Britisch-Indiens auf der Tagesordnung und das Unvermögen der regierenden Eliten, sie zu bewältigen, hat ein ganzes Bündel von Konfliktpotentialen geschaffen und die innere Sicherheit beider Staaten einer enormen und zunehmenden Belastung ausgesetzt. Die Transformation des innenpolitischen Machtkampfes AIML-INC in die Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen hat Pakistan in drei Kriege mit Indien gestürzt und einen chronischen Spannungszustand in Südasien geschaffen.
Pakistan trat mit dem Vorsatz in die internationale Arena, mit allen Nachbarn in Frieden und guter Nachbarschaft zu leben und brüderliche Beziehungen mit allen islamischen Staaten zu pflegen. Bereits 1940 erklärte Jinnah vor der Jahrestagung der AIML in Lahore: „Wir wünschen als ein freies und unabhängiges Volk mit unseren Nachbarn in Frieden und Harmonie zu leben.“18 Er bekräftigte diese Position 1947 als Generalgouverneur Pakistans: „Unser Ziel sollte Frieden nach innen und nach außen sein. Wir wollen in Frieden leben und freundschaftliche Beziehungen zu unseren unmittelbaren Nachbarn und zur ganzen Welt pflegen.“19
Pakistan wurde 1947 auch mit der Überzeugung gegründet, dass die Teilung Indiens nicht zwangsläufig zu einem feindseligen Verhältnis zwischen den Nachfolgestaaten führen müsse. Jinnah entwickelte 1940 folgende Perzeption: „Es gibt keinen Grund, dass diese Staaten (Indien und Pakistan – D.W.) sich antagonistisch zueinander verhalten sollten. Im Gegenteil, die Rivalität zwischen ihnen, das Streben und die Anstrengungen einer Seite, die soziale Ordnung der anderen Seite zu dominieren und eine politische Suprematie in der Regierung des Landes über sie zu erlangen, wird verschwinden. Das wird zu mehr natürlichem guten Willen führen und sie können durch internationale Abkommen zwischen ihnen in vollständiger Harmonie als Nachbarn leben.“20
Wenn man die Schärfe der Auseinandersetzung um die Pakistan-Forderung der Moslemliga zwischen 1940 und 1947 in Rechnung stellt, erhebt sich natürlich spontan die Frage, mit welchen Realien Jinnah diese Hoffnung verband. Tatsächlich entwickelten sich die pakistanisch-indischen Beziehungen – konträr zur Erwartung Jinnahs – vom ersten Tage an konfliktiv.
Das ist nicht primär den gravierenden Fehlern, der Kurzsichtigkeit und dem strategischen Versagen der Regierungen oder den Pogromen in den Monaten nach dem 15. August 1947 geschuldet, obwohl alle diese Momente eine erhebliche Rolle gespielt haben. Mohammed Ali Jinnah und nach ihm viele andere pakistanische Politiker erkannten nicht, dass der Kampf um einen eigenen Staat einen hohen Preis hatte:
- Die gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung Britisch-Indiens von der Moslemliga politisch erzwungene Teilung musste einen strategischen Langzeitkonflikt zwischen den beiden Nachfolgestaaten nach sich ziehen, da die bisherigen innenpolitischen Hauptrivalen nunmehr in beiden Ländern an der Macht waren.
- Das Pakistan-Konzept der Moslemliga hatte in Britisch-Indien über die unmittelbaren Konfliktparteien hinaus zu einer Polarisierung der Gesellschaft mit kontroversen und teilweise extrem überhöhten Selbst- und Feindbildern geführt, die nach 1947 nicht nur dramatisch verstärkt, sondern auch offiziell nationalistisch sanktioniert wurden.
- Die von der Moslemliga zum ideologischen Fundament der Pakistanforderung erhobene Zweinationentheorie führte nicht nur zu einem tiefgreifenden Dissens in der antikolonialen Bewegung Indiens, sondern hatte prinzipielle Konsequenzen für die Perzeption von Nation in den Nachfolgestaaten.
- Schließlich übersah die Führung der Moslemliga, dass die Bildung des Staates Pakistan im Kontext und auf der Grundlage dieser Widersprüche zu direkt kollidierenden Auffassungen von nationaler Sicherheit und damit zu einer konfrontativen Sicherheitspolitik Pakistans und Indiens führen musste.
Pakistan trat 1947 in die staatliche Selbständigkeit ohne ein konzises außenpolitisches Konzept, waren doch die All India Muslim League und Mohammad Ali Jinnah persönlich völlig durch den Kampf um die Erlangung der Staatlichkeit Pakistans absorbiert. In der außenpolitischen Konfusion 1947/48 war für nahezu das gesamte politische Spektrum Pakistans eines völlig klar: Angesichts der Schärfe der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen der Moslemliga und dem Nationalkongress um die Schaffung Pakistans und der Weigerung des Kongresses bis zum Frühjahr 1947, Pakistan zu akzeptieren, stand der Hauptfeind in Indien, das bei der ersten günstigen Gelegenheit versuchen würde, die Teilung zu revidieren.
Diese Ausgangsposition hatte langfristig wirksame Konsequenzen:
- Sie bestimmt bis heute das pakistanische Selbstbild und Feindbild.
- Sie führte zu einer Sicherheitsperzeption, die ausschließlich auf eine Bedrohung von außen – und das hieß im Klartext immer Indien – ausgerichtet war. Kernstück dieser Sicherheitsperzeption war das Paritätsparadigma, das auch vor 1947 bereits zum Arsenal der Moslemliga gehörte. Politisch artikulierte sich dieser Anspruch seit dem ersten Tagen in der Forderung nach nicht nur gleicher, sondern auch gleichrangiger Behandlung mit Indien. Militärisch führte das Paritätsparadigma zur jahrzehntelangen forcierten Aufrüstung Pakistans mit allen hinreichend bekannten Folgen für die Wirtschaft, den Staatshaushalt und die politischen Verhältnisse des Landes.
- Die eigentliche Abkunft der pakistanisch-indischen Konfrontation von der machtpolitischen Auseinandersetzung in Britisch-Indien führte zum eigentümlichen Konstrukt eines Konfliktes, der noch lange Jahre nach 1947 eine auf zwischenstaatlicher Ebene ausgetragene, aber faktisch innere Auseinandersetzung blieb. Daraus erklärt sich auch der überdurchschnittlich hohe Stellenwert der ideologischen Faktoren. Man kann feststellen, dass Pakistan und Indien sich jahrzehntelang, auch in den Perioden ohne bewaffnete Konflikte, in einem offenen ideologischen Krieg befanden.
Das heißt: Selbstbild und Feindbild Pakistans, seine Sicherheitsperzeption und Sicherheitspolitik sowie seine Machtprojektion waren immer eindeutig auf Indien oder präziser gesagt, gegen Indien ausgerichtet.
Gleichzeitig war sich das politische und militärische Establishment – trotz aller gegenteiligen offiziellen Beteuerungen – immer der außerordentlich ungünstigen strategischen Position Pakistans bewusst. Die Konsequenz war nicht nur die Anlehnung an die USA, die einen ersten Höhepunkt während des Frontstaaten-Status Pakistans im Afghanistan-Krieg der 80er Jahre erreichte, sondern auch das ständige Streben nach strategischer Tiefe. Dafür war man sogar bereit, einen Identitätswechsel anzubieten.
- 1947-1971 legte Pakistan außerordentlichen Wert auf die Anerkennung als mit Indien gleichrangiger südasiatischer Staat.
- Von 1971 bis hoch in die achtziger Jahre definierte sich das pakistanische Establishment immer stärker als Westasien zugehörig, da Pakistan ein islamischer Staat sei, und die Staaten Westasiens wurden aufgefordert, die islamischen Brüder gegen Indien zu unterstützen. Dieser Ruf verhallte nahezu ungehört, überdies waren weder Iran noch Saudi-Arabien an einem neuen Prätendenten für die regionale Vormacht in Westasien interessiert.
- Mit dem Zerfall der UdSSR und der Konstituierung der unabhängigen Republiken in Zentralasien entdeckte Islamabad schließlich seine zentralasiatische Identität, da die Vorfahren von 60 Prozent der jetzigen Bevölkerung aus dieser Region stammten.
In diesen Wendungen manifestiert sich eine grundlegende Unsicherheit hinsichtlich des Verständnisses, was Pakistan eigentlich ist. Damit kann man weder nationale Kohäsion schaffen noch eine einigermaßen strukturierte Außenpolitik betreiben.
Das Scheitern der strategischen Offerten an das muslimische Umfeld und der folgenreiche Verlust des Frontstaaten-Bonus warf Pakistan wieder auf die sogenannte One Point Foreign Policy zurück, d.h. auf Indien. Diese Fixierung Pakistans auf Indien ist in hohem Maße konfliktgeladen. Das haben die zurückliegenden fünf Jahrzehnte hinlänglich bewiesen und das ergibt sich aus einem ganzen Bündel spezifischer Wirkungsfaktoren, von denen nachstehend nur einige stichwortartig genannt werden können:
- Die eingeschränkte Wahrnehmung der Ursachen und der Ergebnisse der pakistanisch-indischen Konflikte von 1947/48, 1965 und 1971 und der damit verbundene Verlust realen Einschätzungsvermögens in den Entscheidungsgremien.
- Die Zählebigkeit der Selbsttäuschung durch die These von der geringen Kampfmoral der indischen Armee, die auch mitverantwortlich für das Kargil-Desaster war.
- Die gering ausgebildete Fähigkeit, die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Folgen eigener Entscheidungen hinreichend real zu kalkulieren (Kernwaffentests, Kargil-Operation). Seit Jahrzehnten galt in Pakistan beispielsweise eine Machtübernahme in Indien durch die Hindunationalisten als »worst case scenario« für Pakistan und dann leistete man Vajpayee mit der Kargil-Operation die beste nur denkbare Wahlhilfe.
- Und schließlich ist auf die erneute Paritätsfalle nach den Kernwaffentests von 1998 zu verweisen.
Zusammengenommen bedeutet dies, dass das pakistanische Indienbild weitgehend auf den konfrontativen Prämissen von 1947 beruht, d.h. auf Annahmen, die sich in den letzten fünfzig Jahren weitgehend als gegenstandslos erwiesen haben.
Das pakistanisch-indische Konfliktverhältnis ist daher weder eine Verkettung unglücklicher Umstände noch ein historischer Betriebsunfall im Gefolge des Kashmir-Problems, sondern eine komplexe und angesichts der Ausgangslage und der Herrschaftsverhältnisse in beiden Staaten zum Zeitpunkt ihrer Konstituierung weitgehend unvermeidbare Interessenkollision.
Drei Kriege und ein Dauerkonflikt mit Indien, ein gestörtes Verhältnis mit dem moslemischen Nachbarn Afghanistan seit den späten vierziger Jahren (Problem der Durand-Linie, Pashtunistan-Frage), keineswegs brüderliche Beziehungen zu anderen Staaten mit islamischer Bevölkerung,21 und eine langjährige schmerzliche Isolierung Pakistans in der Dritten Welt infolge seiner engen militärisch-politischen Bindung an die Vereinigten Staaten – das sind die bitteren Realitäten.
1.2 Der pakistanisch-indische Konflikt als komplexe zwischen staatliche Interessenkollision
Der pakistanisch-indische Konflikt begann, wie bereits dargelegt, historisch in Britisch-Indien als Kampf um die politische Macht zwischen zwei Fraktionen der indischen Mittel- und Oberklassen mit unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrund, der auch durch unterschiedliche konfessionelle Bindungen geprägt war, die ihre jeweilige politische Repräsentanz im Indian National Congress und der All India Muslim League fanden. Mit der Teilung Britisch-Indiens in die Dominien Indien und Pakistan am 15. August 194722 verschwand diese Rivalität keineswegs, sondern wurde nahtlos in der postkolonialen Konstellation weitergeführt und auf die Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen gehoben. Im Jahre 1947 und unmittelbar danach ging es zunächst um die Maximierung des jeweiligen territorialen, materiellen und finanziellen Anteils am britisch-indischen Erbe,23 während nach der Herausbildung eines gewissen status quo in den fünfziger Jahren der Konflikt als frontale bilaterale Konfrontation und regionalstrategische Auseinandersetzung fortgesetzt wurde.
Wesentliche individuelle Konfliktlagen in dieser Grundkonstellation waren:
- Der Konflikt um den Verlauf der Grenze zwischen West- und Ostpunjab im Gefolge der Teilung der großen Provinz Punjab;
- der Konflikt um die Verteilung des Indus-Wassers angesichts der Disparitäten hinsichtlich der Kontrolle über die entscheidenden Zuflüsse in der Himalaya-Karakorum-Region;
- der Konflikt um das Fürstentum Jammu & Kashmir;
- die Auseinandersetzung um die Aufteilung der Ressourcen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Kapazitäten und Finanzen Britisch-Indiens;
- sowie die Ansprüche Pakistans auf indische Fürstenstaaten mit moslemischen Herrschern (z.B. Junagadh, Manowar, Hyderabad).
Der machtpolitische Aspekt der Konfliktkonstellation wird markant im pakistanischen Paritätssyndrom sichtbar, in dem der politische und konstitutionelle Paritätsanspruch der All India Muslim League vor der Teilung Britisch-Indiens auf nunmehr zwischenstaatlich-politischer, militärischer und international-rechtlicher Ebene weitergeführt wurde.
Es ist keineswegs überraschend, dass diese Konstellation Sicherheitsperzeptionen und Sicherheitspolitik zum Kern des pakistanisch-indischen Konflikts machte. Aus der Teilung Britisch-Indiens resultierende Wirkungsfaktoren dafür waren:
- Die Teilung hinterließ auf dem Subkontinent ein markantes Ungleichgewicht der Streitkräfte – zahlenmäßig, hinsichtlich der Bewaffnung und Logistik sowie im Bereich der Möglichkeiten einer eigenen Rüstungsproduktion. Dieses Ungleichgewicht hat sich in den letzten mehr als fünfzig Jahren im Bereich der konventionellen Waffen nicht nur nicht verringert, es ist eher noch größer geworden. Selbst wenn wir pakistanische Angaben (aus der Zeit der Nukleartests von 1998), dass sich das konventionelle Kräfteverhältnis auf 5:1 beläuft, als weitgehend der Rechtfertigung der eigenen Nuklearisierung geschuldet betrachten, so steht doch eine eindeutige und massive konventionelle Überlegenheit Indiens außer Frage.
- Beide Länder befanden sich nach der Teilung in einer grundsätzlich unterschiedlichen strategischen Situation. Von der territorialen Komposition und der strategischen Tiefe (nach damaligen militärischen Kriterien) her war Indien in einer weitaus günstigeren Lage. Es war aus seiner kompakten Landmasse heraus fähig, nach allen Richtungen zu agieren. Dagegen war Pakistan mit seiner Teilung in West- und Ostpakistan, die mehr als 1.500 km Luftlinie durch indisches Territorium getrennt waren, nur begrenzt fähig, seine Grenzen im Konfliktfall zu verteidigen. Selbst heute, nach der 1971 erfolgten Sezession Bangladeshs, könnte eine massiv aus den Ebenen der westlichen indischen Unionsstaaten vorgetragene Offensive gepanzerter Verbände in wenigen Tagen den Indus erreichen und damit für Pakistan elementare Verteidigungsprobleme schaffen.
Diese strategische Konstellation machte ein grundlegendes Sicherheitsarrangement zwischen beiden in die Selbständigkeit entlassenen Staaten auf der Basis einer verbindlichen Nichtangriffserklärung und der gegenseitigen Anerkennung und Respektierung der territorialen Integrität Indiens und Pakistans in ihren nachkolonialen Grenzen geradezu zu einer existentiellen Forderung. Die tatsächliche Entwicklung führte aber zum Gegenteil, sie brachte beide Länder aufs Schlachtfeld und produzierte spezifische Militärdoktrinen.
2. Die Stellung der Kashmir-Frage im pakistanisch-indischen Konflikt
Die seit Jahren andauernde Kashmir-Debatte ist gekennzeichnet durch ein verwirrendes Knäuel von widersprüchlichen Fakten, Halbwahrheiten, bewussten Auslassungen und schlichten Fälschungen, die in ihrer Gesamtheit den Kern eines offenen ideologischen Krieges zwischen Indien und Pakistan ausmachen und auf den eine – zurückhaltend formuliert – mäßig informierte Außenwelt entweder mit emotionaler Entrüstung (gravierende Verletzung der Menschenrechte) oder nach politischer Opportunität reagiert. Wenn man den Rauchvorhang wechselseitiger Unterstellungen und Vorwürfe, wohlfeiler Propagandathesen und unverhüllt chauvinistischer Perzeptionen durchstoßen will, um zum eigentlichen Gegenstand des Konflikts vorzudringen, muss man zunächst auf die oszillierende Verwendung der Begriffe Kashmir-Frage und Kashmir-Konflikt eingehen.
2.1 Der Inhalt der Kashmir-Frage
Als Inhalt der Kashmir-Frage werden hier die Voraussetzungen, Bedingungen und Formen einer verfassungs- und staatsrechtlichen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen sowie kulturellen Gestaltung der Verhältnisse im ehemaligen Fürstenstaat Jammu & Kashmir definiert, die sich in Übereinstimmung mit dem legitimen Recht aller Kashmiris (nicht nur der Moslems) auf Selbstbestimmung, mit den historischen und kulturellen Traditionen der Bevölkerung und der hochkomplizierten und spezifischen ethnischen und religiösen Grundkonstellation befindet.
Der Staat Jammu & Kashmir umfasste 1947 vor Beginn des Konflikts insgesamt 222.236 qkm mit etwas mehr als 4 Mio. Einwohnern. Das eigentliche Kashmir – im wesentlichen das Kashmir-Tal, machte lediglich 10 Prozent der Gesamtfläche aus, Jammu etwa 15 Prozent, während drei Viertel des Territoriums auf die nördlichen Gebiete und Ladakh entfielen. Aber nicht weniger als 92 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten in Kashmir und Jammu.24 Von diesem Gesamtterritorium befinden sich heute 78.932 qkm unter pakistanischer Verwaltung, 5.180 qkm wurden in einem völkerrechtlich irrelevanten Grenzvertrag, da es sich selbst nach pakistanischem Verständnis um ein »disputed area« handelt, von Pakistan an China abgetreten,25 37.555 qkm sind von China besetzt (Aksai-Chin), die restlichen derzeit 121.667 qkm konstituieren den indischen Unionsstaat Jammu & Kashmir, der sich aber als Rechtsnachfolger auf dem gesamten Territorium des ehemaligen Fürstenstaates betrachtet.26
Nach dem letzten im indischen Unionsstaat Jammu & Kashmir durchgeführten Zensus im Jahre 1981, (bei den nächsten indischen Volkszählungen von 1991 und 2001 konnte wegen des Aufstandes und des verhängten Ausnahmezustandes keine Datenerhebung durchgeführt werden), ergab sich in diesem Gebiet folgende Struktur. Im Kashmir-Tal lebten 52,35 Prozent der Bevölkerung (3.134.904), von denen 94,96 Prozent Moslems, 4,59 Prozent Hindus und 0,05 Prozent Andere waren. In Jammu lebten 45,39 Prozent der Gesamtbevölkerung (2.178.113), von denen 29,60 Prozent Moslems, 66,25 Prozent Hindus und 4,15 Prozent Andere waren. In Ladakh (ohne von China besetzte Gebiete) lebten auf dem größten Teilterritorium nur 2,26 Prozent der Bevölkerung (134.372), von denen 46,04 Prozent Moslems, 2,66 Prozent Hindus und 51,30 Prozent Andere (in der Regel Buddhisten) waren. Für den gesamten Unionsstaat (ohne besetzte Gebiete) ergab das 1981 eine Gesamtbevölkerung von 5.987.389 mit 64,19 Prozent Moslems, 32,24 Prozent Hindus und 3,57 Prozent Anderen.27 Hinzu kommt die unterschiedliche Bevölkerungsdynamik. Der Anteil der Moslems ging von 68,30 (1961) auf 64,19 Prozent zurück (1981), der Anteil der Hindus erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 28,45 auf 32,24 Prozent, die Sikh-Bevölkerung stieg von 1,77 auf 2,24 Prozent. Dagegen geht der Anteil der Buddhisten, der autochthonen Bewohner Ladakhs, seit 1961 geringfügig, aber stetig zurück und liegt heute wahrscheinlich unter ein Prozent der Gesamtbevölkerung des indischen Bundesstaates Jammu und Kashmir. Dieser Trend bedeutet, dass die Ladakhis in ihrem eigenen Land zur Minderheit geworden sind.28 Für 1991 schätzte die Zensus-Kommission die Gesamtbevölkerung auf 7,7 Mio.29 bei einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum der Bevölkerung des Unionsstaates von 2,9 Prozent dürfte die Zahl für 2001 bei etwa 10,6-10,8 Mio. liegen.
Diese wenigen Zahlen machen die Spezifik der Lage in Kashmir sowie die Schwierigkeiten deutlich, die einer Lösung der Kashmir-Frage im weiter oben definierten Sinne entgegenstehen.
Ob und in welchem Maße eine adäquate Lösung, d.h. eine Lösung unter Wahrung der legitimen Interessen und Rechte der kashmirischen Bevölkerung, im Rahmen des indischen Staatsverbandes möglich ist und durchgesetzt werden kann, hängt primär von der Perzeption der Kashmir-Frage durch die beteiligten Seiten ab. Grundsätzlich gilt zunächst einmal, dass eine Regelung nicht a priori mit Eigenstaatlichkeit oder mit dem Beitritt zu einem anderen Staat gleichgesetzt werden kann. Selbstbestimmung ist nicht identisch mit dem Anspruch auf Sezession, sondern auf das Recht und die Möglichkeit, auf der Grundlage der eigenen Werte, Normen und Traditionen selbstbestimmt zu leben. Die von Pakistan und den in seinem Orbit befindlichen militanten Gruppen im Kashmir-Tal vertretene Version von Selbstbestimmungsrecht ist substantiell ausschließlich auf eine als Anschluss an Pakistan verstandene Selbstbestimmung der kashmirischen Moslems orientiert. Es handelt sich dabei um die Forderung nach einem exklusiven Selbstbestimmungsrecht unter Nichtberücksichtigung der Rechte und Interessen großer nichtmoslemischer Bevölkerungsgruppen. Diese Segmente der Bevölkerung in Jammu (vornehmlich Hindus) und in Ladakh (sino-tibetische Gruppen mit buddhistischer Konfession) sind zwar im Maßstab des gesamten strittigen Territoriums Minderheiten, nicht aber in den von ihnen bewohnten Gebieten, wo sie zudem in der Regel zugleich die indigene Bevölkerung sind.
Gleichzeitig kann die formalistisch-legalistische Formel von Kashmir als »integraler Bestandteil Indiens« und die Behandlung Kashmirs als einer von vielen indischen Staaten mit ständiger massiver Einmischung der Zentralregierung trotz der Existenz des speziellen Artikels 370 der indischen Verfassung und die langjährige Negierung der legitimen Rechte der kashmirischen Bevölkerung nicht toleriert und akzeptiert werden. Die Kashmir-Frage würde in der Form des heutigen militanten Konflikts nicht existieren, wenn der in der indischen Verfassung festgeschriebene Föderalismus konsequent durchgesetzt worden wäre. Es war die Ignoranz und Indifferenz der herrschenden Eliten, die zunehmende Zentralisierungstendenz, die negativen Einwirkungen des innenpolitischen Machtkampfes in Indien auf die Kashmir-Politik und auf die Lage in Kashmir selbst sowie die einseitige und sachlich falsche Betrachtung des politischen und ethno-nationalen Dissens in Kashmir als bloßes »law and order«-Problem, die im Laufe der Jahrzehnte zur völligen Entfremdung der Kashmiris und zur späteren Insurrektion führte. Und die seit März 1998 regierende BJP ist wegen ihrer langjährigen Intransigenz nicht weniger verantwortlich für die Malaise in Kashmir wie die Schlampigkeit mehrerer Kongressregierungen. Aber pakistanische Selbstgerechtigkeit in dieser Frage wäre auch völlig unangebracht, haben doch alle pakistanischen Regierungen auf substantiellen Dissens größerer Bevölkerungsgruppen, z.B. in Balochistan und in Sindh, in gleicher Weise reagiert. Die Opfer des pakistanischen Militärs zählen gleichfalls nach Tausenden.30
Eine weitere spezifische Frage ist darin zu sehen, dass die pakistanische Forderung nach dem Recht auf nationale Selbstbestimmung für Kashmir ipso facto überhaupt nicht einen Anspruch Pakistans auf dieses Gebiet stützt. Wenn die Kashmiris ernsthaft als »national entity« gesehen werden, d.h. wenn es das »Kashmiriyat« definitiv gibt, dann muss ihnen grundsätzlich auch das Recht auf eine dritte Option, nämlich die Eigenstaatlichkeit, zugestanden werden. Die emphatische Ablehnung einer solchen Option durch Regierung und veröffentlichte Meinung in Pakistan lässt zumindest die Interpretation zu, dass es Islamabad weniger um die Selbstbestimmung der Kashmiris geht, als vielmehr um die Erweiterung des pakistanischen Staatsgebietes. In diesem Kontext macht auch die Forderung nach dem gesamten Territorium des ehemaligen Fürstenstaates, trotz der nichtmoslemischen Bevölkerungsmehrheiten in Jammu und Ladakh, erst Sinn.
Überschauend betrachtet zeigt sich, dass es zweifelsfrei eine sehr komplizierte und schwer zu lösende Kashmir-Frage gibt, dass ihre Regelung aber keineswegs naturnotwendig mit Militanz, Konflikt und Krieg verbunden sein muss und aus meiner Sicht eine Regelung durch Konflikt sogar auszuschließen ist und auch ausgeschlossen werden muss. Weder die islamistische Irredenta noch Pakistan können Indien mit den bisherigen Kampfmitteln aus Kashmir vertreiben. Eine Entscheidung der regierenden Eliten Pakistans für einen offenen Krieg mit Indien um Kashmir hätte jedoch verheerende Folgen auch für Pakistan selbst, ganz abgesehen davon, dass er Kashmir weitestgehend unbewohnbar machen würde, da die Zeiten der selektiven oder punktuellen Kriegsführung angesichts der heute zur Verfügung stehenden Waffensysteme vorbei sind. Das Desaster der pakistanischen Kargil-Operation von 1999 hat einen drastischen Anschauungsunterricht für die Aussichten und Folgen einer derartigen Option geboten. Wie die Erfahrungen zeigen, wird Indien auch keineswegs vor Druck kapitulieren, weil die Kashmir-Frage nun einmal für Pakistan zu einer Frage der Staatsräson gemacht wurde, und auch nicht vor internationalen Pressionen auf Kosten der indischen Staatsräson zurückweichen. So schwer es in der Praxis auch sein mag, es geht essentiell um die Regelung der Kashmir-Frage. Der gleichzeitig existierende Kashmir-Konflikt ist eine falsche, destruktive und, politisch betrachtet, faktisch degenerierte Form eines Regelungsversuchs. Deshalb sollte man die Begriffe Kashmir-Frage und Kashmir-Konflikt auch nicht synonym verwenden.
2.2 Konflikte in und um Kashmir als ein Komplex unterschiedlicher Konfliktlagen und als spezifische Interaktionskonstellation
Eine historisch-politische Analyse der Konfliktlage in und um den Staat Jammu und Kashmir zeigt, dass es »den« Kashmir-Konflikt, wie er ständig in den Medien und in der politischen Diskussion reflektiert wird, nicht gibt. Was vereinfachend als Kashmir-Konflikt bezeichnet wird, ist vielmehr ein sehr kompliziertes Geflecht von Interessenkollisionen und akuten Konfrontationen, sind mehrere Konfliktlagen mit unterschiedlicher Entstehungszeit, mit durchaus verschiedenen Inhalten, Stoßrichtungen und Austragungsformen.
Es muss unterstrichen werden, dass diese Komplexität der Kashmir-Problematik von den Konfliktseiten nur partiell wahrgenommen, ausgesprochen zögerlich resp. widerwillig reflektiert und von den Hardlinern auf allen Seiten schlicht ignoriert oder bewusst auf die eigene Lesart reduziert wird – das ist auf der pakistanischen Seite nationale Selbstbestimmung plus Menschenrechte und auf der indischen Seite die stereotype Formel vom bewaffneten Terrorismus plus verdeckter Intervention von außen.
Wir haben es in Kashmir erstens mit einem historischen Konflikt zu tun, der einen ständigen Dissens bedeutender ethnischer Gruppen mit der jeweiligen zentralen Macht reflektierte, vornehmlich in der Region Poonch, in Baltistan und Gilgit, und der sich periodisch in Aufständen, z.B. gegen die Dogra-Herrscher bis 1947, entlud. Eine solche Revolte im Sommer 1947 im Distrikt Poonch war die Initialzündung für die Ereignisse, die im Oktober des gleichen Jahres zur Konfrontation zwischen Pakistan und Indien in Kashmir führten. Er ist auch heute noch als historische Unterströmung zu aktuellen Prozessen zu beachten und würde beispielsweise bei einer »pakistanischen Lösung« der Kashmir-Frage sehr schnell wieder an die Oberfläche treten. Die seit Jahren schwelende Unzufriedenheit mit der Politik Islamabads in den Northern Territories, die 1947 selbst für Pakistan optierten, ist dafür ein Indikator.
Zweitens ist die sichtbare Hauptform des Kashmir-Konflikts und die Dimension, die auch seit langem von der Außenwelt wahrgenommen wird, der Territorialkonflikt zwischen Pakistan und Indien um Kashmir. Er brach im Ergebnis der umstrittenen Option des letzten Maharaja Hari Singh für den Anschluss an Indien (26. bzw. 27.10.1947) aus, wurde aber de facto bereits seit August 1947 von der pakistanischen Armee mit Hilfe beutelustiger pashtunischer Stammeskrieger geführt.31
Der Territorialkonflikt um Kashmir hat bisher zu zwei Kriegen geführt (1947/48 und 1965, 1971 war Kashmir nur ein Nebenkriegsschauplatz), in deren Ergebnis Kashmir faktisch entlang der seitdem bestehenden Line of Control geteilt wurde. Dieser Territorialkonflikt ist der materielle Kern der gesamten pakistanischen Kashmir-Strategie, die Akquisition Kashmirs ist das zentrale Ziel, alle anderen offiziellen Argumente fallen in die Rubrik Propaganda.
Beide Konfliktseiten, Indien und Pakistan, haben den Territorialkonflikt über die Jahrzehnte hinweg zu einer nationalen und politischen Existenzfrage aufstilisiert und damit praktisch jeden für eine politische Regulierung notwendigen Manövrierraum sowie die Fähigkeit zu einem akzeptablen Kompromiss verloren.
Drittens gibt es einen strategischen Konflikt um Kashmir im Rahmen der seit 1947 andauernden machtpolitischen Konfrontation zwischen Pakistan und Indien. Kashmir ist dabei nur einer der strategischen Widersprüche zwischen beiden Staaten, dieser Konflikt kann aber zweifelsfrei als Kern der bilateralen Konfliktkonstellation angesehen werden. Seine Dimension ist nicht in territorialen Kategorien erklärbar, es geht um die strategischen Gesamtinteressen beider Länder und im Falle Kashmirs konkret um die Kontrolle über einen bedeutenden Teil der Wasserressourcen Südasiens und um wichtige Zugänge nach Zentralasien. Diese Dimension des Kashmir-Konflikts wird von pakistanischer Seite nicht offiziell reflektiert, da sie mit der Attitüde des selbstlosen Kampfes für das Selbstbestimmungsrecht der Kashmiris kollidiert, während sie in Indien seit Jahren Bestandteil der öffentlichen Diskussion ist.
Es gibt viertens einen Konflikt in Kashmir zwischen Teilen der Bevölkerung und der indischen Zentralregierung, der als innerer Konflikt 1989/90 akute und militante Formen annahm, in eine bürgerkriegsähnliche bewaffnete Insurrektion mit massiver Unterstützung von außen überging und schließlich eine gleitende Umfunktionierung in einen offenen Sezessionskrieg unter der Losung der nationalen Selbstbestimmung (azadi) durchlief. Dieser Sezessionskrieg wurde zur historischen Chance für die pakistanische Kashmir-Politik, die nunmehr zum ersten Mal seit dreißig Jahren eine Möglichkeit sah, das eigene Hauptziel – die Gebietserweiterung Pakistans und die strategische Schwächung des Hauptkontrahenten – unter dem international wirksamen Banner des Rechts auf nationale Selbstbestimmung und der Verteidigung der Menschenrechte durchzusetzen.
Die Immobilität der indischen Innenpolitik, die arrogante Attitüde von Regierung und Parlamentsparteien, ihre Ignoranz gegenüber legitimen Forderungen der kashmirischen Bevölkerung, ihr »Fremde Hand«-Syndrom und die damit verbundene engstirnige »law and order«-Politik; sowie die Unfähigkeit der Zentralregierung, unangemessenes und brutales Vorgehen von paramilitärischen Verbänden und Truppen zu zügeln, Übergriffe und offene Menschenrechtsverletzungen wirksam zu ahnden, hat zu einem Autoritätsdesaster und zu einem eklatanten Legitimitätsverlust Indiens in Kashmir geführt.32 Sie hat zugleich den massiven Propagandakrieg Pakistans gegen Indien in erheblichem Maße erleichtert und ihn zunehmende internationale Resonanz finden lassen.Es gehört zu diesem Bild, dass das brutale und eindeutig terroristische Auftreten militanter Sezessionsgruppen und ihre nur notdürftig verhüllte direkte Unterstützung aus dem Ausland undifferenzierte Reaktionen auf der indischen Seite stark beeinflusst haben. In Kashmir agieren nicht nur unbewaffnete und bewaffnete Ethnonationalisten, nicht nur mit modernen Subversionsmitteln ausgerüstete fanatisierte Islamisten, sondern auch schlichte kriminelle Gangs, die sich wie zuvor in Afghanistan als Freiheitskämpfer bezeichnen und es ist eine bedauerliche Tatsache, dass die große Mehrheit der Bevölkerung, die diesen Konflikt und die Gewalt nicht will, sondern in Frieden leben möchte, keine politische Stimme hat und von einer lautstarken und militanten Minderheit an die Wand gedrückt wird. Trotz der von interessierter pakistanischer Seite seit 1996 geführten abwertenden Kampagne und eines bis ins Irrationale getriebenen Terrors der Militanten gegen die Wahlen, ist es dennoch ein Hoffnungszeichen, dass sich im Herbst des Jahres 2002 prozentual mehr Kashmiris an den Wahlen zum Staatenparlament beteiligten als pakistanische Wähler an den letzten wirklichen, nicht wie 2002 vom Militär manipulierten, Parlamentswahlen am 3. Februar 1997.33
Bei einem weiteren längeren Anhalten der bewaffneten Auseinandersetzungen in Kashmir erhebt sich die Frage, ob wir es fünftens nicht auch mit einer militärischen Intervention islamistisch-terroristischer Gruppen aus dem Ausland (Afghanen, Araber, Tschetschenen) zu tun haben, die derzeit das Rückgrat der Sezessionskräfte bilden und die für die aktuellen Formen des Konfliktaustrags (Massenmorde an Zivilisten) die Hauptverantwortung tragen.
Die vorstehend genannten unterschiedlichen Konfliktlagen sind die Ebenen, die im Zusammenhang mit dem Begriff Kashmir-Konflikt unbedingt zu berücksichtigen sind und die zugleich deutlich machen, dass die Bewertung dieser komplexen Konfliktlage ein differenziertes Herangehen und die exakte Benennung des jeweiligen Konfliktgegenstandes, also der tatsächlichen und durchaus unterschiedlichen Streitmasse, erfordert.
Die als Kashmir-Konflikt bezeichneten Erscheinungen sind darüber hinaus eine charakteristische und zugleich sehr spezifische Interaktionskonstellation, in der folgende zentrale Konfliktpotentiale wirken und miteinander reagieren:
- Ein traditionelles ethnokulturelles Konfliktpotential, eng mit der historisch gewachsenen kashmirischen Identität (Kashmiryat) verbunden und auf verbindliche Anerkennung dieser Identität durch eine weitgehende Autonomie gerichtet.
- Ein in den letzten Jahren entstandenes und zunehmend schärfer konturiertes ethnosoziales Konfliktpotential, stimuliert durch die auch Kashmir treffenden Entwicklungsdisparitäten in Indien und das Unvermögen des Staates, der jüngeren Generation in Kashmir die Chance einer eigenen sozialen Existenz zu geben. Eine stetig wachsende Zahl junger Kashmiris erhielt die Chance, Bildung bis hin zum Universitätsabschluss zu erwerben, fand aber nach Abschluss ihrer Ausbildung keine Beschäftigung. Faktisch bildete sich ein ethnisch definiertes bzw. ethnisiertes explosives soziales Krisen- und Konfliktpotential heraus. Zusammen mit den ständigen politischen Eingriffen bewirkte es die fortschreitende Entfremdung eines erheblichen Teils der kashmirischen Bevölkerung von Indien und hat wesentliche Voraussetzungen für die spätere Insurrektion geschaffen. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Kader der militanten islamistischen Gruppen und Organisationen aus diesem zutiefst frustierten intellektuellen bzw. halbintellektuellen »Proletariat« rekrutierten und dass die heutige Dominanz der sogenannten Kalaschnikow-Kultur das Resultat einer nicht durchdachten Politik der indischen Zentralregierung ist.
- Ein aus dem Zusammenwirken des ethnokulturellen und ethnosozialen Dissens entstandenes neues ethnonationales Konfliktpotential, d.h. aus einer traditionellen ethnisch-kulturellen Bewegung ist eine nationale Bewegung geworden, das Kashmiriyat wurde nunmehr als nationale Eigenständigkeit perzipiert und definiert, woraus sich unvermeidlich über den bisherigen Zielhorizont Autonomie hinaus die Forderung nach Sezession ergab. Diese Transformation ethnischer in nationale Bewegungen ist eine jener Erscheinungen, die wir als neue Konfliktphänomene in Asien bezeichnen. Der Umschlag einer traditionellen autonomistischen Bewegung in eine nationale Bewegung ist ein Resultat der Zugehörigkeit Kashmirs zum indischen Staatsverband und der in ihm wirkenden widersprüchlichen Einheit von Zentralisierung und Regionalisierung, aber nicht das Werk Pakistans. Denn eine wirkliche nationale Bewegung der Kashmiris ist auf Selbstbestimmung gerichtet und damit überhaupt nicht im Interesse Pakistans.
- Die Herausbildung eines spezifischen sozialen Krisen- und Konfliktpotentials in Kashmir und der neue nationale Zielhorizont der ethnischen Bewegung schufen die Voraussetzungen für das Wirken weiterer neuer Konfliktphänomene: Die angesichts der historischen, traditionellen Toleranz der Kashmiris schockierende extreme Gewaltbereitschaft von Teilen der Bevölkerung, vor allem der jüngeren Generation, einschließlich der brutalen Anwendung physischer Gewalt auch gegen Mitglieder der eigenen Volksgruppe aus politischen und ideologischen Gründen;34 die hochgradige Ideologisierung aller Lebensäußerungen durch militante islamistische Gruppen und die sogenannte Allparteienkonferenz. Auch wenn es sehr unpopulär ist, muss festgestellt werden, dass diese Allparteien-Konferenz in keiner Weise eine legitimierte Repräsentanz der kashmirischen Bevölkerung ist. Sie ist nicht durch eine demokratische Willensäußerung zustande gekommen und vertritt nichts und niemand als sich selbst, ausgenommen vielleicht ihre Sponsoren jenseits der Grenze. Die Poussierung dieser selbsternannten Konstruktion nicht nur durch westliche Menschenrechts-Professionals, durch einige islamische Staaten und der Empfang ihrer Abgesandten selbst durch Mächte wie Großbritannien und die USA ist bei Lichte betrachtet, eine politische Groteske, völkerrechtlich irrelevant und dient keineswegs einer Konfliktregelung in Kashmir. Und an dieser Stelle kommt auch der äußere Faktor massiv ins Bild: Die direkte Einwirkung Pakistans, speziell des Geheimdienstes ISI und militanter islamischer Parteien, sowie die Benutzung Kashmirs als neuen Kriegsschauplatz für fanatische islamische Söldner aus Afghanistan, einigen arabischen Ländern und sogar aus dem Kaukasus, die absolut unzutreffend als Mujahieddin bezeichnet werden. D.h. die bewaffnete Insurrektion und ihre Islamisierung hat bereits zu einer partiellen Internationalisierung des Konflikts geführt.
- Wie dargelegt, spielt im Kashmir-Konflikt ein klassisches traditionelles Konfliktpotential wie der Territorialkonflikt eine zentrale Rolle. Seinen eigentlichen Stellenwert hat er jedoch erlangt, weil er zugleich eine strategische Auseinandersetzung zwischen Pakistan und Indien ist und weil Pakistans Außenpolitik seit Jahren praktisch weitestgehend Kashmir-Politik ist, um die strategische Balance in Südasien – mit einer relativ eindeutigen hegemonialen Position Indiens – zu seinen Gunsten zu verändern.
Soweit zur Frage einer spezifischen Interaktionskonstellation am Beispiel des Kashmir-Konflikts, die nicht nur sehr deutlich das Zusammenwirken oder die Wechselwirkung, die wechselseitige Bedingtheit einer ganzen Reihe von Konfliktpotentialen zeigt, sondern auch die enge Verbindung innerer und äußerer Faktoren sichtbar macht.
3. Der nukleare Faktor im pakistanisch-indischen Konflikt
Für etwa sechs Wochen waren im Frühsommer 1998 die indischen und pakistanischen Kernwaffenversuche das beherrschende Medienthema, und man konnte den Eindruck gewinnen, dass in Südasien aus schierem Übermut die Welt an den Rand eines atomaren Krieges gebracht worden wäre. Der Verurteilungsdrang der etablierten Kernwaffenmächte und der Medien nimmt sich bei insgesamt 11 unterirdischen Versuchen Indiens und Pakistans auf eigenem Territorium doch etwas merkwürdig aus, wenn man die 2.046 Tests der »Großen« mit ihrer Verseuchung weiter und z.T. fremder Gebiete dagegen hält. Wo war das Entsetzen der anderen Großmächte bei der Serie französischer Kernwaffenversuche im Jahre 1995 auf dem Mururoa-Atoll? Und wo war der Moralismus Chinas und seine Sorge um den Weltfrieden, als es selbst am 16. Mai und 28. August 1995 sowie am 6. Juni und 29. Juli 1996 Atomwaffenversuche in seiner westlichsten Provinz durchführte?
3.1 Zur Einordnung der indischen und pakistanischen Kernwaffentests vom Mai 1998
Nun sind Kernwaffenversuche wahrlich nichts, was die Welt begrüßen oder auch nur tolerieren sollte, aber für eine realistische und ausgewogene Einschätzung der Kernwaffentests Indiens und Pakistans ist es notwendig, nach den Hintergründen, Triebkräften und konkreten Auslösern der Versuche zu fragen. Damit verbundene Fragen sind unter anderem:
- Warum haben beide Staaten die nukleare Option gewählt?
- Seit wann sind diese Staaten faktisch Atommächte?
- Warum haben sie sich im Mai 1998 entschlossen, ihre Option offen zu legen?
- Welche Resultate hat die Erklärung zur Kernwaffenmacht gebracht und was ist bei der Sanktionsfrage zu bedenken?
Die Wahl der nuklearen Option – Ursachen und Argumente
Zunächst ist angesichts der zahlreichen eilfertigen Einschätzungen und Verurteilungen festzuhalten, dass beide Länder ihr Nuklearprogramm nicht mit der Absicht begannen, Kernwaffen zu produzieren. Sie versuchten vielmehr, ihr enormes Energiedefizit mit Hilfe der Kernkraft zu schließen, die bis Tschernobyl weitgehend als die modernste und sauberste Art der Energieerzeugung betrachtet wurde. Es waren erst massive Bedrohungsperzeptionen und selbst prononcierte Bedrohungssyndrome in Indien und Pakistan, die den Auf- und Ausbau von Forschungsreaktoren immer weiter in die Nähe der Waffenoption drängten. Für Indien war der entscheidende Punkt die traumatische Nachwirkung des Himalaya-Krieges mit China (1962), die nur zwei Jahre später erlangte Kernwaffenfähigkeit Chinas und dessen in den sechziger Jahren anlaufende massive rüstungstechnische Unterstützung für Pakistan. Seit 1962 befanden sich die indisch-chinesischen Beziehungen am Rande des Krieges, waren sie hochgradig ideologisiert und in Wahrheit gab es bis zum Beginn der achtziger Jahre nichts, was man als bilaterale zwischenstaatliche Beziehungen bezeichnen könnte. Indien antwortete auf die Ereignisse nach 1962 mit einer vollständigen Reorganisierung seiner Streitkräfte und einem umfassenden Auf- und Umrüstungsprogramm. Chinas Verfügung über Kernwaffen und Trägermittel löste in Indien die systematische Vorbereitung eines eigenen Nuklearprogramms zur Erlangung eines entsprechenden Abschreckungspotentials aus, die in der Folgezeit auch zur Eigenproduktion eines breiten Fächers von Trägersystemen führte.35 Der Erfolg des Nuklearprogramms wurde 1974 mit dem ersten unterirdischen indischen Test in Pokhran (Rajasthan) sichtbar, dessen Hauptziel die Demonstration der indischen nuklearen Kapazität gegenüber den Großmächten und im besonderen in Richtung China war.
Dieser erste indische Nukleartest löste umgehend ein pakistanisches Gegenprogramm aus. Pakistan hatte seit dem Krieg von 1971 keine Chance mehr, in einem künftigen konventionellen Waffengang gegen Indien zu bestehen, selbst pakistanische Militärexperten räumten die Überlegenheit Indiens in allen Teilstreitkräften ein. Nicht nur Militärs, sondern auch Wissenschaftler erklärten seit der Mitte der siebziger Jahre immer wieder, dass Pakistan einen konventionellen Rüstungswettlauf mit Indien nicht bestehen könne, weil er zum wirtschaftlichen Kollaps des Landes führe und dass nur eine nukleare Option die Existenz Pakistans dauerhaft nach außen sichern könne.36 Diese Argumentationslinie war übrigens auch in Indien gegen China angesichts der anhaltenden konventionellen Übermacht Chinas durchaus verbreitet, wenn auch lange Zeit von den jeweiligen Regierungen nicht offiziell akzeptiert.
Die Erlangung der Kernwaffenfähigkeit
Wenn wir die Entwicklungen seit 1974 berücksichtigen, dann war es also keineswegs neu, überraschend oder bestürzend, dass beide Länder ziemlich frühzeitig die Kernwaffenfähigkeit erlangten, wie übrigens Israel auch. Beide Länder wurden jahrzehntelang von internationalen Institutionen, den Geheimdiensten der Großmächte, aber auch von zivilen Experten beobachtet, sie waren seit vielen Jahren als atomare Schwellenmächte klassifiziert und ihre Produktion spaltbaren, waffenfähigen Materials konnte ziemlich exakt hochgerechnet werden. Seit der indischen Explosion von 1974 wussten die Eingeweihten, dass Indien nicht nur über eine größere und angesichts der umfänglichen Erzeugung von Nuklearstrom ständig wachsende Menge von waffenfähigem Plutonium verfügte, sondern auch in der Lage war, die entsprechenden Sprengköpfe zu bauen. Pakistans Führer haben ihrerseits seit dem Ende achtziger Jahre immer wieder öffentlich erklärt, dass sie im Besitz der Bombe sind. Beide Staaten haben sich mit Hinweis auf den diskriminierenden Charakter des Kernwaffensperrvertrages (NPT), der das Kernwaffenmonopol der Etablierten festschreibt, und wegen der arroganten Verweigerung wirklicher nuklearer Abrüstung durch die Großmächte in den letzten drei Jahrzehnten strikt geweigert, diesem Vertrag beizutreten und haben auch seine unbegrenzte Verlängerung (1996) und den anschließenden Teststopvertrag (CTBT) nicht unterschrieben. Daher konnten weder die Geheimdienste noch die militärischen und politischen Führungen der Kernwaffenmächte den geringsten Zweifel haben, dass Indien und Pakistan seit den achtziger Jahren kernwaffenfähig waren. Thomas W. Graham prognostizierte bereits vor 1990, dass Indien und Pakistan spätestens im Jahre 2000 mittlere Kernwaffenmächte sein werden.37 Die unmittelbar nach der Bekanntgabe der pakistanischen Tests vom indischen Präsidenten K.R. Narayanan bei seinem Staatsbesuch in Nepal getroffene Feststellung kann eigentlich nur unterstrichen werden: „All die gutunterrichteten Agenturen in der Welt, einschließlich der amerikanischen Geheimdienste, hatten gesagt, dass Pakistan nur eine Schraubenzieher-Drehung von der Durchführung nuklearer Tests entfernt sei.“38 Die öffentliche »Fassungslosigkeit« Präsident Clintons und des deutschen Außenministers Klaus Kinkel im Mai 1998 war daher in hohem Maße erstaunlich und merkwürdig.
Die Tests vom Mai 1998 – zur Frage des Zeitpunktes
Dass Indien und Pakistan im Mai 1998 Kernsprengsätze zündeten und sich offiziell selbst zu Nuklearmächten erklärten, war weder ein Zufall noch ein Mysterium. Indien hätte sich bereits 1974 zur Kernwaffenmacht erklären können, aber Indira Gandhi ging aus außenpolitischen Gründen diesen Schritt nicht, ihr war das Risiko der möglichen internationalen Sanktionen zu hoch. Auch die vorbereiteten Tests von 1990 und 1995 wurden aus den gleichen Gründen abgebrochen. Aber Indien hat in den zurückliegenden 25 Jahren bei aller Zurückhaltung, diesen Schritt zu gehen, niemals auf die nukleare Option verzichtet und das schloss trotz aller gegenteiligen Erklärungen auch die Weiterentwicklung der militärischen Komponente ohne Tests ein. Die im März 1998 an die Macht gekommene hinduchauvinistische BJP hat andererseits immer offen die Bombe gefordert39 und es war absolut klar, dass sie, einmal an den Schalthebeln der Macht, sofort nach der nuklearen Option greifen würde. Andererseits, und Atal Behari Vajpayee wies in seiner Regierungserklärung vom 27. Mai 1998 vor dem Parlament selbst darauf hin40 , war er nur der Exekutor einer Entscheidung, die bereits Jahre zuvor gefallen, aber noch nicht vollzogen worden war.
Vajpayees Zündungsorder vom 11. Mai hatte drei außenpolitische Hauptziele:
- Den Anspruch Indiens, als Großmacht respektiert und behandelt zu werden. Entsprechend der Denkmuster der Hinduchauvinisten glaubte man diese seit Jahren auf der politischen Ebene erhobene Forderung am wirkungsvollsten durch eine militärische Machtdemonstration untersetzen zu können.41 Der Präsident der Vishwa Hindu Parishad (VHP), Ashol Singhal, reklamierte, dass die Tests Indien als eine globale Macht etabliert hätten.
- Eine machtpolitische Geste gegenüber dem nuklear nach wie vor überlegenen China, das zweifellos eine deutliche Aktie am pakistanischen Kernwaffen- und Raketenprogramm hat, was allerdings den antichinesischen Irrationalismus einiger Kräfte in Vajpayees Regenbogen-Koalition keineswegs rechtfertigte.
- Eine gezielte Warnung an Pakistan, das den ersten Testflug seiner mit ostasiatischer Hilfe gebauten Mittelstreckenrakete »Ghauri« (6.4.1998) mit nassforschen Erklärungen begleitet hatte, dass man nun alle wichtigen indischen Städte mit der Bombe erreichen könnte.
Das heißt, die indischen Tests zielten weder primär auf Pakistan noch auf China ab, sondern hatten eine weit darüber hinausgehende Bedeutung, auch wenn sie vordergründig mit feindseligen Aktivitäten dieser beiden Staaten gerechtfertigt wurden. Die Behauptung Präsident Narayanans, „die Versuche (Pakistans – D.W.) haben deutlich gezeigt, dass es die Vorbereitung dafür begann, lange bevor Indien seine Tests durchführte,42 ist von geradezu rührender Naivität, denn diese Logik schließt ja ein, dass die indischen Testvorbereitungen noch früher angeordnet wurden. Der RSS-Generalsekretär Sudarshan war in seiner Bombeneuphorie unvorsichtig genug, stolz zu erklären, dass „die BJP einen Test in ihrer dreizehntägigen Amtszeit von 1996 plante, obwohl sie offenkundig die Vertrauensabstimmung verlieren würde.“43
Ebenso klar ist, dass die Kernwaffentests auch eine wichtige innenpolitische Funktion hatten. Die von der BJP geführte Koalition hatte in nahezu keiner nationalen Grundfrage eine einheitliche Position, in nicht wenigen wirtschafts-, sozial- und innenpolitischen Fragen existierte ein offener Dissens. Konsens bestand faktisch nur im Übergang zu einer stärker machtpolitisch orientierten Außenpolitik und in der Nuklearoption. Die Explosionen gaben der Regierung zumindest zeitweilig Profil und neues Selbstbewusstsein. Eine für sie höchst erwünschte Nebenwirkung war der nationalistische Taumel der Mittelschichten, unter den Studenten und in den Strukturen des politischen Hinduismus. Die Kritiker der Testentscheidung hatten in der nationalistischen Flutwelle keine Chance, Gehör zu finden.44 Auch in den Streitkräften und der Bürokratie konnte die BJP einen deutlichen Bodengewinn erzielen. Das bedeutet, dass mögliche innenpolitische Wirkungen der Bombe mittelfristig gefährlicher sein können als die Existenz der Bombe selbst, zumal Indien sie militärisch gegen Pakistan nicht benötigt. Und genau hier haben wir die wirklichen innenpolitischen Zielsetzungen der Nuklearpolitik Vajpayees und der hinter ihm stehenden Kreise zu suchen. Natürlich gab es im Mai 1998 und danach deutliche tagespolitische Motive und das Bestreben, die innenpolitische Position der BJP zu stärken. Aber tatsächlich geht es für die Hinduchauvinisten um eine solche Konsolidierung ihrer Machtposition, die es ihnen gestattet, die säkularistischen Prinzipien und Strukturen des politischen Systems Indiens zu eliminieren und das Land bereits im ersten Anlauf so weit wie nur möglich in die Richtung ihres Hindutva-Modells zu drängen.45 Das indische politische Magazin »Frontline« machte unmittelbar nach den Tests auf die Instrumentalisierung der Kernwaffen als Ausdruck von Hindutva und ihre pseudoreligiöse Stilisierung als »Agni ban« aufmerksam.46 Pokhran II, das unter dem Code-Namen »Shakti 98« lief, wurde nicht zufällig mit dem religiösen Feiertag »Buddha Jayanti« verbunden, schon Indira Gandhi hatte am 18. Mai 1974 Pokhran I unter Bezeichnung »Buddha is smiling« am Feiertag »Buddha Purnima« durchgeführt.47 Der religiösen Manipulation setzte die VHP die Krone auf, als sie forderte, auf dem Testgelände einen »Shakti Peeth«, einen Tempel zu Ehren Shivas und Durgas, zu errichten.48 Davor schreckte aber selbst Vajpayee zurück. Dieser Zusammenhang zwischen dem Nuklear-Nationalismus der Parivar-Gruppe und ihrem fundamentalistischen Gesellschaftsmodell ist in der bisherigen Diskussion entschieden zu wenig berücksichtigt worden.
Pakistan hat sich in den 50 Jahren seines Bestehens ein gelegentlich pathologisch anmutendes antiindisches Bedrohungssyndrom aufgebaut und glaubt sich täglich einem indischen Angriff auf seine schiere Existenz ausgesetzt, obwohl es aktenkundig ist, dass Pakistan zwei der drei Kriege selbst ausgelöst hat (Kashmir-Krieg 1947/48 und Operation Gibraltar 1965). Die Eliten des Landes sind so in ihren eigenen Vorstellungen gefangen, dass sie sogar die einfache Tatsache verdrängen, dass Indien nicht das mindeste Interesse daran haben kann, 140 Millionen pakistanische Muslime in die fragile Konstruktion des multiethnischen und polyreligiösen indischen Staates eingliedern zu wollen. Und wenn Indien Pakistan beseitigen wollte, hätte es nicht damit gewartet, bis Pakistan über die Atombombe verfügt. Aber dieses Bedrohungssyndrom ist eine zentrale politische Realität in Pakistan, und es war völlig klar, dass jede andere Reaktion als die Zündung eigener Kernsprengsätze für das Selbstverständnis Pakistans eine Katastrophe gewesen wäre. Klassische Beispiele für diese Denkweise kann man in den Ausgaben des Defence Journal (Karachi) nach den Tests finden.49 Auch der ehemalige Chef des Militärgeheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI), Generalleutnant Hameed Gul, der ohne Übertreibung zum islamistischen Flügel im höheren pakistanischen Offzierskorps gerechnet werden kann, forderte schon am 12. Mai 1998 eine „gleichwertige und machtvolle“ Demonstration der Kernwaffenfähigkeit Pakistans. Selbst die zweimalige Ministerpräsidentin Benazir Bhutto durfte in diesem Chorus nicht fehlen und verlangte von Nawaz Sharif Tests in spätestens einem Monat. Eine andere Strömung war durchaus bereit, für den Augenblick auf eigene Versuche zu verzichten, wenn die Gegenleistung der USA groß genug wäre.50 Wie in Indien, hatten auch in Pakistan gemäßigte Kräfte und Vertreter einer ausgewogeneren Sicht keine Chance.51 Auch darum musste Präsident Clintons Versuch, die zu erwartende pakistanische Reaktion in letzter Minute zu verhindern, trotz aller großzügigen Offerten (Sicherheitsgarantien, Wirtschafts- und Rüstungshilfe) scheitern. Im letzten von fünf dringlichen Telefongesprächen, die Clinton mit dem pakistanischen Premier Nawaz Sharif führte, erklärte dieser, dass er in zwei Tagen nicht mehr Ministerpräsident sei, wenn er nicht den Befehl zur Zündung gebe.52 . Eine Äußerung, die im Lichte des Militärputsches vom Oktober 1999 durchaus plausibel erscheint. Die pakistanischen Tests waren somit eindeutig eine Antwort auf die indischen Versuche und international der atomar gestützte Anspruch auf eine künftige Gleichbehandlung mit Indien. Aber die pakistanische Argumentationslinie, dass man nach der Erklärung Indiens zum Kernwaffenstaat nicht anders handeln konnte und dass Pakistan ausschließlich aus Sicherheitsgründen testete, kann nicht unbesehen akzeptiert werden. Wir müssen die eigenen machtpolitischen Aspirationen des pakistanischen Establishments und den hochgradig wirksamen ideologischen Faktor in eine Bewertung mit einbeziehen.Nur beiläufig soll erwähnt werden, dass einflussreiche Kreise Pakistans die Bombe auch als eine islamische betrachten, selbst wenn Mushahid Hussain und andere Offizielle dies wortreich dementieren,53 für Zulfikar Ali Bhutto war schon 1974 eine pakistanische Atombombe eine Bombe für die islamische Zivilisation.54 Das innenpolitische Kalkül war in Pakistan noch pointierter als in Indien. Die Regierung Nawaz Sharif hatte trotz einer Zweidrittelmehrheit im Parlament und der direkten Kontrolle aller entscheidenden staatlichen Funktionen in 15 Monaten weder die langjährige Staatskrise beenden noch eine Wende in der desolaten wirtschaftlichen und sozialen Situation herbeiführen können. Die indischen Kernwaffentests waren für sie ein Geschenk des Himmels, denn der allgemeine Bombentaumel, den die Medien mit allen Mitteln herbeigeführt hatten55 , drängte die tatsächlichen Probleme Pakistans zunächst weit in den Hintergrund und Nawaz Sharif war endlich, wenigstens für kurze Zeit, der »Premier der Nation«.Die innenpolitischen Reaktionen in beiden Ländern machen aber zugleich nachdrücklich auf die hochgradige Emotionalität und partielle Irrationalität der öffentlichen Meinung in der Nuklearfrage aufmerksam. In Indien traf die BJP unbedrängt, aber mit einer klaren innenpolitischen Zielsetzung, ihre Entscheidung, von Druck kann bis zum 11. Mai 1998 nicht gesprochen werden. Daher kam das überwältigende positive Echo auch für sie selbst unerwartet. In Pakistan war die Regierung infolge der voraufgegangenen indischen Tests tatsächlich einem derartigen innenpolitischen Druck ausgesetzt, dass sie faktisch nicht mehr Herr ihrer Entscheidungen war. Die mentale Überforderung Pakistans selbst noch im Juni 1998 konnte keinen deutlicheren Ausdruck finden als in der Tatsache, dass eine solche Tatarenmeldung wie die angebliche Landung israelischer Kampfflugzeuge in Srinagar, um die pakistanischen Kernwaffenzentren anzugreifen, zu Panikreaktionen in Parlament und Regierung führte.56 Aber in beiden Ländern schlug die Stimmung bereits nach sehr kurzer Zeit wieder um. In Indien, weil die erfolgreichen pakistanischen Tests die nationalistische Hochstimmung merklich dämpften, und zunehmend auch wegen der inkompetenten Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Vajpayee; und in Pakistan, weil die Panikreaktionen der Regierung (Verhängung des Ausnahmezustandes, wirtschaftliche Restriktionen, Sperrung der Valutakonten aller Bürger) die Jubilierenden jäh ernüchterte, sowie weil deutlich wurde, dass mit dem nuklearen »coming out« nicht eines der gravierenden Probleme des Landes gelöst worden war.
Damit stellt sich natürlich grundsätzlich die Frage nach der Bewertung der Wahl des Zeitpunktes für die Nukleartests durch die Führungen Indiens und Pakistans.
Die Kernwaffentests – Erwartungen, Realitäten und die Sanktionsproblematik
Es dürfte Konsens darüber bestehen, dass man diese Tests nicht einfach hinnehmen und zur Geschäftsordnung übergehen konnte. Auch wenn beide Staaten nicht Signatare der betreffenden internationalen Verträge sind und daher deren Bestimmungen nicht gebrochen haben, war ihr Vorgehen eine Gefährdung der internationalen Sicherheit, wirft den ohnehin schwierigen Prozess der nuklearen Abrüstung weit zurück, und macht die Sicherheitslage in Südasien noch instabiler.57 Hinzu kommt die Unbedenklichkeit, wenn nicht sogar Leichtfertigkeit des Handelns der indischen und pakistanischen Entscheidungsträger. Wenn man den Prozess verfolgt, kommt man unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass beide Seiten nach der Devise vorgingen: »Erst zünden, dann nachdenken«. Keine Seite hat die mit den Tests verbundenen Risiken und Konsequenzen vorher ernsthaft kalkuliert, wie auch die mit ihnen verbundenen hochfliegenden Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.
- Beide Seiten haben ihre internationale Position mit den Tests nicht verbessert, sie sahen sich im Gegenteil schlagartig international in empfindlichem Maße isoliert. Beide Staaten sehen sich damit konfrontiert, dass sie bis jetzt nicht als Kernwaffenstaaten anerkannt werden, also trotz des Besitzes von Kernwaffen Staaten zweiter Ordnung bleiben. Indien hat seinem Anspruch, als Großmacht behandelt zu werden, einen denkbar schlechten Dienst erwiesen, die Aussicht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat scheint für lange Zeit verspielt worden zu sein. Die Regierung Vajpayee hat darüber hinaus die sich seit 1988 hoffnungsvoll entwickelnden Beziehungen zu China zumindest auf Sicht ruiniert. Der Nationalkongress warf der Regierung vor, leichtfertig die über Jahrzehnte hinweg mit großen Anstrengungen verbesserten Beziehungen zerstört zu haben. Natwar Singh erklärte: „Sie haben die Sicherheitsbedrohung durch China erfunden, und unser Sicherheitsumfeld hat sich dadurch verschlechtert.“58 Pakistan hat sich der historisch einmaligen Chance begeben, durch einen Verzicht auf Tests für wirksame internationale Sicherheitsgarantien seinen eigenen Status in der Region signifikant zu erhöhen und ein neues Image zu gewinnen. Die Tests haben im Gegenteil eine weitere Belastung der Beziehungen zu einigen Nachbarstaaten (Iran, zentralasiatische Republiken) nach sich gezogen. Das pakistanische Establishment war außerordentlich enttäuscht, dass, mit Ausnahme Irans, keine freudige Zustimmung zu den Tests aus der islamischen Welt erfolgte, und dass einige arabische Staaten diese sogar verurteilten. Die Islamisten verlangten von den islamischen Ländern mit kritischer Attitüde, Haltung zu beweisen und Agha Hamid Ali Shah Mausavi, der Chef der Tehrik Nifaz Fiqh-i-Jafriya (TNFJ), forderte sie auf, einen Boykott „aller zionistischen und indischen Waren“ auszurufen.59
- Die Tests haben die tatsächlichen strategischen Kräfteverhältnisse zwischen Indien und China sowie zwischen Pakistan und Indien nicht qualitativ verändert. In einem Konfliktfall kann Indien nach wie vor die Kerngebiete Chinas nicht erreichen, während das gesamte Territorium Indiens seit vielen Jahren im Einzugsbereich chinesischer Nuklearwaffen liegt. Die antichinesischen Drohgebärden des Verteidigungsministers George Fernandes waren daher nicht nur politisch unverantwortlich, sondern zeugen auch von völliger militärischer Inkompetenz. Pakistan ist seinerseits immer noch weit von tatsächlicher Parität mit Indien entfernt. Ohne dass auf diese Frage hier im Detail eingegangen werden kann, bleibt festzustellen, dass einige gezündete Kernsprengsätze noch keine strategische Parität schaffen. Dazu gehört dann doch einiges mehr, denn alle anderen Parameter für die Überlegenheit Indiens bleiben bestehen. Indien wiederum hat sich durch die Tests sogar ohne Not bisheriger strategischer Vorteile gegenüber Pakistan begeben und selbst die Kashmir-Frage kompliziert, indem die BJP-Regierung mit der faktischen Kriegshetze des Innenministers L.K. Advani, er drohte faktisch mit der Atombombe, wenn Pakistan im Kashmir-Konflikt kein Wohlverhalten zeige, es Pakistan erlaubte, dieses Problem propagandistisch mit der Nuklearfrage zu verbinden.60
- Keine Seite hat die realen Kosten der offenen Kernwaffenoption kalkuliert, nicht die inneren Konsequenzen für Wirtschaft und Finanzen, und auch nicht die externen Folgen, d.h. für Außenwirtschaft und die Akquirierung von Kapital.61 Die regierenden Elitenfraktionen in Indien und Pakistan haben ihre Länder und Völker entweder sehenden Auges oder blind in eine überaus unglückliche Lage gebracht.62
Insgesamt gesehen, bedeuten die vorstehend genannten Momente, dass die Nukleartests beider Staaten trotz aller hochtönenden Erklärungen weder die erwarteten Ergebnisse gebracht haben noch angesichts der »Nebenwirkungen« überhaupt als Erfolg zu bewerten sind.
Doch dieses festzustellen, schließt die Frage nicht aus, wer das Recht auf moralische Entrüstung und Sanktionen hat. Aus meiner Sicht ist die moralische Position der Großmächte sehr zweifelhaft – auf die Fragwürdigkeit chinesischer und französischer Positionen wurde bereits verwiesen und der Sicherheitsrat ist immer noch mehr oder weniger ein „Joystick“ der ständigen Mitglieder. Wo ist also die vielzitierte Weltgemeinschaft, und existiert sie überhaupt? Sanktionen sind überdies ein sehr zweischneidiges Schwert. Sie drohen hr Ziel völlig zu verfehlen und die Situation noch zusätzlich zu verschärfen, wenn sie zur Destabilisierung der betreffenden Staaten führen.63 Das heißt, sie müssen einerseits fühlbar und andererseits angemessen sein. Zweitens wird ein gefährliches Signal gesetzt, wenn man für das gleiche »Vergehen« unterschiedliche Sanktionen verhängt. In den Außenämtern einiger großer Akteure gab es Überlegungen, Pakistan nur abgestuft zu bestrafen, und die offizielle Politik der USA folgte diesem Modell zumindest zeitweise, um, wie erklärt, den wirtschaftlichen Zusammenbruch und damit die völlige Destabilisierung Pakistans zu verhindern. Die realpolitische Irrelevanz dieser Frage in der Haltung der USA zu Pakistan nach dem Beginn des Afghanistan-Krieges zeigt die Priorität tagespolitischer Opportunität in der Nichtweiterverbreitungspolitik der Vereinigten Staaten. Vor einer derartigen Strategie kann nur gewarnt werden. Sie droht die Situation in Südasien auf Jahrzehnte hinaus irreparabel zu vergiften und einen Konflikt eher noch wahrscheinlicher zu machen.
Es muss noch einmal betont werden, dass Indien und Pakistan keinen Vertrag bzw. kein Abkommen verletzt haben, dessen Signatarstaaten sie sind, und dass überdies die geltenden Verträge nicht einmal Sanktionen vorsehen. Es ist daher auch höchst bezeichnend, dass die verhängten Sanktionen einseitige – nicht durch internationales Recht gedeckte oder geforderte – Maßnahmen der USA sind, denen sich einige Gesinnungsfreunde Washingtons anschlossen.
Genau betrachtet, ist der Sanktionseifer vor allem der USA und Großbritanniens nicht auf die Tests an sich zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass mit ihnen das von den Großmächten ausgeklügelte und die anderen Staaten diskriminierende Non-Proliferationssystem faktisch zusammengebrochen ist und ihr Kernwaffenmonopol nicht mehr besteht. Auch deshalb ist die Sanktionsfrage mit Zurückhaltung zu betrachten. Viel wichtiger wäre, beide Länder völkerrechtlich verbindlich darauf zu verpflichten:
- keine Tests mehr durchzuführen,
- auf eine Truppeneinführung der Kernwaffen über ein strikt begrenztes Abschreckungspotential hinaus – das alle offiziellen Kernwaffenmächte für sich auch in Anspruch nehmen – zu verzichten,
- den internationalen Verträgen beizutreten und die übliche internationale Kontrolle ihres Nuklearprogramms zu akzeptieren.
Denn eines ist klar: Der status quo ante, also die Lage vor dem 11.Mai 1998, kann nicht wieder hergestellt werden.64
- Beide Länder haben sich nach Mehrfachtests offiziell zu Kernwaffenmächten erklärt, ohne dass die Großmächte dies verhindern konnten oder rückgängig machen können. Und die Zeichen mehren sich, dass sie gezwungen sind, diese Tatsache hinzunehmen, auch wenn sie sie nicht offiziell anerkennen. Inoffiziell war an der Jahreswende 1999/2000 bereits davon die Rede, dass die USA als ersten Schritt Indien als Kernwaffenmacht »tolerieren« wollen, also eine Art Wahrung des machtpolitischen Gesichts angesichts eines irreversiblen Sachverhalts.
- Beiden Ländern sind Sanktionen auferlegt worden, die zwar fühlbar sind, aber keineswegs existenzbedrohend, und die zwischenzeitlich bereits teilweise wieder aufgehoben wurden. Andere Länder, die technisch bereits heute oder in absehbarer Zeit in der Lage wären, eine Kernladung zu zünden, wird das veranlassen, nüchtern die möglichen Folgen eines solchen Schrittes zu kalkulieren und daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen.
- Seit dem Mai 1998 existiert das über Jahrzehnte hinweg aufgebaute und von den USA mit höchster außenpolitischer Priorität behandelte Non-Proliferationssystem de facto nicht mehr; die mit nicht geringem Druck der Großmächte durchgesetzte unbefristete Verlängerung des Kernwaffensperrvertrages und der noch nicht in Kraft getretene Teststopvertrag sind weitgehend Makulatur, solange Indien und Pakistan nicht beitreten. Das alte System kann auch nicht mit Gewalt wiederhergestellt werden. Damit steht die Schaffung eines gleichermaßen nichtdiskriminierenden und nichtprivilegierenden Systems der Kontrolle und der schrittweise Eliminierung der Kernwaffen sowie aller anderen Massenvernichtungswaffen auf der Tagesordnung.65
Und vor beiden Staaten steht die schwerwiegende Entscheidung, ob sie die beiden Verträge unterzeichnen, auch wenn die diskriminierenden Klauseln des NPT von 1968 nicht geändert werden, oder nicht. Wenn sie die unveränderten Texte unterzeichnen, muss man sich die Frage stellen: Warum dann der Theaterdonner vom Mai 1998? Andererseits muss man ganz nüchtern feststellen, dass nach den indischen und pakistanischen Kernwaffentests von 1998 die Ablehnung des Teststop-Vertrages durch den USA-Senat im Herbst 1999 – mit einer für die übrige Welt kaum nachvollziehbaren Argumentation – das gesamte System erneut ausgehebelt hat und Indien und Pakistan in die Lage versetzte, allen weiteren Beitrittsaufforderungen sehr gelassen entgegenzusehen.
3.2 Die Nuklearisierung und die südasiatische Konfliktkonstellation
Die Rolle der inneren Faktoren und darüber hinaus der inneren Zwänge bei der Entscheidung über die Nukleartests wirft aber auch eine grundsätzliche Frage für die Forschung auf – nämlich die nach dem Stellenwert und der Bedeutung des in Südasien besonders markanten Geflechts zwischen inneren Problemen und der Außenpolitik sowie der spezifischen Rolle innenpolitischer Aspekte in den bilateralen Beziehungen. Die außenpolitische Forschung wird gut beraten sein, wenn sie diesen Fragen künftig wesentlichen größeren Raum bei der Analyse zwischenstaatlicher Prozesse in Südasien einräumt. Wir haben es dabei mit vier Bezugsebenen zu tun:
- Der allgemeinen, nicht regionalspezifischen Interaktionsweise zwischen inneren wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Determinanten und Außenpolitik.
- Der Wirkung der innenpolitischen Wurzeln der Außenpolitik.
- Der Rolle des innenpolitischen Faktors in den bilateralen Beziehungen südasiatischer Staaten.
- Den sich in grundsätzlicher Weise wandelnden inneren und äußeren Bedingungen für Politik insgesamt und für Außenpolitik im besondern in Südasien.66
Wenn wir die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse in der Region an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert betrachten, gehört keine besondere prognostische Verwegenheit dazu, eine weitere Zunahme der Rolle innerer Faktoren für die außenpolitische Perzeption, für die Entscheidungsfindungsprozesse und für die Hauptrichtungen der Außenpolitik als sehr wahrscheinlich anzunehmen.
Das hat auch eine erhebliche Relevanz für die nukleare Problematik, denn die vorstehend genannten vier Bezugsebenen schlagen auch in der Nuklearpolitik Indiens und Pakistans voll durch. Das kann angesichts der historischen Wurzeln und des Charakters der indisch-pakistanischen Verhältnisses, der konfrontativen Selbst- und Feindbilder sowie der nach wie vor nicht kompatiblen Sicherheits- und Bedrohungsperzeptionen in beiden Staaten gar nicht anders sein.
Das Wort »Kashmir« ist bei der Reflexion der nuklearen Problematik bisher mit voller Absicht nicht gefallen. Das ist keine Unterschätzung der Gefährlichkeit dieses Konfliktes. Es ist im Gegenteil zu unterstreichen, dass die Leiden der Bevölkerung Kashmirs schnellstmöglich durch eine Konfliktregelung unter Wahrung ihrer legitimen Interessen beendet werden müssen, und dass alle beteiligten Seiten, besonders aber Pakistan und Indien, für die heutige Lage in diesem Gebiet die Verantwortung tragen. Aber es muss in aller Eindeutigkeit gesagt werden, dass der Kashmir-Konflikt erstens nur eine, wenn auch sehr wichtige und komplizierte Facette der jahrzehntelangen, komplexen machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen beiden Staaten ist. Zweitens ist festzustellen, dass das von pakistanischen Politikern und in der Medienberichterstattung hergestellte Junktim zwischen den Kernwaffenversuchen und dem Kashmir-Konflikt sachlich keiner Analyse standhält und gleichzeitig eminent gefährlich ist. Es gibt keine kausale Verbindung zwischen der nuklearen Option beider Seiten und der Kashmir-Frage. Niemand hat die Bomben wegen der Kashmiris gezündet.67 Jeder Versuch, dieses Problem zu nuklearisieren, muss nicht nur schärfstens zurückgewiesen werden, er wäre für seine Initiatoren zugleich selbstmörderisch. Die Außenwelt sollte daher nicht auf zielgerichtete Propagandathesen hereinfallen, sondern nüchtern den tatsächlichen Platz der Nuklearfrage im Gefüge der südasiatischen Konfliktkonstellation bestimmen.
Doch welchen Stellenwert hat die nukleare Frage, die heute von interessierter Seite als der pakistanisch-indische Konflikt und die Hauptgefahr für den Frieden in Südasien definiert wird, im Kontext sowohl des pakistanisch-indischen Konflikts als der südasiatischen Konfliktkonstellation? Selbstverständlich hat die Nuklearisierung Südasiens der Konfliktlage in der Region eine neue Dimension hinzugefügt, indem sie nicht nur die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien, sondern auch den Konflikt zwischen ihnen nuklearisiert hat. Neues, zusätzliches Konfliktpotential ist entstanden, das mit unabsehbaren Folgen für die ganze Region freigesetzt werden könnte. Natürlich müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um die aus der Kernwaffenfähigkeit beider Staaten resultierenden Gefahren zu minimieren. Aber auch auf die nukleare Konfrontation trifft im Grundsatz das gleiche zu, was hinsichtlich Kashmirs gesagt wurde: ohne die Wahrnehmung der eigentlichen Konfliktlage, ohne die Erkenntnis, dass auch die nukleare Frage nur eine Folgeerscheinung der gesamten Konfliktkonstellation, ein Ausdruck des pakistanisch-indischen Grundverhältnisses ist, ohne Bewegung und Anstrengungen zur Entmilitarisierung und Normalisierung eben dieses Grundverhältnisses werden alle Versuche zur Schaffung einer Friedensordnung in Südasien auch weiterhin scheitern. Es ist daher unproduktiv, wenn nicht sogar kontraproduktiv, die Nuklearfrage in Südasien isoliert von der grundlegenden Konfliktsituation zu betrachten und zu bewerten.
4. Wege zur Normalisierung der indisch-pakistanischen Be- ziehungen und zur Regulierung des Kashmir-Konflikts
Wenn wir versuchen, mögliche Wege aus der Sackgasse des pakistanisch-indischen Konflikts und besonders der Konfrontation um Kashmir und in Kashmir zu finden, dann dürfen wir nicht übersehen, dass es sich nicht eindimensional um einen Konflikt zwischen Pakistan und Indien handelt, sondern, wie bereits ausgeführt, um eine komplexe Konfliktsituation. Daher geht es auch nicht nur um die spezifische Politik jeweils konkreter Regierungen, sondern, um die Frage, in welchem Maße die beiden Staaten und die Gesellschaften, die sie repräsentieren, fähig sind, Konflikte innerhalb der eigenen Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften resp. Staaten ohne Druck, Militanz oder die direkte Anwendung von Gewalt zu lösen. Die gegenwärtige Konfliktkonstellation in Südasien und die nunmehr fünfzigjährige eigene Beschäftigung mit dem Subkontinent geben in dieser Frage keinen Anlass zu übertriebenem Optimismus.
4.1 Voraussetzungen für ein konstruktives Krisenmanagement und Konfliktregulierung in Südasien
Die Konfliktforschung hat hinreichend Evidenz dafür geliefert, dass jeder Konflikt seine eigenen Wurzeln und Ursachen, seinen spezifischen Entfaltungsrahmen hat und daher auch ein spezifisches Regelungskonzept erfordert. Das trifft sowohl auf die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation als auch auf den komplexen Kashmir-Konflikt zu, der eben mitnichten in allen seinen Erscheinungsformen zwischen Indien und Pakistan geregelt werden kann, sondern hinsichtlich seines inneren Aspekts eine direkte Übereinkunft zwischen der indischen Zentralregierung und den Kashmiris verlangt. Pakistan hat in dieser Frage überhaupt keinen »locus standi«, da es sich nicht um seine Staatsbürger handelt und Pakistan auch von niemand als internationaler Patron muslimischer Volksgruppen außerhalb der Grenzen Pakistans anerkannt ist.
Gleichzeitig gibt es jedoch eine Reihe von grundsätzlichen Voraussetzungen, die für jeden Versuch einer Konfliktbeilegung und Konfliktregelung gelten68 und die auch eine unmittelbare Relevanz für den Kashmir-Konflikt besitzen.
- Zunächst und vor allem haben die beteiligten Seiten zu akzeptieren, dass tatsächlich ein Konflikt existiert. In vielen Fällen haben Regierungen, politische Kräfte und die Öffentlichkeit sich geweigert, die Existenz von Konflikten anzuerkennen. Sie haben damit die Chance vergeben, Krisensituationen und Konflikte zu regulieren, bevor sie das Stadium der Militanz oder sogar der bewaffneten Konfrontation erreichten. Die Verdrängung offener innerer Konfliktsituationen und damit auch das Fehlen jedes konstruktiven Krisenmanagements war über Jahrzehnte hinweg eine charakteristische Verhaltensweise der politischen Klasse in Südasien, wie die Ereignisse in Indien, Pakistan, Bangladesh und Sri Lanka nachhaltig belegen. Die langanhaltende Ignoranz der indischen Regierung gegenüber einem sich über Jahre hinweg aufbauenden explosiven Gemenge von Konfliktpotentialen in Kashmir ist dafür ebenso ein klassisches Beispiel wie die Reaktion des pakistanischen Establishments auf die Entwicklung in Karachi.
- Eine ungemein wichtige Frage in diesem Kontext – und auch hinsichtlich der genannten Beispiele – ist, nicht in politisch wohlfeilen Selbstbetrug zu verfallen und in jedem Konflikt »fremde Hände« zu sehen. Die häufig zitierten »fremden Hände« sind, obwohl sie existieren, in keinem Falle die eigentliche Ursache der Konflikte, und ihre ständige Beschwörung ist daher kaum mehr als die gewollte Verschleierung der in der eigenen Gesellschaft vorhandenen akuten Konfliktpotentiale, sowie ganz offenkundig ein Faktor im anhaltenden ideologischen Medienkrieg mit seinen nachhaltig negativen Auswirkungen auf den Zustand der bilateralen Beziehungen zwischen Pakistan und Indien.
- Wenn wir auf die nachkolonialen Staaten blicken, dann sind sie durch tiefgreifende Widersprüche und Konflikte charakterisiert, die in drei unterschiedlichen Zeitebenen entstanden sind – in ihrer vorkolonialen Geschichte, während der Kolonialzeit und im Verlauf der eigenen nationalen Entwicklung seit der Erlangung bzw. Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Modernisierungskonflikte verschiedenen Typs, konfliktgeladene Defizite des Nation-Building, Interessenkonflikte infolge der Befriedigung der Forderungen verschiedener ethnischer Gruppen, unzureichende politische und soziale Partizipationsmöglichkeiten großer Teile der Bevölkerung, Disparitäten in der Ressourcenverteilung etc. sind nicht vom nachkolonialen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen System zu trennen und die Staaten müssen sie als Krise ihres gegenwärtigen nationalen Systems begreifen und annehmen, denn sie können nur innerhalb dieses Systems und von ihnen selbst bewältigt werden.
- Die elementare Schwierigkeit, sich darüber zu verständigen, worum es in Kashmir überhaupt geht, resultiert aus der Tatsache, dass dieser Konflikt in die genannte Kategorie der systemimmanenten Konflikte gehört und Konfliktpotentiale aus allen drei Zeitebenen aufweist. Bestenfalls in zweiter Linie ist er auch ein gewöhnlicher zwischenstaatlicher Konflikt. Der Umgang mit innerstaatlichen bzw. innergesellschaftlichen Krisen- und Konfliktsituationen ist aber zugleich auch ein Indikator für das Grundverhalten bei grenzüberschreitenden Interessenkollisionen.
- Damit sind wir unmittelbar bei einer weiteren Vorbedingung für Konfliktregelung, nämlich dass die Konfliktseiten bereit sind, das Wesen, den Gegenstand, den Einzugsbereich und die Konsequenzen des Konflikts zur Kenntnis zu nehmen. Das ist eine sehr ernste Frage, denn in vielen Fällen deckt sich das äußere Erscheinungsbild eines Konflikts (national, ethnisch, religiös) überhaupt nicht mit der tatsächlichen Streitmasse, die in der Regel viel prosaischer und handfester ist, wie sich beispielsweise in der pakistanischen Perzeption der Territorialfrage zeigt. Das lädt geradezu zur bewussten politischen, ethnischen und/oder ideologischen Manipulation von Konflikten ein, wofür der Kashmir-Konflikt bedauerlicherweise ein geradezu klassisches Beispiel ist. Er ist einerseits nicht nur ein innerindisches »Law and Order«-Problem, wie nicht nur die BJP, sondern auch andere Parteien und ein bedeutender Teil der veröffentlichten Meinung glauben machen wollen, und er kann andererseits auch nur partiell mit den Kriterien der nationalen Selbstbestimmung erfasst werden, denn die eigentliche Anlass des seit 1947 andauernden Konflikts sind die historisch belegten pakistanischen Macht- und Territorialambitionen. Daher sind die offiziellen Perzeptionen aller Konfliktseiten in hohem Maße einseitig und stehen im Widerspruch zu den Realitäten.
Die charakteristischen Fehlperzeptionen in der Kashmir-Frage resultieren ihrerseits aus dem Unvermögen der Akteure, den wirklichen Charakter und den Einzugsbereich des Konflikts zwischen Pakistan und Indien wahrzunehmen und daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen – sowie aus den hochentwickelten Verdrängungskünsten bestimmter politischer und ideologischer Gruppierungen in Indien und Pakistan. Wenn man aber nicht fähig ist, einen bestehenden Konflikt, seine Ausdrucksformen und seine Folgen realitätsnah zu definieren, ist man auch nicht in der Lage, Wege und Mittel zum Abbau der Konfrontation zu bestimmen.
Aber eine Bewegung auf diesem Gebiet setzt zunächst die Erkenntnis voraus, dass die alles überwölbende Konfliktlage der macht- und sicherheitspolitische Konflikt zwischen Pakistan und Indien ist, der seit 1947 eine Art de facto-Kriegszustand mit bislang vier »heißen« Phasen geschaffen hat. Solange weiter Realität verdrängt und in massivem Selbstbetrug postuliert wird, dass »nur Kashmir zwischen Indien und Pakistan steht«, wird es keine substantielle Veränderung des pakistanisch-indischen Verhältnisses geben.
- Eine sehr praktische Bedingung von Konfliktregelung ist der tatsächliche Wille der Konfliktseiten, den Konflikt beizulegen und zu regeln und ihn nicht als Instrument zur Erreichung bestimmter Ziele zu missbrauchen. Das schließt auch die bindende Verpflichtung ein, ausschließlich friedliche Mittel bei der Konfliktregulierung einzusetzen. In nicht wenigen Ländern sind wir mit der brutalen Realität konfrontiert, dass Regimes und andere innere Akteure ohne existierende oder von ihnen selbst geschaffene Konflikte kaum eine Chance für ein politisches Überleben hätten. Selbst wenn bei derartigen Auseinandersetzungen auch legitime Interessen und Forderungen artikuliert werden, bleibt es eine Tatsache, dass nicht wenige Akteure überhaupt nicht politikfähig sind. Das trifft auf die Mehrheit der in Kashmir agierenden militanten Gruppierungen ebenso zu wie auf sezessionistische Kräfte im Nordosten Indiens. Während bei bestimmten Gruppen die Grenze zwischen Politik und Terrorismus sehr fließend ist, sind andere nichts weiter als terroristische Gangs. Hinsichtlich des Kashmir-Konflikts kann daher wesentlichen beteiligten Akteuren, und zwar nicht nur den bewaffneten islamistischen Gruppen oder der Hurriyat-Konferenz, eben der politische Wille zur Konfliktbeilegung nicht attestiert werden. Was die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation als Ganzes betrifft, so dürfen wir nicht übersehen, dass die Konfrontation seit 1947 für erhebliche Teile der pakistanischen Eliten ein Identitätsproblem, für die pakistanische Staatsidee und für die Selbstperzeption Pakistans letztlich sogar ein sinnstiftendes Element war. Es ist nicht aus der Welt zu diskutieren, dass die ursprüngliche pakistanische Identität mit Ausnahme des Bezugs auf den Islam als alle einigendes Band faktisch eine Anti-Identität war – ihre Proponenten wollten nicht mehr Inder sein, und der pakistanische Staat war explizit und offiziell als Gegenmodell zu Indien konzipiert. Darüber hinaus gab es keine positive Aussage, was pakistanische Identität eigentlich ist. An diesem Problem hat Pakistan heute noch zu tragen und die Infragestellung des pakistanischen Zentralstaates durch regionale Interessen, vor allem aber zunehmend durch militant islamistische Strömungen, Gruppierungen und Parteien hat unmittelbar mit der Identitätsfrage zu tun.69 Und obwohl es zynisch klingen mag, es war und ist der alles andere überlagernde Konflikt mit Indien, der Pakistan und seine divergierenden politischen und ideologischen Kräfte bisher zusammengehalten hat.
- Eine weitere Voraussetzung für eine Regelung von Konflikten ist die Erkenntnis, dass sie nicht ohne Berücksichtigung der Interessen aller Seiten möglich ist und dass sie Verhandlungen auf gleicher Ebene, d.h. mit gleichen Rechten, unabhängig von der Größe der Macht und dem Potential der jeweiligen Seiten erfordert. Das gilt ohne Einschränkung für das pakistanisch-indische Verhältnis im allgemeinen und ganz spezifisch für den Kashmir-Konflikt – hier vor allem für die Respektierung der legitimen Rechte und Interessen der Kashmiris durch beide in den Konflikt involvierten Staaten. Das ist bedauerlicherweise für Südasien noch ein fernes Ziel und, neben dem Versuch, massiv die eigenen Interessen durchzusetzen, auch bedingt durch die sehr geringe Fähigkeit der Konfliktparteien, die Tatsache in Rechnung zustellen, dass solche komplexen und komplizierten Probleme wie die Kashmir-Frage nicht im ersten oder zweiten Anlauf gelöst werden können und dass deshalb auch Augenmaß und Geduld wichtige politische Tugenden sind. Das Festhalten an nicht verhandelbaren und nicht kompromissfähigen Positionen ist ein Ausdruck mangelnder politischer Kompetenz. Konflikte werden niemals gelöst, wenn eine Seite ihren Standpunkt durchsetzen will, es sei denn, sie hat die Macht und die Mittel, die Gegenseite physisch zu eliminieren oder zur Kapitulation zu zwingen. Das aber können nur Zyniker als »Konfliktlösung« bezeichnen. Außerdem hat die Geschichte gezeigt, welche Konsequenzen solche »Lösungen« haben. Diese Feststellung betrifft die jahrzehntelange pakistanische Junktim-Politik ebenso wie die starrsinnige Vorbedingungsstrategie der gegenwärtig in Indien an der Macht befindlichen Hindunationalisten von der BJP.
- Eine zentrale Bedingung und das gilt sehr direkt für den pakistanisch-indischen Konflikt und die Kashmir-Frage, ist schließlich die Entideologisierung des Konflikts. Die Friedenswilligkeit und Friedensfähigkeit von Regierungen und Gesellschaften ist nicht zuletzt daran zu messen, ob sie bereit sind, nicht nur auf die Kolportierung plakativer, häufig genug bösartiger Feindbilder zu verzichten, sondern auch einen konkreten Beitrag zur Zurückdrängung von Denken und Handeln in Feindbild-Kategorien zu leisten, also auch ihre eigene politische Sprache grundlegend zu verändern. Es muss zugleich mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass im Erziehungsprozess von der Elementarschule bis zur Universität, ganz zu schweigen von der Ausbildung administrativer, politischer und militärischer Eliten, Feindbilder nicht nur gepflegt, sondern ständig auch produziert werden. Ein Blick in die respektiven Textbücher liefert nicht nur eine Fülle von Beweisen, sondern auch einen schockierenden Einblick in Denkstrukturen und ideologiegesteuerte Deformationen des Bildes vom Anderen, aber auch der eigenen Geschichte.
Wir sollten zugleich nicht übersehen, dass Entideologisierung von Widersprüchen und Konflikten, der Abbau von Feindbildern, von politischem oder religiösem Fanatismus und von ethnischer Feindschaft nicht ohne qualitative Wandlungen in der Politik selbst möglich ist. Mit allem notwendigen Realismus muss gesagt werden, dass dies in unserer Zeit für Staaten, die sich primär ideologisch definieren und das ist in Pakistan bis heute der Fall, eine unübersteigbare Hürde zu sein scheint.
4.2 Internationale Rahmenbedingungen für einen Konfliktregulierungsprozess in Südasien
Wenn wir die internationalen Aspekte für eine Regulierung des Kashmir-Konflikts ins Auge fassen, dann ergeben sich aus der Bestimmung von Interessenlagen und Positionen der für diesen Gegenstand wichtigsten internationalen Akteure einige auch durch andere Konfliktregulierungsansätze seit der Mitte der achtziger Jahre (Afghanistan, Somalia, Kambodscha) verifizierte Schlussfolgerungen:
- Versuche, bilaterale oder andere externe Konflikte durch die direkte Unterstützung außerregionaler Mächte zu lösen, sind in der Regel gescheitert. Dabei zählen auch alte Bindungen, Verpflichtungen oder Bündnisse nicht mehr. In der postbipolaren Welt ist kein Raum für eine derartige Nostalgie. Die USA, Russland und China operieren ausschließlich in ihrem jeweiligen eigenen Interesse – Großbritannien und Frankreich spielen in diesem Kontext keine eigenständige Rolle mehr, sie sind nur in ihrer Selbstperzeption noch Großmächte. Jeder Versuch südasiatischer Staaten, heute unter Hinweis auf traditionelle Freundschaft etc. Großmächte für eigene Interessen mobilisieren zu wollen, ist im Prinzip Verschwendung von Zeit und Energie. Das gilt auch für die in Pakistan und Indien verbreiteten Illusionen, aus ihrer bereitwilligen Kooperation mit den USA in George W. Bushs »Krieg gegen den Terror« messbare Vorteile in ihrer bilateralen Konfliktsituation ziehen zu können.
- Es ist eine gesicherte Erkenntnis des letzten Jahrzehnts, dass die Internationalisierung der Regelung bilateraler oder regionaler Konflikte eine ausgesprochen zweischneidige Angelegenheit ist, da sie immer ihren Preis für die Konfliktseiten hat. Das zeigte sich bereits in der Frühphase des Kashmir-Konflikts, als Nehru die Vereinten Nationen anrief, in der liberalen Illusion, dass die UNO selbstverständlich Indiens Position unterstützen würde.70 Wäre Indien damals dem westlichen Bündnis in irgendeiner Form beigetreten, hätte es in den letzten 45 Jahren überhaupt keine Kashmir-Frage gegeben. Aber er übersah, dass in jener Phase die UNO direkt durch den Westen dominiert war und dass der Westen gegenüber einer auf Nichteinordnung ausgerichteten Außenpolitik ausgesprochen misstrauisch war. Und es war damals im Interesse des Westens, die Resolutionen so formulieren, wie sie noch heute im Raum stehen. Das war weder eine Frage von Altruismus oder Ethik, Moral oder etwa von Selbstbestimmung für die Kashmiris, sondern von Machtpolitik. Und falls die UNO die Frage im kommenden Jahrzehnt erneut aufwerfen sollte, kann unter vollständig veränderten internationalen Bedingungen niemand das Ergebnis auch nur abschätzen.
Die von Pakistan seit Beginn der neunziger Jahre mit großem Aufwand und unter Vernachlässigung anderer wichtiger Politikfelder betriebene Internationalisierung des Kashmir-Konflikts muss hinsichtlich ihrer Folgen für die pakistanisch-indischen Beziehungen, aber auch für Pakistan selbst, mit großer Zurückhaltung betrachtet werden. Und es gibt hinsichtlich der Lernfähigkeit der pakistanischen Führung und der veröffentlichten Meinung doch sehr zu denken, wenn man geradezu euphorisch die Kernwaffentests als endgültige Internationalisierung des Kashmir-Konflikts feierte. Das wahrscheinlich einzige reale Ergebnis dieser Strategie wird die Eliminierung der letzten noch vorhandenen Chancen für eine politische Lösung der zwischen beiden Staaten bestehenden Konflikte sein.
- Es ist gleichfalls eine Erfahrung asiatischer Staaten, dass Konfliktseiten zweimal nachdenken sollten, bevor sie außerregionale Mächte oder internationale Organisationen um Vermittlung im Konflikt ersuchen. In den meisten Fällen werden die Vermittler mehr in ihrem eigenen Interesse denn in dem der Konfliktparteien agieren. Internationale Organisationen reflektieren ein spezifisches Geflecht von Macht und Interessen und die in ihnen vorhandenen Widersprüche sind in der Regel nicht allzu hilfreich für den komplizierten Prozess der Konfliktregulierung. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass selbst wenn der Vermittler sich mit den besten Vorsätzen und aufrichtig um unparteiische Vermittlung im Konflikt bemüht, das normale Resultat darin besteht, dass keine Seite befriedigt werden kann. Daher war die klare Ablehnung einer deutschen Vermittlung im Kashmir-Konflikt durch Bundespräsident Herzog während seines Staatsbesuchs in Pakistan im Jahre 1995 nicht nur verständlich, sondern auch politisch richtig. Deutschland ist an stabilen freundschaftlichen Beziehungen zu beiden Staaten interessiert. Eine Vermittlung unter den derzeitigen Bedingungen, die durch kontroverse und einander ausschließende Regelungsperzeptionen beider Seiten und ihre evidente Kompromissunfähigkeit determiniert sind, würde daher Deutschlands Verhältnis zu Indien und Pakistan gravierend belasten.
- Eine Schlussfolgerung, die die Konfliktseiten aus der internationalen Entwicklung seit 1990 mit Sicherheit ziehen müssen, besteht darin, dass asiatische Staaten in ihren bilateralen Konflikten in erster Linie eigene Anstrengungen für ihre Beilegung unternehmen müssen und Regulierungen im wesentlichen auf bilateralen Entscheidungen und Übereinkünften beruhen werden. Keine auswärtige Macht kann eigene Konzepte zur Konfliktbewältigung und eigene Maßnahmen zur Beendigung von Konflikten ersetzen, mögen diese auch noch so diffizil und scheinbar unlösbar sein. Das trifft auch voll auf die zwischenstaatliche Dimension des Kashmir-Konflikts zu und Pakistan sollte dies in seinem ureigensten Interesse begreifen. Wenn man sich nicht erneut in folgenschwerer Weise von äußeren Kräften abhängig machen will, gleichgültig ob dies die Golfstaaten, die OIC oder die USA sind, dann führt kein Weg an einem Kurs auf einen politischen Interessenausgleich mit Indien vorbei.
Damit sind wir wieder beim Grundproblem – der komplexen pakistanisch-indischen Konfliktkonstellation und dem eingangs erwähnten modus vivendi zwischen Pakistan und Indien als elementare Voraussetzung für eine konstruktive Bewegung in den bilateralen Beziehungen und auch im Konflikt um Kashmir.
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die Aussichten dafür gegenwärtig nicht besonders günstig sind. Wenn wir den skizzierten Typ von Sicherheitsvorstellungen, die Tiefe des wechselseitigen Misstrauens und die direkte politische Wirkung von Fehlperzeptionen sowie den chronischen »Krieg der Worte« zwischen beiden Ländern in Rechnung stellen, der von Dezember 2001 bis zum Herbst 2002 zu einem beiderseitigen massiven Militäraufmarsch führte, ist es schwer, an eine substantielle Abschwächung der Konfliktfaktoren in den nächsten Jahren zu glauben. Das würde eine umfassende Reorientierung in den bilateralen Beziehungen, einen grundlegenden Wandel in der Politik gegenüber dem Nachbarn erfordern. Dafür sind aber offensichtlich die Eliten in beiden Ländern noch nicht vorbereitet, darum bemühen sich leider noch zu kleine Gruppen in beiden Gesellschaften.
Aber es ist zugleich eine fast als banal zu bezeichnende Grundwahrheit, dass Pakistan und Indien um eine grundlegende Revision ihres Bildes vom Anderen und ihrer bilateralen Beziehungen nicht herumkommen, weil die einzige verbleibende, andere Option ein erneuter Waffengang und zwar möglicherweise unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen wäre. Der längst überfällige politische Interessenausgleich ist aber für beide Länder nicht zum Nulltarif zu haben, sondern mit möglicherweise schmerzlichen Kompromissen verbunden.
Ohne die gegenseitige Akzeptanz der existierenden politisch-territorialen Realitäten und der legitimen Interessen der jeweiligen Seite, ohne die Aufgabe jedes Revisionismus – mag er historisch oder religiös-kulturell definiert sein, ohne die definitive Abkehr von Versuchen der Einmischung in die inneren Angelegenheiten, ohne den Verzicht auf regionale Hegemonialkonzepte; d.h. ohne grundsätzlichen Interessenausgleich zwischen Indien und Pakistan ist keine substantielle Bewegung in der pakistanisch-indischen Konfliktkonstellation zu erwarten – und damit auch nicht hinsichtlich einer Beilegung des Kashmir-Konflikts.
Diese Feststellung bedeutet in keiner Weise eine Geringschätzung oder den Verzicht auf die mögliche Regulierung einzelner Konfliktfelder, das ist sogar im Sinne einer Entspannung der Situation am Rand des Krieges und einer schrittweisen Vertrauensbildung eine konstitutive Voraussetzung für eine spätere Überwindung der Konfliktkonstellation. Sie will aber auf dabei zu berücksichtigende Zusammenhänge aufmerksam machen.
Der hier skizzierte allgemeine Rahmen und der Charakter der pakistanisch-indischen Beziehungen ist zugleich die eigentliche Ursache dafür, dass die Kashmir-Frage jene Bedeutung und internationale Aufmerksamkeit gefunden hat, die sie heute charakterisiert. Der Stellenwert, den Kashmir bilateral, regional und international erlangt hat, leitet sich nicht primär aus Selbstbestimmung, Menschenrechten und anderen noblen Prinzipien ab. Er ist Resultat der Tatsache, dass im Kashmir-Konflikt nahezu alle pakistanisch-indischen Interessenkollisionen reflektiert werden, dass Kashmir für beide Seiten ein konkretes machtpolitisches Problem ist und dass Kashmir wirkungsvoll für ganz andere Ziele, innenpolitische und außenpolitische, instrumentalisiert werden kann. Aber, und das muss immer aufs Neue wiederholt werden, die Kashmir-Frage ist nicht der pakistanisch-indische Konflikt per se, sondern nur einer der Hauptwidersprüche zwischen Pakistan und Indien, wenngleich ein sehr wichtiger und der bisher folgenreichste.
Daher sind substantielle Fortschritte in der Kashmir-Frage ohne einen Minimalkonsens zwischen beiden Staaten, ohne eine Vertrauensgrundlage und ohne eine anhaltende Verbesserung der Gesamtbeziehungen zwischen Pakistan und Indien nicht möglich. Die bisherige Strategie aller pakistanischen Regierungen im letzten Jahrzehnt, jegliche Teilschritte zu einer Normalisierung abzulehnen und die Kapitulation Indiens in der Kashmir-Frage zur Vorbedingung einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu machen, war bedauerlicherweise eine Strategie gegen eine politische Lösung und war, ganz eindeutig durch die schwierigen innenpolitischen Verhältnisse in Pakistan bedingt, der Verzicht auf Politik zugunsten von Ideologie. Und es bleibt zu hoffen, dass das Land für eine solche Strategie nicht einen hohen Preis zahlen muss. Das internationale Echo auf die Kargil-Affäre hat Pakistan dafür bereits einen gewissen Vorgeschmack geboten. Die Tatsache, dass in den künftigen Gesprächsrunden auf der Ebene der Foreign Secretaries beide Seiten nach der zweiten Machtübernahme Nawaz Sharifs im Jahre 1997 wieder über alle anstehenden Fragen diskutieren wollten, war noch kein Wandel, denn Pakistan hat die Kröte nur geschluckt, um seine Perzeption der Kashmir-Frage auf die Tagesordnung zu bringen, während für Indien in der Tat alles verhandelbar ist, aber nicht die Zugehörigkeit Jammu und Kashmirs zum indischen Staatsverband. Solche Verhandlungen ändern daher nichts am status quo der Perzeptionen, der jeweiligen Zielhorizonte und der praktischen Politik der beiden Seiten. Nach Kargil und dem Militärputsch in Pakistan lagen die staatlichen Beziehungen zwischen Pakistan und Indien lange Zeit völlig auf Eis, ein erster Anlauf scheiterte 2001 in Agra am Widerstand der Hardliner in der BJP, und die Entwicklung nach dem Terroranschlag auf das indische Parlament am 13. Dezember 2001 brachte beide Länder erneut unmittelbar an den Rand eines Krieges. Es ist nicht abzusehen, wann es wieder zu Verhandlungen kommen wird, die diese Bezeichnung auch verdienen.
Aber auch die faktische Erfolglosigkeit der indischen Pazifizierungsstrategie in Kashmir, die Blockierung eines erheblichen Teils der indischen Streitkräfte in diesem Gebiet, die steigende Belastung des indischen Staatshaushalts und das Festhalten der entscheidenden Gruppen der politischen Elite an historisch obsolet gewordenen Positionen birgt erhebliche Risiken in sich.
Überschauend betrachtet, bedeuten die insgesamt getroffenen Feststellungen, dass ein substantieller Perzeptions- und Verhaltenswandel auf beiden Seiten, eine Phase tatsächlicher Regulierungsbemühungen weder kurz- noch mittelfristig in Aussicht steht. Es kann daher im Augenblick realistisch nur darum gehen, Schaden zu begrenzen und keine weitere Eskalation des Konflikts zuzulassen.
Anmerkungen
1) Der dem Dossier zu Grunde liegende Text musste leider wesentlich gekürzt werden. Dieser Kürzung sind u.a. zwei Abschnitte über die ideologischen Faktoren im pakistanisch-indischen Konflikt und dessen Ausstrahlung auf die südasiatische Konfliktkonstellation zum Opfer gefallen sowie zahlreiche erläuternde Fußnoten und Literaturhinweise. Auf Wunsch kann die Redaktion das Originalmanusskript nach Abstimmung mit dem Autor zur Verfügung stellen.
2) Nach indischer Auffassung war die Kargil-Operation bereits der vierte Krieg Pakistans gegen Indien. Siehe dazu u.a. Singh, Jasjit, Pakistan’s Fourth War. In: Strategic Analysis, New Delhi, XXIII (1999/2000) 5, August 1999, pp. 685-702 (im folg. Str. A); From Surprise to Reckoning. Kargil Review Committee Report. New Delhi, December 15, 1999. New Delhi Sage Publ. 2000, Chapter XIII Findings.
3) Siehe z.B. Hexamer, Eva-Maria, Images and Counter-Images: The Cultivation of Mutual Threat Perceptions in India and Pakistan. In: Relationen. Internationale Politik in Asien & Afrika. Probleme – Analysen – Berichte, Berlin, 1 (1995) 1, pp. 7-24 (im folg. Relationen)
4) United Nations Nations Commission for India and Pakistan. Third Interim Report (5.12.1949). In: Kashmir Papers. Reports of the United Nations Commission for India and Pakistan (June 1948 to December 1949). New Delhi Government of India, Ministry of External Affairs 1952, pp. 184-185 (im folg. UNCIP ThIR; Papers 1952)
5) India Impeding Kashmir Solution, Says Musharraf. In: The News International, Karachi, 11 (24.10.2000) 293, p. 1 (im folg. News)
6) Wortlaut mit Kommentar in: Anand, C.L., The Government of India: Being a Survey of Constitutional Development during the British Period, including the Reform of 1935. 5th ed. Lahore Univ. Book Agency 1936.
7) Draft Declaration for Discussion with Indian Leaders. 30 March 1942. London His Majesty’s Stationary Office 1942 (Cmd. 6350) (im folg. H.M.S.O.).
8) Für die Zeit seit dem Ende des Krieges in Europa siehe unter anderem Statement of the Policy of His Majesty’s Government made by the Secretary of State for India on July 14, 1945. In: Coupland. Reginald, India: A Restatement. London 1945, pp. 295-298; India: Statement by the Cabinet Mission and His Excellency the Viceroy. 16 May 1946. London H.M.S.O. 1946 (Cmd. 6821); Attlee, Clement R., Statement on the Transfer of Power. 20 February 1947. In: Philips, C.H. / Singh, H.L. / Pandey, B.N. (eds.), Select Documents on the History of India and Pakistan Vol. IV. The Evolution of India and Pakistan, 1857-1947. London 1962, pp. 391-393.
9) Hier wird ausdrücklich von „neu belebt“ gesprochen, denn diese Konfrontation war seit der Errichtung der moslemischen Herrschaft ein Faktum, wenngleich sie über eine lange historische Periode keine akute Form annahm. In Indien verbreitete Auffassungen, der Hindu-Moslem-Konflikt sei von den Briten „geschaffen“ worden, halten erstens keiner ernsthaften Analyse stand und sind zweitens – wie die Umdeutungen des Hindu-Moslem-Konflikts in einen islamischen Befreiungskampf – nur mühsam kaschierte Versuche, die hohe Mitverantwortung der rivalisierenden politischen Kräfte an der Austragungsform des Konflikts und an der Teilung Indiens zu verdrängen
10) Zit. n. Alexander, Harold, India since Cripps. Harmondsworth/ New York 1944, p. 54.
11) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah to the All-India Muslim League at Lahore. 22 March 1940. In: Ahmad, J., Some Recent Speeches and Writings of Mr. Jinnah. Vol. I. Lahore Sheikh Mohammad Ashraf 1952, pp. 159-181. Nachgedruckt in: Hasan, K.Sarwar (ed.), Documents on the Foreign Relations of Pakistan. The Transfer of Power. Karachi Pakistan Institute of International Affairs 1966, pp. 1-18; zit. Stelle p. 17.
12) Ebenda, pp. 15-17.
13) Der eigentliche Vater der Zweinationentheorie war der in Cambridge lebende und sich als Präsident der Pakistan National Movement bezeichnende C. Rahmat Ali, der am 8. Juli 1935 ein Memorandum an Regierungen, Politiker und Medien versandte, das offensichtlich ein Positionspapier gegen den Government of India Act war. Eine Kopie befindet sich in den Handakten des Staatssekretärs z.b.V. im Auswärtigen Amt, Wilhelm Keppler. PA / AA R 27 501 2/1-2, 4 Bl. Wenig später wurde diese Theorie von Mohammad Iqbal, einem bedeutenden Urdu-Poeten und Philosophen übernommen, der kurz vor seinem Tode Mohammed Ali Jinnah überzeugen konnte, die Pakistan-Forderung zur Kampflosung der Moslemliga zu machen.
14) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O.
15) Resolution Adopted by the All-India Muslim League at Lahore. 23 March 1940. In: Central Office All-India Muslim League. Jinnah-Gandhi Talks (September 1944). Delhi 1944, pp. 83-84.
16) The Indian Year Book 1941/42. Vol. XXVIII. Bombay/Calcutta 1942, p. 921.
17) Text in: Hasan, Documents on the Foreign Relations of Pakistan…, a.a.O., pp. 263-276.
18) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O., p. 17.
19) Jinnah,M.A., Message to the Nation.on the Occasion of the Inauguration of the Pakistan Broadcasting Service, August 15,1947. In: Quaid-i-Azam Mohammad Ali Jinnah. Speeches and Statements as Governor General of Pakistan, 1947-48. Islamabad Government of Pakistan, Ministry of Information and Broadcasting 1989, pp. 55-56 (im folg. QiA).
20) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O., p. 15
21) Ägypten, Syrien, Irak, Libanon und andere Staaten mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung standen über Jahrzehnte hinweg Indien weitaus näher als Pakistan.
22) Es gehört zu den elementaren Unsinnigkeiten des pakistanisch-indischen Verhältnisses, dass die Pakistan Constituent Assembly die vom britischen Gesetzgeber im Indian Independence Act auf den 15. August festgelegte Souveränitätsübergabe an beide Staaten auf den 14. August vorzog, um sich auf diese Weise demonstrativ von Indien abzusetzen.
23) Zu einigen Fakten: Weidemann, Diethelm, Die Entstehung des Staates Pakistan. In: Asien. Afrika. Lateinamerika, Berlin, 2(1974)2, S. 241-252 (im folg. AAL).
24) Government of India. Census of India 1941. India Part I Vol. 1. New Delhi, pp. 98-101 (im folg. Census 1941).
25) Dieses Grenzabkommen wurde von Indien niemals anerkannt und Indien betrachtet das betreffende Territorium als „…illegally handed over by Pakistan to China“. In: Government of India. Census of India 1981. Series 1 India Part II-A(I) General Population Tables. New Delhi 1985, p. 72 (im folg. Census 1981).
26) Ebenda, pp. 72-73.
27) Ebenda, pp. 75, 110-113, 576, 604-606; Census 1981, Part XII Census Atlas Jammu and Kashmir. Series 8. New Delhi 1988, pp. 248-250.
28) So betrug bereits 1981 der Anteil der Moslems im Distrikt Kargil 77,40%. Siehe Census Atlas Jammu and Kashmir, a.a.O.
29) Government of India. Census of India 1991. Series 1 India Paper 1 of 1992 Vol. II Final Population Tables. New Delhi 1993, p. 16 (im folg. Census 1991).
30) Siehe u.a. Schied, Michael, Indien – Pakistan – Sindh – Karachi. Wechselnde Machtverhältnisse und Staatsformierung (Zur Entwicklung der Mohajir Qaumi Movement). In: Hexamer, Eva-Maria / Oesterheld, Joachim (Hrsg.), Innere Konflikte in Indien und Pakistan und die ideologische Dimension der Konfliktlage in Südasien. Berlin Humboldt-Universität 1998, S. 355-382 (Schriften IBA, Bd. 8).
31) Im Kontrast zur konstanten Leugnung dieses Sachverhalts durch das offizielle Pakistan gibt es dazu nicht nur einen detaillierten internen Report der Armee, sondern auch eine Art Bekenner-Literatur. Islam, Ziaul, The Revolution in Kashmir. Karachi Pakistan Publ. 1948; Khan, Akbar, Raiders in Kashmir. Story of the Kashmir War (1947-1948). Karachi Pakistan Publ. 1970.
32) Dazu speziell Hexamer, René, Der Kashmir-Konflikt – Fallbeispiel eines Legitimitätskonfilikts. Berlin 1992 (Arbeitspapiere des LFG Internationale Beziehungen in Asien und Afrika. Reihe C: Aktuelle Fragen der internationalen Beziehungen in Asien Nr. 7 (im folg. IBA-Texte C); Ders., Kashmir 1989-1996: Zur Relevanz der inneren Konfliktdimension im Kontext der indischen Staatskrise. In: Hexamer, Eva-Maria / Oesterheld, Joachim (Hrsg.), Innere Konflikte in Indien und Pakistan und die ideologische Dimension der Konfliktlage in Südasien. Berlin Humboldt-Universität zu Berlin 1998, S. 251-321 (Schriften IBA 8, 2. Aufl.).
33) Während die Wahlbeteiligung bei den Staatenwahlen von 2002 in Kashmir bei 46 Prozent lag, betrug sie im Frühjahr 1997 in Pakistan landesweit nur 35,92 Prozent und erreichte ihren markanten Tiefpunkt in Baluchistan mit 22,84 und in der Nordwest-Grenzprovinz mit 29,67 Prozent. Quellen: Husain, Z., Clean Sweep. In: Newsline, Karachi, 8(1996/97)9, February1997, p. 36; Khan, A.A., The Anatomy of a Landslide. In: The Herald, Karachi, 28(1997)3, p. 46ff.
34) Die Zahl der von den Militanten getöteten Moslems ist höher als die der getöteten Hindus. Vor dem Ausbruch der Insurrektion war das Verhältnis etwa 30:1. Zum großangelegten Vertreibungsfeldzug der Islamisten und ihrer militant-terroristischen Ableger gegen die eingesessenen Kashmiri-Hindus siehe u.a. Genocide of Hindus in Kashmir. Jammu Kashmir Sahayata Samiti. New Delhi Suruchi Prakashan 1991.
35) Nolan, Janne N., Trappings of Power: Ballistic Missiles in the Third World. Washington Brookings 1991, zu Südasien besonders pp. 86-91.
36) Die Argumente der nuklearen Lobby sind repräsentativ konzentriert in Pakistan’s Security and the Nuclear Option. Islamabad Institute of Policy Studies 1995 Die Hauptpositionen einiger Opponenten finden sich in Mian, Zia (ed.), Pakistan’s Atomic Bomb & The Search for Security. Lahore Gautam Publ. 1995.
37) Graham, Thomas W., Rethinking Nonproliferation Policy: Increasing Effeciency and Enhancing Stability. In: Aspen Strategy Group. New Threats: Responding to the Proliferation of Nuclear, Chemical and Delivery Capabilities in the Third World. Aspen/Lanham 1990.
38) The Hindu, Madras, 121(29.5.1998) (im folg. Hindu).
39) Ihre direkte Vorgängerin, die Bharatiya Jana Sangh, verabschiedete bereits im Dezember 1962 die erste Resolution mit der Forderung nach dem Bau von Kernwaffen in Indien und startete 1964 die erste antichinesische Kernwaffenkampagne. Zur hindunationalistischen Kernwaffenlobby siehe Mirchandani, a.a.O., pp. 55-65.
40) Vajpayee, A.B., Paper laid on the table of the House on Evolution of India’s Nuclear Policy, May 27, 1998. – http://www.indianembassy.org/pic/nuclearpolicy.htm Siehe auch Prakash, Surya, All Were Party to the Nuclear Gatecrash. In: Pioneer CXXXIV (25.5.1998) 144, p. 8; Subrahmanyam, K., Politics of Shakti. Old Wine in a New Bomb. In: ToI CLXI (26.5.1998) 115.
41) Zu diesem Aspekt siehe Chaska, C. Uday, India’s Security No Longer Depends on Others Goodwill. In: Sunday Times of India, New Delhi, VII(17.5.1998) (im folg. SToI); Vice Adm. (R.) Quadir, Iqbal F., India Opts for World Status. In: Defence Journal, Karachi, 2(1998)6, pp. 25-25 (im folg. DJ); Sharma, L.K., India’s Tests Puts the Nuclear Haves in the Dock. In: ToI CLXI(13.5.1998)104 -http://www.timesofindia.com/130598/13worl3.htm; Varadarajan, Siddharth, Testing the World Order. In: Nuclear (In)Security. Seminar No 468, New Delhi August 1998, pp. 24-32.
42) Hindu (29.5.1998).
43) Bidwai, Praful, India Has Shot Itself in the Head. In: SToI VII(17.5.1998) -http://www.timesofindia.com/170598/17edit4.htm4.
44) Zu kritischen Positionen siehe Aiyar, Swaminathan S.A., Is India Stronger for the Nuclear Tests? In: SToI VII (17.5.1998) http://www.timesofindia.com/170598/17edit5.htm; Bidwai, Praful, Dangerous Descent. In: ToI CLXI(15.5.1998)106 -http://www.timesofindia.com/150598/15edit10.htm; ders., India Has Shot Itself…, a.a.O.; Mishra, Bisheshwar, India Needs Bread, Not Bombs: CPML. In: ToI CLXI(26.5.1998)115, p. 9; Ramachandaran, Shastri, Test of Liberalism. Trapped Between Bomb and Bombast. In: ToI CLXI(21.5.1998)111, p. 9; Varadarajan, Siddharth, Pokhran as Pandora. In: ToI CLXI(16.5.1998)107 -http://www.timesofindia.com/16edit9.htm.
45) Aiyar, Swaminathan S.A., Saffron Storm Rising. In: SToI VII(24.5.1998) -http://www.timesofindia.com/240598/24busi3.htm; Subhan, Taufiq, Artha, Not Dharma Propels the BJP. In: ToI CLXI(23.5.1998)113, p. 10.
46) Siehe Ahmad, Aijaz, The Hindutva Weapon. In: Frontline, Madras, 15(1998)11, May 23-June 5; Karat, Prakash, A Lethal Link. In: Ebenda, 15(1998)12, June 12-19.
47) Thapa, Kamal, Lessons from Pokhran. In: Kathmandu Post, (30.5.1998).
48) The Telegraph, Calcutta, (21.5.1998).
49) Siehe unter anderem Lt. Gen. (R.) Durrani, Mohammad A., Pakistan’s Nuclear Card. In: DJ 2(1998)6, pp. 10-13; Air Marshal (R.) Khan, Ayaz A., The Nuclear Indecision. In: Ibidem, pp. 26-28; Mazari, Shireen M., In the Aftermath of the Indian Tests. In: Ibidem, pp. 4-6; Rahman, S.M., Brandishing the Nuclear Sword. The Shakti Syndrome. In: Ibidem, pp. 20-22; Zehra, Nasim, Nuclear Test the Only Option. In: Ibidem, pp. 2-3. Siehe ferner Babar, Farhatullah, To Test Or Not to Test. In: The Nation, Islamabad/Lahore, X(18.5.1998), p. 9 (im folg. Nation); Koreshi, Samiullah M., Time Is Running Out for Pakistan to Test. In: Ibidem (19.5.1998), p. 9.
50) Beispielsweise Shafi, Kamran, Don’t Go Off Half-cocked. In: Nation X(16.5.1998), p. 9; Qureshi, Yusuf, To Test Or Not to Test, That Is the Question: In: Ibidem (20.5.1998), p. 9.
51) Siehe beispielsweise Hasan, Ahson S., Think Well Before Testing. In: Nation X(20.5.1998), p. 9; Inayatullah, Can We Eat Grass? In: Ibidem, p. 9; Naqvi, Hussain, Dispassionate Dialogue Required. In: Ibidem (19.5.1998), p. 9; Rahman, Asad, A Question of Priorities. In: Ibidem (22.5.1998), p. 9; Sehgal, Ikram, Fail-safe Limits of Dynamic Restraint. In. Ibidem (23.5.1998), p. 8.
52) Widmann, Carlos, Jenseits des Rubikon. In: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 24/1998, 8.6., S. 148; Pressures on Pakistan (Editorial). In: Nation X(16.5.1998), p. 8.
53) Widmann, a.a.O., S. 149 Siehe auch Malik, Saeed, Islamic Bomb, Why Not? In: Nation X(26.5.1998), p. 8.
54) Er bestätigte das explizit in seinem politischen Testament. Bhutto, Z.A., „If I am Assassinated…“ New Delhi Vikas Publ. House 1979, pp. 115 ff..
55) Hussain, Fahd, Why Fear Nuclear Frenzy? In: Nation X(17.5.1998), p. 8.
56) Dawn, Karachi, LII(10.6.1998); Ebenda (11.6.1998) Der Anlaß war die Ortung einer nichtidentifizierten F-16 im pakistanischen Luftraum, und die Regierung ersuchte auf einem geheimen Weg Israel um eine Klarstellung, die unverzüglich durch Tel Avivs UNO-Botschafter Ben-Elissar erfolgte, dass keine israelische Maschine sich auch nur in der Nähe Pakistans befinde, und dass Israel unter keinen Umständen in den pakistanisch-indischen Konflikt hineingezogen werden möchte.
57) Zu den geostrategischen resp. geopolitischen Rückwirkungen siehe Cheema, Zafar I., South Asian Security after India-Pakistan Nuclear Tests. In: Pakistan Defence Review, Rawalpindi, 11(1998/99)1, Summer 1998, pp. 9-20 (im folg. PDR); Junaid, Shahwar, The Region and a Nuclear India. In: Nation X(21.5.1998), p. 8; Lt. Gen. (R.) Lodi, Sardar F.S., South Asia Goes Nuclear. In: DJ 2(1998)7, pp. 14-16; Mazari, Shireen M., Nuclearization of South Asia: The Geopolitical Dimension. In: Ibidem 2(1998)10, pp. 28-34; Rahman, Asad, Nuclear Escalation in South Asia. In: Nation X(15.5.1998), p. 9; Shaukat, Sajjad, Balance of Nuclear Terror in South Asia. In: Ibidem (18.5.1998), p. 9; Subrahmanyam, K., A Nuclear Strategy for India. In: Economic Times, New Delhi, 38(28.5.1998)73, p. 10 (im folg. EcT); Ullah, Ikram, Security Hazards in South Asia. In: Nation X(31.5.1998), p. 8.
58) Cooper, Kenneth J., India Revises Prohibition on First Strike – Delhi Government Offers to Negotiate Nuclear Issue with Pakistan, Other Nations. In: WashP (28.5.1998).
59) Dawn LII(5.6.1998) Es ist übrigens interessant, dass indische Medien aus erkennbar propagandistischen Motiven versuchten, ihrer Leserschaft vorzuspiegeln, dass die Moslems weltweit die pakistanische Bombe begrüßt hätten.
60) Advani’s Threat (Editorial). In: Nation X(20.1.1998), p. 8; Response to Advani (Editorial). In: Ibidem (21.5.1998), p. 8; Varadarajan, Siddharth, A Nuclear Lesson from Bhasmasura. In: ToI CLXI(28.5.1998)117, p. 9. Zu den ausgeprägt negativen deutschen Reaktionen auf Advanis Ausfälle vgl. die überregionalen Blätter zwischen dem 20. und dem 24.5.1998.
61) Bhattacharjee, Jay, Show Solidarity to Beat Sanctions. In: ToI CLXI(28.5.1998)117, p. 10; Singh, Ajay, Test Effects May Alter the Budget. In: Pioneer CXXXIV (21.5.1998) 140, p. 5.
62) Naqvi, M.B., Sharif Saves Pakistan’s Honour But At What Price? In: ToI CLXI (29.5.1998) 118, p. 1.
63) Kissinger, Henry, Sanctions Are Not the Answer. In: DJ 2(1998)10, pp. 90-92.
64) Hussain, Fahd, US Non-Proliferation Policy: An Obituary: In: Nation X(31.5.1998), p. 9; Köttler, Wolfgang, Der nukleare Dammbruch. In: Neues Deutschland, Berlin, 53(18.5.1998)114, S. 8 (im folg. ND).
65) Indische und pakistanische Positionen zu dieser Frage siehe bei Mazari, Shireen M., The CTBT Debacle: Need for a Comprehensive Approach. In: DJ 2(1998)8, pp. 20-21; Rahman, S.M., CTBT – A Psychological Profile. In: Ibidem, pp. 22-25; Riding the Storm (Editorial). In: ToI CLXI(15.5.1998)106 -http://www.timesofindia.com/150598/15edit1.htm; Col. Salik, Naeem A.,Future of Non-Proliferation in South Asia. In: PDR 11(1998/99)1, Summer 1998, pp. 45-55; Sharma, L.K., Indian Tests Reopen the Nuclear Question. In. ToI CLXI(15.5.1998)106. Siehe auch Hippler, Jochen, Atomwaffen für alle. In: Freitag, Berlin, Nr. 24/1998, 5.6., S. 1.
66) Zu den grundsätzlichen Aspekten dieser Problematik siehe Weidemann, Diethelm, Domestic Problems and Foreign Policy in South Asia – Changing Interactions in the Post-Bipolar World. Paper to the XVth European Conference on Modern South Asian Studies, Prague, September 8-12, 1998.
67) Niazi, M.A., The BJP’s Next Agenda Item. In: Nation X(29.5.1998), p. 8; Venzky, Gabriele, Kaschmir und die Bombe. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 24/1998, 4.6., S. 5-6.
68) Die folgenden Ausführungen sind eine Fortschreibung eines Positionspapier des Verfassers zur Konfliktregulierungsproblematik. Siehe Weidemann, Diethelm, Krisen- und Konfliktmanagement in der postbipolaren Welt: Möglichkeiten und Grenzen von Konfliktregulierung in Asien, Juni 1995.
69) Ausführlich dazu Weidemann, Diethelm, Gefährliche Identitätssuche. Pakistan zwischen Orientierungslosigkeit und Indien-Fixierung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, 47 (2002) 7, S. 846-854.
70) Siehe Government of India, Ministry of External Affairs. Letter from the Representative of India addressed to the President of the Security Council, dated 1 January 1948 (S/628, 2 January 1948). In: UNCIP First Interim Report (9.11.1948), Annex 28 Para III, Papers 1952, pp. 112-116.
Prof. Dr. Diethelm Weidemann war 1975-1988 Direktor der Sektion Asienwissenschaften, 1989-1992 Direktor des Instituts für Friedens- und Konfliktforschung und 1992-2000 Lehrbeauftragter am Insti- tut für Asien- und Afrikawissenschaften der Berliner Humboldt-Universität