Vor 60 Jahren: Der »Thirring-Plan«

Vor 60 Jahren: Der »Thirring-Plan«

Abrüstung als Test für Entspannung und friedliche Koexistenz

von Werner Wintersteiner

Im Jahre 1963 kam aus dem neutralen Österreich ein konkreter Vorschlag, wie in die ins Stocken geratenen Abrüstungsbemühungen der Supermächte eine neue Dynamik kommen könnte. Vielleicht hätte diese Idee, wäre sie realisiert worden, zu einem früheren Ende des Kalten Krieges beigetragen und das Antlitz Europas positiv verändert. Die Rede ist vom sogenannten »Thirring-Plan« zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Ein historisches Studienobjekt, das Lehren für die heutige kriegerische Zeit bereithält.

Blicken wir 60 Jahre zurück: 1963 kam aus dem neutralen Österreich ein konkreter Vorschlag, der sogenannte »Thirring-Plan«, zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Dieser sah die Auflösung des Bundesheeres unter UNO-Kontrolle vor. Damit sollte – in einer Zeit, die für Entspannung und Abrüstung ein günstiges politisches Klima bereithielt – das neutrale Österreich einen Anstoß für weltweite Abrüstung und Ächtung der Kriege geben. Eine historische Episode? Eine versäumte Gelegenheit? Ein Vorbild für die Gegenwart? Auf jeden Fall ein historisches Studienobjekt, das Lehren für die heutige kriegerische Zeit bereithält.

Hans Thirring – Wissenschaftler, Friedensdenker und Aktivist

Professor Hans Thirring (1888-1976), der Verfasser des Memorandums »Mehr Sicherheit ohne Waffen«, war eine anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Theoretischen Physik, der u.a. einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Relativitätstheorie geleistet hatte. In der NS-Zeit in den Zwangsruhestand versetzt, verfasste er sein philosophisches Hauptwerk, »Homo Sapiens«, in dem er den Weg „vom Nationalismus zum Weltbürgertum“ vorzeichnete. Als er 1946 seine Tätigkeit an der Universität Wien wieder aufnehmen durfte, verfasste er als erster Wissenschaftler weltweit ein Werk über »Die Geschichte der Atombombe«, das bald als Standardwerk angesehen wurde und in dem er bereits den Bau der Wasserstoffbombe voraussah. Seither engagierte er sich mit all seinen Kräften für Abrüstung und Frieden. Militarismus und Krieg betrachtete Thirring seit seiner Jugend als „Schandfleck der Zivilisation“ (vgl. z.B. Thirring 1960, S. 4). So begann er, der Physiker, sich mit Psychologie und Politik zu beschäftigen. Mit seinem Buch »Atomkrieg und Weltpolitik« (1948) profilierte er sich als Friedensaktivist. Als einziger deutschsprachiger Wissenschaftler wurde er zur ersten »Pugwash-Konferenz« 1957 nach Kanada eingeladen. Er wurde zum Mitbegründer der gleichnamigen Vereinigung von Naturwissenschaftler*innen, die vor den Gefahren der atomaren Aufrüstung warnt. Zweimal brachte er die Pugwash-Konferenzen nach Österreich und sorgte damit für die Verbreitung der Friedensidee – jenseits der beiden ideologischen Lager im Kalten Krieg.

Der »Thirring-Plan«

Als Mitglied des Bundesrats, der zweiten Kammer des österreichischen Parlaments, entwickelte Hans Thirring 1963 das Memorandum »Mehr Sicherheit ohne Waffen«, den sogenannten »Thirring-Plan« zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Dieser sah parallel zur Auflösung des Bundesheeres Verträge mit den sechs Nachbarstaaten vor, die erklären würden, keinerlei territoriale Ansprüche gegenüber der Republik zu haben. Als Gesten ihres guten Willens würden diese Staaten ihre Streitkräfte von den Grenzen zurückziehen. Österreich würde von der UNO als Modell eines abgerüsteten Staates und als Testobjekt der Möglichkeit friedlicher Koexistenz anerkannt. Unbewaffnete UNO-Soldaten würden Österreichs Grenzen überwachen. Die nationale Abrüstung Österreichs sollte also einen internationalen Effekt auslösen.

Thirrings Plan kam nicht aus heiterem Himmel, sondern beruhte auf mehrjährigen Vorarbeiten. Nach den Entspannungssignalen beim Treffen zwischen Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy in Wien im Juni 1961, richtete der Physiker einen offenen Brief an die beiden Regierungschefs, der eine Reihe von Fragen bezüglich Kriegsgefahr, Rüstung und Abrüstung enthielt. Er erhielt tatsächlich ausführliche offizielle Antworten. Dadurch ermutigt ging Thirring daran, seinen Plan auszuarbeiten. Die Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Welt nahe an einem Atomkrieg war, bestärkte ihn erst recht in der Suche nach neuen Wegen der Entspannung.

Das strategische Ziel der einseitigen Abrüstung

Thirring ging davon aus, dass – angesichts der Atomkriegsgefahr – die allgemeine Abrüstung nicht nur dringend notwendig war, sondern dass auch eine politische Konstellation herrschte, in der diese Notwendigkeit allgemein begriffen wurde. Das hauptsächliche Hindernis dafür, dass der Einsicht auch Taten folgten, war seiner Auffassung nach das gegenseitige Misstrauen. Daher würden vertrauensbildende Maßnahmen gesetzt und ein positiver Präzedenzfall geschaffen werden müssen, um das Eis zu brechen. Österreich wäre seinem Plan nach dabei die Vorreiterrolle zugekommen.

Für seine Annahmen gab es durchaus gute Gründe. Zu Beginn der 1960er Jahre wurden, trotz Kubakrise, immer wieder Versuche der Deeskalation im Kalten Krieg unternommen. 1962 verständigten sich die Großmächte auf die multilaterale Genfer Abrüstungskonferenz, die unter Schirmherrschaft der UNO stattfand und zunächst 17 Staaten umfasste. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung wurde von einer zunehmenden Anzahl führender Staatsmänner anerkannt. Das internationale Klima war günstig für Abrüstungsvorschläge.

Thirring führte für die Notwendigkeit und Möglichkeit der Abrüstung politische und ökonomische Argumente an. Entscheidend war für ihn der „radikale Umbruch der Weltsituation […], der durch die Drohung des Atomtods und durch den Übergang von der Ära Stalins zu der Chruschtschows verursacht“ (Thirring 1963, S. 13) wurde. Er erwähnte auch den „ungeheuren materiellen Nutzen, der aus der Einsparung der gegenwärtig bei dem Rüstungswettlauf vergeudeten mehr als 100 Dollarmilliarden jährlich resultieren würde“ (ebd., S. 7). Zugleich brachte er aber auch ein grundsätzliches ethisches Argument ein, indem er dafür plädierte, dass „doch in erster Linie die moralische Seite der Angelegenheit mehr Beachtung finden müßte als bisher. Es ist eine Schande und Schmach für die sogenannte zivilisierte Menschheit, daß man heute, fast zwei Jahrtausende nach dem Kreuzestod des Erlösers und zu einer Zeit, da man tief in die Geheimnisse der Atomkerne eindringt und den Mond zu erobern gedenkt, noch immer an der primitiv barbarischen Methode der Austragung zwischenstaatlicher Konflikte durch organisierten Massenmord festhält und für das Weiterbestehen dieses tierischen Atavismus keinen triftigeren Grund angeben kann als das Schauermärchen, daß man ohne kriegerische Vorbereitungen von der Gegenseite umgebracht würde.“ (ebd.)

Als Hindernis identifizierte er allerdings den Widerspruch zwischen dem allgemeinen Wunsch nach Abrüstung und der großen Skepsis „gegenüber der Frage ihrer Realisierbarkeit. Eine jahrtausendealte militaristische Tradition einerseits und dazu das durch unkluge Handlungen beider Seiten immer wieder genährte gegenseitige Mißtrauen andererseits sind schwere psychologische Hemmnisse. Und dazu kommt natürlich noch der nicht zu unterschätzende Widerstand jener Kreise, die an der Aufrechterhaltung des Rüstungswettlaufs finanziell interessiert sind und daher darauf bedacht sein müssen, das gegenseitige Mißtrauen weiter zu schüren.“ (ebd.) Und dieses Misstrauen war in der Tat ein starker Faktor.

Obwohl, wie Thirring ausführte, die „überwiegende Bevölkerungsmehrheit“ aller Länder gegen den Militarismus sei, werde dieses Streben „dadurch unterdrückt, daß die Abrüstungsgegner ständig mit dem Finger auf die Rüstung der Gegenseite hinweisen und diese als eine Angriffsvorbereitung deuten, die eine Aufrüstung der eigenen Nation als eine selbständige Abwehrmaßnahme notwendig erscheinen läßt. Aus diesem Zirkel von gegenseitiger Drohung und Furcht werden wir nur dann herauskommen, wenn endlich einmal ein günstig gelegener Staat nach Prüfung der Lage den entscheidenden mutigen Schritt tut, von selbst mit der Abrüstung anzufangen und dadurch mit gutem Beispiel der Welt voranzugehen.“ (ebd., S. 23)

Daraus ergab sich, wie Thirring argumentierte, eine Situation für neutrale Länder, welche „die in der Geschichte vielleicht noch nie dagewesene Gelegenheit bietet, aus einem Dienst, den sie der ganzen Welt erweisen, gleichzeitig selbst auch erheblichen Gewinn zu erzielen.“ (ebd., S. 5) Konkret: „Wenn nun ein in geeigneter Lage befindlicher neutraler Staat seine bedingte Bereitschaft zu einer einseitigen vollständigen Abrüstung zum Ausdruck bringt, so macht er sich dadurch automatisch zum Testobjekt für die Vertrauenswürdigkeit von Nichtangriffsgarantien. Würde irgendein Nachbar einen Angriff auf das wehrlose Land unternehmen, so würde die Möglichkeit zu einer allgemeinen Abrüstung auf Jahrzehnte hinaus hoffnungslos begraben sein.“ (ebd.) Daher sei der Schutz des unbewaffneten Staates im Interesse aller anderen Staaten.

In seiner Denkschrift untersuchte und verglich Thirring die Position verschiedener neutraler Staaten und kam zu dem Schluss, dass in Österreich am ehesten die Bedingungen für einen Testlauf zur Abrüstung gegeben seien. Das Land sei ausschließlich von Staaten umgeben, die keinerlei Gebietsansprüche gegenüber Österreich stellten, und es habe ohnehin ein nur schwaches Heer und nicht die ökonomische Kapazität, dieses substantiell zu vergrößern. Er präzisierte, wohl etwas zu optimistisch, dass der früher vorherrschende „kollektive Aggressionswillen“ im Atomzeitalter der „Abscheu vor einem neuen Krieg“ und der Furcht vor der totalen Vernichtung gewichen sei. Diese Wahrnehmung bezog sich auf den Ost-West-Konflikt, während Thirring den Nord-Süd-Konflikten (gerade angesichts der Zeit der Entkolonialisierung) offenbar keine Beachtung schenkte.

Zugleich sah er doch die Möglichkeit, durch die Abrüstung mit den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang engere Kontakte zu knüpfen: „Das Entscheidende an der Wirkung einer österreichischen Abrüstung wird darin bestehen, daß die Verbundenheitsgefühle aus der Zeit der alten Monarchie durch den gemeinsamen Horror vor einem Atomkrieg und das vitale Interesse an einer Entspannung wieder neues Leben gewinnen können.“ (ebd., S. 18)

„Darum wird meiner Überzeugung nach Österreich im abgerüsteten Zustand inmitten von wohlgesinnten und auf friedliche Koexistenz bedachten Nachbarn – und dazu als scharf beobachtetes Testobjekt des vordringlichsten Belanges der ganzen Welt – bedeutend sicherer leben als im bisherigen Zustand.“ (ebd.)

Über die Tragweite seines Plans war sich Thirring völlig klar: „Österreich könnte als erster neutraler Staat den fatalen Teufelskreis von gegenseitigem Mißtrauen, Drohung und Furcht brechen und damit als Keimzelle für die allgemeine Abrüstung den Kern einer Gruppe von Staaten bilden, die ihre Verpflichtung gegenüber den Vereinten Nationen, auf Waffengewalt zu verzichten, nicht mehr mit der Ausrede verletzen können, man sei von der Gegenseite bedroht“ (zitiert nach Der Antimilitarist Nr. 35/1964, S. 2).

Widerstand gegen den Thirring-Plan

Thirring schlug vor, den Plan von einer Kommission aus Fachleuten ernsthaft prüfen zu lassen. Dazu kam es allerdings nicht. Denn sein Plan wurde von der österreichischen Regierung eindeutig abgelehnt. Seine eigene Partei, die Sozialisten, damals in großer Koalition mit der konservativen Volkspartei regierend, betonten stattdessen ihr Bekenntnis zur bewaffneten Neutralität. Aus dem Ausland gab es allerdings teilweise begeisterte Zustimmung, etwa durch Philip Noel-Baker, den ehemaligen Leichtathleten und Mitglied des britischen Parlaments, Friedensnobelpreisträger von 1959. In seinem Schreiben ging er noch weiter als Thirring selbst: „Ich stimme vollkommen deinem Argument bezüglich der nationalen Verteidigung von Österreich, der Schweiz, Schweden, Irland, Finnland zu. Ich bin sicher, dass sie deinen Plan ruhig umsetzen könnten, mit einem großen Gewinn für sie selbst.“ (Brief vom 25. August 1963 an Hans Thirring1) Etwa zeitgleich legte auch Ernst Schönholzer einen Aufruf zur totalen Abrüstung der Schweiz vor, der allerdings eher ein allgemeiner Appell als ein konkreter Plan war. Trotz der Ablehnung des Thirring-Plans hatte er innenpolitisch positive Auswirkungen und gab den Kräften Aufschwung, die die Wehrdienstzeit in Österreich verkürzen wollten. Zur internationalen Wirkung meinen Thirrings Biographinnen: „Der Thirring-Plan mit dem Testfall Österreich war zweifellos zu seiner Zeit noch zu weitgehend. Aber mit den Gedanken und Vorschlägen Thirrings für atomwaffenfreie Zonen ist eine Politik der Abrüstung ins Rollen gekommen […].“ (Zimmel und Kerber 1992, S. 122)

Und heute?

Mit seinem kühnen Plan hat sich Hans Thirring dem generellen politischen Klima der 1960er Jahre in Österreich entgegengestellt, und daran ist er wohl in erster Linie gescheitert. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig sich diesbezüglich bis heute geändert hat. Thirring sprach nämlich von „einer durch die Pressehetze ohnehin schon zu Haßgefühlen aufgestachelten Bevölkerung“ und stellte fest, „daß in der Volksmeinung bis in hochgebildete Kreise hinauf im Osten wie im Westen gewisse stereotype Ansichten über die Weltlage entstehen, die man als das ,weiße Märchen‘ bzw. ,rote Märchen‘ bezeichnen könnte.“ (Thirring 1962, S. 438) Damit meinte er die Feindbilder kommunistische Sowjetunion bzw. amerikanischer Imperialismus. Und er setzte fort: „Beiden Märchen ist das magische Denken mit der Vorstellung von Engeln und Teufeln gemeinsam: Während die eigene Seite über allen Zweifel erhaben engelsrein sei, könne man dem Gegner jede Tücke zutrauen, gegen die man mit entsprechend überlegener Stärke gerüstet sein muß.“ (ebd.) So müssen wir leider feststellen, dass hier eine große Gelegenheit aus Kleinmut, Konservatismus und dem Vorherrschen militaristischer Denktraditionen versäumt wurde.

Da drängen sich Analogien angesichts der allgemeinen Kriegshysterie seit Beginn des russisch-ukrainischen Krieges auf. Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Konflikts nach 2014 sind aus ähnlichen Gründen gescheitert. Und seit der Krieg im Frühjahr 2022 mit dem russischen Angriff offen ausgebrochen ist, wurde auch schon manche Möglichkeit, ihn zu stoppen, außer Acht gelassen.

Es ist es doch bezeichnend, dass etwa der Aufruf des Friedensnobelpreisträgers Oscar Arias aus Costa Rica und des Präsidenten des Global Security Institute, Jonathan Granoff, vom Sommer 2022 keine Chance auf eine ernsthafte Diskussion bekam. Arias, Ex-Präsident Costa Ricas, eines Staats, der tatsächlich ohne Armee ist, also sozusagen den Thirring-Plan verwirklicht hat, schlug vor, dass die NATO Russland mit einer einseitigen Vorleistung zu Friedensverhandlungen motivieren sollte: „Um beide Seiten wieder in den Dialog miteinander zu bringen, bedarf es einer dramatischen Geste. Deshalb schlagen wir vor, dass die Nato den Abzug aller US-Atomsprengköpfe aus Europa und der Türkei plant und vorbereitet, ehe es zu Verhandlungen kommt. Der Abzug würde erfolgen, sobald Friedensbedingungen zwischen der Ukraine und Russland vereinbart worden sind. Dies würde Putins Aufmerksamkeit erregen und könnte ihn an den Verhandlungstisch bringen.“ (Arias und Granoff 2022, o.S.)

Was wir heute umso dringender brauchen, ist ein visionäres Denken im Geiste Thirrings, um aus den gegenwärtigen verheerenden und weltpolitisch äußerst bedrohlichen Kriegen herauszufinden. Dabei sollte man die ermutigenden Worte bedenken, die damals ein vorsichtiger Befürworter Thirrings geäußert hat:

„Man darf auch nicht übersehen, daß Utopien von heute schon morgen oder vielleicht auch erst übermorgen zur Realität werden können. Zweifellos waren die Forderungen, welche die Arbeiterbewegung vor einem Jahrhundert in Deutschland und in Österreich erhob, Utopien, die deshalb belächelt wurden. Viele dieser visionären Wünsche sind längst erfüllt. Realisiert wurden auch Maßnahmen, die vor hundert Jahren nicht einmal die größten Utopisten dachten oder sagten. Man sollte also den Wert von Ideen, die uns heute utopisch vorkommen, nicht unterschätzen.“ (Schranz 1964, S. 175f.)

Anmerkung

1) Österreichische Zentralbibliothek für Physik, Wien: Nachlass Hans Thirring. B 35-1259/2. URL: phaidra.univie.ac.at/o:129250.

Literatur

Arias, O; Granoff, J. (2022): Nuclear strategy and ending the war in Ukraine. The Hill, 19.7.2022.

Schranz, E. (1964): Abrüstung in Österreich? Internationale Rundschau 3, S. 175-176.

Thirring, H. (1960): Der Mensch im 20. Jahrhundert. Friede. Zeitschrift des deutschen Versöhnungsbundes, Nr. 11/12, S. 2-7.

Thirring, H. (1962): Ein Physiker interviewt Staatsmänner. Physikalische Blätter 18 (9), S. 431-439.

Thirring, H. (1963): Mehr Sicherheit ohne Waffen. Denkschrift an das österreichische Volk und seine gewählten Vertreter. Wien: Jugend und Volk.

Zimmel, B.; Kerber, G. (Hrsg.) (1992): Hans Thirring. Ein Leben für Physik und Frieden. Wien: Böhlau.

Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i.R. der Alpen-Adria Universität Klagenfurt (AAU), Österreich, ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der AAU.

Dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet

Dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet

Vergangenheit und Zukunft »Antarktischer Koopetition«

von Patrick Flamm

Die Antarktis wird oft als das friedliche Gegenstück zu einer konfliktträchtigen Weltpolitik und als Vorbild für internationale Kooperation angeführt. Dabei handelt es sich aber um ein oberflächliches Zerrbild. Der Erfolg des antarktischen Multilateralismus beruht vielmehr auf einer Verschränkung von kooperativen und kompetitiven Elementen. Um Herausforderungen für die politische Ordnung am Südpol, wie Krieg, strategischer Wettbewerb und Klimakrise, angemessen begegnen zu können, ist eine nüchterne Rückbesinnung auf diese »Antarktische Koopetition« notwendig.

Als der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, Ende November 2023 die Antarktis besuchte, zeigte er sich ermutigt davon, „wie die Menschen, die in der und für die Antarktis arbeiten, sich von Kooperation und nicht von Konkurrenz leiten lassen“.1 Jener Geist der Kooperation sei auch bei der Klimakonferenz COP28 in Abu Dhabi vonnöten, so Guterres weiter. Diese kurze Anekdote beschreibt das vorherrschende Bild von der Antarktis als einem Vorbild und positivem Gegenbeispiel zur gegenwärtigen konkurrenz- und konfliktträchtigen Weltpolitik: Antarktische Politik ist friedlich und demilitarisiert, konsensorientiert, sowie lediglich wissenschaftlichem Interesse und dem Umweltschutz verpflichtet. Auch wenn diese Errungenschaften des »dem Frieden und der Wissenschaft gewidmete[n] Naturreservat[s]« (Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag, Artikel 2) nicht falsch sind, so handelt es sich hier doch um eine einseitige Darstellung und letztlich um ein Zerrbild.

Nicht Kooperation statt Konkurrenz – oder Internationalismus statt Nationalismus – führte dazu, dass das Antarktische Vertragssystem (AVS) häufig als erfolgreichstes multilaterales Forum angesehen wird, sondern eine typisch antarktische Verschränkung von Kooperations- und Konkurrenzhandeln, welches man als Koopetition beschreiben könnte: Kooperation zum Zweck der Konkurrenz (Flamm 2023, zum Begriff der Koopetition später mehr). Aufgrund der ernstzunehmenden Herausforderungen für das Antarktische Vertragssystem, allen voran die drastisch voranschreitende Klimakrise sowie zunehmende Spannungen im internationalen System, täten wir entsprechend gut daran, die Nuancen des antarktischen Erfolges herauszuarbeiten, anstatt die Errungenschaften auf dem südlichen Kontinent zu verklären und auf eine reine Projektionsfläche zu reduzieren.

Im Folgenden wird die spezifische Verschränkung von internationalistischen Kooperations- und nationalistischen Konkurrenzelementen, welche das Antarktische Vertragssystem historisch auszeichnen, erläutert. Anschließend werden vor dem Hintergrund der wachsenden Herausforderungen für das gegenwärtige Governance-Gefüge Möglichkeiten diskutiert, wie eine Rückbesinnung auf die antarktische Koopetitionsformel tatsächlich auch als zukunftsträchtiges Vorbild für friedliche Weltpolitik dienen kann.

Kooperation, Konkurrenz und Exzeptionalismus

Der Antarktisvertrag war 1959 in Wash­ington, D.C., ausgehandelt worden und trat 1961 in Kraft. Derzeit gibt es insgesamt 56 Unterzeichnerstaaten, von denen sich allerdings nur 29 Länder durch ihre Polarforschungsprogramme auch als Konsultativparteien mit Stimmrecht auf den jährlichen Antarktistagungen qualifiziert haben. Zusammen mit späteren Abkommen, wie zum Beispiel dem »Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis« (CCAMLR) von 1980 und dem »Umweltschutzprotokoll« von 1991, bildet der Antarktisvertrag eines der erfolgreichsten multilateralen Abkommen.

Das Regelwerk des Antarktischen Vertragssystem erhält die Antarktis seit mehr als 60 Jahren erfolgreich als einen dem Frieden und der Wissenschaft gewidmeten Kontinent. Bergbau ist dort verboten und es gelten strenge Umweltschutzbestimmungen für die einzige legitime Aktivität, die wissenschaftliche Forschung. Die extremen Umweltbedingungen sowie die relative geographische Isolation des Kontinents förderten diese Sonderrolle der Antarktis. Durch die Entmilitarisierung und die Erklärung der Antarktis zur ersten atomwaffenfreien Zone der Welt sorgte der Antarktisvertrag aber auch dafür, dass die menschenleere südliche Polarregion von Atomwaffentests verschont blieb. In der Antarktis sind zudem alle bestehenden territorialen Gebietsansprüche per Artikel IV des Antarktisvertrages »eingefroren«, was bedeutet, dass die historischen Ansprüche von Argentinien, Australien, Chile, Frankreich, Neuseeland, Norwegen, sowie des Vereinigten Königreichs völkerrechtlich nicht anerkannt, aber auch nicht verworfen wurden. Für die Polarforschung in der Antarktis haben Souveränitätsfragen entsprechend kaum praktische Relevanz, allerdings können diese sieben Staaten in ihren nationalen Kontexten weiterhin ihre territorialen Ansprüche pflegen. Dies geschieht oft in der Form eines banalen Nationalismus (Dodds 2017), zum Beispiel durch das Veröffentlichen spezifischer Karten, der Herausgabe von Briefmarken oder in täglichen Wetterberichten.

In der Abwesenheit nationaler Souveränität werden alle für die Antarktis geltenden Regeln und Entscheidungen von den Konsultativparteien per Konsens auf jährlichen Antarktiskonferenzen gefällt. Durch diese Konsensorientierung und den Fokus auf wissenschaftliche Zusammenarbeit vermochten es die in der Antarktis tätigen Staaten jahrzehntelang, ihre Angelegenheiten friedlich und einvernehmlich zu regeln. Im Rahmen antarktischer Diplomatie werden nur Themen behandelt, die in direktem Zusammenhang mit dem Kontinent stehen – selbst als das Vereinigte Königreich und Argentinien 1982 einen Krieg um die nahen Falklandinseln/Las Malvinas führten, hatte dies keinen Einfluss auf das Antarktische Vertragssystem (vgl. Beck 1986). Der Kriegsausgang hatte ferner keinerlei Auswirkungen auf die überlappenden Gebietsansprüche am Südpol, welche beide Staaten pflegen. Ferner nahm das international isolierte Apartheidregime Südafrikas immer an Antarktistagungen teil, auch wenn es sich dort diplomatisch sehr zurückhielt. Diese gesonderte Reihe von Normen und Praktiken ist als »antarktischer Exzeptionalismus« bekannt geworden.

Gleichzeitig verstanden sich die Konsultativparteien des Antarktisvertrags darauf, die alleinige Autorität über antarktische Belange immer wieder gegenüber anderen internationalen Organisationen und Normen zu behaupten. In den 1980er Jahren kam beispielsweise zunehmend Kritik an dem oft geheimniskrämerischen und wenig repräsentativen Kreis der Konsultativparteien auf, insbesondere da über Möglichkeiten eines regulierten Bergbaus auf dem Kontinent verhandelt wurde. Malaysia stellte in diesem Zusammenhang jährlich im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) die »Antarktis-Frage«: Sollte nicht statt einer kleinen, selbsterwählten Gruppe reicher Polarforschernationen aus dem Globalen Norden eher die VN als Vertretung der gesamten internationalen Gemeinschaft für den südlichen Kontinent verantwortlich sein?

Die Konsultativstaaten reagierten auf diese Legitimitätskritik mit einer Ausweitung der Anzahl anerkannter Konsultativ­parteien, einer zaghaften Öffnung durch die Einladung von Beobachtergruppen, wie zum Beispiel die Umweltorganisation »Antarctic and Southern Ocean Coalition« (ASOC), sowie der Veröffentlichung der Tagungsberichte. Der Legitimitätsdruck von außen führte also dazu, dass sich die Konsultativparteien adaptiv zeigten – es lag im gemeinsamen Interesse zu kooperieren, um weiterhin exklusiv über antarktische Belange bestimmen zu können. So gelang es, innerhalb der Vereinten Nationen glaubhaft zu machen, dass das AVS doch das richtige Format sei, um „im Interesse der ganzen Menschheit […], die Antarktis für alle Zeiten ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen und nicht zum Schauplatz oder Gegenstand internationaler Zwietracht werden zu lassen,“ wie es in der Präambel des Antarktisvertrages heißt. Selbst Malaysia unterzeichnete 2011 schließlich den Vertrag, nachdem es international immer weniger Unterstützung für die Antarktis-Frage innerhalb der VN erhalten hatte.

Kooperieren, um zu konkurrieren

Indem das AVS »die Wissenschaft« zur politischen Währung des Einflusses machte, hat es Wettbewerb und Konkurrenz immer zugelassen, aber eben auf den Bereich der Wissenschaft, Logistik und Infrastruktur beschränkt. Konkurrenzdenken wurde entsprechend nicht überwunden, sondern in weniger politisierte und weniger sicherheitsrelevante Sphären verschoben und kanalisiert. So besteht auch heute noch durchaus eine Konkurrenz darüber, wo welche Forschungsinfrastruktur oder wo Forschungsprojekte angesiedelt und durchgeführt werden. Die Suche nach einem Eisbohrkern mit 1 Million Jahre altem Eis2 etwa kann nicht nur als Versuch gelesen werden, die längste Klimadatenreihe finden zu wollen, sondern auch als status-motiviertes Bemühen um nationalen Ruhm (Hemmings 2020). Gleichzeitig gibt es auch nach über 60 Jahren keine international geplante und geförderte Forschungsstation in der Antarktis, sondern ausschließlich nationale Forschungsstationen (vgl. Hemmings 2011), die oft nicht zuletzt durch Architektur und Namensgebung nationale Symbolik transportieren.

Wie diese Beispiele zeigen, war das historische Rezept für eine friedliche Antarktis von Anfang an eine spezifische Verschränkung von Kooperations- und Konkurrenzelementen, die Koopetition beschreiben: Zusammenarbeit, um zu konkurrieren. In der rauen antarktischen Umwelt ist dies genau das, was Antarktisforschende und Wissenschaftler*innen seit dem Internationalen Geophysikalischen Jahr von 1957-58 am Südpol praktizieren und was sich zu dem oft mythologisierten »antarktischen Geist der Zusammenarbeit« entwickelt hat. Der Begriff Koopetition kommt aus der Wirtschaft: Wenn wirtschaftliche Wettbewerber sich in einem angespannten Markt befinden und über genügend Gemeinsamkeiten in Bezug auf Interessen, Wissen und Fähigkeiten verfügen (Bouncken et al. 2015, S. 585f.), ergibt eine Koopetitionsstrategie häufig Sinn. Koopetition zwischen Wirtschaftsakteuren kann allerdings auch erfolglos verlaufen. Der Schlüssel für eine gelungene Koopetition zwischen Firmen, die in diesem Feld gleichzeitig Freunde und Rivalen sind, liegt im bewussten und aktiven Management dieser entgegengesetzten Logiken. Dabei helfen klare Absprachen in Bezug auf die limitierten Bereiche einer Zusammenarbeit, bei der die Risiken durch Opportunismus, Missverständnisse und Spillover-Effekte mit einer »koopetitiven Mentalität« aufmerksam begleitet werden müssen.

Antarktische Koopetition und die Zukunft

Gegenwärtig steht die antarktische Ordnung vor vielfältigen Herausforderungen wie der Klimakrise, zunehmendem strategischen Wettbewerb sowie neuen Regulierungsherausforderungen, zum Beispiel Tourismus oder Bioprospektion, also der kommerziellen Nutzung biologischer Ressourcen. Dazu kommt, dass antarktische Entscheidungsprozesse in den vergangenen Jahren immer zäher wurden. Der Haftungszusatz zum Umweltprotokoll beispielsweise wurde bei der Antarktistagung 2005 verabschiedet, wartet aber immer noch auf seine Ratifizierung (­Proelss und Steenkamp 2022). Vor diesem Hintergrund wäre ambitionierte Diplomatie von Seiten der Konsultativparteien vonnöten, welche durch den verstärkten strategischen Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China zunehmend erschwert wird.

Bei den letzten Antarktistagungen in Berlin 2022 und Helsinki 2023 wurde es schon als Erfolg gesehen, dass die Treffen überhaupt stattfanden, angesichts dessen, dass ein Konsultativstaat gegen einen anderen einen andauernden Angriffskrieg führt. In Berlin wurde der russische Delegierte für seine Verteidigung des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine deutlich kritisiert und isoliert: zahlreiche Delegierte verließen bei seiner Rede den Raum. Der ukrainische Vertreter betonte dahingehend die langfristigen Schäden für das ukrainische Antarktisprogramm. Gleichzeitig waren die Konsultativparteien 2022 zum Beispiel nicht fähig, China zu überzeugen, dass der Kaiserpinguin einen erhöhten Schutzstatus erhalten sollte (Walters 2022). Vor diesem Hintergrund verstellt die dominante Erzählung von der Antarktis als einer kooperativen Erfolgsgeschichte sowie vom mythischen Geist der dortigen Kooperation, den auch Guterres beschwört, den Blick dafür, dass hier keine Automatismen am Werk sind, sondern eben dynamische koopetitive politische Strukturen zwischen Akteuren, die Rivalen und Partner gleichzeitig sind, was mehr Aufmerksamkeit und aktiveres Management beider Logiken erfordert.

Ein koopetitiver Ansatz, der diesen Problemen begegnen möchte, wäre zunächst einmal die Strategie, in den allgemeinen diplomatischen Beziehungen kooperative Beziehungen in den Räumen zu stärken, in denen sie bereits etabliert sind, wie eben der Antarktis. So ließe sich strategischer Wettbewerb potenziell auf andere Teile des Planeten beschränken und gleichzeitig die geteilten Interessen, wie die fortgesetzte friedliche wissenschaftliche Erforschung der Antarktis sowie Umweltschutz für den Kontinent, ermöglichen. Gerade in Zeiten, in denen globale Forschungskooperation wichtiger denn je ist, die internationale Forschungslandschaft aber politisch zu zersplittern droht (Nature 2023), insbesondere auch in arktischer Polarforschung, lägen in der Antarktis große Chancen für aktive Wissenschaftsdiplomatie.

Antarktische Diplomatie, welche den genannten Herausforderungen mit einer koopetitiven Mentalität begegnet, würde bewusst eine Grenze ziehen zwischen einem außergewöhnlichen Raum, der Antarktis, und dem Rest des internationalen Systems mit jeweils unterschiedlichen Normen für akzeptables und angemessenes Verhalten. Souveräne Gleichheit als Vertragspartner und die Normen der VN-Charta wären dabei allerdings eine rote Linie für diese wiederbelebte Form des antarktischen Exzeptionalismus, wie in Berlin im Jahr 2022 gezeigt: die Verteidigung dieser Grundlinie für die Vertragspartnerschaft sollte nicht als unangemessene »Politisierung«, sondern als Bekräftigung der Grundlagen des AVS angesehen werden.

Neben dem Spillover-Effekt externer Konflikte in die Antarktis besteht die größte Gefahr für den antarktischen Exzeptionalismus in der Klimakrise: Die antarktische Umwelt lässt sich im Zuge der globalen Erwärmung nicht in der Antarktis selbst, sondern nur durch ambitionierte Klimapolitik in den Hauptstädten der Konsultativparteien schützen. Antarktischer und globaler Umweltschutz lassen sich entsprechend immer schwerer trennen, was auf Dauer die exklusive Autorität antarktischer Konsultativparteien infrage stellen dürfte. Weiter stellt sich die Frage, ob zum Beispiel pazifische Inselstaaten, die selbst keine Polarforschung betreiben, aber vom Abschmelzen antarktischer Eismassen existenziell bedroht sind, weiterhin vom Status als Konsultativparteien mit Mitspracherecht ausgeschlossen bleiben sollten (Roberts 2022).

Die Klimakrise bietet aber auch Anlass, neue gemeinsame Interessensgebiete in der Antarktis selbst auszuloten, um die antarktische Diplomatie durch neue kooperative Initiativen wiederzubeleben. Beispielsweise könnten die Konsultativparteien beschließen, das Bergbauverbot dadurch zu stärken, dass sie sich auf ein dauerhaftes Kohlenwasserstoff-Schürfverbot in der Antarktis selbstverpflichten (Flamm und Hemmings 2022). Eine weitere Möglichkeit läge darin, zukünftige Infrastrukturprojekte möglichst international zu realisieren. Die letztlich verworfenen australischen Planungen für den Neubau eines Flugplatzes in der Ostantarktis wären unter Umständen weniger kontrovers diskutiert worden, hätte sich die australische Regierung weniger von ihrem Gebietsanspruch und der Bedrohungswahrnehmung durch die Volksrepublik China (Buchanan 2021), und mehr vom Potential einer internationalen Kollaboration zusammen mit den dort tätigen chinesischen und indischen Polarprogrammen leiten lassen. Schließlich ermöglichen die aufkommenden Debatten um Klimageoengineering in der Antarktis neue regulative Handlungsfelder, entweder um unterschiedliche Ideen zu testen oder präventiv zu verbieten. Hier sind insbesondere die Ideen, kritische Gletschersysteme künstlich zu stabilisieren, das Südpolarmeer in seiner Funktion als Kohlenstoffsenke künstlich zu stärken oder lokales Strahlungsmanagement (»Solar Radiation Management«) zu betreiben, zu nennen.3

Auf diese koopetitive Weise könnte die Antarktis als besonderer politischer Raum, der dem Frieden, der Wissenschaft und dem Umweltschutz verschrieben ist, erhalten werden sowie die Rolle des Kontinents als Modell für internationale Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert neu erfunden werden.

Anmerkungen

1) Tweet von VN Generalsekretär António Guterres, 26. November 2023, online: twitter.com/antonioguterres/status/1728560650790588728

2) Hier wird dieses Ziel vom »Australian Antarctic Program« dargestellt: antarctica.gov.au/science/climate-processes-and-change/antarctic-palaeoclimate/million-year-ice-core/

3) Für eine Übersicht und Einordnung dieser Geoengineering-Maßnahmen in den Polarregionen, siehe Alfthan et al. (2023).

Literatur:

Alfthan, B.; van Wijngaarden, A.; Moore, J.; Kullerud, L.; Kurvits, T.; Mulelid, O.; Husabø, E. (2023): Frozen Arctic: Horizon scan of interventions to slow down, halt, and reverse the effects of climate change in the Arctic and northern regions. A UArctic Rapid Response Assessment. UArctic, GRID-Arendal, and Arctic Centre/University of Lapland. URL: grida.no/publications/1002.

Beck, P.J. (1986): The international politics of Antarctica. London: Croom Helm.

Bouncken, R.B.; Gast, J.; Kraus, S. et al. (2015): Coopetition: a systematic review, synthesis, and future research directions. Review of Managerial Science 9, S. 577-601.

Buchanan, E. (2021): Australia’s scrapping of Antarctic aerodrome could pave the runway for China. ASPI The Strategist Blog, 30.11.2021.

Dodds, K. (2017): ‘Awkward Antarctic nationalism’: bodies, ice cores and gateways in and beyond Australian Antarctic Territory/East Antarctica. Polar Record 53(1), S. 16-30.

Flamm, P. (2023): Is Antarctica still exceptional? The case for “co-opetition” at the South Pole. PRIF Spotlight 5/2023, Frankfurt: Peace Research Institute Frankfurt.

Flamm, P:, Hemmings; A.D. (2022): Now and never: Banning hydrocarbon extraction in Antarctica forever. GIGA Focus Global 1/2022, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA).

Hemmings, A.D. (2011): Why did we get an International Space Station before an International Antarctic Station? The Polar Journal 1(1), S. 5-16.

Hemmings, A.D. (2020): Subglacial Nationalisms. In: Leane, E.; McGee, J. (Hrsg.): Anthropocene Antarctica: Perspectives from the Humanities, Law and Social Sciences. London: Routledge, S. 33-55.

Nature (2023): Global science is splintering into two — and this is becoming a problem. 623(888), URL: nature.com/articles/d41586-023-03711-1.

Proelss, A.; Steenkamp, R.C. (2023): Liability Annex to the Protocol on Environmental Protection to the Antarctic Treaty. In: Gailhofer, P., Krebs, D., Proelss, A., Schmalenbach, K., Verheyen, R. (Hrsg.): Corporate liability for transboundary environmental harm. Springer, Cham, S. 577-601.

Roberts, P. (2023): Does the science criterion rest on thin ice? The Geographical Journal 189, S. 18-24.

Walters, T. (2022): No more Mr Ice Guy – China accused of striking down penguin protections at Antarctic meeting. The Daily Maverick, 03.06.2022.

Dr. Patrick Flamm ist Senior Researcher im Programmbereich »Internationale Sicherheit« am Peace Research Institute Frankfurt – Leibniz Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Zuvor lehrte er Internationale Beziehungen und Umweltpolitik an der Te Herenga Waka – Victoria University of Wellington in Neuseeland. Er forscht zu Fragen von Umwelt, Frieden und Sicherheit im Zeitalter des »Anthropozän« mit einem besonderen Fokus auf den Polarregionen.

Die Themengruppe Polar- und Meerespolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) versteht sich als Plattform für politikwissenschaftliche Forschung zu Wandlungsprozessen in den Polar- und Meeresregionen. Über einen Newsletter (ca. 9 Ausgaben im Jahr), Online-Kolloquien, eine Jahrestagung, koordinierte Konferenz- und Publikationsbeiträge wird den Forschenden ein Raum für Austausch geboten. Als institutionalisiertes Forum will die Themengruppe sich langfristig als Ansprechpartner oder Vermittlungsstelle für politikwissenschaftliche Forschung und Expertise etablieren und sich an der Ausarbeitung entsprechender Forschungsprogramme beteiligen. Eine ausführlichere Vorstellung findet sich unter dvpw.de/gliederung/themengruppen/polar-und-meerespolitik/ueber-uns. Der Newsletter kann über eine formlose Mail an polarmar@dvpw.de abonniert werden. Dort werden auch gerne Fragen zur Arbeit der Themengruppe beantwortet.

In der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung wird gegenwärtig die Gründung eines »Arbeitskreis Polarpolitik« vorbereitet. Die zunehmende politische Bedeutung von Arktis und Antarktis und politischer Handlungsdruck bezüglich ihres Schutzes, ihrer friedlichen Nutzung und rechtlichen Konstituierung haben auch im deutschsprachigen Raum dazu geführt, dass das Interesse an wissenschaftlicher Befassung mit politischen Prozessen, Strukturen und Inhalten der Polarpolitik deutlich gestiegen ist. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, hat die »Deutsche Gesellschaft für Polarforschung« beschlossen, einen neuen Arbeitskreis zu etablieren, der sich Forschung zu politischen Themen in den Polarregionen widmet. Bei Interesse an einer Mitarbeit oder für weitere Informationen kann mit Volker Rachold vom »Deutschen Arktisbüro« Kontakt aufgenommen werden (volker.rachold@arctic-office.de).

Das „Patriarchat abbauen“

Das „Patriarchat abbauen“

Eine Reflexion über die »Neue Agenda für den Frieden«

von Liliane Nkunzimana

Anlässlich des 75. Jahrestags der Vereinten Nationen im Jahr 2020 forderten die Mitgliedstaaten vom Generalsekretär einen Bericht an, der aktuelle und künftige Bedürfnisse adressieren sollte. Als Antwort enthielt der Bericht »Our Common Agenda« fast 100 Empfehlungen (und 11 Kurzdossiers), die auf die Anliegen der Mitgliedstaaten eingingen. In einem der elf Kurzdossiers wird eine »Neue Agenda für den Frieden« gefordert, in der der Generalsekretär feststellt: „Wir müssen das Patriarchat und unterdrückende Machtstrukturen abschaffen…“.

Diese Aufforderung des Generalsekretärs stand nun schon im Mittelpunkt einer Reihe von Überlegungen, da das Strategiepapier nicht sehr detailliert darauf eingeht, was mit »Abbau des Patriarchats« gemeint ist. Es hat denjenigen, die mit dem UN-System zu tun haben, die Möglichkeit eröffnet, Analysen anzubieten. Einige Diskussionen der letzten Monate bei den Vereinten Nationen haben sich mit der Frage beschäftigt, wie wir das Patriarchat definieren und wie wir achtsame und notwendige Diskussionen führen können, die jedes Mitglied der Gesellschaft dazu ermutigen, auszudrücken, wie sich das Patriarchat als unterdrückende Machtstruktur negativ auf Männer und Frauen auswirkt.

Der Aufruf des Generalsekretärs, das Patriarchat zu überwinden, ist eine Anerkennung der gewaltigen Anstrengungen, die notwendig sein werden, um Denk-, Lebens- und Handlungsweisen zu überwinden, die auf Kontrolle und Privilegien beruhen und das Vertrauen untergraben haben – auch in die Fähigkeit des multilateralen Systems, angemessen auf die Bedürfnisse aller Menschen auf der Welt zu reagieren. Keine Gesellschaft kann als Vorbild für die Gleichstellung der Geschlechter gelten; wir leben noch nicht in einer Welt, in der Eingenschaften wie gegenseitiger Respekt, Kooperation, Zusammenarbeit, Fürsorge, Sorge um die Zukunft und Mitgefühl im Zentrum des Diskurses über die Verbesserung der Beziehungen untereinander und mit dem Planeten stehen. Diese Werte werden durch den Ruf des Generalsekretärs nach Vertrauen, Solidarität und Universalität in der »Neuen Agenda für den Frieden« ergänzt.

Obwohl das Wort »Patriarchat« selbst umstritten ist, charakterisieren Normen der Dominanz sowie besitzergreifende und ausgrenzende Formen der Macht, die herkömmlich damit verbunden sind, weiterhin zahlreiche Gesellschaften. Männlichkeit und Männer werden weiterhin als wertvoller angesehen als Weiblichkeit und Frauen, was ersteren Privilegien einräumt, die letzteren verwehrt bleiben. Diese Machtasymmetrie drückt sich häufig im Agenda Setting, bei der Entscheidungsfindung, der Versammlungsleitung und -einberufung und sogar in versteckten Formen von Einflussstrukturen aus, die die Beziehungen zwischen Institutionen und dem Einzelnen regulieren.

Wenn diejenigen Werte in den Mittelpunkt rücken, die in der »Neuen Agenda für den Frieden« verankert sind, trägt dies von sich aus zum Ziel bei, das Patriarchat und Formen der Hierarchie zu überwinden, die einer Minderheit von Völkern, Nationen und Regionen das selbstgegebene Privileg einräumen, folgenreiche Entscheidungen für die Mehrheit treffen zu können. Die Zentrierung solcher Werte könnte eine stärkere Regionalisierung und Lokalisierung von peacebuilding, Friedenssicherung und friedenserzwingenden Maßnahmen ermöglichen und die Bedenken bestimmter Staatenblöcke verringern, was die Finanzierung regionaler Friedensbemühungen angeht. Dies würde den Weg für ein größeres Maß an Vertrauen durch verstärkte Zusammenarbeit ebnen und regionale Blöcke in die Lage versetzen, besser abgestimmte Beiträge zu internationalen Agenda-Setting-Vorhaben zu leisten.

Da der »Zukunftsgipfel« (eine weitere der oben genannten Empfehlungen) nur noch sieben Monate entfernt ist, verhandeln die Mitgliedstaaten derzeit über einen ersten Entwurf des »Pakts für die Zukunft«, dem Ergebnisdokument dieses Gipfels. Es ist anzumerken, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Wahrung der Menschenrechte in dem Dokument gemainstreamed werden und nicht als separate Kapitel behandelt werden.

Aufgrund der globalen Rahmenbedingungen müssen wir heute einen konzeptionellen Rahmen entwickeln, der unsere höchsten Bestrebungen besser widerspiegelt. Wenn wir die obigen Werte bei der Analyse, Planung, Beratung, Politikgestaltung und im Handeln fokussieren, könnten die normativen Fragen im Zusammenhang mit der Verteilung von Macht und finanziellen Ressourcen, den Ursachen von Kriegen und gewaltsamen Konflikten und den Voraussetzungen, die für die Schaffung und Aufrechterhaltung friedlicher Gesellschaften erforderlich sind, sehr wohl neugestaltet werden. Wir können uns dann auf die Verwirklichung des Friedensversprechens zubewegen, das den internationalen Bestrebungen zugrunde liegt. Wir können beginnen ein ganzheitlicheres Friedenskonzept zu formulieren, das nicht nur auf der Ausrottung des Krieges fußt, sondern auf dem Aufbau einer in ihrer Vielfalt geeinten Welt, die in Harmonie mit der Natur lebt und kontinuierliches Lernen fördert, in der die Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen verwirklicht wird – und das Patriarchat abgebaut ist.

Liliane Nkunzimana ist die Vertreterin der Internationalen Gemeinschaft der Baha‘i bei den Vereinten Nationen.

Zivilgesellschaft und die UNO

Zivilgesellschaft und die UNO

Kritik, Verankerung, Zukunftsperspektiven

von Susanne Schmelter

Seit über 75 Jahren bietet das UN-System ein Forum zur multilateralen Konfliktregelung und hat wichtige Erfolge erzielt: etwa bei Abkommen zur Rüstungsbeschränkung, Einsätzen zur Friedenssicherung und Nothilfe. Druck aus der Zivilgesellschaft, von NGOs und durch Proteste, spielte dabei des Öfteren eine entscheidende Rolle. Trotz Erfolgen ist die Frustration über die UN und ihre Versäumnisse, internationale Kooperation und gewaltfreie Konfliktaustragung zu ermöglichen, gewachsen. Welche Möglichkeiten und Hindernisse gibt es für zivilgesellschaftliches Engagement, die Foren des multilateralen Dialogs mit Leben zu füllen?

Zeitgleich zum 40-Jahres-Symposium von W&F am 6./7. Oktober 2023 in Bonn eskalierte die Gewalt in Israel-Palästina in einen neuen Krieg. Die Anschläge und das Massaker der Hamas und die darauf folgende kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung Gazas durch das israelische Militär sorgen seitdem täglich für Entsetzen. Die UNO befasste sich in ihrer Geschichte mit keinem Konflikt so häufig und intensiv wie mit dem israelisch-palästinensischen, doch gescheiterte Friedensverhandlungen, miss­achtete Resolutionen und permanente Völkerrechtsverstöße haben insbesondere unter der betroffenen Zivilbevölkerung zu massiven Enttäuschungen geführt. Heute wird in der öffentlichen Entrüstung und den zahlreichen Stellungnahmen kaum noch an die UNO appelliert. Dabei hätten die UN-Institutionen durchaus die Möglichkeit, Friedenspläne zu oktroyieren und Völkerrechtsbruch zu sanktionieren, doch bleiben sie oft weit hinter ihren Möglichkeiten und eigentlichen Zielen zurück. Es greift allerdings zu kurz, die UNO als solche für dieses Scheitern zu kritisieren, denn es sind die derzeit 193 Mitgliedsstaaten, die der UNO ihre Bedeutung und Durchsetzungskraft verleihen.

Zivilgesellschaft und ihre Vertretung in den UN-Institutionen

Im Bereich von internationaler Kooperation und Konfliktbearbeitung wird neben staatlichen Akteuren oft »die Zivilgesellschaft« adressiert. Allerdings ist oft nicht eindeutig, wer oder was damit gemeint ist. Andreas Zumach verwies (beim Panel »Zivilgesellschaft und die UN« auf dem W&F Symposium in Bonn) darauf, dass es den Begriff »Zivilgesellschaft« vor Ende des Kalten Krieges praktisch nicht gab. Bis dahin handelte es sich eher um „thematische Druckbewegungen wie etwa die Frauenbewegung, Umweltbewegung, Anti-Atomkraftbewegung, die Friedensbewegung oder die damals so genannte Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung“. Videoausschnitte zur Erinnerung an die Gründungszeit von W&F (am Vorabend) veranschaulichten dies eindrucksvoll: Bei Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss versammelten sich allein in Bonn rund 150.000 Menschen, bundesweit mehrere hunderttausend Friedensbewegte.

Ab Anfang der 1990er Jahre seien zunehmend neue Begrifflichkeiten wie etwa »Soziale Bewegungen« und schließlich »Zivilgesellschaft« in der Forschung verwendet worden, führte Zumach aus und erinnerte, dass damals mit Zivilgesellschaft vor allem Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch im Menschenrechtsbereich oder große Organisationen wie die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) gemeint waren. Seit 2000 wurde es jedoch schwieriger mit der Begrifflichkeit: Nach drastischen Budgetkürzungen innerhalb der UNO, bei denen zehn Prozent der Stellen ohne Diskussion über Priorisierungen gekürzt wurden, erklärte der damalige Generalsekretär Kofi Annan in Davos, neue »stakeholder« in der Gesellschaft zu brauchen und appellierte damit auch an die Verantwortung multinationaler Konzerne. Der sogenannte »Global Compact« bezog nicht nur klassische Menschenrechtsorganisationen ein, sondern auch Wirtschaftskonzerne, die sich fortan mit neun sehr allgemein gehaltenen Verpflichtungen zu Menschenrechtsfragen als zivilgesellschaftliche Akteure und UN-Partner begreifen durften. Viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kritisierten den Mangel an verbindlichen Standards des »Global Compact«, einige, darunter auch Amnesty International, schlossen sich dem Pakt jedoch auch an.

Institutionalisierte Teilhabe

Der Bereich im UN-System, in dem die Partizipation von NGOs zumindest formal am weitreichendsten geregelt ist, ist der Bereich Menschenrechte. In der Menschenrechtskommission, seit 2006 Menschenrechtsrat, haben NGOs ein formales Teilnahmerecht, Rederecht und auch das Recht, Anträge zu stellen. Abstimmen können sie nicht, das Stimmrecht liegt weiterhin bei den Staaten. Diese Teilhabemöglichkeiten auch in andere Gremien der UN auszuweiten, wäre eine wichtige Komponente, um den Schutz von Menschenrechten noch besser zu gewährleisten: NGOs könnten so verstärkt für die Rechte der zivilen Bevölkerung eintreten – gerade wenn die Staaten diese Pflichten nicht ausreichend wahrnehmen oder wenn multinationale Wirtschaftsunternehmen Menschenrechtsstandards untergraben. Allerdings versuchen immer mehr Staaten (z.B. China, Pakistan, Saudi-Arabien) in Reaktion auf die Erfolge und Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Partizipationsrechte und Einflussmöglichkeiten von NGOs bei multilateralen Verhandlungen innerhalb und außerhalb des UN-Systems einzuschränken.

Erfolge für die Zivilgesellschaft

Auch wenn es diskussionswürdig ist, welche Gruppen sich unter dem Label der »Zivilgesellschaft« bei UN-Foren präsentieren und akkreditieren, lässt sich festhalten, dass die wichtigsten internationalen Abkommen seit Ende des Kalten Krieges nur durch starkes Engagement globaler Koalitionen von NGOs innerhalb wie außerhalb der UNO zustande kamen.

Einige Erfolge zivilgesellschaftlichen Drucks aus den vergangenen Jahren:

  • Der völkerrechtlich verbindliche Vertrag über das Verbot von Atomwaffen von 2017, der 2021 ratifiziert wurde, darf als größter Erfolg der Friedensbewegung angesehen werden.
  • Eine breite internationale Koalition von über 1.000 NGOs setzte sich für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ein, der 1998 eingerichtet und 2003 ratifiziert wurde.
  • Das Kyoto-Rahmenabkommen (1997) und die Klimaverträge von Paris (2016).
  • Das bilaterale Abkommen zwischen der Sowjetunion und USA zur Abrüstung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag), 1987 unterzeichnet, 1998 ratifiziert.
  • Die Abkommen zur Ächtung von Anti-Personenminen (1997) und von Streumunition (2008) kamen auf Druck einer internationalen Koalition von NGOs außerhalb der UNO zustande und haben seitdem 122 Unterzeichnerstaaten gewonnen.

Aktionsformen und -formate

Während der Unterhalt von Organisationen oft aufwendig sei (Zeit, Geld, Energie, Reisen), wirke der Druck »daheim«, also auf die Vertreter der eigenen Regierung, oft am effektivsten, fasste Zumach zusammen. Die Diplomaten und gewählten Vertreter würden so in ihrem Abstimmungsverhalten durch die Stimmung in der Bevölkerung beeinflusst.

Aktionen, die von großen NGOs direkt an den Orten multilateraler Verhandlungen an die UN-Gremien gerichtet werden, hätten da oft weniger Auswirkungen. Doch es gäbe auch beachtliche Beispiele für NGO-Engagement am Ort der Verhandlungen: Zumach führte hier die Verhandlungen zum Giftmüllabkommen an. Greenpeace habe damals kurz vor Verhandlungsbeginn in einer sehr medienwirksamen Aktion Behälter von Giftmüll direkt vor den Konferenzort gebracht (»Toxic Trade Campaign«). Das habe die Diplomaten derart beeindruckt, dass schließlich – und nach mehreren Sondersitzungen der europäischen Staaten – eine Mehrheit für das Verbot zum Export gewonnen wurde.

Andere Aktionen, wie etwa eine Mahnwache, die über 20 Jahre in Genf gegen ein geheimes Abkommen protestierte, wonach die WHO kein Recht hat, sich um Opfer radioaktiver Strahlung zu kümmern, haben allerdings nichts bewirkt – es fehlte der zivilgesellschaftliche Druck in den relevanten Mitgliedsländern. Auch im Falle Syriens mangelte es an nennenswertem zivilgesellschaftlichen Druck, um zum Ende des Krieges und zu einer Vereinbarung zu kommen.

Generell orientieren sich die diplomatischen Vertretungen – zumindest aus demokratischen Staaten – an der Stimmung ihrer Wählerschaft und sind damit durch Protest »zuhause« leichter zu beeinflussen. Um die Stimmung bzw. das Abstimmungsverhalten direkt am Ort der Verhandlungen zu beeinflussen, braucht es strategisch kluge und medienwirksame Aktionen.

Beispiel Syrien: Zivilgesellschaft zwischen Vernachlässigung und »local turn«

Im Falle Syriens zeigt sich das ambivalente Verhältnis von zivilgesellschaftlichen Akteuren und der UNO besonders deutlich: Als die Proteste 2011 in Syrien begannen, waren die wenigen existierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen und Interessenvertretungen streng vom Regime reglementiert und freie Meinungsäußerung war kaum möglich. Als die Menschen mit den Rufen nach Freiheit und Würde auf die Straße gingen, brach sich ein oft kreativer Aktivismus Bahn. Syrische »Aktivisten« fanden fortan als Vertreter der syrischen Zivilgesellschaft auch international Gehör – doch wurde der Wunsch nach einer Öffnung des Landes und einer Geltendmachung internationaler Normen auch für Syriens Bevölkerung bitter enttäuscht.

Zu den sogenannten Genfer-Verhandlungsrunden (2012, 2014, 2016, 2017) wurden auch zahlreiche Aktivisten und Vertreter der Opposition eingeladen. Allerdings einigten sich die Konfliktparteien mitnichten auf eine politische Lösung; allenfalls Zugeständnisse des Regimes zur Errichtung humanitärer Korridore wurden als »Erfolge« verbucht – obwohl dessen Abriegelung von Wohngegenden (wie auch die Verwendung von Chemiewaffen und Fassbomben) Verstöße gegen das Völkerrecht darstellen. Den UN-Vermittlern gelang es angesichts der Blockaden im Sicherheitsrat nicht, einen Friedensplan durchzusetzen. Auch in weiteren Formaten außerhalb der UNO (Astana-Formate, u.a.) gelang kein Durchbruch, die Beteiligung der Zivilgesellschaft schwankte jeweils deutlich.

Aufbauend auf ihrer Forschung zur syrischen Diaspora, schilderte Maria Hartmann auf dem W&F-Symposium, wie syrische Menschenrechtler dennoch beharrlich an die UN-Institutionen appellierten. Zuletzt wirkten Menschenrechtsorganisationen immerhin erfolgreich auf eine unabhängige UN-Institution für die Verschwundenen (»UN Independent Institution on Missing Persons in the Syrian Arab Republic«) hin. Strafrechtlich relevante Erfolge wurden allerdings andernorts erwirkt: So gelang 2022 unter Berufung auf das Weltrechtsprinzip die Verurteilung zweier syrischer Kriegsverbrecher vor dem Oberverwaltungsgericht in Koblenz. Bei aller Bedeutung dieser Erfolge würden sie doch nicht ausreichen, um der eklatanten Straflosigkeit, mit der das Regime agiert, etwas entgegenzusetzen, so Hartmann. Dies habe verheerende Signalwirkungen auch für andere Machthaber und biete keine Rückkehrperspektive für die vielen Geflüchteten.

Bei meiner Forschung im Libanon zur Flucht aus Syrien (Schmelter 2021) konnte ich die um sich greifende Rechtlosigkeit der Zivilbevölkerung noch auf einer anderen Ebene beobachten: Obwohl der politische Aktivismus, der im Zuge der Proteste aufkeimte, im Exil neue Möglichkeiten zur Organisation fand, drängte die kriegsbedingte humanitäre Notlage die Aktivisten oft zu einer humanitären Ausrichtung ihres Engagements. Dies geht im Sinne der Finanzierungslogik gewöhnlich mit einem Bekenntnis zum humanitären Prinzip der »Neutralität« einher. Das Eintreten für Bürgerrechte oder einen rechtebasierten Status im Exil stand dann nicht mehr im Vordergrund. Dies führt in der Konsequenz zu einer Entpolitisierung der Möglichkeiten von Zivilgesellschaft, sich im Rahmen internationalisierter Strukturen und Zusammenhänge Gehör zu verschaffen.

Im Libanon hörte ich zudem oft Kritik von Personen, die selbst aus Syrien kamen und sich nun vor Ort für die Versorgung von anderen Geflüchteten engagierten. Während diese Aktivisten bzw. zivilgesellschaftlichen Akteure meist einräumten, dass internationales Engagement an sich wichtig sei, beklagten sie auch, dass ihr Wissen von den Verhältnissen vor Ort nicht ausreichend mit einbezogen werde, dass UN-Engagement abgehoben und überteuert sei. Während sie als lokale Akteure zwar hinsichtlich ihrer Kenntnisse (etwa für sogenannte »needs assessments«) angefragt würden, hätten sie nur wenig Entscheidungsbefugnisse über die Verteilung der Mittel. Verfahrensstandards, Sprache und professionelle Verwaltung wirkten zudem manchmal gar als Ausschlusskriterium für lokale Initiativen, die Interesse an der Kooperation mit internationalen Organisationen gehabt hätten.

In Anbetracht solcher und ähnlicher Kritik hat die Bedeutung lokal verankerter Ansätze auch international zunehmend Beachtung gefunden. Im humanitären Bereich zielt der 2016 von Geberländern und internationalen Organisationen beschlossene »Grand Bargain« u.a. darauf ab, die Vertretung und den Einfluss lokaler Akteure zu stärken – blieb allerdings gerade bei dieser Zielsetzung bis 2023 weit hinter den Erwartungen zurück. Unter dem Stichwort »Localisation« wird auch im Bereich von Entwicklung und Friedenssicherung versucht, möglichst viel Handlungsmacht bei den lokalen Akteuren zu lassen. Begriffe wie »local ownership« und »capacity building« sind dabei prominent geworden. Eine Kritik am Ansatz ist jedoch, dass oft ungeklärt bleibt, was mit lokal genau gemeint ist und wer das Lokale repräsentieren soll. Der zivile Friedensdienst aus Deutschland leistet einige Pionierarbeit in dem Versuch, internationale Kooperation, insbesondere im Bereich der Friedensförderung, partnerschaftlich zu gestalten. Dennoch bleiben Spannungen: Machtungleichgewichte zwischen lokal und international agierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen manifestieren sich bspw. in Projektlaufzeiten und Finanzierungsmöglichkeiten – und die Zivilgesellschaft in den Länderprogrammen tritt v.a. als Projektpartner in Erscheinung (Ruppel 2023).

Heterogenes Engagement und eine gemeinsame Vision

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass »die Zivilgesellschaft« sehr heterogen ist, sowohl in ihrer politischen Ausrichtung als auch in ihrem Organisationsgrad. Wohl jedoch scheint beim Sprechen von Zivilgesellschaft – insbesondere im Vergleich zu Bewegungen – eine Konnotation von Organisiertheit mitzuschwingen, die mit einem Trend zur Professionalisierung des Engagements einhergeht. In vielen Fällen ist eine Kenntnis der Abläufe im UN-System bzw. das Verständnis einer bestimmten Programmlogik ausschlaggebend für das Gelingen zivilgesellschaftlichen Engagements im internationalen Rahmen.

Wichtiger als die Professionalität der Organisationsstruktur scheint jedoch das Erfassen der politischen Thematik bzw. das Konfliktverständnis, um auf relevante Prozesse und Entscheidungen bei der UNO bzw. die Entscheidungsträger der staatlichen Vertretungen Einfluss zu nehmen. Eine geschickte Auswahl der politischen Kräfte und der Orte für solche Interventionen sowie eine medienwirksame Inszenierung scheint dafür unerlässlich.

Auch wenn bei der UNO vieles reformbedürftig ist, so bieten ihre multilateralen Foren doch einen Verhandlungsrahmen für globale Themen wie gewaltfreie Konfliktbearbeitung, gerechte Handelsabkommen, Wahrung der Menschenrechte sowie den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen und Ressourcen. Sie erlauben außerdem die Vernetzung und Bündelung zivilgesellschaftlicher Kräfte und ermöglichen damit, auch lokales Engagement in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Das Festhalten am Völkerrecht und der Vision eines friedlichen Zusammenlebens gewinnt gerade in Kriegszeiten eine besondere Bedeutung.

Literatur

Ruppel, S. (2023): Lokal verankerte Zivile Konfliktbearbeitung zwischen Partnerschaft und Machtungleichgewicht. Studien des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Wiesbaden: Springer.

Schmelter, S. (2021): Humanitäres Regieren und die Flucht aus Syrien. Ethnographische Untersuchungen zum Migrations- und Grenzregime im Libanon. Doktorarbeit, Georg-August-Universität Göttingen. DOI: doi.org/10.53846/goediss-8238.

Dr. Susanne Schmelter, Friedens- und Konfliktforscherin und Anthropologin. Nach Studium in Marburg und längeren Forschungsaufenthalten im Nahen Osten, lebt sie nun in Genf, wo sie 2022 »Manara Association for Multilateral Dialogue« gegründet hat; zudem arbeitet sie freiberuflich als Beraterin für Friedensorganisationen.

Das globale Dorf

Das globale Dorf

Plädoyer für eine Erneuerung der VN-Friedensordnung

von Klaus Schlichtmann

Um heute zu einer etablierten und stabilen Friedensordnung zu gelangen, die mehr ist als nur ein Provisorium, bedarf es einer fundamentalen Revision des VN-Friedenssystems. Doch welche organisatorischen und rechtlichen Rahmen müssten dafür geschaffen werden, um dies möglich zu machen? Welche Bedingungen müssen erfüllt werden und welche Mittel stehen vielleicht sogar schon bereit, welche Institutionen gibt es schon? In der übertragenen Idee eines »globalen Dorfes« als einer klassenlos friedlich organisierten Gesellschaft soll hier ein Plädoyer für den friedlichen Wandel entfaltet werden, der das internationale Friedensorgan des Sicherheitsrates effektiver gestalten könnte.

Gedanken dazu, wie sich eine Gesellschaft organisieren ließe, die den Frieden dauerhaft sichern könnte, gibt es schon sehr lange – in der Geschichte gab es zahlreiche Wegbereiter dieser Überlegung. Schon zur »Achsenzeit« (Höhepunkt ca. 500 bis 200 v. Chr.) lassen sich in den gleichzeitig erscheinenden Friedensbotschaften in drei Weltregionen solche Tendenzen beobachten – Karl Jaspers war dies „ein Wunder“ (Jaspers 1952), weshalb er auch den Begriff der Achsenzeit schuf. Heutige Interpretationen dieser Zeit stärken darin auch die Idee, dass der Friedensgedanke und die Überzeugungen seiner Umsetzbarkeit keineswegs aus einem westlich liberalen Weltverständnis entstammen müssen – eine Dezentrierung vom nordisch-europäischen Friedensmodell. Auch die viele Jahrhunderte später in der Aufklärung entwickelten Zukunftsmodelle – liberalen, anarchistischen oder christlichen Zuschnitts – sind Bestandteil dieser Geschichte. Für die Aufklärung war der Freiheits- und Friedensgedanke ein wesentliches Element und bedeutender Anstoß. In diesen Konzepten war die friedliche »Organisation der Welt« (Schücking 1909) eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung eines dauerhaften Friedens.1

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kulminierten all diese Ideen im internationalen Staatenverband der Haager Friedenskonferenzen. Zweifellos hatte das Bewusstsein der Menschheit gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Stufe erreicht, das die politische Einheit der Welt möglich erscheinen ließ. Trotzdem hatte das in Den Haag begonnene Weltordnungsprojekt fast unüberwindliche Herausforderungen zu bestehen. Das Timing war perfekt, aber der große Erfolg blieb aus.

Der Haager Staatenverband, der mit den Friedenskonferenzen 1899 und 1907 begründet wurde, zerbrach an Deutschland. Die für 1914 geplante dritte Friedenskonferenz, für die Andrew Carnegie den Friedenspalast im Haag gestiftet hatte, fand nicht mehr statt. Auch die Folgeorganisation, der Völkerbund, scheiterte. Und die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Organisation der Vereinten Nationen ist zumindest friedens(ordnungs)politisch noch immer ein unvollendetes Projekt, das seiner Erfüllung harrt.

Eine Hoffnung sind die basisdemokratischen Elemente der Volkssouveränität, die es ermöglichen sollen, dass „Wir, die Völker“ (Präambel, VN-Charta) eine entscheidende Rolle spielen können, indem wir „unsere Kräfte vereinen […][,] internationale Einrichtungen in Anspruch nehmen […][,] Bedingungen schaffen [und] Grundsätze annehmen und Verfahren einführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird.“

Um die Bedeutung dieser Weltorganisation zu verstehen, müssen Historiker*innen und Völkerrechtler*innen allerdings aufhören, ein falsches Bild zu vermitteln und wichtige Informationen unter den Teppich zu kehren. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Wissenschaft und Politik den internationalen Staatenverband der Haager Konferenzen als Vorgänger des Völkerbundes und der Vereinten Nationen anerkennen würden (Schlichtmann 2003) – und die daraus stammenden friedenspolitischen Impulse als tragende Ideen für eine heutige Umsetzbarkeit globalen Friedens ernstnehmen würden. Dazu gehört die Idee der Übertragung souveräner Rechte an die Vereinten Nationen, inklusive aller Folgen, die damit zusammenhängen.

1. Das Friedensmodell der Vereinten Nationen — der Übergangsprozess

Für die Sicherung und Wahrung des Friedens ist nach der Charta der Vereinten Nationen der Sicherheitsrat zuständig – oder sollte es eben sein. Denn ein Übertrag souveräner Rechte an den Sicherheitsrat ist nicht erfolgt. Gemäß Artikel 106 der VN-Charta (»Übergangsbestimmungen betreffend die Sicherheit«) sind die Befugnisse des Sicherheitsrates dem eigenen Ermessen anheim gestellt; die Institution ist streng genommen immer noch nicht „per Gesetz“ befähigt worden, ihre Aufgaben effektiv wahrzunehmen.

Welche Missverständnisse und Irreführungen haben die jetzige Situation verursacht und dazu geführt, dass der Sicherheitsrat noch immer nicht in der Lage ist, seiner Verantwortung gerecht zu werden? Erst das Inkrafttreten von Sonderabkommen der in Artikel 43 bezeichneten Art“ würde den Sicherheitsrat befähigen, „mit der Ausübung der ihm in Artikel 42 zugewiesenen Verantwortlichkeiten zu beginnen.“ (Art. 106) Das ist aber bislang nicht geschehen. Kurz: Der Sicherheitsrat braucht ein Grundgesetz. John Foster Dulles schrieb dazu schon in seinem 1950 erschienenen Buch »War or Peace«: „Der Sicherheitsrat ist kein Gremium, das vereinbartes Recht durchsetzt. Er ist sich selbst Gesetz.“ Dulles weiter: „Es sind keine Rechtsgrundsätze festgelegt, an denen er sich orientiert; er kann entscheiden, was er für zweckmäßig hält.“ (Dulles 1950, S. 194) Dabei hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, potentiell zumindest, „eine erheblich größere Machtfülle als sie der Völkerbundrat besaß.“ (Grewe 1948, S. 20)

Artikel 24 der VN-Charta sieht eigentlich vor, dass die Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen – dies muss durch nationale Entscheidungen der Übertragung souveräner Rechte geschehen. Der Sicherheitsrat geht für die Zwischenzeit davon aus, dass er, wenn nötig, befugt ist, im Namen seiner Mitglieder „schnelle und wirksame Maßnahmen“ zu ergreifen, vorausgesetzt, dass neun der 15 Mitglieder und alle ständigen Sicherheitsratsmitglieder zustimmen. Diese Zwischenzeit dauert mittlerweile über 70 Jahre.2

Die tatsächliche Bedeutung des Auftrags in Artikel 24 VN-Charta wird jedoch heruntergespielt und seine Verbindlichkeit in Frage gestellt, mit der Folge, dass die Bestimmung nicht umgesetzt wird. Jurist*innen weltweit sollten die Phantasie haben, sich vorzustellen, was alles in so ein Übertragungsgesetz an friedenssichernden Vorschlägen hineingeschrieben werden könnte. Es wäre sinnvoll, um den Zweck der Bestimmung zu erfüllen, wenn die Mitgliedstaaten es unternehmen würden, Gesetze und Grundsätze zu definieren und zu formulieren und Vorschläge für Zuständigkeiten zu machen, die dem Rat als Anleitung dienen könnten.

Davor aber schrecken die Regierungen zurück, insbesondere wenn Teile ihrer nationalen Souveränität betroffen sind, die sie aufgeben müssten, nämlich ihre kriegerischen Befugnisse und das Recht, mächtige und kostspielige militärische Institutionen zu unterhalten, die darauf ausgerichtet sind, sich gegen mutmaßliche Feinde zu rüsten und die eigene Bevölkerung in Schach zu halten.

Das ist weit entfernt von dem, was die Verfasser*innen der Charta beabsichtigten. Wenn Artikel 24 umgesetzt worden wäre, so sollte man annehmen, wären die Staaten inzwischen größtenteils entwaffnet und das kollektive Sicherheitssystem in Betrieb. Lässt sich dieser ursprüngliche Plan der Vereinten Nationen überhaupt noch durchsetzen?

2. Der normative Fluss

Zahlreiche Bestimmungen in nationalen Verfassungen komplementieren den Art. 24 der VN-Charta. Der in Kiew geborene Jurist Boris Mirkine-Guetzévitch sprach schon vor Verabschiedung der VN-Charta von einem »Friedensverfassungsrecht« („droit constitutionnel de la paix“, Mirkine-Guetzévitch 1933); das sind Verfassungsartikel, die heute der Wirkungsabsicht der VN-Charta zuzurechnen sind und intendieren, mit ihr auf scheinbar »geheimnisvolle« Weise zusammenzuwirken (Mirkine-Guetzévitch 1951; für Beispiele siehe Kasten 1).

Diese sich ergänzenden Antikriegsbestimmungen könnten geeignet sein, die offensichtlichen Mängel der Vereinten Nationen zu beheben und die noch nicht realisierten Bestimmungen umsetzen zu helfen. Äußerungen von Politikern, wie die Rede des US-Präsidenten Harry S. Truman am 26. Juni 1945 bei der Unterzeichnung der Charta in San Francisco, bestätigen, dass eine solche Veränderung der Charta immer aktiver Plan war: „Die Charta […] wird im Laufe der Zeit erweitert und verbessert. Niemand behauptet, dass sie jetzt ein endgültiges oder perfektes Instrument ist. Sie wurde nicht in eine feste Form gegossen. Sich verändernde Weltbedingungen werden Neuanpassungen erfordern […]“ (Truman 1945). Der so vorgestellte »peaceful change« wird möglich, so das Argument in diesem Text, wenn das »Friedensverfassungsrecht« umgesetzt wird. Mehr als ein Dutzend weitere nationale Verfassungen sehen vor, dass der Gesetzgeber Schritte unternimmt, um einen auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden auf den Weg zu bringen (u.a. siehe Kasten 1).

3. Vom Scheitern und Fortführen

Der US-Kongress hatte 1949 eine Resolution verabschiedet, welche die „Entwicklung der Vereinten Nationen zu einer Weltföderation“ ins Auge fasste. Das amerikanische Interesse an einer föderalen, den Frieden sichernden Weltunion hatte Tradition und war gleich nach dem Krieg noch groß. Diese amerikanische Absicht wurde in der damaligen Bundeshauptstadt leider nicht wahrgenommen. Jost Delbrück (1935-2020), ehemaliger Direktor des renommierten Walther-Schücking-Instituts für Völkerrecht an der Universität Kiel bedauerte, dass schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Chancen für eine substanzielle „nachhaltige Änderung der [deutschen] Haltung gegenüber einer friedenssichernden Weltorganisation […] nicht positiv“ waren, da die deutsche Realpolitik vor allem am Hegelschen Konzept der Machtpolitik festhielt, das der Idee einer ,internationalistischen‘ Friedensorganisation mit Skepsis begegnete.“ (Delbrück 1991, S. 212f.)

Die Folgen sind weithin sichtbar: Das Scheitern des ursprünglichen Plans der Vereinten Nationen in den ersten Jahren nach dem Krieg kann durchaus als Grund für die Rolle der Vereinigten Staaten als Weltpolizei gesehen werden. Auch scheint dadurch die militärische »Friedenssicherung« wieder akzeptierter und prominenter in den Vordergrund gerückt zu sein.3 Kann nun aber handlungspraktisch unter den derzeitigen Bedingungen der Übergang von einer USA als Weltpolizei zu den VN als Weltpolizei heute noch gedacht und bewerkstelligt werden? Insbesondere: Welche materiellen Schwierigkeiten jenseits rechtlicher Bedenken müssen überwunden und welche Bedingungen erfüllt werden?

Um dies an einem Beispiel möglichst konkret zu machen: Die ca. 800 US-amerikanischen und die übrigen auf der ganzen Welt verstreuten Militärbasen müssten beispielsweise in praktische Friedens- und Abrüstungszentren umgewandelt werden. Diese dem Selbstverständnis vieler Nationen dem Frieden oder zumindest der Friedenssicherung dienenden Stützpunkte müssen den Vereinten Nationen unterstellt und letztendlich abgebaut werden. Engagierte, gut ausgerüstete Friedensbrigaden, bestehend aus „Wir, die Völker,“ sollten den Vorgang begleiten.

Bereits 1961 hatten die USA und die UdSSR „die Auflösung militärischer Einrichtungen einschließlich aller Stützpunkte“ sowie „die Abschaffung der militärischen Ausbildung und die Schließung aller militärischen Ausbildungsstätten“ gefordert und vorgeschlagen, „eine internationale Abrüstungsbehörde im Rahmen der UNO zu errichten.“ Das nach den Unterhändlern John McCloy und Walerian Sorin benannte McCloy-Sorin-Abkommen wurde im Dezember 1961 einstimmig in der Vollversammlung der UNO verabschiedet. Es gibt also sogar schon Abkommen für die praktische Umsetzung dieser Vision.

Wenn meine Interpretation der VN-Charta also richtig ist, hat der Sicherheitsrat sich nach dem Zweiten Weltkrieg den Mitgliedstaaten geöffnet, damit diese gesetzgeberisch tätig werden können, um das Sicherheitssystem der Vereinten Nationen auf den Weg zu bringen. Der Völkerbund hatte diese Möglichkeit nicht. Den nationalen Parlamenten sollte damit die Möglichkeit eröffnet werden, die Ausarbeitung einer Verfassung für die zukünftige Weltorganisation in Angriff zu nehmen.

4. Das globale Dorf als Vision

Der Gedanke der politischen Vereinigung der Menschheit lag am Ende des 18. Jahrhunderts in der immer enger zusammenwachsenden Weltgemeinschaft „in der Luft.“ Zu den Bemühungen, die Entwicklung des Völkerrechts voranzutreiben, gehörte auch eine Konferenz der Interparlamentarischen Union (IPU), auf der die Staaten überlegten, den „Verzicht auf das Mittel des Krieges in ihre Verfassung aufzunehmen“ (Wehberg 1930, S. 142).4

Immer mehr wurde die Erde im 20. Jahrhundert zu einem »globalen Dorf«. Diese Vorstellung von der politischen Einheit der Welt wurde im Weltsystem der Vereinten Nationen weitgehend realisiert. Überzeugend hatte der Kanadier Herbert Marshall McLuhan schon in den 1960er Jahren in seinem Buch »Understanding Media« dargelegt, wie die Vernetzung durch Technologie eine »neue Welt« in ein globales Dorf verwandelte, eine Verbundenheit, die sich auch politisch positiv und friedensfördernd auswirken müsste (McLuhan 1964). Insbesondere nach Aufkommen des Internets brach sich dieser Trend massiv Bahn.

Um die Idee des »globalen Dorfes« mit ihren friedenspolitischen Implikationen noch etwas weiter auszubauen, will ich hier auf die Arbeiten des Internationalen Komitees für Intellektuelle Zusammenarbeit des Völkerbundes (International Committee for Intellectual Cooperation, ICIC), der Vorgängerorganisation der UNESCO, mit Sitz in Paris, eingehen. Es ist möglich, dass der indische Vertreter im ICIC, Sarvepalli Radhakrishnan, bekannte Vorstellungen des indischen politischen Systems zur Sprache brachte, die mit der zukünftigen Organisation des Sicherheitsrates zusammenhängen könnten. Bei der ICIC standen schon in den 1930er Jahren friedenspolitisch weitreichende Themen wie „die Möglichkeit und Bedingungen einer Organisation kollektiver Sicherheit und friedliche Methoden des Wandels“ auf der Agenda (Zimmern 1936, Bourquin 1936). Diese Themen und Planungen erlangten gerade auch mit Adolf Hitlers Machtergreifung Anfang 1933 und dem darauffolgenden Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund eine über die Zeit des Nationalsozialismus hinausreichende, zukunftsweisende Bedeutung.

Sarvepalli Radhakrishnan galt damals in den Augen westlicher politischer Denker als „ein überzeugender Interpret der Rolle östlicher Institutionen in heutigen Gesellschaften“ und als „die anerkannte hinduistische Autorität für [bestimmte] indische Vorstellungen“ (Mackenzie Brown 1970, S. 153). Für eine zukünftige internationale Organisation könnte Radhakrishnan damals die traditionelle Institution des Dorf-Panchayat, eines Systems der Selbstverwaltung, das in den Dörfern Indiens praktiziert wird, bestehend aus einem fünf Mitglieder umfassenden Ältestenrat, ins Gespräch gebracht haben.5 Ich gehe davon aus, dass dieses basisdemokratische indische politische Konzept nicht unbekannt war; zudem ist es ein Konzept, dessen Wirksamkeit empirisch nachgewiesen werden kann. Der »Panchayati Raj« ist das wohl älteste, grundlegendste und weitreichendste demokratische politische Konzept, das Indien jemals hervorgebracht hat. Für Mahatma Gandhi war es das „Fundament des indischen politischen Systems.“ (Mohan 2012) Entscheidungen des Dorf-Panchayat beruhen auf dem Einstimmigkeitsprinzip, ähnlich wie es bei den fünf Vetomächten der UN, den »P5« der Fall ist. Das für unseren Zusammenhang einzig Relevante ist, dass dieses System funktioniert. Dieser Gedanke einer dorfähnlich, basisdemokratisch-konsensuell organisierten globalen Staatengemeinschaft, die sich das Ringen um den Frieden zur dominanten Aufgabe macht, soll hier als Leitvision für eine Transformation der heute gültigen VN-Friedensorgane dienen.

5. Transformation des Sicherheitsrates

Neben den Hindernissen aus den historischen, verfassungs- und völkerrechtlichen Gegebenheiten und Voraussetzungen (Nicht-Übertragung der Hoheitsrechte, Nichtvollendung der globalen Friedensunion) spielen natürlich auch die Mächte- und Kräfteverhältnisse in den Organen eine entscheidende Rolle, um sicherzustellen, dass optimale Bedingungen für Problemlösungen auf Weltebene gewährleistet werden können.

Gerade dies stellt uns natürlich vor erkennbare Herausforderungen. Wir müssen erkennen, dass das Vetorecht nur die negative Kehrseite des für eine friedliche Streitlösung und eine effektive Exekutive unerlässlichen Konsensprinzips ist. Vielleicht wird es uns dann leichter fallen, eine solche nach internationalen Rechtsprinzipien organisierte Entscheidungsfindung zu akzeptieren.

Es ist leicht einzusehen, dass kleine Gruppen, die Entscheidungen nach dem Konsensprinzip fällen sollen, aus nicht zu vielen Personen bestehen dürfen. Jede Zahl größer als fünf würde es erschweren, einen Konsens zu erzielen. Eine geringere Zahl würde die Einhaltung des Grundsatzes der angemessenen geografischen Verteilung – eine Bedingung des Artikels 23 der VN-Charta – nicht gewährleisten können. Um einer angemessenen Repräsentation etwas näher zu kommen, sollten die europäischen Sitze neu organisiert und der Kreis der Entscheider*innen um einen Repräsentanten des Globalen Südens ergänzt werden.

Wir haben jedoch einstweilen kaum eine andere Wahl, als die »P5« für unsere Zwecke als hinreichend qualifiziert anzuerkennen. Es sind dieselben Mächte, die sich schon im Haag für die Abrüstung und die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten eingesetzt hatten. Aufgrund ihrer gemeinsamen Erinnerungskultur sind sie, gewissermaßen, eine verschworene Gemeinschaft, die einem gemeinsamen Ziel verpflichtet ist: Alle zwei Wochen kommen die Vertreter*innen des Generalstabsausschusses (»military staff committee«) der »P5« zu Beratungen zusammen. Der Vorsitz rotiert monatlich. Die durch Kriege und zahllose enttäuschte Hoffnungen geschmiedete Gemeinschaft der »P5« ist einander andererseits in vielerlei Hinsicht verpflichtet und verbunden.

Schluss

Offenbar lag und liegt es jedoch im Interesse einiger Staaten, die pazifistischen Ausrichtungen der Vereinten Nationen zu diskreditieren und zu boykottieren, um einseitig nationalen Interessen und langfristig revanchistischen Zielen Vorschub zu leisten.

Dass das »Panchayati Raj«, gegründet auf dem Prinzip der Einstimmigkeit, in der Realität wirklich funktioniert, müsste als empirischer Beweis ausreichen, um deutlich zu machen, dass dieses System auch auf Weltebene Anwendung finden kann. Der internationale Friede und die internationale Sicherheit können nicht gewährleistet werden, solange der Sicherheitsrat nicht effektiv funktioniert und seine Autorität und sein Ansehen allein auf Macht, politischem Opportunismus, nuklearer Abschreckung, Erpressung und willkürlichen Entscheidungen beruht.

Um den Prozess des Übergangs zu echtem Frieden und Sicherheit einzuleiten, müssen die europäischen Verfassungsbestimmungen, die eine Übertragung der „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ an die Vereinten Nationen ermöglichen, umgesetzt werden.

Es war Radhakrishnan, der schrieb:

„Wir müssen einen Teil unserer Souveränität abgeben, zusammenarbeiten, um jede Art von Ungerechtigkeit zu beseitigen […]. Die Vereinten Nationen sind der erste Schritt zur Schaffung einer maßgeblichen Weltordnung. Sie haben aber noch nicht die Befugnis, die Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen […]. Die Herausforderung, die uns offen steht, ist das Überleben oder die Vernichtung […]. Sind wir bereit, einen Bruchteil unserer nationalen Souveränität aus Gründen einer Weltordnung aufzugeben?“ (Radhakrishnan 1980, S. 45, 52, 135)

Vielleicht braucht die Welt so etwas wie ein neues »Göttinger Manifest«, um gegen die Möglichkeit eines Atomkrieges und für die sofortige Realisierung des Sicherheitssystems der Vereinten Nationen ein machtvolles Wort einzulegen. Die hier skizzierten historischen und völkerrechtlichen, sowie die konzeptionellen Linien der Übertragung der Hoheitsrechte und der Umgestaltung bzw. Umbesetzung des Sicherheitsrates könnten dafür den Rahmen bieten – so dass das globale friedliche Dorf endlich entstehen darf.

Beispiele für Verfassungsartikel zur Beschränkung der Souveränität

  • Artikel 24 des Bonner Grundgesetzes ist eine wesentliche Bestimmung des Friedensverfassungsrechts, welche den Übergang zu echter kollektiver Sicherheit und Abrüstung im Rahmen der Organisation der Vereinten Nationen „durch Gesetz“ ermöglichen soll.
  • Eine ganz ähnliche Verfassungsbestimmung ist der italienische Artikel 11 von 1948, in dem Italien „Beschränkungen seiner Souveränität zu(stimmt),“ nämlich solchen, „die für eine Organisation erforderlich sind, die Frieden und Gerechtigkeit zwischen den Nationen gewährleistet.“
  • Auch Dänemarks Artikel 20 aus dem Jahr 1953 ermöglicht es dem Gesetzgeber, Befugnisse auf internationale Behörden „durch einen Gesetzentwurf zur Förderung der internationalen Rechtsordnung und Zusammenarbeit“ zu übertragen.
  • Artikel 115 der norwegischen Verfassung von 1965 lässt Beschränkungen der nationalen Souveränität mit dem Ziel zu, „den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu gewährleisten“ sowie „das internationale Recht und die internationale Ordnung und die Zusammenarbeit zwischen den Nationen zu fördern.“
  • Ähnlich die Demokratische Republik von Ost-Timor, welche „die allgemeine, gleichzeitige und kontrollierte Abrüstung“ und die „Einrichtung eines Systems der kollektiven Sicherheit“ anstrebt. (2002)
  • Exemplarisch ist die französische Verfassung von 1946, die „Beschränkungen der Souveränität akzeptiert, die für die Organisation und Verteidigung des Friedens notwendig sind,“ allerdings, wohl mit Hinblick auf Deutschland, „unter der Bedingung der Gegenseitigkeit.“
  • Relevant ist auch der japanische Kriegsverzichtsartikel 9 (A9), den der pazifistische Premierminister der Nachkriegszeit, Kijuro Shidehara, vorschlug. Die Bestimmung postuliert eine Hoheitsbeschränkung und im Schlußsatz eine allgemeine Regel: „Das Recht des Staates auf Kriegführung wird nicht anerkannt.“ Das Prinzip der »Nicht-Anerkennung« richtet sich in erster Linie und vor allem auch an die demokratische Basis.

Quelle: Eigene Zusammenstellung des Autors

Anmerkungen

1) Das Buch, in dem Schücking sich für eine Weltföderation ausspricht, ist 1918 auch in englischer Übersetzung erschienen, mit dem Titel »The International Union of the Hague Conferences«. In den USA hatte der Quäker Benjamin Franklin Trueblood 1899 ein Buch mit dem Titel »The Federation of the World» veröffentlicht.

2) Eine wichtige und lesenswerte Abhandlung über die politischen Bedingungen der »Übergangszeit« stammt von Quincy Wright von 1942. Sie könnte uns auch heute noch Anregungen geben, wie dieses Dilemma zu überwinden sein könnte.

3) Offen ist in der Bewertung dieser Entwicklung, welche ursächliche oder maßgebliche Rolle das Säbelrasseln und der virulente Antikommunismus und Militarismus christ-demokratischer westdeutscher Regierungen gespielt haben, die sich in den ersten Nachkriegsjahren von ehemaligen prominenten Nazis wie Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramts unter Konrad Adenauer von 1953 bis 1963, beraten und leiten ließen.

4) Es gab offizielle diplomatische Bemühungen, ein allgemeines Kriegsverbot in die nationalen Verfassungen zu schreiben. Das war Thema und Ziel der Konferenz. Die Idee hatte „[b]ei den Verhandlungen der juristischen Kommission der Interparlamentarischen Union […] keinen Widerspruch gefunden“ und selbst in den USA wurde 1926, angeregt von der »Women’s Peace Union«, eine Änderung der amerikanischen Verfassung in Aussicht gestellt, um den Krieg zu ächten (Wehberg 1930).

5) Sarvepalli Radhakrishnan spielte eine bedeutende Rolle bei der Weiterentwicklung des Panchayat-Systems, als er Vorsitzender des 1960 gegründeten Panchayat- Komitees wurde. Dieses Komitee ist allgemein als Radhakrishnan-Komitee bekannt.

Literatur

Bourquin, M. (Hrsg) (1936): A record of the seventh and eighth International Studies Conferences. Paris, 1934–London 1935. Paris: International Institute of Intellectual Co-operation.

Delbrück, J. (1991): Deutschland und die Vereinten Nationen – Rückschau und Perspektiven. In: Koch, E. (Hrsg.): Die Blauhelme. lm Einsatz für den Frieden. Frankfurt a.M. und Bonn: Report Verlag, S. 211-219.

Dulles, J. F. (1950): War or peace. New York: Macmillan.

Grewe, W. G. (1948): Die Satzung der Vereinten Nationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Jaspers, K. (1952): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München: Piper.

Laqua, D. (2011): Transnational intellectual cooporation, the League of Nations, and the problem of order. Journal of Global History 6(2), S. 223-247.

Mackenzie Brown, D. (1970): The nationalist movement: Indian political thought from Ranade to Bhave. Berkeley und Los Angeles: University of California Press.

McLuhan, M. (1964): Understanding media. The extensions of man. London u.a.: Routledge & Kegan Paul.

Mirkine-Guetzévitch, B. (1933): Le droit constitutionnel et l’organisation de la paix (droit constitutionnel de la paix). Recueil des Cours, III, 45, o.S.

Mirkine-Guetzévitch, B. (1951): La Renonciation à la Guerre dans le Droit constitutionnel moderne. Revue Héllenique de Droit International 4(3-4), o. S.

Mohan, A. (2012): Utopia and the village in South Asian literatures. London: Palgrave Macmillan.

Radhakrishnan, S. (1980): Towards a new world. New Delhi and Bombay: Orient Paperbacks.

Schlichtmann, K. (2003): Japan, Germany and the idea of the two Hague peace conferences. Journal of peace research 40(4), S. 377-394

Schücking, W. (1909): Die Organisation der Welt. Leipzig: Alfred Kröner Verlag.

Trueblood, B. (1899): The federation of the world. Boston und New York: Houghton, Mifflin and Co.

Wehberg, H. (1930): Die Aechtung des Krieges. Eine Vorlesung an der Haager Völkerrechtsakademie und am „Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales“ (Genf). Berlin: Verlag von Franz Vahlen.

Wright, Q. (1942): Political conditions of the period of transition. Second Report of the Commission to Study the Organization of Peace. International Conciliation, no. 379, S. 264-279.

Zimmern, A. (1936): Neutrality and collective security., Chicago: University of Chicago Press.

Klaus Schlichtmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der SA9-Kampagne, die sich für die Umsetzung des Artikel 9 der japanischen Friedensverfassung einsetzt.

Selektivität und doppelte Standards

Selektivität und doppelte Standards

Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges

von Andreas Zumach

Russlands Krieg gegen die Ukraine verstößt in gravierender Weise gegen die universell gültigen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen, die nach dem tiefen Zivilisationsbruch der Jahre 1933-1945 mit der UNO-Charta sowie in nachfolgenden völkerrechtlich verbindlichen Verträgen international vereinbart wurden. Doch warum haben die UNO und ihre laut Charta für die Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit zuständigen Institutionen in diesem Konflikt kaum eine politische Rolle gespielt? Und dies weder in der langen Phase vor Russlands Überfall auf die Ukraine, als eine Prävention vielleicht noch möglich gewesen wäre, noch seit Beginn des Krieges?

Durch Russlands Krieg wurden völkerrechtliche und menschenrechtlichen Normen weiter unterminiert, ausgehöhlt und in ihrer Wirksamkeit und politischen Bindungskraft geschwächt. Dieser Schwächungsprozess begann bereits mit Angriffskriegen, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermorden, die die vier ständigen und vetoberechtigten Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich in der Phase des Kalten Krieges verübten – in Vietnam, Algerien, Afghanistan, Nordirland, den Falklandinseln und in anderen Ländern des Globalen Südens. Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 setzte sich dieser Aushöhlungs- und Schwächungsprozess der internationalen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen fort. Unter anderem mit den Kriegshandlungen und Verbrechen der USA und verbündeter NATO-Staaten gegen/in Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Irak und der von den USA geführten Drohnenmordkampagne, sowie mit Russlands Kriegen und Verbrechen in Tschetschenien, Syrien und mit der Annexion der Krim.

In den vier Jahrzehnten der Blockkonfrontation hielten sich die Akteure der feindlichen Lager ihre jeweiligen Verstöße nur selten gegenseitig vor. Zuständige Gremien wie der Sicherheitsrat in New York und der Menschenrechtsrat in Genf, durch die diese Verstöße hätten thematisiert, politisch verurteilt oder sogar sanktioniert werden können, waren durch die globale Ost-West-Konfrontation völlig blockiert und handlungsunfähig. Im Kontext dieser Konfrontation wurden auch viele der formal blockunabhängigen UNO-Staaten immer wieder von der einen oder anderen Seite für ihre Interessen instrumentalisiert. Das führte dazu, dass auch die Generalversammlung von der Möglichkeit, bei einem »Bruch des Friedens« einzugreifen, die sie 1950 wegen der monatelange Blockade und Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrates im Korea­krieg durch ein sowjetisches Veto mit ihrer Resolution »Uniting for Peace« geschaffen hatte, seitdem nur in elf weiteren Fällen Gebrauch machte.

Zahnlose Institutionen, schwache Akteure

Zuletzt geschah dies mit der Resolution vom 2. März 2022, in der die Generalversammlung auf einer »Notstandssitzung« Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Mehrheit von 141 der 193 Mitgliedstaaten als „Bruch der UNO-Charta“ verurteilte und die Regierung Putin zur Einstellung aller Angriffshandlungen und zum „sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Abzug“ (UN-Resolution A/RES/ES-11/1) ihrer Invasionstruppen aufforderte. Mit Russland stimmten lediglich Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien gegen die Resolution. Insgesamt 35 Länder, darunter China, Indien, Irak, Pakistan und Südafrika, enthielten sich der Stimme.Vor der Abstimmung in der Generalversammlung vom 2. März 2022 hatte ein entsprechender Resolutionsentwurf im Sicherheitsrat am 24. Februar elf Ja-Stimmen erhalten, war aber am Veto Russlands gescheitert. China, Indien und die Vereinigten Arabischen Staaten (VAE) enthielten sich hier der Stimme. Theoretisch hätte die Generalversammlung über die Verurteilung Russlands hinaus auch konkrete Maßnahmen beschließen können, von Sanktionen bis hin zur Entsendung von UNO-Truppen. Doch die Bereitschaft von UNO-Mitgliedsstaaten außerhalb des Gebiets der OSZE, sich in diesem als innereuropäischer Konflikt wahrgenommenen Ukrainekrieg zu engagieren, ist sehr gering.

Nicht geringe Hoffnung wird auch in dieser Frage immer wieder in die internationalen Gerichtshöfe gelegt. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat zwar nach den Buchstaben der UNO-Charta die Zuständigkeit für zwischenstaatliche Konflikte und damit auch für die Feststellung und Bewertungen eines Angriffskrieges oder eines Völkermordes, den ein Staat an der Bevölkerung eines anderen Staates verübt. Der IGH kann allerdings nur bindend tätig werden in Konflikten zwischen Staaten, die der Klärung des Falls durch den Gerichtshof zustimmen oder die sich ausdrücklich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben. Diesen Schritt haben bislang lediglich 73 UNO-Mitglieder vollzogen, und das auch häufig noch mit Vorbehalten und Einschränkungen. So hat etwa die deutsche Bundesregierung von ihrer 2008 abgegebenen Unterwerfungserklärung sowohl Einsätze der Bundeswehr im Ausland als auch die Nutzung deutscher Hoheitsgebiete für militärische Zwecke ausgenommen. Auch Russland hat sich dem Gerichtshof nicht unterworfen und somit ist der jetzt ergangene Richterspruch auf vorläufige Maßnahmen im Sinne der Ukraine vom 16. März 2022 relativ zahnlos. Sowohl eine Beilegung des Konfliktes, als auch eine Beendigung des Krieges ist durch die Urteilsverkündung des IGH nicht zu erwarten. Dass der Chefankläger beim Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Voruntersuchungen wegen Kriegsverbrechen aufgenommen hat, begrüßten viele Beobachter*innen. Es ist doch zu erwarten, dass es auch in diesem Fall zu keinen Verfahren kommen wird, denn die Russische Föderation hat ihre schon erfolgte Unterschrift unter das Statut des IStGH wieder zurückgezogen und eine Überweisung eines Verfahrens an den Gerichtshof durch den Sicherheitsrat der UNO wird erkennbar am russischen Veto scheitern.

Ob und wieweit sich die UNO-Generalsekretäre zur Prävention oder Beendigung von Gewaltkonflikten engagierten – und dies notfalls auch im harten Konflikt mit einer oder mehrerer der fünf Vetomächte –, das hing immer auch wesentlich von der jeweiligen Persönlichkeit der Männer ab, die diesen höchsten UN-Posten seit 1945 bekleideten. Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1953-1961) bezahlte seinen engagierten Einsatz für die Beilegung des Kongokonflikts mit dem Leben. Ob das Flugzeug, bei dessen Absturz er ums Leben kam, abgeschossen wurde, ist bis heute nicht geklärt und weiterhin Gegenstand von Untersuchungen. Kofi Annan (1997-2006) flog Anfang des Jahrtausends ohne Unterstützung des Sicherheitsrates und gegen massive Einwände der USA mehrfach nach Bagdad zu Gesprächen mit Diktator Saddam Hussein, um einen drohenden Krieg zu verhindern. Annans Nachfolger Ban Ki-moon (2007-2016) zeichnete sich durch besondere Leisetreterei aus und der seit 2017 amtierende Generalsekretär António Guterres enttäuscht(e) viele UNO-Mitarbeiter*innen (und auch den Autor dieses Artikels) schwer, weil er sich in der Vorphase des drohenden Ukrainekrieges nicht zu Deeskalations- und Vermittlungsbemühungen nach Moskau und nach Kiew begeben hat. Seit Beginn des Krieges hat Guterres diesen zwar eindeutig als Bruch der UNO-Charta verurteilt, sich darüber hinaus aber kaum für seine Beendigung engagiert. Es bleibt das Bild der Organe der UNO zurück, die wenig auszurichten vermögen, trotz gegenteiliger Normen, mit denen sie ausgestattet sind.

Selektivität, doppelte Standards und »Whataboutism«

Das liegt auch daran, dass die internationale Debatte außerhalb wie innerhalb der UNO über die Verletzung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen spätestens seit Ende der 1990er Jahre immer stärker geprägt ist durch doppelte Standards, durch die selektive Anwendung dieser Normen und durch »Whataboutism«, also durch den Versuch, von eigenen Verstößen abzulenken oder diese zu verharmlosen durch Verweis auf (tatsächliche oder auch nur vermeintliche) Verstöße Anderer. Das betreiben die westlichen Politiker*innen und viele Medien mit Blick auf Verstöße Russlands genauso wie umgekehrt. Kritik an der völkerrechtlichen Annexion der Krim wird von russischer Seite gekontert mit Kritik am NATO-Luftkrieg gegen Serbien von 1999 und der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo.

Nach dem Beginn von Russlands Überfall auf die Ukraine verbreiteten zahlreiche Politiker*innen und Medienkommentare die Behauptung, es handele sich bei diesem Überfall um den ersten völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Gewalt in Europa seit Ende des Kalten Krieges, um den ersten Verstoß gegen die »Europäische Friedensordnung« oder gar den ersten Versuch, die Grenzen eines souveränen Staates gewaltsam zu verändern. „Präsident Putin hat den Krieg zurück nach Europa gebracht“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Morgen des 24. Februar 2022. Bereits in der Nacht zuvor bezeichnete die deutsche UNO-Botschafterin Antje Leendertse im Sicherheitsrat die zeitgleich erfolgte Kriegserklärung Putins als „eine militärische Eskalation, wie wir sie in Europa seit Generationen nicht mehr erlebt haben“. Ähnlich äußerten sich Abgeordnete fast aller Parteien in der Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar 2022. All diese Äußerungen sind allerdings falsch. Den ersten völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Gewalt in Europa nach Ende des Kalten Krieges betrieben die NATO-Staaten mit ihrem Angriffskrieg gegen Serbien im Jahr 1999. Dieser Krieg führte zur gewaltsamen Veränderung von Grenzen durch die nachfolgende Abspaltung des Kosovo von Serbien.

Der Hinweis auf diese unbestreitbare Tatsache gerät dann allerdings häufig zur versuchten Relativierung, Verharmlosung oder gar zur Rechtfertigung russischer Verstöße gegen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen. Und das nicht nur aus dem Mund russischer Politiker*innen oder Staatsmedien, sondern auch bei Diskussionen zwischen Menschen, die sich zur Friedensbewegung zählen.

Russland und die NATO-Staaten stehen sich auch in kaum etwas nach bei dem Versuch, eigene Angriffskriege – und damit völkerrechtlich klar definierte und strafrechtlich relevante Verstöße gegen die UNO-Charta – durch Orwellschen »Neusprech« als angeblich »legitime« und »notwendige« Handlungen darzustellen. Wladimir Putin bezeichnet seinen Krieg gegen die Ukraine als „militärische Spezialoperation“ mit dem Ziel, einen „Völkermord“ durch die ukrainischen Streitkräfte an der russisch-stämmigen Bevölkerung im Donbas zu verhindern und die Regierung in Kiew zu „entnazifizieren“ (Putin in seiner Rede am 24.2.2022). Die NATO rechtfertigt ihren Luftkrieg von 1999 bis heute als „humanitäre Intervention“, die angeblich zwingend notwendig und auch ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates erlaubt gewesen sei, um einen „Völkermord“ an den Albanern im Kosovo zu verhindern.

Damals gab es, im Unterschied zum Ukrainekrieg Russlands heute, im Sicherheitsrat aber nicht einmal den Versuch einer Resolution. Denn bei der damaligen Zusammensetzung des Rates schien die zur Annahme mindestens erforderliche Mehrheit von neun Ja-Stimmen aussichtslos und drohte zudem ein sicheres Veto der drei NATO-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien. Daher fand auch keine Debatte in der Generalversammlung statt. Allerdings haben bis heute lediglich 115 der 193 UNO-Staaten Kosovo bilateral als Staat anerkannt, der damit kein Mitglied der Weltorganisation ist.

Putins Behauptung vom „Völkermord“ im Donbas ist genauso „lächerlich“ (Olaf Scholz zu Wladimir Putin bei ihrem Treffen am 15. Februar 2022 in Moskau) wie die anschließende Behauptung des Bundeskanzlers, im Kosovo habe 1999 ein „Völkermord“ gedroht.Weder im Kosovo noch im Donbas wurden „Handlungen begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Das ist die Definition von Völkermord in der »Konvention zum Verbot und der Bestrafung des Genozids«, die die UNO-Mitgliedsstaaten 1948 unter dem Eindruck des Holocaust vereinbarten (UNO-Resolution A/RES/3/260).

Zumindest in den Jahrzehnten vor Russlands Krieg gegen die Ukraine wurde in den Ländern des Globalen Südens – nicht nur in autokratisch oder diktatorisch regierten, sondern auch in Demokratien – der selektive Umgang mit Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen in erster Linie als problematisches Verhalten der Staaten der westlichen »Wertegemeinschaft« wahrgenommen. Zu dieser Wahrnehmung hat beigetragen, dass die drei westlichen Vetomächte im Sicherheitsrat es mit ihrer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht immer verhindert haben, dass sie für ihre völkerrechtswidrigen Kriege oder ihre Kriegs- und Besatzungsverbrechen verurteilt wurden.

Das gilt zum Beispiel für den Vietnam-Krieg der USA (1964-1975), Frankreichs Krieg in Algerien (1954-1962) oder für den gemeinsamen Krieg der USA und Großbritanniens gegen Irak im Jahr 2003. Als Südafrika den Versuch unternahm, diesen Krieg einer »Koalition der Willigen« in einer Resolution der Generalversammlung als völkerrechtswidrig zu qualifizieren, bestellte die damalige US-Regierung von George W. Bush die südafrikanische Botschafterin in Washington ein und erstickte diese Initiative mit massiven Drohungen gegen Pretoria im Keim. Auch diese Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass die allermeisten UNO-Mitgliedsstaaten trotz politischer Verurteilung von Russlands Ukrainekrieg die von den USA und der EU initiierten Sanktionen gegen Russland nicht mittragen.

Ebenso hat diese Wahrnehmung einer gewissen Selektivität dazu beigetragen, dass sich bei den Abstimmungen im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung vom 24. Februar und vom 2. März eine Reihe von Staaten des Südens der Stimme enthalten haben. Darunter Indien, Brasilien und Südafrika. Bei der Abstimmung in der Generalversammlung vom 7. April über den Ausschluss Russlands aus dem UNO-Menschenrechtsrat war nicht nur die Zahl der Enthaltungen von Ländern des Globalen Südens, sondern auch die der Gegenstimmen deutlich höher.

Geradewegs in die Blockade

Doppelte Standards und Selektivität bei der Anmahnung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen, »What­aboutism« und Orwellscher Neusprech zur Verschleierung eigener Verstöße – all das wirkt als schleichendes Gift zur Zersetzung und weiteren Schwächung der politischen Bindungskraft der universellen Normen völkerrechtlicher Vereinbarungen. Das Problem hat sich noch verschärft, seit sich China etwa seit Anfang 2021 aktiv an dem Diskurs gegenseitiger Aufrechnung tatsächlicher oder vermeintlicher Verstöße beteiligt. Bis dato hatten die chinesischen Diplomat*innen zwar im Menschenrechtsrat der UNO immer mit viel Energie (und zum Teil auch mit Erfolg) versucht, kritische Resolutionen zur Menschenrechtslage in China zu verhindern. Doch seit Frühjahr 2022 treten Chinas Vertreter*innen in der UNO mit scharfer Kritik an (tatsächlichen oder vermeintlichen) Menschenrechtsverstößen in westlichen Demokratien auf, insbesondere in den USA, und bringen Resolutionsentwürfe zur Verurteilung dieser Verstöße ein. Möglicherweise ist das eine Reaktion auf die Kritik des Westens an der Unterdrückung der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang oder auch ein Versuch, die Anwürfe zu kontern, die vor allem der ehemalige US-Präsident Donald Trump nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie Ende 2019 gegen China erhoben hatte.

Der Schulterschluss, den Moskau und Peking zumindest in den ersten sechs Wochen des Ukrainekrieges bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe vollzogen, lässt für die kommenden Jahre oder gar Jahrzehnte einen Rückfall in die Blockade der UNO während des Kalten Krieges befürchten.

Andreas Zumach ist freiberuflicher Journalist und Buchautor, von 1988-2020 war er UNO-Korrespondent für die taz und zahlreiche andere Medien in Genf. Sein jüngstes Buch: »Reform oder Blockade – welche Zukunft hat die UNO?«, Zürich: Rotpunktverlag, 2021.