Atomwaffen unter Bidens Präsidentschaft


Atomwaffen unter Bidens Präsidentschaft

von Jacqueline Cabasso

Joseph Biden hat seine Präsidentschaft mit einem Ehrfurcht einflößenden Berg an Herausforderungen vor sich angetreten. Ersten Anzeichen nach wird Bidens Regierung im Inland eine dramatische Kehrtwende einleiten: zur rücksichtslosen Missachtung der Pandemie unter der Regierung Trumps; zu ihrer fremdenfeindlichen Politik, die auf Immigrant*innen, People of Color, Muslime*a, Jüd*innen, Frauen, nicht binär-identifizierte Menschen und die Armen abzielte; und zu ihrem Angriff auf das Gesundheitssystem, die Umwelt und die Demokratie an sich.

Außenpolitisch hingegen sind die Absichten der neuen Regierung weniger klar ersichtlich. Bidens Ankündigung an seinem ersten Tag im Amt, dem Pariser Klimaabkommen und der WHO wieder beitreten zu wollen, ist ein willkommenes Signal und er wird ernstzunehmende Anstrengungen unternehmen, belastete Beziehungen zu Verbündeten wieder zu verbessern.

Mit Blick auf Bidens Vergangenheit und seine acht Jahre als Vizepräsident unter Präsident Obama können wir allerdings bezüglich der schwierigen Beziehungen zu Russland, China, Nordkorea und dem Iran, sowie des US-Atomwaffenprogramms wahrscheinlich eine Rückkehr zum Status-Quo erwarten, der vor Donald Trump galt.

Joe Biden ist schon seit 1979 in Rüstungskontrollverhandlungen involviert. Bevor er im Januar 2017 aus dem Amt schied, sprach der damalige Vizepräsident über den Wert von Verträgen: „Gerade weil wir unseren Gegner*innen nicht trauen, sind Verträge, die das menschliche Zerstörungspotential begrenzen, so unerlässlich für die Sicherheit der USA. Rüstungskontrolle ist wesentlich für unsere nationale Verteidigung und – wenn es Atomwaffen betrifft – für unsere Selbsterhaltung.“

Das bietet Anlass zu vorsichtigem Optimismus sowohl für eine erfolgreiche Verlängerung des START-Vertrages mit Russland und eine mögliche Rückkehr in den JCPOA [das Iran-Abkommen, die Red.], als auch für zukünftige bi- und multilaterale Rüstungskontrollverhandlungen.

In seiner Rede im Januar 2017 erklärte Biden: „Ich glaube, dass wir weiter nach dem Frieden und der Sicherheit einer atomwaffenfreien Welt streben müssen.“ Aber weiter: „Nukleare Abschreckung ist der Kern unserer nationalen Verteidigung seit dem Zweiten Weltkrieg. Solange andere Staaten Atomwaffen besitzen, die sie gegen uns einsetzen könnten, werden wir ein sicheres, gut geschütztes und effektives Atomwaffenarsenal unterhalten müssen, um Angriffe gegen uns und unsere Verbündeten abzuschrecken. Darum haben wir zu Beginn unserer Amtszeit die Finanzierung zur Aufrechterhaltung unseres Arsenals und zur Modernisierung unserer atomaren Infra­struktur erhöht.

Als Donald Trump sein Amt antrat, hatten die USA geplant, 1,2 Bio. US$ über die folgenden 30 Jahre in Unterhaltung und Modernisierung ihrer Atombomben, Waffenköpfe, Trägersysteme und Infrastruktur zu stecken, um die atomare Unternehmung auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Zu Bidens Amtsantritt ist diese enorme Summe schon auf 1,7 Bio. US$ angewachsen.

Biden hat in der Vergangenheit bekanntermaßen unterstützt, die Bedingungen dafür zu schaffen, Atomwaffen nur noch zur Abschreckung eines gegnerischen Angriffs zu besitzen und die strategische Bedeutung von Atomwaffen in der nationalen Sicherheitspolitik zu reduzieren. Noch ist es aber zu früh, um vorhersagen zu könne, ob das zur Absage geplanter neuer Waffensysteme oder der Abschaffung landgestützter Interkontinentalraketen führen wird, wie von manchen angeregt. In seiner Senatsanhörung zur Bestätigung versprach der neue US-Verteidigungsminister zwar eine Prüfung des Atomwaffen-Modernisierungsprogramms, erklärte aber seine „persönliche“ Unterstützung für die strategische Triade.

Obwohl der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten ist, wird, durch den etablierten militärisch-industriellen Komplex mit Atomwaffen als seinem Kern, durch eine große und reaktionäre republikanische Minderheit im Kongress sowie das Fehlen einer sichtbaren Anti-Atomwaffen-Bewegung in den USA, auf absehbare Zeit keine grundsätzliche Änderung der US-Atomwaffenpolitik zu erwarten sein.

Die Zivilgesellschaft muss sich daher zusammenschließen wie nie zuvor, um dauerhafte, breite, diverse und mehrere Themen umfassende Koalitionen, Netzwerke und Meta-Netzwerke zu schaffen, die auf unserer geteilten Hingabe zu einer universellen, unteilbaren menschlichen Sicherheit beruhen.

Jacqueline Cabasso ist Direktorin der »Western States Legal Foundation« in Kalifornien. Sie ist Mitgründerin des Netzwerks »Abolition 2000« zur Abschaffung aller Atomwaffen, Beraterin bei »Mayors for Peace« und aktiv im Koordinationskreis von »United for Peace and Justice«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing

Ambivalenter Neubeginn


Ambivalenter Neubeginn

von Jürgen Nieth

Am 20.01. hat Joseph R. Biden vor einem kleinen Publikum geladener Gäste seinen Amtseid als 46. Präsident der USA abgelegt. Unter den Gästen „die früheren Präsidenten Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama, Kongressmitglieder, Diplomaten, Familienmitglieder. Die Bevölkerung Washingtons musste zu Hause bleiben. Die »National Mall« war gesperrt und militärisch gesichert worden.“ (Majid Sattar, FAZ, 21.01.21, S. 3) Wo sonst Zehntausende dem neuen Präsidenten zujubeln, gab es diesmal nur zehntausende US-Fahnen.

Vereidigung im Ausnahmezustand…

…schildert Hubert Wetzel in der SZ (21.01.21, S. 3): „Aus Angst davor, dass bei Bidens Vereidigung noch einmal Trump-Anhänger in der Hauptstadt aufmarschieren und dann vielleicht ihre Sturmgewehre mitbringen, wurden 20.000 Nationalgardisten nach Washington verlegt. Die Innenstadt ist ein Labyrinth von Zäunen, Gittern und Betonsperren, die Kreuzungen sind mit Militärlastern und Schneepflügen blockiert und die Straßen wurden geräumt.“

Donald Trump nahm als erster Präsident seit anderthalb Jahrhunderten nicht an der Vereidigung seines Nachfolgers teil. Er war am Morgen nach Florida abgereist.

Gespaltenes Land

Mit dem neuen Präsidenten wird „eine der chaotischsten Phasen der jüngeren amerikanischen Geschichte ein Ende finden“. Reymer Klüver hält aber gleichzeitig fest, dass Donald Trump „eine im Inneren unversöhnlich tief gespaltene Gesellschaft und im Äußeren ein international isoliertes Land“ hinterlässt (SZ, 21.01.21, S. 1).

Trump geht, aber der Trumpismus bleibt. Biden hatte 81 Millionen Wähler*innen, Trump 74 Millionen. Diese „74 Millionen sind immer noch da. Und ein großer Teil von ihnen glaubt weiter an die Lüge vom gestohlenen Wahlsieg und findet, dass der Sturm auf das Kapitol ein Akt der Selbstverteidigung gewesen sei. Nicht schön, aber notwendig.“ (Hubert Wetzel, SZ, 21.01.21, S. 3)

Politikwende

Biden hat an seinem ersten Tag im Oval Office 17 Präsidialdekrete unterzeichnet, um „eine Politikwende einzuleiten“, wie Bernd Pickert in der taz (22.01.21, S. 4) schreibt. Die USA kehren zurück in das Pariser Klimaabkommen und die Weltgesundheitsorganisation, die von Trump verhängten Einreiseverbote für Bürger*innen bestimmter muslimischer Länder sind aufgehoben, die Keystone XL Pipeline von Kanada in die USA ist gestoppt, Ölbohrungen in den Nationalparks von Alaska sind vorerst wieder untersagt, für Trumps Mauerbau an der Südgrenze zu Mexiko gibt es kein Geld mehr.“

Moritz Wichmann (nd, 22.01.21, S. 1) hebt Positives aus der Rede zur Amtseinführung Bidens hervor. Er „nannte klar die vier Krisen, die die USA plagen: ‚ein Land im wütenden Virus, die Klimakrise, wachsende Ungleichheit und systemischer Rassismus‘. Und er benannte recht scharf im Ton der sonst sanft gesprochenen Rede den Rassismus und den rechten Extremismus im Land als Gegner, den es zu besiegen gelte […] Eine Schlüsselstelle der Rede ist jene, an der Biden darüber sprach, wie die USA bisher Probleme gemeistert hätten: ‚wenn genug Menschen zusammenkommen‘. Dieses ‚genug‘ läuft nicht auf Einheit mit den Republikanern, sondern auf Fortsetzung […] der pragmatischen Zusammenarbeit von Liberalen und Linken aus dem Wahlkampf hinaus.“

Aber »USA first« bleibt

Das betrifft vor allem China: „Die Vereinigten Staaten müssen China ‚aus einer Position der Stärke gegenübertreten‘, hatte der designierte Außenminister Antony Blinken […] in seiner Anhörung vor dem US-Senat erklärt […] Eine ‚aggressive‘ Antwort an China versprach auch Avril Haines, die […] an der Spitze der 17 US-Geheimdienste stehen wird.“ (Jörg Kronauer, jw, 21.01.21, S. 1) Paul Anton Krüger schreibt dazu in der SZ (21.01.21, S. 7): „Der künftige Verteidigungsminister Austin sagte, die strategische Ausrichtung des US-Militärs werde sich auf Asien und China im Besonderen fokussieren.“

»USA first« betrifft auch Russland: Krüger (s.o.) schreibt, Blinken suche einen „parteiübergreifenden Konsens in Washington und eine gemeinsame Haltung mit den Aliierten […] Moskau müsse »Kosten und Konsequenzen« seines Verhaltens tragen.“ Laut Kronauer (s.o.) befürwortet Blinken den NATO-Beitritt Georgiens. Dieser würde den militärischen Ring […] um Russland noch ein weiteres Stück zuziehen.Ein Lichtblick: Laut ZDF Nachrichtenticker (21.01.21, 22:47 Uhr) will US-Präsident Biden „den letzten großen Abrüstungsvertrag mit Moskau verlängern. […] Der New Start Vertrag wäre in gut zwei Wochen ausgelaufen. Das Abkommen begrenzt die nuklearen Arsenale Russlands und der USA auf je 800 Trägersysteme und 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe.“

Fraglich bleibt die Politik gegenüber Iran: Einerseits spricht Blinken davon, dass das Atomabkommen mit dem Iran – das von Trump aufgekündigt wurde – seinen Zweck erfüllt und die iranische A-Bombe verhindert habe. Andererseits fordert er, dass der Iran die Vereinbarungen des alten Abkommens „wieder strikt und vollständig“ einhält, dann könne man über „ein stärkeres und längerfristiges [also neues, J.N.] Abkommen“ verhandeln (Krüger, s.o.).

USA – EU

Die „Europäer:innen sollten trotz der berechtigten Freude über den Politik-Wandel der neuen US-Regierung nicht nur die Hand reichen, sondern sich darauf gefasst machen, dass nicht alle Unterschiede und strittigen Punkte einfach verschwinden.“ (Andreas Schwarzkopf, FR, 21.01.21, S. 11) Nach einer Allensbach-Umfrage „unter mehr als 500 Top-Entscheidern“ der deutschen Politik und Wirtschaft erwarten mehr als zwei Drittel, „dass sich der harte Wettkampf um politische und wirtschaftliche Macht zwischen China und den Vereinigten Staaten unverändert fortsetzt, bei dem die deutsche Wirtschaft zwischen die »Fronten« geraten könnte.“ (Heike Göbel, FAZ, 21.01.21, S. 17)

Bei der Ostseepipeline Nordstream 2 ist sie das längst und es deutet im Moment nichts darauf hin, dass sich an der Embargopolitik der USA gegen die beteiligten Firmen etwas ändern wird.

USA-first – das gilt eben auch gegenüber politisch Verbündeten.

Quellen: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, jw – junge welt, nd – der tag, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, ZDF-Ticker

Lebensweltliche Frieden


Lebensweltliche Frieden

Der Ritt der »Dakota 38+2«

von Melanie Hussak

Anhand lebensweltlicher Friedensverständnisse der L/Dakota1 betrachtet der Artikel die Bedeutung marginalisierter Ontologien (Theorien des Seins) zum Verständnis von bisher übersehenen Friedensprozessen und damit verbundenen Friedens­potentialen. Die Autorin beleuchtet am Beispiel des Ritts der »Dakota 38+2« die gegenwärtige Situation indigener Gemeinschaften sowie Einsätze zur Wiederherstellung ihrer Frieden (im Plural verstanden!) und damit verbunden von ihnen angestoßene Prozesse der Dekolonialisierung. Aus dieser Betrachtung werden im Anschluss Implikationen für die Friedensforschung und Friedensarbeit diskutiert.

Die Frage nach dem »Phänomen« Frieden, seinem Wesen, seinen Ursachen und seinen Erscheinungsbildern ist ein zentrales Thema der Friedens- und Konfliktforschung, Friedenspädagogik und Friedensarbeit. Eine umfassende Begriffsarbeit ist zentral für die Disziplin, hat der Friedensbegriff doch ebenso konstitutive wie normative Funktionen (Narr 1969, S. 14, zit. nach Schwerdtfeger 2001, S. 27). So ist er ein wesentlicher Ausgangspunkt für friedenswissenschaftliche Untersuchungsgegenstände, theoretische Bezüge sowie daraus folgende Erkenntniswege. Zudem hat das einem Friedensbegriff zugrundeliegende Verständnis von Frieden Konsequenzen für das Handeln. Somit beeinflusst der Diskurs, der innerhalb der Friedensforschung darüber geführt wird, was denn Frieden sei und wie er zu erhalten oder herzustellen ist, nicht nur etwa die Entwicklung von Methoden der Konfliktanalyse, Konfliktbearbeitung und Friedensstrategien, sondern wirkt auch auf politische Entscheidungen, wie, womit und wozu etwa auf weltweite (bewaffnete) Konflikte reagiert wird. Die konkrete Fassung des Friedensbegriffs hat also äußerst weitreichende Konsequenzen für eine Vielzahl von Menschen.

Insbesondere nach den weltpolitischen Umwälzungen von 1989 nahm die Diskussion des Friedensbegriffs neuen Schwung auf. Auch im innergesellschaftlichen Bereich etablierte sich eine empirische Friedensforschung; sie machte deutlich, dass die theoretischen Verortungen des Friedensbegriffs zumeist westlich geprägte Wissenschafts- und Konfliktverständnisse widerspiegeln. Der vielfach diskutierte »local turn« bewirkte eine stärkere Einbeziehung und Reflexion lokaler und kultureller Kontexte sowie die vermehrte Beachtung »traditioneller« Konfliktbearbeitungsmethoden, die metatheoretischen Grundannahmen der Disziplin blieben aber weitestgehend unberührt.

Auch der Friedensbegriff wurde zunehmend als zu begrenzt wahrgenommen und seine Nähe zum europäischen Nationalstaat konzeptionell bemängelt. Schwerdtfeger erinnerte beispielsweise daran, dass „ein wahrer Frieden ein Frieden ist, der von vielen Menschen bewirkt und gehalten wird und nicht nur von wenigen für viele organisiert wird“ (Schwerdtfeger 2001, S. 14). Friedensbegriffe haben demnach auch »lebensweltliche« Bedeutungsinhalte. Ähnlich wie Schwerdtfeger wies auch Wolfgang Diet­rich auf die Einschränkungen eines universalistischen Friedensbegriffs hin und schlug richtungsweisend vor, von einem singulären zu einem pluralen Verständnis von Frieden überzugehen, zu den „vielen Frieden“ (Dietrich 2008).

In den letzten Jahren wurde vermehrt begonnen, auch metatheoretische Standpunkte der Disziplin zu berücksichtigen und zu diskutieren. Dies ist insbesondere auf de- und postkoloniale, feministische und indigene Forschung zurückzuführen. Mit dem Begriff »epistemische Gewalt« wird auf die Gewalt aufmerksam gemacht, die von Wissen und Wissenschaft selbst ausgeht. Diese ist auch innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung wirkungsmächtig (Brunner 2018). Mechthild Exo spricht im Kontext der Ausgrenzung von Wissensformen abseits hegemonialer Diskurse von einem „übergangene[n] Wissen“ (Exo 2007). Für Polly O. Walker gehört die Hegemonie westlicher Erkenntnistheorien zu den gravierend­sten Aspekten der Kolonialprozesse, da dadurch die Sicht indigener Menschen auf Konfliktbearbeitung weitgehend ausgeblendet wurde (Walker 2004, S. 530). Sie betont die darüber hinaus bestehende »ontologischen Gewalt«, die vermieden werden kann, wenn berücksichtigt wird, wie indigene Gemeinschaften die Welt erleben und konzeptualisieren, und nicht eine Weltsicht eine andere gewaltvoll unterdrückt (ebenda, S. 527, 546). Dieser ontologischen Dimension, also der »Theorie des Seins«, die konzeptualisiert, wie die Welt gemacht und geschaffen ist, wurde bislang weniger Aufmerksamkeit geschenkt.

Multiple Gewaltformen gegen die indigene Bevölkerung

Indigene Communities haben in den Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund der Kolonialisierung und der dadurch verursachten physischen Gewalterfahrungen, Machtgefälle und Ungleichheiten noch immer nur begrenzte Handlungsfreiheit für ihr eigenes Land und Leben. Forderungen der indigenen Bevölkerung nach Dekolonialisierung und Selbstbestimmung sowie gesellschaftlicher und politischer Aufarbeitung des Kolonialisierungsprozesses erlangten bislang noch zu wenig Resonanz im öffentlichen Diskurs.

Anders als beispielsweise das benachbarte Kanada, dessen offizielle Entschuldigung für die zugefügte Gewalt im Jahr 2008 zu der Errichtung der »Truth and Reconciliation Commission of Canada« führte, übernahmen die Vereinigten Staaten von Amerika auf Bundesebene nie Verantwortung für den Landraub und die genozidale Politik gegen die indigene Bevölkerung. Eine Auseinandersetzung mit den Gewalttaten und dem gewaltvollen nationalen Narrativ sowie Entschuldigungen finden zumeist nur auf lokaler Ebene statt und gehen auf Graswurzel-Initiativen zurück.

Die erzwungene Assimilation und »Zivilisierung« mittels verpflichtender Beschulung in Internaten, aufgezwungener politischer Strukturen und Verboten spiritueller Praktiken, die bis Ende der 1970er Jahre gültig waren, führten zum Verlust von Identität, Sprache, Zeremonien und vielen weiteren kulturellen Praktiken. Bis heute leidet die indigene Bevölkerung Nordamerikas an andauernder physischer und struktureller Gewalt, Diskriminierung und transgenerationaler Traumatisierung.

Die strukturelle Gewalt ist in soziale und politische Strukturen eingebettet und schlägt sich nieder in einer hohen Arbeitslosigkeit, grundlegenden Versorgungsproblemen in den Reservaten, wenig politischer Teilhabe sowie Ungleichheiten im Bildungssystem (Dunbar-Ortiz und Gilio-Whitaker 2016, S. 2).

Zu den bereits genannten Gewaltformen kommt eine weitere Dimension hinzu, die für die Wiederherstellung von Frieden wesentlich ist: Durch die Trennung der indigenen Bevölkerung von ihren ursprünglich gelebten Denkweisen, Gefühlen, Beziehungsgefügen und Naturräumen sowie das Verbot von »traditionellen« Praktiken und Ritualen werden auch ihre eigenen Methoden der Konfliktbearbeitung und (Wieder-) Herstellung von innergemeinschaftlichem Frieden unterdrückt und vergessen. Zu den von außen verursachten Gewalttaten kommt somit noch eine verschärfende ontologische Gewaltdimension hinzu, indem Gemeinschaftskonflikten nicht mehr autonom und mit eigenen Mitteln begegnet werden konnte. Wertvolles Friedenswissen konnte den nächsten Generationen nur unvollständig weitergegeben werden. Dieser Verlust wirkt bis heute nach.

Viele Gewalterfahrungen haben sich in der Folge internalisiert und neue Formen der Gewalt hervorgerufen. Das zeigt sich etwa an einer hohen Rate häuslicher Gewalt, einer sehr hohen Suizidrate bei Jugendlichen sowie Problemen mit Alkoholismus und Drogen. Dementsprechend wenden sich indigene Programme und Initiativen im Bereich der Friedens- und Konfliktarbeit gegenwärtig zum einen gegen verfestigte Machtverhältnisse, zum anderen sollen durch Revitalisierung von eigenem Wissen und eigenen Praktiken auch Traumata überwunden (Wilson 2005, S. 196) und dem Bruch sozialer Beziehungen entgegengewirkt werden.

Die Frieden der L/Dakota

Die Frieden der L/Dakota sind in ein umfassendes Beziehungsgefüge und Wissens­system eingebettet. Sie drücken sich insbesondere in den beiden Bezeichnungen »mitakuye oyasin« und »­WoLakota« aus.

»Mitakuye oyasin« bedeutet so viel wie »wir sind alle mit allem verbunden« und verweist auf die besondere Verbindung der L/Dakota zu allen Entitäten. Diese Redewendung wird verwendet, wenn ein Gebet, eine Zeremonie oder ein wichtiges Gespräch beschlossen wird. »WoLakota« bezieht sich ebenfalls auf das relationale »In-der-Welt-sein« der L/Dakota und meint Frieden im Sinne von Balance. Das damit verbundene Wissenssystem ist eine zirkuläre und relationale Philosophie, in der das Gleichgewicht aller Faktoren für eine Konsensfindung im Mittelpunkt steht. Entsprechend liegt ein Fokus für die Herstellung von Frieden auf dem Wohlbefinden einer Gemeinschaft.

Diese hier nur angerissenen Verständnisse werden im Folgenden deutlich im Umgang mit dem »broken circle« – eine vielfach genutzte Metapher für den durch koloniale Gewalt unterbrochenen Kreislauf des Lebens und den damit verbundenen Versuch, die Balance in der eigenen Gemeinschaft wieder herzustellen.

Der Ritt »Dakota 38+2»

Der Ritt ist jenen 38 Dakota gewidmet, die nach dem »Sioux-Aufstand« bei der größten Massenhinrichtung in der Geschichte der Vereinigten Staaten am 26. Dezember 1862 auf Anordnung von US-Präsident Abraham Lincoln gehängt wurden, sowie weiteren zwei Dakota, die zunächst nach Kanada flüchten konnten und später gehängt wurden. Sie hatten bewaffneten Widerstand gegen die Vertreibung ihrer Gemeinschaft aus Minnesota in Richtung der Great Plains geleistet, was als »US-Dakota-Krieg« in die gängige Geschichtsschreibung einging.

Ihre Nachfahren reiten seit 2005 jährlich im Dezember 330 Meilen zum Ort der Exekution in der Kleinstadt Mankato und bitten mit diesem Ritual um Vergebung für die Gewalt, die beide Seiten verursachten. Der Ritt beginnt in Lower Brule, Süd Dakota, und führt nach Mankato, Minnesota, wo die Reitenden am Jahrestag der Hinrichtung ankommen. Es ist eine zeremonielle Reise zurück in ihre ursprüngliche Heimat.

Auf diesem zweiwöchigen Ritt kommen die Teilnehmenden durch Städte, die besonders für Rassismus gegen Indigene bekannt sind. Die Begegnungen und Auseinandersetzung mit der Geschichte wirken auf beiden Seiten transformativ. Viele Bewohner*innen dieser Städte, selbst in Mankato, erfuhren erst durch den Ritt von den Hinrichtungen, da diese in der amerikanischen Geschichtsschreibung in der Regel unterschlagen werden.

Neben dieser Bewusstseinsschaffung ist der Ritt für die Teilnehmenden eine Zeit der Erinnerung und Ehrung der Gehängten und Vertriebenen sowie der Heilung und Versöhnung. Die Heilung nach »innen«, in die eigene Gemeinschaft, umfasst mehrere Aspekte: Geschichten und Erinnerungen werden geteilt und eigenes Wissen revitalisiert und weitergegeben. Die Gemeinschaftsmitglieder erfahren Unterstützung, da in diesem geschützten Rahmen auch in der Gegenwart erlittene oder verursachte Gewalttaten benannt und angesprochen werden können. Das Aufleben von Ritualen und Heilmethoden ermöglicht eine Bearbeitung und Transformation. Damit verbunden ist auch der wichtige Aufbau des Selbstwertgefühls nach oftmals unzähligen Diskriminierungserfahrungen: das Erleben, als »Indian« wertvoll zu sein. Waziyatawin Angela Wilson betont, dass bereits der Prozess der Rückgewinnung eigener Traditionen heilend wirkt (Wilson 2005, S. 196).

Dieser Heilungsprozess wirkt aber auch nach »außen«: Über das öffentliche Erzählen von den vergangenen Ereignissen und der gegenwärtigen Lebenssituation treten die Teilnehmenden während des Ritts in Kontakt mit der lokalen Bevölkerung. Für die Heilung der Traumata der Vergangenheit ist wichtig, dass die Sichtweise und damit die Wahrheit der Reitenden Gehör findet. Außerdem bedeutet diese Heilung auch, im Sinne des Wohlergehens des Ganzen zu vergeben. Im Sinne von »Mitakuye oyasin« ist es ein Angebot an die US-Bürger*innen, die Beziehungen gemeinsam transformativ zu bearbeiten.

Implikationen für die Friedensforschung

Eine wissenschaftliche und praktische Auseinandersetzung mit Frieden braucht eine verstärkte Beschäftigung mit »blinden Flecken«. Durch ein Bewusstsein für gleichermaßen epistemische wie ontologische Gewalt werden soziale Wirklichkeiten und Erfahrungen sichtbar, die sonst marginalisiert werden oder erst gar nicht in das Blickfeld geraten. Ein Verständnis, wie indigene Gemeinschaften die Welt wahrnehmen und Frieden fassen und konzeptualisieren, birgt wichtiges Friedenspotential und Friedenswissen. Ausgangspunkt hierfür bietet eine umfassende Begriffsdiskussion sowie eine Anerkennung lebensweltlicher Friedensverständnisse.

Initiativen wie der Ritt der Dakota zeigen zudem einen dringenden Bedarf an der Bearbeitung von Konflikten, die in gegenwärtigen Konfliktdatenbanken nur unzureichend erfasst und wahrgenommen werden. Grund hierfür ist, dass Konflikte entweder internalisiert, durch Machtungleichgewichte verdeckt und/oder der Vergangenheit zugerechnet werden. Für lange Zeit blieb daher auch die genozidale Gewalt an indigenen Menschen und eine anhaltende Kolonialität aufgrund bestehender asymmetrischer Machtstrukturen als Untersuchungsgegenstand der Friedensforschung zu wenig beachtet. Polly Walker drückt das so aus: „Indigenen Menschen das Recht zu verweigern, innerhalb ihrer Weltanschauungen zu fungieren, bedeutet die Realität ihrer Erfahrungen zu leugnen. (Walker 2004, S. 531)

Die Wiederherstellung und das Aufleben eigener Frieden ist somit nicht nur Teil einer wichtigen und notwendigen dekolonialisierenden Heilung, sondern bietet auch der Friedensforschung wertvollen Erkenntnisgewinn.

Anmerkung

1) Die Lakota und Dakota gehören ebenso wie die Nakota zu den »Oceti Sakowin«, den »Seven Council Fires«. Sie sind zumeist unter der kolonialen Fremdbezeichnung »Sioux« bekannt.

Literatur

Brunner, C. (2018): Epistemische Gewalt – Konturierung eines Begriffs für die Friedens- und Konfliktforschung. In: Dittmer, C. (Hrsg.): Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung – Verortungen in einem ambivalenten Diskursraum. Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, Sonderband 2, S. 25-59.

Dietrich, W. (2008): Variationen über die vielen Frieden – Band 1: Deutungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Dunbar-Ortiz, R.; Gilio-Whitaker, D. (2016): „All the Indians died off” – And 20 other myths about Native Americans. Boston: Beacon Press.

Exo, M. (2017): Das übergangene Wissen – Eine dekoloniale Kritik des liberalen Peacebuilding durch basispolitische Organisationen in Afghanistan: Bielefeld: transcript.

Schwerdtfeger, J. (2001): Begriffsbildung und Theoriestatus in der Friedensforschung. Opladen: Leske und Budrich.

Walker, P.O. (2004): Decolonizing Conflict Resolution – Addressing the Ontological Violence of Westernization. The American Indian Quarterly, Vol. 28, Nr. 3-4, S. 527-549.

Wilson, A.W. (2005): Relieving our suffering – indigenous decolonization and a United States truth commission. In: dieselbe; Yellow Bird, M. (2005): For Indigenous Eyes Only – A decolon­ization handbook. Santa Fe: School of American Research Press, S. 189-205.

Melanie Hussak ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz der Universität Koblenz-Lan­dau. Neben der Friedensforschung ist sie dort im Bereich der Friedenspädagogik tätig und promoviert zu Friedensvorstellungen und Friedensprozessen indigener Gemeinschaften.

Mein Dank gilt Jim Miller, der den Ritt träumte und anschließend verwirklichte, seiner Frau Alberta, Josette Peltier sowie allen Teilnehmenden des Ritts im Dezember 2019, die mich herzlich willkommen hießen, für die wertvollen Begegnungen und Gespräche. Mein Dank gilt auch der Friedensakademie Rheinland-Pfalz, die diesen Feldaufenthalt finanziell unterstützte und somit erst ermöglichte.

Die Pompeo-Doktrin


Die Pompeo-Doktrin

Oder: Warum Trump Grönland kaufen wollte

von Michael T. Klare

Bei Betrachtungen der aktuellen US-Politik steht häufig Präsident Trump im Fokus. Sein Handeln orientiert sich oft an persönlichen Interessen oder Wünschen und an der Maßgabe eines »guten Deals«. Dabei wirken im Weißen Haus zahlreiche andere Akteure, die oft kompromisslos die »nationalen Interessen« der USA verfolgen. Ein Beispiel beschreibt Michael T. Klare im folgenden Text aus Le Monde diplomatique vom 10.10.2019. Dabei geht es um die Vorstellungen von Außenminister Pompeo, wie die USA die Klimaveränderungen in der Arktis (vermeintlich) zu ihrem Vorteil nutzen könnten.

Donald Trump hat mal wieder Schlagzeilen gemacht, als er im August [2019] sein Interesse am Kauf von Grönland signalisierte. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Hier sprach nicht Trump, der Immobilienkrösus. Die Idee entspringt vielmehr einer Strategie, die wir ab jetzt als Pompeo-Doktrin bezeichnen sollten.

Denn Trumps Außenminister Mike Pompeo hat in der geopolitischen Region der Arktis noch viel mehr vor als nur den Kauf von Grönland. Als der US-Präsident die Welt mit der Idee überraschte, den Dänen das halbautonome Gebiet abzuschwatzen, sahen die meisten Kommentatoren darin nur einen weiteren von Trumps zunehmend bizarren Auftritten.

So ging es offenbar auch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Die Sozialdemokratin bezeichnete den bloßen Gedanken an ein solches Geschäft als absurd“. Woraufhin Trump ihre Bemerkung „widerlich“ nannte und seinen lange geplanten Staatsbesuch in Kopenhagen absagte.

Betrachtet man diese Episode etwas näher und liest sie im Kontext mit anderen Aktionen der Trump-Regierung, drängt sich eine ganz andere Interpretation auf. Und wir alle sollten begreifen, dass es sich hier um eine Frage handelt, die für die ganze Welt, ja für die gesamte menschliche Zivilisation von immenser Bedeutung ist.

Die Arktis wird heute im Weißen Haus, ganz im Sinne Pompeos, zunehmend als eine weltpolitische Arena gesehen, in der sich der Konkurrenzkampf der Großmächte entscheidet. Und der ultimative Gewinn ist ein außergewöhnliches Reservoir an Bodenschätzen: von Erdöl und Erdgas über Uran, Zink, Eisenerz, Gold und Diamanten bis hin zu den berühmten Metallen der seltenen Erden.

Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, den niemand in Trumps Umgebung benennt, weil Begriffe wie »Klimawandel« oder »Klimakrise« im Weißen Haus verboten sind: Den Startschuss für den Wettlauf um die Schätze Grönlands hat die globale Erwärmung gegeben – was man in Washington natürlich nur zu genau weiß.

Die Großmächte haben schon seit Längerem ihr Auge auf die Arktis geworfen. Während des Kalten Kriegs war die Region um den Nordpol von großer strategischer Bedeutung. Damals planten sowohl die USA als auch die Sowjetunion, ihre mit Atomwaffen bestückten Raketen und Bomber am Rand der Arktis zu stationieren, von wo aus sie Ziele auch auf der anderen Seite der nördlichen Halbkugel erreichen konnten.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs war das Interesse an der Region allerdings weitgehend erloschen. Eisige Temperaturen, häufige Stürme und die massive Eisdecke machten einen normalen Luft- und Seeverkehr unmöglich. Wer würde dort schon Wagnisse eingehen, abgesehen von der indigenen Bevölkerung, die ihre Lebensweise seit Langem den arktischen Bedingungen angepasst hatte?

Doch der Klimawandel hat die Situation dramatisch verändert. Die Temperaturen steigen in der Arktis schneller als irgendwo sonst auf der Welt. Mit der Folge, dass die polare Eisdecke teilweise abschmilzt und zuvor unzugängliche Wasserflächen und Inseln freilegt, was eine kommerzielle Ausbeutung ermöglicht. Zum Beispiel wurden in Offshore-Gebieten, die früher den größten Teil des Jahres unter Eis lagen, inzwischen Öl- und Gasvorkommen entdeckt.

Neue Möglichkeiten, wichtige Bodenschätze zu erschließen, ergeben sich auch – richtig! – in Grönland. Angesichts dessen ist die Trump-Regierung besorgt, andere Länder, wie China und Russland, könnten die durch den Klimawandel freigelegten Chancen für sich nutzen. Deshalb hat sie eine umfassende Kampagne gestartet, um die Dominanz der USA in dieser Region zu sichern, wobei sie auch das Risiko künftiger Konflikte und Zusammenstöße in Kauf nimmt.

Pompeos Doktrin für die Arktis

Der Wettlauf um die arktischen Ressourcen startete zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Damals nahmen die weltweit größten Energiekonzerne – westliche Multis wie BP, ExxonMobil und Shell ebenso wie die russischen Giganten Gazprom und Rosneft – die Suche nach Öl- und Gasvorkommen auf, die durch den Rückzug des Packeises erschließbar geworden waren.

Diese Explorationen erhielten 2008 neuen Rückenwind, als der United States Geological Survey (USGS) den Report »Circum-Arctic Resources« veröffentlichte, der aufzeigte, dass bis zu einem Drittel der unentdeckten weltweiten Öl- und Gasreserven innerhalb des nördlichen Polarkreises lagern.

Laut Einschätzung der Autoren des Reports liegt ein Großteil der noch nicht erschlossenen fossilen Brennstoffe unter den arktischen Gewässern, die an die Hoheitszonen der USA (Alaska), von Kanada, Dänemark (Grönland), Norwegen und Russland grenzen. Diese Länder werden auch als »The Arctic Five« bezeichnet.

Gemäß dem geltenden Völkerrecht, das im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1992 kodifiziert ist, darf jeder Anrainerstaat die Ressourcen auf und unter dem Meeresboden bis zu einer Entfernung von mindestens 200 Seemeilen (370,4 Kilometern) von seiner Küstenlinie ausbeuten. Diese sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) kann sich auch über die 200-Meilen-Grenze hinaus erstrecken, wenn der geologische Festlandsockel in der betreffenden Gegend über die 200 Meilen hinausreicht.

Eine AWZ beanspruchen alle Arctic Five, einschließlich den USA, obwohl Washington das UNCLOS nicht ratifiziert hat. Die meisten bekannten Öl- und Gasvorräte liegen innerhalb der jeweiligen AWZ, allerdings befinden sich auch einige in Gebieten jenseits der 200-Meilen-Grenze, in denen sich AWZs überlappen oder die zwischen den Parteien umstritten sind.

Die Arctic Five haben im Prinzip vereinbart, alle Konflikte, die auf konkurrierende Ansprüche zurückgehen, auf friedliche Weise beizulegen. Auf diesem Grundsatz beruht auch der 1996 gegründete Arktische Rat: ein zwischenstaatliches Forum aller Staaten, die über Territorium innerhalb des arktischen Polarkreises verfügen. Das sind neben den Arctic Five noch Finnland, Island und Schweden.

Der Arktische Rat tritt alle zwei Jahre zusammen. Er bietet den Regierungen dieser Länder und den im arktischen Raum lebenden indigenen Völkern– zumindest theoretisch – die Gelegenheit, Themen von gemeinsamem Interesse zu besprechen und nach kooperativen Lösungen zu suchen.

Tatsächlich hat der Rat dazu beigetragen, die Spannungen in der Region zu dämpfen. Allerdings wurde es in den vergangenen Jahren immer schwieriger, ein Übergreifen anderer Konflikte auf die Arktis zu verhindern. Das gilt etwa für die wachsende Feindseligkeit der USA (und der NATO) gegenüber Russland und China oder für die Konkurrenz um essenziell wichtige Rohstoffvorkommen. Das jüngste Treffen des Rats fand im Mai 2019 in der finnischen Stadt Rovaniemi statt, die nur wenige Kilometer südlich des Polarkreises liegt. Dabei traten die Rivalitäten und der Drang nach vom Eis befreiten Ressourcen bereits offen zutage.

Normalerweise werden vor dem Arktischen Rat nichtssagende Bekenntnisse zur internationalen Zusammenarbeit und zum gewissenhaften Umweltschutz abgegeben. Aber dieses Mal hielt US-Außenminister Pompeo eine offen kriegerische und provokative Rede, die im Rückblick sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie damals erzielte.

Seine Worte sollten wir etwas genauer ansehen, denn mit ihnen proklamierte Trumps Außenminister eine womöglich historische neue Doktrin für den Fernen Norden. Zu Beginn schlug er noch milde Töne an: „In den ersten zwei Jahrzehnten hatte der Arktische Rat den Luxus, sich fast ausschließlich auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit, auf kulturelle Fragen, auf die Erforschung der Umweltprobleme zu konzentrieren. Das alles seien interessante und sehr wichtige Themen, die man weiter im Auge behalten müsse – aber diese luxuriösen Verhältnisse seien nun nicht mehr gegeben.

Schätze unter dem schmelzenden Eis

Damit kam Pompeo zur Sache: „Wir treten in ein neues Zeitalter des strategischen Engagements in der Arktis ein, und das bringt neue Bedrohungen der arktischen Region und seiner Besitztümer [wörtlich: »real estate«, ganz im Geiste seines Präsidenten] und aller unserer Interessen in dieser Region.

In dieser extremen Hardliner-Rede kam der Begriff »Klimawandel« natürlich nicht vor. Und doch wissen alle, dass genau dieser Klimawandel die Möglichkeiten verbessert hat, die riesigen Rohstoffvorräte der Region auszubeuten. Das Wettrennen um die Kontrolle dieser Reichtümer hat bereits begonnen, und zwar von Anfang an als geopolitische Konfrontation zwischen den USA, Russland und China.

Was die Ausbeutung der Ressourcen betrifft, so konnte Pompeo in Rovaniemi seine Begeisterung kaum zügeln. Er erinnerte an den Kauf von Alaska im Jahr 1857, für den der damalige US-Außenminister William Seward von allen Seiten verhöhnt worden war. Heute sei die Arktisregion keineswegs das unwirtliche Hinterland, als das sie zu Sewards Zeiten gesehen wurde, sondern die vorderste Kampflinie der unbegrenzten Möglichkeiten: „Hier lagern 13 Prozent der noch nicht erschlossenen globalen Öl- und 30 Prozent der Gasreserven; dazu Unmengen an Uran und seltenen Erden, an Gold und Diamanten und Millionen Quadratmeilen von unangetasteten Ressourcen.

Gleichermaßen begeistert sprach Trumps Außenminister von einer gewaltigen Expansion des maritimen Verkehrs durch die Eröffnung des neuen transarktischen Schifffahrtswegs zwischen dem euroatlantischen Raum und Asien: „Dank der ständigen Rückbildung der Eisdecke öffnen sich neue Seepassagen und neue Chancen für den Handel. Damit würde sich die Reisezeit zwischen Asien und dem Westen potenziell um bis zu 20 Tage verkürzen. Laut Pompeo könnten die „arktischen Seerouten zum Suez- und Panamakanal des 21. Jahrhunderts“ werden.

Dass die „ständige Rückbildung der Eisdecke“ einzig und allein auf den Klimawandel zurückgeht, fand ebenso wenig Erwähnung wie eine weitere Tatsache: Sollte die arktische Passage einmal tatsächlich zum Suez- oder Panamakanal des Nordens geworden sein, dürften sich zugleich weite Teile des globalen Südens in unbewohnbare Wüstenzonen verwandelt haben.

Sobald sich diese »neuen Chancen« ergeben, wollen die Vereinigten Staaten die Ersten sein, die sie zu nutzen wissen. In Finnland spuckte Pompeo große Töne über die tollen Fortschritte, die seine Regierung bereits gemacht habe, etwa mit den großzügigen Lizenzen für Öl- und Gasbohrungen in küstennahen Gewässern, aber auch mit der Erlaubnis zur „Erkundung von Energiequellen“ im Arctic National Wildlife Refuge (ANWR).

Dieses Naturschutzgebiet im äußersten Nordosten Alaskas wird von Umweltaktivisten vor allem als Überlebensraum für die umherziehenden Karibus und andere gefährdete Tierarten geschätzt. Das hinderte Pompeo nicht, weitere Aktivitäten zur Ausbeutung der Bodenschätze anzukündigen.

Um seine Zuhörer zu beruhigen, erklärte der US-Außenminister, dass die Konkurrenz um die arktischen Ressourcen „im Idealfall“ durchaus geordnet und friedlich ablaufen würde. Sein Land glaube an „den freien und fairen und offenen Wettbewerb nach rechtsstaatlichen Prinzipien“.

Aber dann folgte gleich die Drohung: Andere Länder und insbesondere China und Russland würden sich zumeist nicht an diese Regeln halten, deshalb müssten sie einer genauen Aufsicht unterliegen und nötigenfalls auch bestraft werden.

Pompeo ging dann speziell auf China ein. Peking sei längst dabei, in der arktischen Region neue Handelswege zu erschließen und Wirtschaftsbeziehungen mit den Anliegerstaaten zu entwickeln. Allerdings würden die Chinesen ihre angeblich nur ökonomischen Aktivitäten hinterrücks auch zu militärischen Zwecken nutzen – behauptete der Außenminister jenes Landes, das in der Arktis bereits diverse Militäreinrichtungen unterhält, darunter die Luftwaffenbasis Thule im Norden von Grönland.1

Unverschämterweise, so Pompeo, spionierten die Chinesen den mit Interkontinentalraketen bestückten US-amerikanischen U-Booten nach, die im arktischen Raum operieren und für die nukleare Abschreckungsstrategie seines Landes unentbehrlich sind. Er verwies insbesondere auf die Vorgänge im Südchinesischen Meer. Dort hat China in der Tat auf ein paar winzigen unbewohnten Inseln Militäranlagen, wie Flugplätze und Raketenstellungen, errichtet, worauf die USA mit der Entsendung von Kriegsschiffen in die umliegenden Gewässer reagiert haben.

Der Hinweis diente ersichtlich als Warnung, dass eine ähnliche militärische Konfrontation und potenzielle Zusammenstöße künftig auch in der Arktis denkbar sind: „Wir sollten uns fragen, ob wir wollen, dass der Arktische Ozean zu einem neuen Südchinesischen Meer wird, belastet durch Militarisierung und konkurrierende territoriale Ansprüche.

Wobei Pompeo anschließend noch stärkere Worte gegen Russland fand, dem er „ein aggressives Vorgehen in der Arktis“ vorwarf: Moskau habe in der Region hunderte neue Stützpunkte errichtet, neue Häfen gebaut und sein Flugabwehrsystem erneuert. Diese Bedrohung könne nicht ignoriert werden: „Russland hinterlässt bereits Spuren im Schnee – in der Form von Militärstiefeln. Die Arktis sei zwar eine Art Wildnis, „doch das heißt nicht, dass dort Gesetzlosigkeit herrschen sollte […] Und wir bereiten uns darauf vor, sicherzustellen, dass es nicht so weit kommt.

Das also ist der Kern der Botschaft: Die Vereinigten Staaten müssen selbstredend »reagieren«, indem sie ihre eigene militärische Präsenz in der Arktis verstärken – mit den einzigen Ziel, ihre Interessen zu verteidigen und das Vordringen der Chinesen und der Russen zu kontern.

Solche Töne sind keineswegs nur Zukunftsmusik: „Unter Präsident Trump verstärken wir die Sicherheit und die diplomatische Präsenz der USA in dieser Region. Zur Stärkung unserer Sicherheit – die zum Teil als Reaktion auf die destabilisierenden Aktivitäten Russlands erfolgt – veranstalten wir Militärmanöver, verstärken unsere Truppenpräsenz, bauen unsere Eisbrecherflotte wieder auf und erhöhen die Ausgaben für unsere Küstenwache“, listete Pompeo auf.

Zudem werde „innerhalb unseres Militärs eine neue Stabsstelle für arktische Angelegenheiten“ eingerichtet, fügte der US-Außenminister hinzu.

Zum Beweis, dass Washington es ernst meint, pries Pompeo stolz die größten Militärübungen der USA und der NATO, die seit dem Ende des Kalten Kriegs im arktischen Raum stattgefunden haben. Dieses multinationale Manöver mit 50.000 Soldaten (unter dem Codenamen »Trident Juncture 18«) wurde vom 25. Oktober bis zum 23. November 2018 auf norwegischem Territorium abgehalten.2 Nach dem offiziellen Szenario für »Trident Juncture 18« war der Gegner ein nicht namentlich genannter »Angreifer«, aber für alle Militärbeobachter war eindeutig klar, dass die NATO-Truppen eine hypothetische russische Invasion in Norwegen zurückzuschlagen hatten.

So wird in groben Konturen die Pompeo-Doktrin erkennbar, der eine Kern­annahme zugrunde liegt, die innerhalb der Trump-Administration eigentlich verboten ist: dass die Klimakrise tatsächlich existiert. Diese überaus aggressive Doktrin geht für die arktische Region von einer permanenten Konkurrenz und von anhaltenden Konflikten aus, die sich infolge der Erderwärmung und des Abschmelzens der polaren Eiskappen immer weiter zuspitzen.

Die Auffassung, dass sich die USA im Fernen Norden mit den Russen und Chinesen ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, hat sich in Washington – speziell im Pentagon und im Nationalen Sicherheitsrat – über einen längeren Zeitraum herausgebildet. Im August 2019 ist sie offenbar auch im Weißen Haus so geläufig geworden, dass sie Trump darauf gebracht hat, Grönland kaufen zu wollen.

Dabei ist diese Idee angesichts der grönländischen Ressourcen und möglicher künftiger Auseinandersetzungen keineswegs irre oder skurril. Denn auf der größten Insel der Erde gibt es sowohl eine Menge Bodenschätze als eben auch die Militärbasis von Thule – ein Relikt des Kalten Kriegs, das heute vornehmlich als Radarstation dient. Die Anlage wurde bereits für 300 Millionen Dollar modernisiert, um russische Raketentests besser überwachen zu können. Aus der Sicht Washingtons ist Grönland von unschätzbarem Wert in dem geopolitischen Gerangel, das Pompeo in Rovaniemi dargestellt hat.

Bei den neuen strategischen Überlegungen im State Department und im Pentagon spielen auch Island und Norwegen eine wichtige Rolle. So hat die US-Marine ihren alten Stützpunkt im isländischen Keflavík wieder besetzt – eine weitere Hinterlassenschaft des Kalten Kriegs – und integriert diesen nun in ihre Strategie der U-Boot-Bekämpfung. Und auf einer Basis in der Nähe der norwegischen Stadt Trondheim sind gegenwärtig mehrere hundert der berühmten »Marines« stationiert. Dabei handelt es sich um den ersten Daueraufenthalt ausländischer Soldaten auf norwegischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. 2018 hat das Pentagon sogar die außer Dienst gestellte Zweite US-Flotte wieder reaktiviert und mit der Aufgabe betraut, den Nordatlantik und die Seewege in Richtung Arktis zu beschützen, was die Gewässer um Grönland, Island und Norwegen einschließt.

Wir gehen also offensichtlich heißen Zeiten entgegen, wobei die umfassenden Investitionen, die dem US-amerikanischen Militär das Agieren im Fernen Norden ermöglichen sollen, erst an ihrem Anfang stehen. Während »Trident Juncture 18« operierte der Flugzeugträger »Harry S. Truman« und seine Begleitflotte in norwegischen Gewässern – und zwar erstmals seit der Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991 auch nördlich des Polarkreises.

Seitdem hat Marineminister Richard Spencer angekündigt, das Pentagon werde in der Sommersaison Überwasserschiffe der U.S. Navy die gesamte Arktis durchqueren lassen,3 was bislang nur unterhalb der Eisdecke, also für Atom-U-Boote möglich war.

Der Plan wurde diesen Sommer nicht realisiert.4 Aber in allerjüngster Zeit haben Einheiten der US-Marine und der Marineinfanterie an der Küste von Alaska ein großes amphibisches Landungsunternehmen durchgeführt. An der Übung im Rahmen des Militärmanövers »Arctic Expeditionary Capabilities Exercise (AECE) 2019«, des größten seiner Art seit Jahren, waren rund 3.000 Einsatzkräfte beteiligt. Sie sollte dazu dienen, die Fähigkeit des US-Militärs zu offensiven Landungsoperationen in der umkämpften arktischen Region zu verbessern.

Obwohl der US-Außenminister und seine Redenschreiber den Begriff »Klimawandel« niemals verwenden, ist jeder Aspekt der neuen Pompeo-Doktrin durch die Auswirkungen dieses Phänomens bestimmt. Weil die Temperaturen mit dem erhöhten Ausstoß von Treibhausgasen immer weiter ansteigen, wird die Eisdecke der Arktis immer schneller schrumpfen.

Damit wird die Ausbeutung der arktischen Energievorkommen zunehmend einfacher, was eine erhöhte Produktion fossiler Brennstoffe bedeutet, die wiederum den Teufelskreis der Erderwärmung und des beschleunigten Abschmelzens des Polareises weiter antreibt. Mit einem Satz: Die Pompeo-Doktrin weist den sicheren Weg in die Katastrophe.

Dabei kommt noch ein Aspekt ins Spiel: Die steigenden Temperaturen und die Zunahme extremer Stürme werden die Öl- und Gasförderung in anderen Weltregionen wahrscheinlich stark beeinträchtigen. So gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die Menschen im Nahen und Mittleren Osten bis 2050 im Sommer mit durchschnittlich knapp 50 Grad Celsius rechnen müssen. Solche mörderische Hitze macht das Arbeiten im Freien unmöglich.

Im Golf von Mexiko – und in klimatisch vergleichbaren Regionen – könnten Hurrikane wegen der steigenden Wassertemperaturen immer extremer werden und die kontinuierliche Förderung auf den Ölbohrplattformen behindern. Sollte die Menschheit bis 2050 nicht die komplette Umstellung auf alternative Energien geschafft haben, wird die Arktis in der Mitte dieses Jahrhunderts zur wichtigsten Lieferregion von Gas und Erdöl geworden sein. Das wird den Kampf um die Kontrolle dieser fossilen Ressourcen nur noch erbitterter machen – der teuflischste Aspekt der Reaktion der Menschen auf die Klimakrise.

Je mehr fossile Energie wir verbrauchen, umso schneller wird sich die Ökologie der Arktis verändern. Und wenn die auf fossilen Brennstoff beruhende Extraktionsökonomie in anderen Regionen aus klimatischen Gründen zum Erliegen kommt, ohne dass wir die Abhängigkeit von Öl und Gas überwunden haben, wird das Schicksal des Fernen Nordens besiegelt sein. Dann wird die ehemals unberührte Weltregion, wie von der Pompeo-Doktrin vorausgesehen, zum Schauplatz heftiger Konflikte werden – und zu einer Katastrophe für die gesamte Zivilisation.

Anmerkungen

1) Die US-Basis Thule existiert bereits seit 1951 und hat eine drei Kilometer lange Landebahn. Während des Kalten Kriegs diente sie als Operationsbasis des Strategic Air Command, also der mit Atomwaffen bestückten Langstreckenbomberflotte der U.S. Air Force (B-36, B-47 und B-52). Die Basis beherbergt heute auch die größte und nördlichste Satellitenbodenstation der U.S. Air Force. Gegenwärtig halten sich dort permanent etwa 600 Armeeangehörige und Zivilisten auf.

2) Dabei handelte es sich um das größte NATO-Manöver seit der Auflösung der Sowjet­union. Parallel dazu fand das ebenfalls multinationale Seemanöver »Northern Coasts 2018« in der Ostsee vor Finnland statt. An beiden Manövern war die Bundeswehr mit starken Kontingenten beteiligt.

3) Siehe Wall Street Journal, 12. Januar 2019.

4) Das Vorhaben wurde auch in Fachkreisen kritisch gesehen, denn es hätte nicht nur U.S.-Navy-Schiffe (durch Eisgang) gefährdet, sondern auch zu Konflikten mit Russland und Kanada geführt. Siehe Rebecca Pinkus, »Rushing Navy Ships into the Arctic for a FONOP is Danger­ous«, in: RealClear Defense, 1. Februar 2019.

Michael T. Klare ist Professor em. für Friedens- und globale Sicherheitsstudien und schreibt regelmäßig für die Website TomDispatch, auf der auch dieser Text erschienen ist. Sein neues Buch »All Hell Breaking Loose – the Pentagon’s Perspective on Climate Change« erschien im November 2019 bei Metropolitan Books.

Aus dem Englischen übersetzt von Niels Kadritzke.
© Michael Klare; für die deutsche Übersetzung: LMd, Berlin

W&F dankt »Le Monde diplomatique« für die Nachdruckrechte. Der Artikel erschien unter der Überschrift »Warum Trump Grönland kaufen wollte« in der Ausgabe vom 10.10.2019.

Nahost-Poker oder Mord als Politik


Nahost-Poker oder Mord als Politik

von Jürgen Nieth

Anfang Januar tötete das US-Militär mit einer Drohne den iranischen General Quasim Soleimani in Bagdad/Irak. Ein Mord auf Befehl von US-Präsident Trump, gesteuert über die US-Drohnenzentrale im rheinland-pfälzischen Ramstein – obwohl „die USA der Bundesregierung in der Vergangenheit zugesichert [hatten], die Basis nicht für rechtswidrige Aktivitäten zu missbrauchen“ (NZZ 7.1.20, S. 10).

Erhöhte Kriegsgefahr?

Für den demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden hat Donald Trump damit „eine Stange Dynamit in ein Pulverfass geworfen“ (taz 4.1.20, S. 10). Laut Bruce Ackermann, Professor an der Universität Yale, befinden sich die USA gemäß Völkerrecht „aufgrund der Tötung eines hohen Beamten einer ausländischen Regierung bereits im Kriegszustand mit dem Irak“ (nd 9.1.20, S. 1). Der Machtmissbrauch ist für ihn „so schwerwiegend, dass er als dritter Anklage-Artikel in das Impeachment-Verfahren im Kongress aufgenommen zu werden verdiene“.

Kommentatoren verschiedener anderer Zeitungen gehen nicht ganz so weit, sprechen aber von erhöhter Kriegsgefahr und ziehen Parallelen zum Mord von Sarajewo vor dem Ersten Weltkrieg.

Aus Sicht von K.D. Frankenberger (FAZ 4.1.20, S. 1) „[kann] diese Aktion eine militärische Dynamik in Gang setzen und beteiligte wie unbeteiligte Länder an den Rand eines Krieges bringen – und darüberhinaus“. Matthieu von Rohr (SPIEGEL 11.1.20, S. 6): Trumps „Vorgehen erinnert an eine Mischung aus Drohpolitik des 19. Jahrhunderts und New Yorker Mafiamethoden: Recht hat, wer die größeren Kanonenboote besitzt. Wer auf das Angebot einer Umarmung nicht eingeht, muss mit Mord rechnen.Sigmar Gabriel, ehemaliger deutscher Außenminister (Handelsblatt, 6.1.20, S. 48): „Ein 1914-Moment: Niemand will den Krieg und doch kommt es dazu, weil die internationale und regionale Diplomatie versagt und niemand eingreift. Josef Joffe (ZEIT 9.1.20, S. 1): Die beste aller schlechten Nachrichten: Wir befinden uns nicht im Juli 1914 […] Damals wollten alle Mächte den Krieg, heute will ihn niemand.Joffe schiebt nach: „Gewiss kann der Iran »asymmetrisch« zuschlagen […] Nur, wer hat hier die »Eskalationsdominanz« – wer kann in der nächsten Runde einen drauflegen? […] Der Iran kann es [Trump] nicht in gleicher Münze heimzahlen; es fehlt die strategische Reichweite. Amerika hat Basen ringsum, der Iran hat keine auf Kuba.

Selbstverteidigung?

Trump begründete den Mord mit Selbstverteidigung. Der Angriff sei notwendig gewesen, um „»unmittelbar bevorstehende Bedrohungen« für Amerikaner in der Region zu »durchkreuzen«“ (Josef Alkatout in NZZ 7.1.20, S. 10). Dazu Wolfgang Hübner (nd 9.1.20, S. 1): „Nach wie vor bemüht sich Trump um keinerlei Beweise für seine Behauptung, dass der getötete General unmittelbare Anschläge geplant habe. Die Behauptung klingt so wie andere Kriegslügen. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages äußern sich vorsichtiger, berichtet nd (15.1.20, S. 5): „Nach den Einlassungen der US-Administration ist nicht deutlich zu erkennen, warum die Tötung Soleimanis im Irak unbedingt notwendig gewesen sein soll, um eine akute Gefahr für das Leben von US-Amerikanern ultima ratio abzuwehren.Der tödliche Drohnenangriff erfülle daher „offensichtlich nicht die Kriterien eines »finalen Rettungsschusses«“, sondern erscheine als Verstoß gegen das im Zivilpakt der Vereinten Nationen festgeschriebene Recht auf Leben. Auch H. Wetzel (SZ 13.1.20, S. 4) bezweifelt die Beweisbarkeit von Trumps Behauptung, kommt aber trotzdem zu der Schlussfolgerung, „dass Soleimani ein legitimes militärisches Ziel war“, aufgrund seiner Verantwortung für Guerillaaktionen.

Kulturgüter zerstören

Trump missachtet auch die 1954 auf Initiative der USA beschlossene »Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten«. So kündigte er an, dass die USA im Fall „iranischer Racheakte“ 52 iranische Ziele, darunter antike Kulturstätten, angreifen würden. Dazu Bahman Nirumand in der taz (11.1.20, S. 3): „Nicht nur das Militär und die Infrastruktur des Landes sollen ins Visier genommen werden, auch die Seele einer ganzen Nation sollte zerstört und deren Wurzeln verbrannt werden. Stellen Persepolis, die Freitagsmoschee in Isfahan oder das Grabmal von Hafis in Schiras so eine Gefahr für die Vereinigten Staaten dar, dass sie vernichtet werden müssen?“

Aussichten

Weit auseinander liegen die Einschätzungen darüber, ob es einen Profiteur nach dem Mord an Soleimani gibt und wer das ist, die USA oder der Iran. Die SZ (13.1.20, S. 4) titelt „Trumps rote Linie“. Für sie diente der Anschlag dazu, einem „rationalen sicherheitspolitischen Prinzip wieder Geltung zu verschaffen: der Abschreckung“. Die taz (4.1.20, S. 10) sieht „Iran im Vorteil“. Auch Sigmar Gabriel (Handelsblatt, s.o.) geht davon aus, dass sich das „Kräftegleichgewicht im Irak […] zuungunsten der USA und zugunsten des Iran verschieben“ wird. Er bezeichnet die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran als völkerrechtswidrig und empfiehlt, über die EZB oder Natio­nalbanken Wirtschaftshilfe zu finanzieren, wenn der Iran zum Atomabkommen zurückkehrt. Ganz anders Josef Joffe (Zeit, s.o.). Für ihn ist es „im europäischen Interesse, dem Regime den Preis verschärfter Sanktionen zu zeigen“.

Während einige Kommentatoren davon ausgehen, dass sich Trump gerne aus dem Nahen Osten zurückziehen würde, sieht das der Nahostexperte Michael Lüders (Freitag 9.1.20, S. 7) ganz anders: „Die USA beanspruchen gemeinsam mit ihren regionalen Verbündeten Israel und Saudi Arabien die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten. Iran ist das letzte verbliebene Bollwerk, das es zu schleifen gilt – um gleichzeitig Teherans Verbündete Moskau und Peking auf Distanz zu halten.Lüders schlussfolgert: „Und die Europäer? Wären gut damit beraten, nicht nur Teheran zur ‚Mäßigung‘ aufzurufen, sondern sich ebenso deutlich von Washingtons Kriegstreiberei zu distanzieren. Andernfalls droht – kommt es zum großen Knall – der Bündnisfall.

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Freitag, Das Handelsblatt, nd – Neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, DER SPIEGEL, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, DIE ZEIT.

USA aus Syrien?

Rückzug der USA aus Syrien?

von Mechthild Exo und Karin Leukefeld

Der Abzug der westlichen Truppen aus Syrien ist eine Kernforderung der Friedensbewegung und wird häufig aus völkerrechtlichen Gründen angemahnt. Dennoch sorgte die Ankündigung von US-Präsident Trump vom Dezember 2018, alle Truppen aus Syrien abzuziehen, auch in der deutschen Friedens­bewegung für Aufregung. So gab es viele Stimmen, die vor allem nach der Zukunft der selbstverwalteten Gebiete im Norden und Nordosten Syriens (»Rojava«) fragten. Nicht zuletzt wird befürchtet, die türkische Regierung unter Präsident Erdogan würde einen von ihr als »Machtvakuum« wahrgenom­menen
US-Abzug mit einer erneuten Intervention beantworten, die wie im Fall der Eroberung Afrins in Vertreibung und Besatzung enden könnte.
Auch wenn die Entwicklung inzwischen gezeigt hat, dass Trumps Ankündigung nicht so und nicht so schnell umgesetzt wird, sind diese Fragen weiterhin aktuell. »Wissenschaft und Frieden« bat zwei Kennerinnen der Region darzustellen, wie aus ihrer jeweiligen Sicht ein Abzug der US-Truppen zu bewerten wäre. Mechthild Exo und Karin Leukefeld beleuchten das Thema auf sehr unterschiedliche Weise.

Ein Friedensprozess für Syrien ist möglich

von Mechthild Exo

Ende 2018 signalisierte der eingeleitete US-Truppenabzug der Türkei freie Hand für einen militärischen Überfall auf Nordsyrien. Kurz zuvor hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gedroht, die gesamte Selbstverwaltungsregion im Norden Syriens militärisch zu erobern und zu besetzen, wie bereits seit März 2018 den westlichsten Kanton in Selbstverwaltung, Afrîn.

Die Ankündigung des Abzugs aller US-Soldaten aus Syrien löste daher bei der Kurdischen Bewegung, bei Solidaritätsgruppen und bei zahlreichen Außenpolitiker*innen unmittelbar kritische Reaktionen aus, die auf das übliche machtpolitische Denken zurückgriffen. Doch die Kurdische Bewegung hatte das US-Militär nicht darum gebeten, nach Syrien zu kommen. Die Erfolge der gesellschaftlichen Transformation zu einer basisdemokratischen, geschlechterbefreienden Lebensweise sowie die Zurückdrängung und Niederschlagung des »Islamischen Staates« (IS) haben ihre Wurzeln nicht in der militärischen
Unterstützung von außen. Vielmehr sind die politischen Grundideen entscheidend für die Verteidigung des selbstorganisierten Demokratieprojektes in Nordostsyrien und für eine Friedenspolitik für das gesamte Syrien. Darum soll es nachfolgend gehen.

Schlüsselfaktor Bewusstsein

Das, was viele als gelebte Utopie beeindruckt und durch Mut und Zuversicht im Kampf gegen den IS überraschte – schließlich hatten zuvor staatliche Armeen vor den faschistischen Mörderbanden des IS kapituliert1 –, lässt sich nicht vorrangig mit militärischer Kooperation, Schlagkraft oder anderen Machtfaktoren erklären. Die bewaffneten Handlungen werden von der Kurdischen Bewegung nicht als Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele verstanden. Ganz im Gegenteil: Die sozialen und persönlichen Veränderungsprozesse, die Bildung und der
Aufbau von Strukturen der Selbstorganisierung sind der Weg zur Durchsetzung der neuen Gesellschaft. Diese Prozesse stehen im Zentrum. Die bewaffneten Verteidigungsaktivitäten ergänzen diese und dürfen nicht losgelöst gedacht werden, sie sind aber eher so etwas wie die zweite Seite einer Medaille.

„Das Bewusstsein über die Errungenschaften der Rojava-Revolution ist für die Frauen und die Bevölkerung eine wichtige Motivation, sich auf allen Ebenen für ihre Verteidigung einzusetzen. Das ist es, was den Frauen der [kurdischen Frauenverteidigungseinheiten] YPJ von Serê Kaniyê und Kobanê bis hin nach Reqqa und Dêrazor den Mut und die Kraft verlieh, den IS in die Flucht zu schlagen und zu besiegen.“ (Benario 2019, S. 20) Von ziviler Seite wird das z.B. von Suad Ewdilrahman für den von zehn Frauen als Kooperative betriebenen Laden »Schönheit
der Frau« bestätigt: „Wir sind mit unserer Arbeit zufrieden und möchten ein Beispiel für die ganze Welt sein. Mitten in unserer Revolution sind wir Frauen an der Kriegsfront im Einsatz gewesen. Das war genauso wichtig wie unsere Arbeit hier im Innern der Gesellschaft. Das ist auch eine Front. Wir haben beides zugleich geschafft. Wir sind stark und weichen vor unseren Feinden nicht zurück. Wir stehen unsere Frau – gegen alle Anfeindungen.“ (Krieg 2019)

Das solidarische Bewusstsein in der Gesellschaft und der Wille, frei und würdevoll zu leben, ermöglichen erst den Widerstand. Sie verhindern auch, dass der Krieg und erfahrenes Unrecht die Menschen zu Brutalität und Zerstörung verleiten. Dieses Bewusstsein ist zudem die Grundlage für politische Lösungen und für die Demokratisierung von ganz Syrien.

2019 wurde am 21. März das Frühlings- und Neujahrsfest Newroz in Nord- und Ostsyrien besonders überschwänglich gefeiert. Newroz ist ein Fest aufbrechender Lebenskraft, des Neubeginns von Wachstum, und für Kurd*innen ist es zudem schon lange ein Fest des Widerstands. Dieses Jahr konnte die erfolgreiche Niederschlagung des IS bejubelt und tanzend gefeiert werden. Seit 2014 wurde der IS, beginnend mit der selbstverwalteten Stadt Kobanî, zunehmend zurückgedrängt. In den Wochen vor Newroz 2019 hatte sich der IS in den ostsyrischen Ort al-Bagouz an der Grenze zum Irak zurückgezogen und wurde vom
Verteidigungsbündnis »Demokratische Kräfte Syriens« (SDF) eingekesselt. Immer wieder wurden die letzten Gefechte zur Einnahme von al-Bagouz hinausgeschoben. Zehntausende konnten so flüchten und sich ergeben. Zwei Tage vor Newroz wurden die letzten IS-Stellungen durch die SDF-Einheiten, an denen sich kurdische, arabische, assyrisch-aramäische, armenische und internationalistische Kämpfer*innen beteiligten, eingenommen. Viele verloren noch bei den letzten Kämpfen ihr Leben.

52.000 Quadratkilometer wurden in Syrien von der IS-Herrschaft befreit. Das US-Militär unterstützte im Rahmen der Anti-IS-Koalition, die sich aus 74 Staaten, einschließlich Deutschland, sowie der NATO und der EU zusammensetzt, die Kämpfe mit Luftbombardierungen. Im Einsatz zur Zerschlagung des IS fielen 11.000 Kämpfer*innen – 8.500 Kurd*innen, 2.000 Araber*innen, hunderte Suryoye (Assyrer*innen) und hunderte Internationalist*innen aus der ganzen Welt. 22.000 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt (Tev-Dem 21.3.2019)

Für die SDF und ihre Unterstützer*innen war dies nicht nur ein Kampf zur Verteidigung einer einzelnen Region, sondern auch ein Kampf zur Verteidigung der Menschheit sowie zur Verteidigung der Frau im Rahmen der Prinzipien einer Demokratischen Nation” (ANF 28.3.2019).

Neue politische Konzepte: Demokratische Nation und Demokratische Autonomie

Eine Demokratische Nation ist in Nordsyrien seit 2012 im Entstehen, und die Grundlagen dafür werden in den vom IS befreiten Gebieten in Ostsyrien gelegt. »Demokratische Nation« ist ein Konzept, das Nation grundsätzlich anders begreift als der gewohnte Nationenbegriff mit Bezug auf den Staat als Ordnungsinstanz und mit territorialer Umgrenzung. Nation hat hier nichts mit Nationalstaatlichkeit oder Nationalismus zu tun. Die Demokratische Nation ist eine Verbindung sozialer Gruppen und freier Individuen auf der Basis des freien Willens. Die sozialen Gruppen müssen nicht homogen sein oder eine
gemeinsame Geschichte aufweisen, sondern sie können verschiedene ethnische, kulturelle, religiöse und andere Identitäten umfassen.

Im selbstverwalteten Nord- und Ostsyrien leben neben Kurden*innen auch Araber*innen, Suryoye, Turkmen*innen, Ezid*innen und andere Gruppen. In den letzten Jahren kamen zahlreiche Kriegsgeflüchtete aus anderen Teilen Syriens sowie die Ezid*innen aus dem Irak nach Nordsyrien. Mit diesem pluralistischen Verständnis von einer freiheitlich und solidarisch verbundenen Nation ist die Verantwortung für politische Entscheidungen und für die Organisation des Lebens verbunden, die von der Gesellschaft selbst übernommen wird. Diese demokratische Selbstorganisierung, die den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen, wie religiösen Minderheiten und der Jugend, eigenständige Strukturen und Rechte zuschreibt, wird als »Demokratische Autonomie« bezeichnet. Nach außen werden diese Strukturen von der kurdisch dominierten Demokratischen Unionspartei (PYD), jedoch vor allem vom Exekutivrat und vom kürzlich gegründeten Frauenrat der Föderation Nord- und Ostsyrien vertreten.

Wo zuvor staatliche Herrschaft die Gesellschaft überging und machtpolitisches sowie marktwirtschaftliches Denken dominierten, werden nun das gesellschaftliche Leben, die sozialen Beziehungen sowie die kommunalen Kommunikations- und Entscheidungsräume ins Zentrum gestellt.

Frauenorganisierung als Grundlage der gesellschaftlichen Befreiung

Die Organisierung der Frauen und die Überwindung der patriarchalen Grundlagen in familiären und anderen sozialen Strukturen gilt als notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche Befreiung.

Nachdem die Stadt Rakka im Oktober 2017 von der IS-Herrschaft befreit worden war, gehörte die Einberufung von Frauenkommunen und Frauenräten zu den ersten Aktivitäten für den Aufbau der Demokratischen Autonomie – wie überall in der Selbstverwaltungsregion. Frauen haben weitere autonome Strukturen, beispielsweise »Junge Frauen« oder von Frauenwirtschaftskooperativen, -akademien und -beratungseinrichtungen, aufgebaut. Zudem gibt es eine Quote von 40 % für Frauen in den übergreifenden Entscheidungsgremien. Alle Leitungspositionen sind mit einer
Doppelspitze aus einem Mann und einer Frau besetzt. Als Gesamtvertretung gibt es neben dem Exekutivrat auch den Frauenrat der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien. Die »Jineolojî« (Frauenwissenschaft; »jin« ist das kurdische Wort für »Frau«) bildet die Basis für eine neue Form von Sozialwissenschaft; sie stellt die positivistische, eurozentrische und von Grund auf patriarchale (westliche) Wissenschaft radikal in Frage und praktiziert andere Kriterien und Methoden für die Gewinnung von Erkenntnissen.

Theorie der demokratischen Lösung als Gegenstrategie

Nach der Vertreibung des IS ist die Frage nach der Absicherung des demokratischen Aufbaus nun vor allem mit der destruktiven Rolle der Türkei verknüpft. Die Bedeutung von Friedensverhandlungen trat spätestens seit der Zuspitzung der türkischen Angriffsdrohung Ende 2018 in den Vordergrund. Der angekündigte US-Truppenabzug wurde von vielen Seiten kritisiert, schließlich nicht umgesetzt und in den folgenden Monaten relativiert. Zudem wurde von vielen Seiten, einschließlich den USA, der Schutz der Kurd*innen in Nordsyrien vor Angriffen durch die Türkei gefordert.

Im Gegensatz zu den üblichen staats- und auf Machtansprüchen bezogenen diplomatischen Reaktionen wird vor Ort allerdings eine Friedensstrategie sichtbar, die auf einer Lösung der Probleme der Gesellschaften, auf einer demokratischen Lösung fußt. Der Frieden muss demnach von der Gesellschaft ausgehen und deren Willen verwirklichen.

Diese Herangehensweise zeigt sich darin, dass der basisdemokratische Aufbau trotz Angriffsgefahr gezielt vertieft und ausgeweitet wird. Es werden weitere Kommunen gegründet, Kindergärten, Frauenkooperativen und Jineolojî-Zentren eröffnet. Bei der Eröffnung des Jineolojî-Forschungszentrums in Hesekê am 8.1.2019 wurde erklärt, dies sei „die beste Antwort auf alle Angriffsdrohungen“ (ANF 8.1.2019).

Der langjährige PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan, der sich seit 1999 in türkischer Haft befindet, wird auch von vielen Kurd*innen in Syrien als Repräsentant der kurdischen Bewegung gesehen. Seine politische Philosophie prägt das gesellschaftliche Modell der Selbstverwaltungsregion, und seine Ausarbeitungen für eine Theorie der demokratischen Lösung und die Roadmap for Peace (Öcalan 2009, deutsch 2013) erhalten aktuell große Beachtung. Öcalan äußert sich zu den Entwicklungen in Syrien wie folgt: Die SDF könnten „für die Problemlösung in Syrien auf die Konfliktkultur verzichten und
einen Status erreichen […], der den Prinzipien der
lokalen Demokratie entspricht und ihre Rechte auf der Grundlage eines vereinten Syriens verfassungsrechtlich garantiert“ (Öcalan et al. 2019, S. 6). Öcalan hält „es für notwendig, auf eine verfassungsrechtliche demokratische Lösung vorbereitet zu sein und Wege zu entwickeln, die auch das syrische Regime überzeugen können. Wenn in Nordsyrien innerhalb der Gesamtheit Syriens Methoden wie Autonomie, Föderation und ähnliches entwickelt werden, ist es seiner Meinung nach wichtig, dass dabei
eine politische
Denkweise berücksichtigt wird, die ganz Syrien umfasst.“ (ANF 21.6.2019)

Um diese Idee einer demokratischen Friedenslösung zu verwirklichen, müssen Friedensverhandlungen gesellschaftlich in einen umfassenden Kommunikationsprozess eingebunden sein und den Willen der Gesellschaft umsetzen, statt über den Kopf der Bevölkerung hinweg festgelegt zu werden. Dieser Friedensprozess muss unter Einbeziehung der PYD, des Exekutivrates sowie des Frauenrates der Föderation Nord- und Ostsyrien den demokratischen, geschlechterbefreienden und ökologischen Aufbau in Rojava absichern. Die Beteiligung der organisierten Frauen ist dabei essentiell.

Frieden und Demokratischer Konföderalismus in Syrien

Die SDF gründeten Ende 2015 das politische Dachbündnis »Demokratischer Rat Syriens« (SDC). Beide setzen sich für ein säkulares, demokratisches und föderal gegliedertes Syrien ein. Ilham Ahmed, 2018 Ko-Vorsitzende des Demokratischen Rates Syriens und heute Exekutivratsvorsitzende der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien, erklärte: „Das ganze syrische Volk hat in Bezug auf Freiheit und Recht Probleme. Es gibt nicht nur Probleme der Kurdinnen und Kurden, einer Nation oder eines einzelnen Bereiches. Das syrische Volk ist mit einer ganzen Reihe von Themen
unglücklich. Wir wollen Damaskus demokratisieren. Wir
wollen ganz Syrien demokratisieren.“ (Duran und Baslangiç 25.8.2018) Im Sommer 2018 schlug der SDC bei einem Treffen mit der syrischen Regierung das Modell der Demokratischen Autonomie als Lösung für ganz Syrien vor – ohne Erfolg.

Inzwischen wurde der SDC in eine Organisation umgewandelt, die mittels Dialog die Einheit der syrischen Opposition herstellen soll. Dazu wird ein gesamtsyrischer Nationalkongress vorbereitet. Ein Entwurf für eine neue syrische Verfassung sieht die Einheit und Gesamtheit Syriens vor sowie ein politisches System, das den Aufbau eines dezentralisierten und demokratischen Syrien ermöglichen soll. Entsprechend Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates werden eine politische Lösung und ein Waffenstillstand, das Ende der Besatzung und der Abzug des ausländischen Militärs vom syrischen Gebiet
gefordert (ANF 29.3.2019).

Die Anerkennung der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens ist eine entscheidende Voraussetzung für eine Friedenslösung für Syrien. Eine Rückkehr zum Zustand vor 2011 ist für die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava ausgeschlossen. Außerdem muss Afrîn an die vertriebene, mehrheitlich kurdische Bevölkerung zurückgegeben werden.

Im Juni 2019 sprach sich die nord­ost-syrische Tev-Dem (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft) für die Wiederbelebung der Genfer Friedensgespräche unter Leitung der Vereinten Nationen und mit Beteiligung der Vertreter*innen der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien aus. Außerdem wurde die Einrichtung eines internationalen Tribunals gefordert, vor das IS-Mitglieder gestellt werden sollen (Azadi/Güler 13.6.2019).

Im »Friedensgutachten 2018« der vier führenden deutschen Friedensforschungsinstitute wurde die Empfehlung an die Bundesregierung gegeben, diplomatisch und öffentlich auf einen Rückzug der türkischen Truppen aus Syrien und dem Irak hinzuwirken. Außerdem solle die Bundesregierung sich „nachdrücklich für eine politische Lösung der Fragen einsetzen, die mit den kurdischen Forderungen nach Selbstbestimmung einhergehen. Dazu sollte sie auf die Einbeziehung der PYD [als Vertretung der Selbstverwaltungsregion, Anm. Autorin] in die Verhandlungen über Syriens Zukunft
bestehen.“
Deutschland solle Waffenexporte in die Region stoppen und eine pro-aktivere Rolle für den Friedensprozess übernehmen (Bonn International Center for Conversion et al. 2018, S. 38).

In den letzten Monaten besuchten zahlreiche Regierungsvertreter*innen die Föderation Nord- und Ostsyrien, u.a. aus Norwegen, Schweden, Frankreich und Australien, und werteten die Föderation damit auf. Deutschland vermeidet weiterhin die diplomatische Kontaktaufnahme mit der Föderation und drückt sich vor der Rückführung deutscher IS-Kämpfer*innen und derer Angehörigen. Immerhin beteiligt sich die Bundesregierung an internationalen Treffen, die die Einrichtung eines internationalen Straftribunals für die Verurteilung der IS-Verbrecher*innen, die u.a. in der Föderation Nord- und Ostsyrien
inhaftiert sind, prüfen.

Auf zivilgesellschaftlicher Ebene werden bereits seit einigen Jahren Kooperationsbeziehungen mit Einrichtungen der selbstorganisierten Gesellschaft in Nordsyrien gepflegt, unter anderem im Gesundheitsbereich, als Hochschulkooperationen, als Schul- und Städtepartnerschaften oder als Partnerschaften zwischen Buchläden und Kindergärten.

Anmerkung

1) Unerfreulicher Weise hatten auch Teile der Friedensbewegung bereits die Macht des IS akzeptiert und Verhandlungen zur politischen Machtbeteiligung gefordert – das ist so falsch und gefährlich wie ähnliche Forderungen für die Beteiligung der Taliban in Afghanistan mittels Friedensverhandlungen.

Literatur

Ajansa Nûçeyan a Firatê (ANF) ist eine kurdische Nachrichtenagentur und publiziert in neun Sprachen, darunter Deutsch; anfdeutsch.com.

ANF 8.1.2019: Jineoloji-Forschungszentrum in Hesekê eröffnet.

ANF 28.3.2019: Siegesfeier der YPJ – Auch Efrîn werden wir befreien.

ANF 29.3.2019: Abschlusserklärung des 3. Syrischen Dialogforums.

ANF 3.5.2019: QSD – Indirekte Verhandlungen mit der Türkei.

ANF 21.6.2019: Den dritten Weg stärken: Nicht abwarten, aufbauen!

Azadi, M.; Güler, A.(2019): Xelîl: Es bedarf neuer Friedensgespräche für Syrien; 3.6.2019, anfdeutsch.com

Benario, A. (2019): Wir geben es nie mehr her! Kurdistan Report Nr. 203.

Bonn International Center for Conversion (BICC); Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK); ­Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH); Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) (2018): 2018 / Kriege ohne Ende. Mehr Diplomatie – weniger Rüstungsexporte / friedensgutachten. Berlin: LIT.

Duran, R.; Baslangiç, C. (25.8.2018): Die Türkei ist ein Besatzerstaat, der aus Syrien vertrieben werden wird. Interview mit Ilham Ahmed; ­civaka-azad.org.

Krieg, R. (2019): Experiment Rojava in Syrien – Eine Gesellschaft im Aufbruch. Dokumentarfilm Phoenix; youtube.com/watch?v=O3dA1Khn4jo.

Öcalan, A. (2013): Die Roadmap für Verhandlungen. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Öcalan, A.; Yildirim, H.; Konar, Ö.H.; Aktas, V. (2019): 7-Punkte-Erklärung. Informationsdossier von Civaka Azad, 10.6.2019; civaka-azad.org.

Tev-Dem 21.3.2019: Der IS ist besiegt, der Kampf geht weiter; anfdeutsch.com.

Dr. Mechthild Exo ist Lehrkraft für internationale Entwicklung, Transkulturalität, Diversität und Gender an der Hochschule Emden/Leer, Friedens- und Konfliktforscherin sowie Mitglied des ­Jineolojî-Forschungszentrums Brüssel.

Der vorsätzliche Bruch des Völkerrechts in Syrien

von Karin Leukefeld

Die Charta der Vereinten Nationen, die bis heute Geltung hat, beginnt so: Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]“. Sie wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet und trat am 24. Oktober des gleichen Jahres in Kraft (Vereinte Nationen 1945).

In Kapitel I, Artikel 1 werden die „Ziele und Grundsätze“ bestimmt, nach denen die UN-Mitgliedsstaaten handeln sollen, um, wie in der Präambel ausgeführt, „als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben“ und „um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“.

In Artikel 2 verpflichten sich alle Unterzeichnerstaaten auf den „Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ (Punkt 1); in Punkt 3 heißt es: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ Punkt 4: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen
der Vereinten Nationen unvereinbare
Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Mit anderen Worten: Es gilt das Prinzip der Nichteinmischung in innenpolitische Angelegenheiten. Ausnahmen davon sind streng begrenzt und werden in Kapitel VII der UN-Charta geregelt. Nur wenn die »kollektive Sicherheit« bedroht ist, kann das Prinzip der Nichteinmischung ausgesetzt werden. Einen solchen Sachverhalt hat der UN-Sicherheitsrat festzustellen.

50 Länder gehörten damals den Vereinten Nationen an, unter ihnen auch Syrien, Irak, Libanon und Iran. Syrien, Irak und Libanon waren zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem französischen bzw. britischen Mandat entlassen worden. Doch schon unmittelbar nach ihrer Unabhängigkeit und nach der Unterzeichnung der UN-Charta sah Syrien sich am 29. März 1949 durch einen von der US-amerikanischen Cen­tral Intelligence Agency (CIA) gesteuerten Putsch in seiner Eigenständigkeit und unabhängigen Entwicklung bedroht. Direkte und indirekte Interventionen in Syrien, Irak, Iran und Libanon halten bis
heute an.

Die Vereinigten Staaten von Amerika gehörten mit der Sowjetunion 1945 zu den treibenden Kräften für die Gründung der Vereinten Nationen. Seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 und noch mehr seit dem 11. September 2001 haben die USA sich von den Vereinten Nationen und vom Völkerrecht immer weiter entfernt.

Der Bruch des Völkerrechts in Syrien

Alle grundlegenden Punkte der UN-Charta wurden und werden in Syrien seit 2011 von den USA und ihren Verbündeten missachtet, gebrochen und verhöhnt. Westliche Diplomaten mischten sich in die innenpolitisch motivierten Proteste im Frühjahr 2011 ein; Nachbarländer und Regionalmächte schickten Waffen, halfen bei der Gründung der »Freien Syrischen Armee« und förderten die Militarisierung. Geholfen wurde bei der Gründung von Medienzentren, mit der Ausbildung von »Bürgerjournalist*innen« und mit der Gründung eines »Syrischen Zivilschutzes«, den so genannten »Weißhelmen«. Allerdings gibt es bereits
seit 1953 einen Zivilschutz in Syrien.

Weder die Türkei noch Jordanien noch die Herkunftsländer verhinderten, dass Tausende Kämpfer illegal über die Grenze nach Syrien gelangten.

Ein Dialog mit der syrischen Regierung wurde verweigert. »Militärische Operationszentren« (englisch: MOC, Military Operation Center) in Amman und in der Türkei unterstützten die bewaffneten Gruppen mit Sold, Waffen, Ausbildung. Dem Aufstieg des »Islamischen Staat im Irak und in der Levante« (ISIS) und Al-Qaida-naher Milizen sah der Westen zu; die Regierung in Damaskus sollte gestürzt werden (junge Welt 2015). Bis heute findet die syrische Armee Waffenlager und -verstecke mit großen Mengen an Munition und Waffen aus westlichen Rüstungsschmieden (PressTV 2019).

Nicht ein Mal griff Syrien seine Nachbarstaaten, Europa oder die USA an.

Die völkerrechtswidrige Einmischung westlicher Staaten und ihrer Partner in Syrien ist vielfach belegt. Die syrische Regierung protestierte mit Hunderten Briefen an den UN-Generalsekretär und den UN-Sicherheitsrat gegen die Angriffe auf das syrische Territorium und die staatliche Souveränität. Ohne Erfolg. Auch der Protest gegen Hunderte nicht provozierte israelische Raketenangriffe auf angebliche iranische Stellungen in Syrien blieb seitens des UN-Sicherheitsrates unbeantwortet.

Die militärische Einmischung bis hin zur US-geführten »Anti-IS-Allianz« in Syrien findet ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates und ohne Zustimmung der syrischen Regierung statt. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht (Neu 2018). Die Präsenz Russlands und Irans dagegen basiert auf einer Vereinbarung mit der rechtmäßigen Regierung in Damaskus, das entspricht dem Völkerrecht.

Die USA haben – völkerrechtswidrig – mehr als zwei Dutzend Militärbasen in Syrien errichtet. Dort werden US-kon­trollierte Kampfverbände ausgerüstet und ausgebildet. Eine US-Basis, Al Tanf, liegt im Dreiländereck Syrien-­Jordanien-Irak. Um die Basis Al Tanf wurde von der US-Armee eine 50 km breite »Sicherheitszone« gezogen. Syrische Soldaten, die das Territorium in Richtung des syrisch-irakisch-jordanischen Grenzgebietes durchqueren wollen, werden mit Luftangriffen und Beschuss daran gehindert. Der UN-Sicherheitsrat hat solche Angriffe nicht legitimiert.

Die anderen US-Militärbasen einschließlich Flughäfen liegen östlich des Euphrat auf dem Gebiet, das von den syrischen Kurden und den von ihnen geführten »Syrischen Demokratischen Kräften« kontrolliert wird. In diesen Gebieten liegen die syrischen Öl- und Gasvorkommen, hier wird Baumwolle angebaut, die Provinz Hasakeh gehört zu den größten Weizenanbaugebieten des Landes. Der Zugang zu den syrischen Ressourcen wird der syrischen Regierung verweigert. In der Provinz Deir Ez-Zor hat die US-geführte Koalition alle Brücken zerstört. Jeder Versuch der syrischen Armee und ihrer Verbündeten, den
Euphrat zu überqueren, wird von der US-Armee und der »Anti-IS-Allianz« militärisch verhindert. Als Begründung für Luft- und Raketenangriffe auf die syrischen Truppen verweist die US-geführte Koalition auf „Selbstverteidigung“ (South Front 2018a). Die Militärbasis Ain Issa, von der aus mindestens 200 US- und 75 französische Soldaten operieren, ist inzwischen regelmäßiger Treffpunkt westlicher Delegationen, die mit den SDF und der kurdischen Zivilverwaltung verhandeln wollen. Die Präsenz der US-Armee und ihrer Verbündeten in Syrien ist illegal. Alle, die sich daran beteiligen, nehmen
den Bruch des Völkerrechts billigend in Kauf.

Die Aufteilung Syriens

Auch wenn US-Präsident Donald Trump dafür gewählt wurde, dass er die US-Truppen aus dem Mittleren Osten abzieht, teilt er im Prinzip das, was seine Außen- und Verteidigungsminister für die Region vorgeben: Syrien soll geteilt und die Regierung in Damaskus ebenso wie ihre Verbündeten Russland und Iran militärisch und wirtschaftlich geschwächt werden.

Im Dezember 2018 kündigte Trump an, die offiziell 2.000 Soldaten aus Syrien abzuziehen. Bereits ein Jahr zuvor hatte er das ebenfalls angekündigt, war aber im US-Außenministerium und im Pentagon auf Widerstand gestoßen. Weil man dort unbedingt verhindern will, dass die syrische Armee die Kontrolle über ganz Syrien wieder herstellt, hieß es, ein »Vakuum« müsse verhindert werden, weil sich sonst der »Islamische Staat« erneut festsetzen könnte.

Die völkerrechtlich gebotene Entwicklung wäre, dass die syrische Armee die Kontrolle über das eigene Territorium nordöstlich des Euphrat nach einem US-Abzug übernimmt und bei der Bekämpfung der Terrororganisation »Islamischer Staat« unterstützt werden muss. Das ist in Washington nicht vorgesehen. Man sprach sich mit den Verbündeten in einer »Kleinen Syriengruppe« – neben den USA gehören dazu Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Jordanien – ab.

Aus einem bekannt gewordenen Protokoll des Treffens der »Kleinen Syriengruppe« im Januar 2018 geht hervor, dass und wie Syrien aufgeteilt werden soll. Die Gebiete östlich des Euphrat sollen zu einem autonomen Gebiet »Ost-Euphrat« werden, die syrische Opposition – einschließlich der Kurden – soll politisch gestärkt werden. Sie sollten „sich flexibel zeigen […] ohne das endgültige Ziel aus den Augen zu verlieren: Syrien zu teilen und Assad zu beseitigen“, wird David Satterfield, stellvertretender Staatssekretär für den Nahen Osten im US-Außenministerium, in
dem Protokoll zitiert (Rubikon 2018). Seit April 2018 gehört auch Deutschland der »Kleinen Syriengruppe« an (dpa 2018 und Co-op News 2018). Ein Mandat des UN-Sicherheitsrates gibt es für die Gruppe nicht.

Der ursprünglich für Ende April 2019 angekündigte US-Truppenrückzug aus Syrien hat nicht stattgefunden. Prämisse bleibt, dass das Gebiet dauerhaft Damaskus und der syrischen Armee entzogen bleiben soll. Dafür braucht Washington die syrischen Kurden und muss eine militärische Präsenz ohne eigene Soldaten sichern. Drei unterschiedliche Szenarien wurden entwickelt:

  • Plan A: Mithilfe des privaten Sicherheitsunternehmens von Blackwater-Gründer Eric Prince sollte zunächst eine 30.000 Soldaten starke Armee aus Kurden, Stämmen und Söldnern aufgestellt werden. Bezahlen sollten die Golfstaaten. Elitetruppen der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens befinden sich bereits in den Gebieten östlich des Euphrat.
  • Plan B: Ein anderes Szenario sieht das Vorrücken der türkischen Armee in die Gebiete östlich des Euphrat vor, was sowohl von den Kurden als auch von den europäischen und arabischen Verbündeten der USA abgelehnt wird.1
  • Plan C: Ein neuer Vorschlag ist, dass die europäischen Partner der USA – Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Belgien, Holland und andere – gemeinsam mit der Türkei und den Golfstaaten eine 30 km breite Pufferzone im Nordosten Syriens militärisch sichern sollen (Gebauer und Schult 2019).

Keines dieser Szenarien bewegt sich auf dem Boden des Völkerrechts. Keines dieser Szenarien wurde im UN-Sicherheitsrat auch nur diskutiert, geschweige denn vereinbart. Die USA und ihre Verbündeten nehmen das Völkerrecht in die eigenen Hände.

Syrische Kurden in der Zwickmühle

Ohne Verbündete vor Ort – die syrischen Kurden – wäre das nicht möglich. Die aber sind in einer Zwickmühle, seit sie die großzügige militärische Unterstützung der US-Armee 2014 annahmen, sie beim Kampf um Kobane/Ain Al Arab gegen den »Islamischen Staat« zu unterstützen. Heute gelten sie als die »Partner« der US-geführten »Anti-IS-Koalition«. Sie erhalten Geld, Waffen und logistische Hilfe, und die USA sorgen dafür, dass das Projekt »Rojava« umgesetzt werden kann. Die syrischen Ressourcen befinden sich unter kurdischer und US-amerikanischer Kontrolle und werden dem Rest des
Landes – das sind immerhin 70 Prozent – entzogen. Die einseitigen EU-Sanktionen, die den Wirtschaftssektor Syriens und selbst humanitäre Hilfe blockieren, treffen die syrischen Kurden nicht. Das von den USA verhängte Ölembargo gegen Syrien gilt nicht für die Gebiete östlich des Euphrat.

Auf die Frage, ob einseitige Sanktionen oder Embargos völkerrechtlich legal seien, sagte der UN-Sonderberichterstatter für die Folgen einseitig verhängter Sanktionen, Idriss Jazairy:

„Die Entscheidung des Sicherheitsrates, Sanktionen zu verhängen, wird von allen als legal, als rechtmäßig anerkannt. Sanktionen, die von einem Staat oder von einer Staatengruppe gegen ein anderes Land verhängt werden und die schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte haben und damit die Menschenrechte der einfachen Bevölkerung verletzten, sind illegal. […] Westliche Staaten betrachten die [einseitigen] Sanktionen als vertretbar, solange sie ihren eigenen Kriterien genügen. Die Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten sieht das nicht so.
Sie sind der Meinung, dass alle Sanktionen, die
ohne eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates verhängt werden, unrechtmäßig, also illegal sind. Es ist, als nehme man das Recht in die eigenen Hände. Wir haben aber zur Friedenserhaltung in der Welt das System der Vereinten Nationen geschaffen. Ja, es hat seine Unzulänglichkeiten, aber es ist die Friedensordnung, die nach dem 2. Weltkrieg in Kraft trat. Wenn man nun einseitige Sanktionen verhängt, dann schafft man ein neues System […]. Das bringt den Frieden in Gefahr. Und zwar den
Weltfrieden, nicht nur den
regionalen Frieden.“ (RT Deutsch 2019)

Das Adana-Abkommen – eine völkerrechtlich zulässige Lösung

Einen völkerrechtlich zulässigen Weg hat derweil Russland vorgeschlagen. Als neue Ordnungsmacht in der Region hat Russland 2015 auf Wunsch von Damaskus militärisch in den Krieg eingegriffen und sich durchgesetzt. Gleichzeitig hat Russland den Dialog zwischen allen Seiten in Syrien gefördert. Das führte nach der Befreiung von Aleppo Ende 2016 zu dem von Russland, Iran und der Türkei geförderten Astana-Prozess, bei dem zwischen der syrischen Regierung und einem Teil der Kampfgruppen verhandelt wird. Auch den Dialog zwischen den syrischen Kurden und der Regierung in Damaskus hat Russland
gefördert.

Für den Fall, dass die US-Armee ihre Truppen aus den Gebieten östlich des Euphrat tatsächlich abziehen sollten, und um ein »Vakuum« zu vermeiden, hat Russland eine Lösung vorgelegt: Die syrische Armee – unterstützt von russischer Militärpolizei – soll die Sicherheit in dem Gebiet zwischen Euphrat und syrisch-türkischer Grenze gewährleisten. Dieser Vorschlag entspricht dem Völkerrecht, denn es handelt sich um syrisches Territorium. Die syrischen Kurden und Damaskus sollen sich auf eine militärische Kooperation einigen – was von den Kurden bereits zugesagt wurde. Damaskus
soll den syrischen Kurden und ihren Parteien zudem kulturelle und politische Rechte einräumen.

Ankara will allerdings nach einem US-Truppenabzug gegen die politischen und militärischen Strukturen der syrischen Kurden in Nordostsyrien militärisch vorgehen, weil es sie als »terroristische Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei« ansieht. Um diese »Sicherheitsbedenken« der Türkei zu zerstreuen, hat Moskau vorgeschlagen, einen Vertrag aus dem Jahr 1998, das Adana-Abkommen, wiederzubeleben (Bilgic 2019). Darin ist die syrische Armee für den Schutz der rund 800 km langen Grenze zur Türkei verantwortlich.

Ein Rückblick

Das Adana-Abkommen war damals zwischen der Türkei und Syrien geschlossen worden und richtete sich gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die heute das Rückgrat der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG und YPJ in Syrien bildet. Damals hatte die PKK – wie übrigens auch die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), beide aus dem Irak – einen »sicheren Hafen« in Syrien. Sie unterhielt in der damals von Syrien kontrollierten Bekaa-Ebene (Libanon) ein Ausbildungslager und konnte, wie KDP und PUK, ungehindert durch Syrien in den Nordirak
reisen.

Im Adana-Abkommen verpflichtete sich Syrien damals, die Ausbildungslager der PKK, ihre politische Mobilisierung und Organisierung der kurdischen Bevölkerung sowie ihre wirtschaftlichen Unternehmungen in Syrien zu stoppen. Inhaftierte PKK-Mitglieder sollten an die Türkei ausgeliefert werden. Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan wurde zur Ausreise aufgefordert. Die PKK zog sich in die Qandil-Berge im irakisch-iranischen Grenzgebiet zurück.

Das Abkommen könnte nun wiederbelebt werden, um die Türkei an einem Vormarsch in den Norden Syriens zu hindern und gleichzeitig Ankara und Damaskus wieder ins Gespräch zu bringen.

Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Die Türkei hat ihre eigene Art, das Abkommen zu interpretieren; die syrischen Kurden tun sich mit dem Adana-Abkommen verständlicherweise schwer. Die USA und ihre »Kleine Syriengruppe« haben kein Interesse an einer türkisch-syrischen Vereinbarung, mit der der völkerrechtlich legitime Status – die Kontrolle Syriens über sein gesamtes Territorium – wieder hergestellt wird. Der Astana-Prozess läuft den machtpolitischen Interessen der USA entgegen; der Astana-Gruppe müsse „der Stecker rausgezogen werden“, erklärte der US-Beauftragte für
Syrien, Botschafter James Jeffrey, Anfang Dezember 2018 (U.S. Embassy in Syria 2018).

Dass es um mehr als um Syrien geht, machte der frühere US-Außenminister Rex Tillerson im Januar 2018 klar. Für die USA sei es „entscheidend“, in der Region (Syrien und Irak) präsent zu bleiben, um gegen terroristische Gruppen und die mögliche Wiederauferstehung des »Islamischen Staates« kämpfen zu können, sagte Tillerson bei einem Vortrag in der Hoover Institution an der Stanford University. Die US-Armee werde „in Syrien militärisch präsent bleiben“, um den „bösartigen Einfluss des Iran in der Region“ zurückzudrängen. Erst wenn „Assad nicht mehr an der Macht
ist,
werden die USA eine Normalisierung zwischenstaatlicher wirtschaftlicher Beziehungen mit Syrien“ unterstützen. „Das wird dauern, wir sind geduldig“, so Tillerson weiter. In der Zwischenzeit würden die USA in die Stabilisierung“ einiger Gebiete „investieren“ (Shashkevich 2018).

Noch deutlicher wurde Tillerson Mitte Februar 2018 bei einer Konferenz in Kuwait. Im Gespräch mit Journalisten sagte er: „Die USA und die [Anti-IS-] Koalitionsstreitkräfte […] kontrollieren heute 30 Prozent des syrischen Territoriums und – damit verbunden – einen großen Anteil der Bevölkerung sowie der syrischen Ölquellen.“ Das reiche, um auf den politischen Prozess, der in Genf fortgesetzt werden solle, Einfluss zu nehmen (South Front 2018b und Leukefeld 2018).

Je länger die einseitige Entwicklung östlich des Euphrat von den USA und der »Kleinen Syriengruppe« gefördert und die Entwicklung im Rest Syriens mit illegalen einseitigen Sanktionen blockiert wird, desto mehr wird die gesellschaftliche Spaltung des Landes vorangetrieben. Das US-Außenministerium hat rund 2.000 Expert*innen entsandt, um den zivilen Aufbau östlich des Euphrat voranzutreiben. Bezahlt wird von Saudi Arabien, das jüngst eine Ministerdelegation in das Gebiet schickte (AMN 2019 und Syriahr 2019). Die Bundesregierung beteiligt sich mit so genannter Stabilisierungshilfe, die von
privaten und UN-Hilfsorganisationen in dem Gebiet umgesetzt wird. Einen Auftrag des UN-Sicherheitsrates dafür gibt es nicht, das Vorgehen folgt deutschen und westlichen Interessen. Nach dem Prinzip »Teile und herrsche« baut der Westen nördlich und östlich des Euphrat in Syrien einen Vasallenstaat.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Graphik »Turkey’s Planned Safe Area« auf pbs.twimg.com/media/DUOkbb6XUAIHmZp.jpg.

Literatur

AMN (2019): Saudi officials visit eastern Syria to meet with US, SDF delegations. Nachrichtenservic Al-Masdar Al-‘Arab (AMN); 15.6.2019; almasdarnews.com/.

Bilgic, T. (2019): Erdogan Faces Syria Choice as Putin Revives 21-Year-Old Treaty. 25.1.2019; bloomberg. com.

Co-op News (2018): Kleine Syriengruppe – Deutschland mit dabei / DerHintergrund. 0hne Datum; cooptv.wordpress.com.

dpa (2018): Neue diplomatische Initiative – Deutschland in Syrien-Kerngruppe. ZDF Nachrichten, 25.4.2018; zdf.de.

Gebauer, M.; Schult, C. (2019): Deutsche »Tornados« sollen Schutzzone in Nordsyrien absichern. SPIEGEL ONLINE, 30.5.2019; spiegel.de.

junge Welt (2015): Bericht der US Defense Intelligence Agency (DIA) aus dem Jahr 2012, in Auszügen abgedruckt am 30.5.2015; ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien1/salafisten.html.

Leukefeld, K. (2018): Kampf um die Levante – Eskaliert der Krieg in Syrien? 17.2.2018; ­rubikon.news.

Neu, A. (2018): Anti-IS-Koalition bewegt sich völkerrechtlich auf extrem dünnem Eis. Pressemitteilung von Alexander S. Neu, Die Linke im Bundestag, 10. Juli 2018; linksfraktion.de.

PressTV (2019): Video – Militant weapons cache with Israeli, US-made munitions uncovered in Syria’s Quneitra; 23.4.2019; presstv.com.

RT Deutsch (2019): UN-Botschafter zu ­Syrien – Sanktionen des Westens sind Teil der Kriegsführung; 12.6.2019; youtube.com/watch?v=MfRbFt3KZ2E. Das ganze Interview von Karin Leukefeld mit Botschafter Idriss Jazairy steht unter dem Titel »Eine Stimme für die Menschen, die nicht gehört werden« auf nachdenkseiten.de (15.6.2019).

Rubikon (2018): „Lasst uns Syrien aufteilen!“ Ein diplomatisches Dokument entlarvt den US-Plan für Syrien. Exklusivabdruck aus der libanesischen Tageszeitung Al Akhbar. 3.3.2018; rubikon.news.

Shashkevich, A. (2018): U.S. wants peace, stability in Syria, Secretary of State Rex Tillerson says in policy speech at Stanford. 18.1.2018; news.stanford.edu.

South Front (2018a): Syrian War Report – US-led Coalition Struck Syrian Army In Deir Ezzor. 8.2.2018; southfront.org.

South Front (2018b): US State Secretary – Control Over Oil Fields Allows Washington To Influence Situation In Syria. 14.2.2018; southfront.org.

Syriahr (2019: About 24 hours after the Ain Issa meeting, a Saudi-American delegation meets SDF leaders, Sheikhs, and tribe elders in al-Omar oilfield. Syrian Observatory for Human Rights, 14.6.2019; syriahr.com.

U.S. Embassy in Syria (2018): Briefing With Special Representative for Syria Engagement Amb[assador] Jeffrey. 3.12.2018; sy.usembassy.gov.

Vereinte Nationen (1945): Charta der Vereinten Nationen, 26.6.1945; unric.org/de/charta.

Karin Leukefeld arbeitet als freie Korrespondentin im Mittleren Osten für Printmedien, Rundfunk, Fernsehen. Seit 2010 ist sie in Syrien akkreditiert.

Weitere Eskalation mit Iran vermeiden

Weitere Eskalation mit Iran vermeiden

von Kathrin Vogler

Noch ist es ein Krieg der Wörter. Trump drohte im Mai: Wenn der Iran kämpfen will, wird das das offizielle Ende des Iran sein. Irans ­Präsident Rohani warnte den US-Präsidenten kürzlich vor der „Mutter aller Kriege.

Erleben wir gerade das dramatische Scheitern aller hoffnungsvollen Bestrebungen, den Iran als Verhandlungspartner zu halten und das Pulverfass Mittlerer Osten zu entschärfen? Es ist bekannt, dass der Iran auf der US-amerikanischen Regime-Change-Agenda seit den 1980er Jahren ganz oben steht. Aus dieser Per­spektive hatte das Iran-Abkommen (Joint Comprehensive Plan of Action) den Nebeneffekt, einer drohenden US-Intervention vorzubeugen. Aber die Multilateralismus-Aversion der Trump-Regierung ließ sich auf diesem Weg nicht einhegen. Außenminister Mike Pompeo, der gerade für eine weltweite
Kriegskoalition gegen den Iran wirbt, bezeichnete den JCPoA schon 2015 als „skrupellose Vereinbarung“; sie sei „keine Außenpolitik, sondern eine Kapitulation“.

Jetzt schlägt sich der neue britische Premierminister Boris Johnson auf die Seite der USA und will die Militäraktion »Sentinel« in der Straße von Hormus mit eigenen Kriegsschiffen unterstützen. Dies hat primär wirtschaftspolitische Gründe: Ein Post-Brexit-Großbritannien wird noch mehr als bisher auf gute Handelsbeziehungen mit den USA angewiesen sein. Zugleich zerreißt Johnson damit aber das europäische Bündnis, das sich für das Zustandekommen des JCPoA eingesetzt hatte. Nach jahrelangen Verhandlungen verpflichtete sich der Iran 2015, alles Nuklearmaterial im Land ausschließlich zu
friedlichen Zwecken zu verwenden und nichts zu tun, was dieser Vereinbarung zuwider laufen könnte. Im Gegenzug sollten die Sanktionen gegen den Iran nach und nach aufgehoben werden. Bis Ende 2018 erstellte die IAEA zwölf Quartalsberichte über ihr „weltweit robustestes“ Monitoring und bestätigte, dass der Iran sich an die JCPoA-Vereinbarungen hielt.

Seit die Trump-Regierung im Mai 2018 den JCPoA kündigte und ihre Iran-Sanktionen wieder verschärfte, brach die Wirtschaft im Iran drastisch ein. Das führt zu innenpolitischen Verwerfungen, die die radikalen Kräfte im Iran stärken und die Position des immer noch verhandlungsbereiten Rohani schwächen. Durch den Verfall des Rial werden lebenswichtige Medikamente knapp, sogar Betäubungsmittel für Opera­tionen fehlen. Die Bevölkerung leidet unter Wassermangel, Stromausfällen, überteuerten Lebensmitteln und wachsender Korruption. Der Iran steht kurz vor der Implosion. Inzwischen hat die
iranische Atomindustrie nach eigenen Angaben wieder begonnen, Uran über das JCPoA-Limit von 3,67 Prozent hinaus anzureichern.

Umso frustrierender ist die Schockstarre, mit der die Bundesregierung auf die Trump‘sche Kriegshetze und dessen Strategie des »maximalen Drucks« reagiert. Sie hatte für den JCPoA als wichtiges Instrument der Rüstungskontrolle und Krisenbewältigung im Mittleren Osten geworben und erklärt bis heute, daran festhalten zu wollen. Aber es fehlt die Bereitschaft, den USA mit klaren Worten und Taten in die Parade zu fahren, zum Beispiel durch die längst überfällige Implementierung der Zweckgesellschaft INSTEX zur Aufrechterhaltung des Geld- und Warenhandels zwischen europäischen Unternehmen und dem
Iran. Auch wären deutliche Ansagen nötig, dass im Kriegsfall die US-militärische Infrastruktur in Deutschland, insbesondere die Air Base Ramstein, nicht für Einsätze gegen den Iran genutzt werden darf und der deutsche Luftraum für US-Militärflüge Richtung Iran gesperrt wird. Trump selbst müsste mit maximalem Druck dazu gebracht werden, seine Suche nach einem Kriegsanlass und die verheerende Sanktionspolitik gegen den Iran einzustellen, damit Rohani wieder an den Verhandlungstisch zurückkehrt und der JCPoA gerettet werden kann. Befremdlich ist, dass diese Option im politischen Diskurs kaum
noch ein Thema ist. Stattdessen fordert Außenminister Maas jetzt eine europäische Beobachtermission zum Schutz der Handelsschiffe im Persischen Golf. Damit wäre die EU, bisher federführend für das Iran-Abkommen, als Friedensstifterin diskreditiert; ein Militäreinsatz vor der iranischen Küste würde die ohnehin völlig überrüstete Region noch näher an den Rand eines Krieges bringen.

Es gibt nur einen wirksamen Schutz für die Handelsschiffe im Golf und für die Bevölkerung im Mittleren Osten: die Wiederaufnahme politischer Verhandlungen und Frieden. Dazu bekennt sich u.a. der Verband Deutscher Reeder, der gerade an die Bundesregierung appelliert: „Bitte alles vermeiden, was zu einer weiteren Eskalation führt, das hilft keinem.

Kathrin Vogler, MdB, ist Friedenspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Obfrau im Unterausschuss Zivile Krisenprävention.

Drohneneinsätze der USA im Jemen


Drohneneinsätze der USA im Jemen

OVG NRW zur Nutzung von Ramstein für Drohneneinsätze

von Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen

„In einem teilweise stattgebenden Urteil vom 19. März 2019 hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen die Bundesrepublik Deutschland dazu verurteilt, sich durch geeignete Maßnahmen zu vergewissern, ob eine Nutzung der Air Base Ramstein durch die Vereinigten Staaten von Amerika für Einsätze von bewaffneten Drohnen im Jemen im Einklang mit dem Völkerrecht stattfindet. Erforderlichenfalls müsse die Bundesrepublik gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika auf Einhaltung des Völkerrechts hinwirken. Soweit die Kläger verlangt haben, die Nutzung der Air Base Ramstein für bewaffnete Drohneneinsätze zu unterbinden, hat das Gericht die Klage abgewiesen.“
So erläuterte die Pressestelle des OVG NRW ein Urteil, das nach der Einschätzung von Bettina Gaus „die Nato sprengen könnte“ (taz 23.3.2019). Aufgrund seiner grundsätzlichen Bedeutung für die Nutzung der US-Airbase Ramstein für den Drohnenkrieg dokumentiert W&F den Wortlaut der mündlichen Urteilsbegründung (Aktenzeichen 4 A 1361/15; ovg.nrw.de).

Die Kläger machen geltend, bei einem Drohnenangriff im Jahr 2012 in der Provinz Hadramaut nahe Angehörige verloren zu haben. Sie bezweifeln die Rechtmäßigkeit dieses Angriffs, der nach ihrem Kenntnisstand bisher nicht von unabhängigen Stellen untersucht worden ist. Eine gegen die Vereinigten Staaten von Amerika gerichtete Klage wurde im Februar 2016 von einem Gericht in Columbia abgewiesen. Von dem US-Gericht wurde keine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Angriffs vorgenommen, weil dies als politische Frage betrachtet worden war. Wegen der wesentlichen Bedeutung der in Deutschland gelegenen Air Base Ramstein für fortdauernde amerikanische Drohneneinsätze auch im Jemen haben die Kläger, die um ihre eigene Sicherheit besorgt sind, die Bundesrepublik Deutschland darauf verklagt, eine Nutzung der Air Base für derartige Einsätze durch geeignete Maßnahmen zu unterbinden. Anders als Anwohner der Air Base, die in der Vergangenheit vergeblich gegen ihre Nutzung für Drohneneinsätze geklagt haben, bewohnen die Kläger ein Gebiet, in dem seit Jahren Menschen durch bewaffnete US-Drohnen gezielt getötet werden. Dabei ist es regelmäßig auch zu zivilen Opfern gekommen, deren Zahlen zwischen offiziellen Stellungnahmen und der Medienberichterstattung erheblich variieren.

Die Beklagte führt im Jemen selbst keine militärischen Drohnenangriffe durch, die auch die dortige Zivilbevölkerung gefährden. Sie nimmt an amerikanischen Drohnenangriffen auch nicht aktiv teil und hat sie insbesondere nicht gestattet. Sie verletzt schon deshalb nicht durch eigenes Handeln das auch den Klägern als Ausländern zustehende Recht auf Leben.

Jenseits grundrechtlicher Abwehransprüche ist vom Bundesverfassungsrecht anerkannt, dass das Grundrecht auf Leben eine umfassende staatliche Schutzpflicht auslöst, sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Das gilt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch im Hinblick auf Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch andere Staaten. Die Schutzverpflichtung des Staates muss umso ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist. Das menschliche Leben stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.

Das Bundesverfassungsgericht hat für Auslandssachverhalte bereits entschieden, dass es in der vom Grundgesetz verfassten staatlichen Ordnung geboten sein kann, Völkerrechtsverstöße als subjektive Rechtsverletzungen geltend machen zu können, unabhängig davon, ob Ansprüche von Einzelpersonen schon kraft Völkerrechts bestehen. Das gilt jedenfalls dann, wenn völkerrechtliche Regelungen ? wie hier ? einen engen Bezug zu individuellen hochrangigen Rechtsgütern aufweisen. Aufgrund ihrer [sich] aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ergebenden Pflicht, das Völkerrecht zu respektieren, können deutsche Staatsorgane verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich durchzusetzen, wenn andere Staaten es verletzen. Deutsche Behörden und Gerichte sind verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeinen Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft. Diese nach außen gerichtete Pflicht kann allerdings in ein Spannungsverhältnis zu der gleichfalls verfassungsrechtlich gewollten internationalen Zusammenarbeit zwischen den Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten geraten, insbesondere wenn eine Rechtsverletzung nur auf dem Kooperationswege beendet werden kann. Dann kann sich diese Ausprägung der Respektierungspflicht nur im Zusammenspiel und Ausgleich mit den weiteren internationalen Verpflichtungen Deutschlands konkretisieren.

Ausgehend von diesen Maßstäben hat der Senat die Überzeugung gewonnen, dass eine Schutzpflicht der beklagten Bundesrepublik Deutschland bezogen auf Leib und Leben der Kläger besteht, der ein bisher nicht ausreichend erfüllter Anspruch der Kläger gegenübersteht. Dieser Anspruch hat allerdings nicht den Inhalt, dass Deutschland darauf hinwirken muss, die Nutzung der Air Base Ramstein für Drohneneinsätze zu unterbinden. Insoweit hat der Senat die Klage abgewiesen.

Die Kläger können von der Beklagten lediglich verlangen, dass sie sich auf der Grundlage der rechtlichen Prüfung durch den Senat vergewissert, ob die generelle Praxis der amerikanischen Drohneneinsätze in der Heimatregion der Kläger im Jemen, soweit dabei Einrichtungen in Deutschland genutzt werden, mit dem geltenden Völkerrecht in Einklang steht. Erforderlichenfalls hat die Beklagte durch ihr geeignet erscheinende Maßnahmen auf die Einhaltung des Völkerrechts hinzuwirken.

Im Einzelnen:

Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 GG besteht bei Gefahren für das Grundrecht auf Leben auch bei Auslandssachverhalten, sofern ein hinreichend enger Bezug zum deutschen Staat besteht. Hier besteht ein solcher Bezug, der eine aus dem Grundrecht auf Leben folgende Schutzpflicht der Beklagten gegenüber den Klägern auslöst, weil sie berechtigterweise Leib- und Lebensgefahren durch völkerrechtswidrige US-Drohneneinsätze unter Nutzung von Einrichtungen auf der Air Base Ramstein befürchten. Das Recht auf Leben ist umfassend und schützt auch vor relevanten hinreichend konkreten rechtswidrigen Gefährdungen für Leib und Leben.

Es bestehen gewichtige, der Beklagten bekannte oder jedenfalls offenkundige tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die USA unter Verwendung technischer Einrichtungen auf der Air Base Ramstein und dort stationierten eigenen Personals bewaffnete Drohneneinsätze in der Heimatregion der Kläger im Jemen durchführen, die zumindest teilweise gegen Völkerrecht verstoßen, wodurch die Kläger rechtswidrig in ihrem Recht auf Leben gefährdet werden.

Nach offiziellen Verlautbarungen der US-Regierung, des US-Kongresses sowie des US-Militärs führen die USA seit Jahren bis in die jüngste Vergangenheit im Jemen Militäroperationen zur Terrorismusbekämpfung durch. Dabei handle es sich insbesondere um Luftangriffe (»airstrikes«). Die Angriffe richten sich gegen Operationen, Einrichtungen und Führungsmitglieder (»senior leaders«) von mit al-Qaida verbundenen Organisationen. Im Jemen sind das al-Qaida auf der arabischen Halbinsel »AQAP« und der dortige regionale Ableger des IS.

Von regelmäßigen amerikanischen Luft- und Drohnenangriffen im Jemen berichten auch die UN-Sonderberichterstatter und UN-Expertenkommissionen für den Jemen.

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die USA Drohneneinsätze (auch) im Jemen unter Verwendung technischer Einrichtungen auf der Air Base Ramstein und dort stationierten eigenen Personals durchführen. Insbesondere spricht derzeit alles dafür, dass der Datenstrom zur Fernsteuerung der Drohnen in Echtzeit aus den USA über eine Satelliten-Relaisstation in Ramstein geleitet wird, die als notwendiges Bindeglied zwischen den Piloten in den USA und den Drohnen im Einsatzgebiet für die Einsätze von zentraler Bedeutung ist. Dies entspricht den Feststellungen der Mehrheit des 1. Untersuchungsausschusses der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Dieser hat nach umfassender Beweiserhebung in seinem Abschlussbericht auf BT-Drs. 18/12850, Seite 1354, festgestellt:

Im Ergebnis kann nach der Beweisaufnahme durch den Ausschuss als gesichert gelten, dass die US-Luftwaffenbasis Ramstein mit der dortigen Relaisstation, die der Weiterleitung von Daten und Steuerungssignalen für US-Drohnen aber auch von durch US-Drohnen gewonnene Daten dient, eine wesentliche Rolle für den Einsatz von US-Drohnen spielt – unabhängig davon, ob diese bewaffnet oder unbewaffnet, etwa zu Aufklärungszwecken, operieren und ebenfalls unabhängig davon, ob es bei bewaffneten Drohnen tatsächlich im Einzelfall auch zum Waffeneinsatz kommt.

Diese Feststellungen werden untermauert durch dem Gericht vorliegende offizielle amerikanische Dokumente aus den Jahren 2010 und 2011, in denen die herausragende Bedeutung der seinerzeit noch geplanten Relaisstation auf der Air Base in Ramstein für den US-Einsatz bewaffneter Drohnen in Übersee jeweils besonders hervorgehoben worden ist. Über den seinerzeit noch geplanten Bau einer Satelliten-Relaisstation in Ramstein zur Steuerung auch bewaffneter Drohnen im Ausland wurde die Beklagte von der US-Seite bereits im April 2010 und sodann noch einmal im November 2011 informiert.

Im Jahr 2016 haben amerikanische Regierungsstellen der Beklagten mitgeteilt, die globalen Kommunikationswege der USA zur Unterstützung unbemannter Luftfahrzeuge schlössen Fernmeldepräsenzpunkte auch in Deutschland ein, von denen aus die Signale weitergeleitet würden. Einsätze unbemannter Luftfahrzeuge würden von verschiedenen Standorten aus geflogen, unter Nutzung diverser Fernmelderelaisschaltungen, von denen einige auch in Ramstein laufen würden. Außerdem teilten US-Vertreter mit, dass im Jahr 2015 in Ramstein eine Vorrichtung zur Verbesserung der bereits zuvor vorhandenen Fernmeldeausstattung fertiggestellt worden sei. Schließlich hat die US-Seite die Bundesregierung darüber informiert, dass Ramstein eine Reihe weiterer Aufgaben unterstütze, darunter die Planung, Überwachung und Auswertung von zugewiesenen Luftoperationen.

In Reaktion auf diese neuen Informationen hat das Auswärtige Amt im September 2016 hochrangige Gespräche in Washington geführt. Hierüber hat die Bundesregierung den Deutschen Bundestag unterrichtet und erklärt, sie werde dazu auch weiterhin mit der amerikanischen Seite in Kontakt bleiben (BT-Plenarprotokoll 18/205, S. 20452 f.). Auf mehrere parlamentarische Anfragen hat die Bundesregierung erklärt, aufgrund langjähriger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den USA gebe es für die Bundesregierung keinen Anlass zu Zweifeln an der Zusicherung der USA, dass Aktivitäten in US-Militärliegenschaften in Deutschland im Einklang mit dem geltenden Recht erfolgten. Die USA haben sich hierzu in den Stationierungsverträgen selbst gegenüber Deutschland verpflichtet.

Alle beteiligten Staaten, die USA, Deutschland und der Jemen gehen selbstverständlich davon aus, dass militärische Waffengewalt nur im Rahmen des geltenden Völkerrechts zulässig ist. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat in zahlreichen Resolutionen im Zusammenhang mit der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, auch im Jemen, immer wieder hervorgehoben und mehrfach mit Nachdruck an alle Konfliktparteien bewaffneter Konflikt appelliert, dass sie ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, einschließlich des anwendbaren humanitären Völkerrechts und der anwendbaren internationalen Menschenrechtsnormen, nachkommen müssen (jüngst für den Jemen z.B. Resolution Nr. 2402 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 26.2.2018).

Völkerrecht ist nach dem deutschen Grundgesetz auch in Deutschland geltendes Recht und bindet Behörden sowie Gerichte nach Art. 20 Abs. 3 GG. Es muss auch von Stationierungsstreitkräften bei der Nutzung deutscher Liegenschaften eingehalten werden. Darüber besteht kein Streit. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht der Bundesregierung in Bezug auf die rein völkerrechtliche Bewertung mit Rücksicht auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich kein politischer Beurteilungsspielraum zu, der gerichtlicher Kontrolle nicht zugänglich ist.

Die Frage, ob und ggf. in welchen Grenzen Völkerrecht bewaffnete Drohneneinsätze im Jemen zulässt, ist deshalb keine politische Frage, sondern eine Rechtsfrage. Sie ist in diesem Verfahren streitgegenständlich, weil amerikanische bewaffnete Drohnen unter Verwendung technisch ganz zentraler Einrichtungen, die sich auf deutschem Boden befinden, eingesetzt werden. Ob sich Deutschland im Zusammenhang mit amerikanischen Drohneneinsätzen schützend und fördernd vor das Leben der Zivilbevölkerung in den Einsatzgebieten im Jemen stellen muss, hängt rechtlich davon ab, ob das Völkerrecht bei diesen Einsätzen gewahrt wird. Der Prüfung des völkerrechtlichen Rahmens für Einsätze, die die USA unter maßgeblicher Nutzung deutscher Liegenschaften in Deutschland durchführt, bedarf es also rechtlich notwendig, um die deutsche (Mit-) Verantwortlichkeit in diesem Zusammenhang beurteilen zu können.

Mithin ist der Senat nach deutschem Verfassungsrecht verpflichtet, die Vereinbarkeit amerikanischer Drohneneinsätze in der Heimatregion der Kläger im Jemen mit geltendem Völkerrecht zu prüfen. Mit dieser ihm innerstaatlich durch das Grundgesetz aufgegebenen rein rechtlichen Prüfung trägt er im Rahmen seiner Zuständigkeit auch im internationalen Zusammenhang das Seine zur Einhaltung des Völkerrechts bei der Terrorismusbekämpfung bei, soweit Deutschland daran maßgeblich mitwirkt.

Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, auch im Jemen, geschieht mit ausdrücklicher Billigung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, der festgestellt hat, dass die Situation im Jemen eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt, auch deshalb, weil bestimmte Gebiete im Jemen mit verheerenden humanitären Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung unter Kontrolle von Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel stehen (Resolution 2402 vom 26.2.2018).

Grundsätzlich hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Rahmen ihrer von zahlreichen Staaten, zu denen Deutschland und die USA gehören, eingebrachten Resolution 60/158 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus vom 16.12.2005, die nach Abschnitt IV. Nr. 1 der weltweiten Strategie der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 8.9.2006 (Resolution 60/288 der Generalversammlung) den grundlegender Rahmen für den Menschenrechtsschutz bei der Terrorismusbekämpfung vorgibt, unter anderem folgendes bekräftigt:

Erstens, dass jede Form des Terrorismus als kriminell und nicht zu rechtfertigen unmissverständlich zu verurteilen ist und die Staatengemeinschaft entschlossen ist, die internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Terrorismus zu stärken, und

zweitens, dass die UN-Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass jede Maßnahme, die sie zur Bekämpfung des Terrorismus ergreifen, mit ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, insbesondere den internationalen Menschenrechtsnormen, dem Flüchtlingsvölkerrecht und dem humanitären Völkerrecht, im Einklang steht.

Zugleich hat die Generalversammlung in dieser Resolution zutiefst missbilligt, dass es im Kontext des Kampfes gegen den Terrorismus zu Verletzungen der Menschenrechte sowie zu Verstößen gegen das Flüchtlingsvölkerrecht und das humanitäre Völkerrecht kommt.

Da die Vereinbarkeit amerikanischer Drohneneinsätze im Rahmen der Terrorismusbekämpfung mit dem auch völkerrechtlich gewährleisteten Recht auf Leben umstritten ist, versetzt eine Prüfung der sich hierbei stellenden rechtlichen Zweifelsfragen durch ein unabhängiges Gericht in einem rechtsstaatlichen Verfahren die zuständigen deutschen Stellen in die Lage, im Rahmen der guten internationalen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten aufgekommene völkerrechtliche Zweifel auszuräumen.

Die sehr aufwändige Prüfung hat ergeben, dass die bisherige Annahme der Bundesregierung, es bestünden keine Anhaltspunkte für Verstöße der USA bei ihren Aktivitäten in Deutschland gegen deutsches Recht oder Völkerrecht, auf einer unzureichenden Tatsachenermittlung beruht und rechtlich letztlich nicht tragfähig ist.

Es bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls ein Teil der bewaffneten Drohneneinsätze der USA in der Heimatregion der Kläger im Jemen mit Völkerrecht nicht in Einklang steht und die Kläger durch diese rechtswidrig in ihrem Recht auf Leben gefährdet werden. Angesichts dieses Risikos ist die Beklagte zu Unrecht davon ausgegangen, zu weiteren Bemühungen über die bestehenden Kontakte mit der US-Regierung hinaus, über deren Inhalt die Bundesregierung Stillschweigen wahrt, gegenüber den Klägern nicht verpflichtet zu sein. In seiner Entscheidung berücksichtigt und wahrt der Senat den weiten Spielraum, der der Bundesregierung im Zusammenhang mit staatlichen Schutzpflichten zukommt, zumal im außenpolitischen Bereich. Bei der Erfüllung der Schutzpflicht obliegt es der Bundesregierung, im internationalen Verkehr mit dem Bündnispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika, der ebenfalls dem Völkerrecht und den internationalen Menschenrechten sowie dem humanitären Völkerrecht verpflichtet ist, in einer Weise vorzugehen, die die Bündnisfähigkeit Deutschlands nicht gefährdet.

Im Rahmen seiner völkerrechtlichen Prüfung stützt sich der Senat auf die UN-Charta sowie internationale Verträge zum humanitären Völkerrecht und zum internationalen Menschenrechtsschutz in der Auslegung durch internationale Gerichte. Des Weiteren konnte er bezogen auf sich stellende Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Auslegung internationaler Verträge unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Völkergewohnheitsrechts auf umfangreiche Vorarbeiten von internationalen Organisationen, namentlich unter dem Dach der Vereinten Nationen sowie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, zurückgreifen, in die internationaler Sachverstand eingeflossen ist, sowie auf tatsächliche Feststellungen von Sonderberichterstattern der Vereinten Nationen sowie internationalen Expertenkommissionen. An der sich hieraus ergebenden Rechtsprüfung hat der Senat die Völkerrechtskonformität der Einsätze bewaffneter Drohnen in der Heimatregion der Kläger im Jemen anhand offizieller Äußerungen der US-Administration sowie verlässlichen weiteren Erkenntnissen, insbesondere solchen, die von den Vereinten Nationen veranlasste Untersuchungen ergeben haben, überprüft. Er hatte dabei auch völkerrechtliche Abgrenzungsfragen zu beurteilen, die notwendig beurteilt werden müssen, bei denen aber Streit über die zutreffenden Abgrenzungskriterien besteht.

Diese Überprüfung hat Folgendes ergeben:

Der Einsatz bewaffneter amerikanischer Drohnen im Jemen ist derzeit nicht generell unzulässig. Bewaffnete Drohnen sind keine völkerrechtlich verbotenen Waffen. Der Waffeneinsatz der US-Streitkräfte gegen al-Qaida auf der arabischen Halbinsel im Jemen verstößt, ungeachtet dessen, ob sich die Kläger hierauf berufen können, auch nicht gegen das staatengerichtete Gewaltverbot in internationalen Beziehungen, weil er mit Zustimmung der rechtmäßigen jemenitischen Regierung erfolgt.

Selbst wenn bewaffnete Drohneneinsätze grundsätzlich zulässig sind, dürfen sie nicht gegen die Vorgaben des humanitären Völkerrechts und des internationalen Menschenrechtsschutzes verstoßen.

Das humanitäre Völkerrecht gilt nur in bewaffneten Konflikten und gestattet in diesem Zusammenhang die in Friedenszeiten prinzipiell unzulässige gezielte Ausübung auch tödlicher Gewalt, setzt dieser aber zugleich auch Grenzen. Insoweit dient es der Mäßigung der Gewaltausübung und dem Schutz von Leib und Leben von Zivilisten im bewaffneten Konflikt, also dem Schutz hochrangiger individueller Schutzgüter geschützter Personen. Damit ist das humanitäre Völkerrecht im Rahmen der hier zu beurteilenden staatlichen Schutzpflicht relevant.

Nicht als bewaffnete Konflikte gelten bloße innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen. Nach einer weithin anerkannten Definition des UN-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia – ICTY) liegt ein bewaffneter Konflikt auch bei „lang anhaltender bewaffneter Gewalt zwischen Regierungsstellen und bewaffneten Organisationen“ innerhalb eines Staates vor. Nach den unter dem Dach der Vereinten Nationen gewonnenen Feststellungen spricht alles dafür, dass al-Qaida auf der arabischen Halbinsel einen hinreichenden Organisationsgrad aufweist, um Partei eines nicht internationalen bewaffneten Konflikts zu sein, zumal die Gruppe in den vergangenen Jahren mehrfach Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hat. Auch waren die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen al-Qaida auf der arabischen Halbinsel auf der einen Seite und der jemenitischen Regierung, die insoweit um internationale Unterstützung gebeten hat und unter anderem von den USA unterstützt wird, auf der anderen Seite jedenfalls bis in die jüngste Vergangenheit so intensiv, dass ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt – auch nach Auffassung des Sicherheitsrats – gegeben ist, der zumindest derzeit noch nicht beendet ist. Allerdings ist al-Qaida auf der arabischen Halbinsel nach dem jüngsten Bericht internationaler Sachverständiger im vergangenen Jahr so erheblich geschwächt worden, dass sich in absehbarer Zeit die Frage stellen könnte, ob die Gruppe nicht mehr Partei eines mit militärischen Mitteln ausgetragenen bewaffneten Konflikts sein kann. Ähnliches gilt für den jemenitischen Ableger des IS.

Nach einer elementaren Regel des humanitären Völkerrechts dürfen weder die Zivilbevölkerung als solche, zivile Objekte noch einzelne Zivilpersonen, sofern und solange sie nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen, angegriffen werden. In Bezug auf geschützte Zivilpersonen sind auch im nicht internationalen bewaffneten Konflikt nach Art. 3 des IV. Genfer Abkommens vom 12.8.1949 (BGBl. 1954 II S. 917) Angriffe auf das Leben und die Person, namentlich die Tötung jeder Art, jederzeit und überall verboten. Aus dem Unterscheidungsgebot und dem Verbot des Angriffs auf nicht unmittelbar an Feindseligkeiten beteiligte Zivilpersonen folgt, dass stets eine in der konkreten Situation mögliche sorgfältige Prüfung stattfinden muss, ob es sich um eine geschützte Zivilperson handelt. Zum Schutz der Zivilbevölkerung sind nach Völkergewohnheitsrecht auch im nicht internationalen Konflikt Angriffe verboten, bei denen damit zu rechnen ist, dass sie auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung verursachen, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.

Angriffe dürfen sich grundsätzlich nur gegen Kämpfer der am Konflikt beteiligten bewaffneten Gruppe richten sowie gegen andere Personen, die unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen. Da die Kämpfer einer nichtstaatlichen Konfliktpartei anders als Soldaten staatlicher Streitkräfte äußerlich nicht zwingend durch Uniformen oder Hoheitszeichen erkennbar sind und typischerweise nicht durch formalen Akt, sondern aufgrund tatsächlichen Anschlusses zu Mitgliedern der Konfliktpartei werden, muss eine Unterscheidung zwischen ihnen und Zivilisten anhand tatsächlich-funktionaler Gesichtspunkte erfolgen. Dementsprechend ist eine Person als Angehörige einer solchen Gruppe anzusehen, wenn ihre fortgesetzte bzw. dauerhafte Funktion in der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten besteht (»continuous combat function«).

Dieses vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz entwickelte Verständnis ist bereits in der funktionalen, auf eine Zweckbestimmung zur Austragung bewaffneter Feindseligkeiten bezogenen Bezeichnung nicht-staatlicher Konfliktparteien als »Streitkräfte« (gemeinsamer Art. 3 Nr. 1 der Genfer Abkommen, englische Fassung: »armed forces«) und »organisierte bewaffnete Gruppen« (Art. 1 Abs. 1 ZP II, englische Fassung: »organized armed groups«) angelegt. Die durch das funktionale Kriterium der fortgesetzten Kampffunktion bewirkte restriktive Bestimmung des Personenkreises, dessen Angehörige jeweils nicht den Schutzstatus einer Zivilperson genießen, entspricht zudem der auf einen wirksamen Schutz der Zivilbevölkerung zielenden Ausrichtung des humanitären Völkerrechts. Bei der Frage, ob eine Tätigkeit oder Funktion in der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten besteht, bedarf es letztlich einer fallbezogenen Bewertung, die einerseits dem Schutz der Zivilbevölkerung, andererseits militärischen Notwendigkeiten Rechnung tragen muss. Angehörige organisierter bewaffneter Gruppen dürfen auch dann gezielt bekämpft werden, wenn sie aktuell gerade nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.

Nach Auswertung aller für den Senat verfügbaren öffentlichen Erklärungen der US-Administration deuten diese klar darauf hin, dass die USA ihren Kampf gegen al-Qaida, die Taliban oder assoziierte Kräfte, zu denen al-Qaida auf der arabischen Halbinsel und der jemenitische Ableger des IS gezählt werden, als einheitlichen, potenziell weltweiten bewaffneten Konflikt verstehen. Sie differenzieren dabei nicht erkennbar zwischen verschiedenen räumlich begrenzten bewaffneten Konflikten unter Beteiligung organisatorisch unabhängiger regionaler Terrorgruppen. Ein so weit verstandener Begriff des bewaffneten Konflikts steht nicht im Einklang mit dem Begriffsverständnis des humanitären Völkerrechts, weil er nicht zur Begrenzung militärischer Gewalt beiträgt, sondern praktisch grenzenlos und potenziell global ist. Dieses weite Verständnis haben die Vereinigten Staaten von Amerika bis zuletzt nicht offiziell aufgegeben, auch wenn sie tatsächlich ihre militärischen Einsätze auf regionale bewaffnete Konflikte konzentrieren.

Ferner haben die USA in der Vergangenheit bei der Terrorismusbekämpfung mehrfach ein Recht auf präventive Selbstverteidigung auch in Situationen für sich beansprucht, in denen noch keine unmittelbare Gefahr besteht, sondern „über Zeit und Ort des feindlichen Angriffs Ungewissheit herrscht“. Diese Auffassung ist bis heute regelmäßig auf Widerspruch gestoßen und ist deshalb völkergewohnheitsrechtlich nicht anerkannt.

Das sehr weite Verständnis der USA von der Reichweite bewaffneter Konflikte sowie die offiziell vertretene Annahme, Angriffe seien selbst außerhalb bewaffneter Konflikte präventiv schon zulässig, wenn ein potentieller Gegner noch keinen konkreten Angriff plant, wecken Zweifel, ob die generelle Einsatzpraxis für Angriffe auch im Jemen dem Unterscheidungsgebot des humanitären Völkerrechts genügt. Indem die mit al-Qaida »assoziierten« Kräfte umfassend als Beteiligte an einem weltweiten bewaffneten Konflikt angesehen werden, selbst wenn Zeit und Ort eines möglichen Angriffs noch ungewiss sind, bleibt unklar, ob sich direkte bewaffnete Angriffe im Jemen auf solche Personen beschränken, die innerhalb der örtlichen Gruppierung al-Qaida auf der arabischen Halbinsel eine fortgesetzte Kampffunktion einnehmen, also insbesondere als Mitglieder seines militärischen Zweigs, sowie auf sonstige Personen, die unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen. Der Senat hat keine Anzeichen dafür feststellen können, dass diese völkerrechtlich zum Schutz der Zivilbevölkerung zwingend notwendige Differenzierung in ausreichendem Maße erfolgt. Verlässliche Informationen über Drohnenangriffe im Jemen, einschließlich solcher von offiziellen amerikanischen Stellen, deuten vielmehr darauf hin, dass die völkerrechtlich erforderliche Unterscheidung nicht nur im Einzelfall nicht genügend vorgenommen wird. Insbesondere sind am bewaffneten Kampf nicht unmittelbar beteiligte zivile Unterstützer der Gruppe und frühere Kämpfer, die sich von ihr endgültig abgewandt haben, keine legitimen militärischen Ziele, selbst wenn sie dem Sanktionsregime des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen unterworfen sind und strafrechtlich auch für ihre nicht militärischen Unterstützungsleistungen verantwortlich zu machen sind.

Darüber hinaus ist auch im bewaffneten Konflikt jede willkürliche Tötung nach Art. 6 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte unzulässig. Dabei ist eine Tötung nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs dann nicht willkürlich, wenn sie sich im Rahmen eines bewaffneten Konflikts gegen ein legitimes militärisches Ziel richtet und der Angriff unverhältnismäßig hohe zivile Opfer vermeidet. Ob dies jeweils der Fall war, blieb in der Vergangenheit vielfach ungeklärt, selbst wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass Zivilisten gezielt angegriffen worden sein könnten. Das Verbot willkürlicher Tötung verlangt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts, dass wirksame amtliche Ermittlungen durchgeführt werden, wenn Personen durch Gewaltanwendung insbesondere durch Vertreter des Staates getötet werden. Der UN-Sonderberichterstatter für den Menschenrechtsschutz bei der Terrorismusbekämpfung ist in seinem Abschlussbericht im Jahr 2014 zwar zu dem Ergebnis gekommen, dass von der Mehrheit der bei US-Drohnenangriffen im Jemen getöteten Personen angenommen wird, es habe sich um legitime militärische Ziele im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt gehandelt. Gleichwohl hat er eine Reihe von bewaffneten Angriffen mit erwiesener oder möglicher Beteiligung der USA im Jemen aufgeführt, bei denen ein nicht ausgeräumter begründeter Verdacht der Rechtswidrigkeit besteht. Entsprechende Vorwürfe hat der jemenitische Minister für Menschenrechte in einer britischen Zeitung noch im vergangenen Jahr anlässlich mehrerer jüngerer Angriffe erhoben, bei denen jemenitische Regierungsstellen keinen Anhalt dafür finden konnten, dass auch nur eines der Opfer mit al-Qaida in Verbindung stand. Schon 2010 hatte ein UN-Sonderberichterstatter beanstandet, dass die Staaten ihren nach den Menschenrechtsnormen und dem humanitären Völkerrecht bestehenden Verpflichtungen zur Rechenschaft in Bezug auf gezielte Tötungen nicht nachkommen. Der Bundesregierung ist nach Angaben ihrer Vertreter in der mündlichen Verhandlung nicht verlässlich bekannt, dass in Fällen dieser Art ? über rein interne Lageauswertungen hinaus ? unabhängige Untersuchungen durch US-Behörden durchgeführt oder zugelassen werden. Hierüber ist im laufenden Verfahren auch sonst nichts bekannt geworden. Der Umstand, dass den Klägern eine gerichtliche Überprüfung der Tötung ihrer Angehörigen vor amerikanischen Gerichten versagt wurde, spricht eher dagegen.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat der Senat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen.

US-Pläne für Raketenabwehr


US-Pläne für Raketenabwehr

Nicht Schutz, sondern Destabilisierung

von Regina Hagen

Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump legte das Pentagon eine ganze Reihe von Strategiedokumenten vor. Am 17.1.2019 wurde nun auch der »Missile Defense Review« (Raketenabwehrstrategie und -planung) vorgestellt. Der Auftrag lautet, die USA, US-Truppen im Ausland, Alliierte und Partner zu schützen, gegnerische Bedrohungen und Angriffe abzuwehren […], Diplomatie aus einer Position der Stärke zu betreiben […] und uns die Handlungsfreiheit zu bewahren, zur Verteidigung unserer Interessen regionale Militäroperationen durchzuführen“.

Die Bedrohung lauert vermeintlich überall: Sie geht von China und Russland, aber auch von Nordkorea und Iran oder allgemeiner von „Schurkenstaaten und revisionistischen Mächten“ aus. Sie manifestiert sich in der Ausweitung von Reichweite, Zielgenauigkeit und Wirksamkeit bisheriger Raketentypen sowie in „neuen und beispiellosen Fähigkeiten“, wie Mehrfachsprengköpfen, manövrierbaren Sprengköpfen, Täuschflugkörpern, Störsendern, weiterentwickelten Marschflugkörpern und Hyperschall-Raumgleitern mit unvorhersehbaren (und damit für Abwehrraketen schwer berechenbaren) Flugbahnen. Als weiteres Problem werden die immer ausgefeilteren und umfangreicheren Raketenabwehrsysteme aufgeführt, die potentielle Gegner aufbauen, sowie deren rasch zunehmende Fähigkeiten zum Ausschalten von Satelliten und weiterer gegen die USA gerichteten Aktivitäten im Weltraum. Dennoch behauptete Präsident Trump: „Das Ziel ist einfach. Es ist sicherzustellen, dass wir jede gegen die Vereinigten Staaten gestartete Rakete aufspüren und zerstören können – jederzeit, überall, an jedem Ort.“ (17.1.2019)

Um diesem (technisch unerfüllbaren) Anspruch gerecht zu werden, wollen die USA mit land-, see-, luft- und weltraumbasierten Systemen kontern. Dabei setzen sie auch auf Technologien, die aus Planungsszenarien der vergangenen Jahrzehnte stammen und weder technisch noch finanziell realisierbar waren. Der Weltraum soll bei der Raketenabwehr eine deutlich größere Rolle spielen, bis hin zur direkten Stationierung von Abwehr- und Angriffswaffen in der Erdumlaufbahn – letztere zum Ausschalten gegnerischer Raketenstellungen noch vor einem eventuellen Start. In den Worten Trumps: „[W]ir werden anerkennen, dass der Weltraum eine neue Domäne der Kriegsführung ist, und die [kürzlich angeordnete] Weltraumtruppe wird den Weg führen.“ (17.1.2019)

Der Start von Abwehrraketen aus Flugzeugen oder der Einsatz von Lasersystemen gegen startende Raketen stehen ebenso auf dem Programm wie die zusätzliche Stationierung bereits verfügbarer Komponenten (wie Abwehrraketen und Radarsysteme) und die Erhöhung von deren Reichweite – darunter auch die in Europa stationierten und der NATO unterstellten Aegis-Systeme. Kurzum: „Wir haben die besten Waffen in der Welt, und wir bestellen die besten Waffen in der Welt. Darauf können Sie sich verlassen.” (Trump am 17.1.2019).

An der Finanzierung will Trump die Verbündeten beteiligen: „Wir schützen all diese reichsten Länder, was mir eine große Ehre ist, aber viele von ihnen sind so reich, dass sie uns problemlos die Kosten dieses Schutzes bezahlen können.“ Dazu meint Friedenforscher Götz Neuneck lakonisch: „Viel Geld wird in einige Programme wie in ein Schwarzes Loch geworfen.“ (24.1.2019)

Über all das könnte man lachen – wenn die Pläne nicht so gefährlich wären. Bei der jüngsten Pressekonferenz des in Chicago ansässigen »Bulletin of the Atomic Scientists« betonte die Sicherheitsexpertin Sharon Squaassoni: „Die Pläne […] könnten das strategische Gleichgewicht massiv stören. China, das schon seit langem die destabilisierende Wirkung von Raketenabwehrsystemen beklagt, sagte, die US-Pläne […] könnten den regionalen Frieden und die Sicherheit beeinträchtigen, die internationalen Prozesse zur Abrüstung von Atomwaffen beeinflussen, zu einem neuen Wettrüsten führen und das strategische Gleichgewicht und die Sicherheit in der Welt unterminieren‘. Russische Regierungsvertreter setzten die US-Entwicklung weltraumbasierter Sensoren für Raketenabwehr mit dem Start eines Wettrüstens im Weltraum gleich.“ (24.1.2019, thebulletin.org)

Widerstand aus deutschen Regierungskreisen ist kaum zu erwarten – obwohl der US-Plan sich direkt auf die Raketenabwehrplanung der NATO auswirken wird.

Literatur

U.S. Department of Defense: Missile Defense Review. 17.1.2019; defense.gov.

Aufzeichnung der MDR-Vorstellung vom 17.1.2019: youtube.com/watch?v=TRehghJk-jY.

Neuneck, G.: Trumps Mauerphantasien jetzt auch im Weltall? Stellungnahme, 24.1.2018; ifsh.de.

Kubiak, K.: Europe and Trump’s Missile Defense Policy. Kommentar, 23.1.2019; ­europeanleadershipnetwork.org.

Regina Hagen ist eine Sprecherin der Kampagne »Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt« und verantwortliche Redakteurin von W&F.

Dieser Text erscheint zeitgleich in der Zeitschrift »Friedensforum«.

Längst überfälliger Gipfel


Längst überfälliger Gipfel

von Rainer Werning

Man mag es drehen und wenden, wie man will: Das Zusammentreffen von US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Staatschef Kim Jong-Un war im wahrsten Wortsinn historisch. Da reichten sich am 12. Juni 2018 im südostasiatischen Singapur zwei Männer die Hände, die noch Anfang dieses Jahres schwadronierten, wer über den größeren Knopf verfüge, um seine Raketen gegen die jeweils andere Seite abzufeuern.

Erst seit 1972 kam es zu drei innerkoreanischen Avancen, die allerdings aufgrund außenpolitischer Konstellationen bzw. direkter Intervention seitens der USA vereitelt wurden: die »Gemeinsame Süd-Nord-Erklärung über die friedliche nationale Wiedervereinigung« vom 4. Juli 1972; das um die Jahreswende 1991/1992 zwischen Seoul und Pjöngjang ausgehandelte »Abkommen über Aussöhnung, Nichtaggression, Austausch und Kooperation« und die »Gemeinsame Erklärung zur Denuklearisierung der Koreanischen Halbinsel« sowie die anlässlich des ersten innerkoreanischen Gipfeltreffens in Pjöngjang von beiden Staatschefs, Kim Dae-Jung und Kim Jong-Il (Vater von Kim Jong-Un), am 15. Juni 2000 vereinbarte »Nord-Süd-Deklaration«. Möglich geworden war dieser Gipfel nach dem Amtsantritt Kim Dae-Jungs im Februar 1998, der in Anlehnung an eine bekannte Fabel von Äsop vis-à-vis dem Norden eine »Sonnenscheinpolitik« verfolgte.

Den Höhepunkt dieser »Sonnenscheinpolitik« bildete der Besuch von US-Außenministerin Madeleine K. Albright in Pjöngjang am 23. und 24. Oktober 2000. Höchst ungewöhnlich auch die Szenen zwei Wochen zuvor. Da hatte US-Präsident Bill Clinton mit dem 72-jährigen Vizemarschall Jo Myong-Rok den Sondergesandten Kim Jong-Ils und die damalige Nummer zwei der nordkoreanischen Nomenklatura im Oval Office im Weißen Haus mit einem herzlichen Händeschütteln willkommen geheißen. Bei der Gelegenheit überreichte Vizemarschall Jo dem Gastgeber einen Brief von Kim mit einer Einladung zum Besuch in Pjöngjang. Dann teilte er Clinton mit: „Wenn Sie nach Pjöngjang kommen, wird Ihnen Kim Jong-Il garantieren, alle Ihre Sicherheitsbedürfnisse zu befriedigen.“ Außerdem verpflichteten sich Washington und Pjöngjang im Rahmen eines Gemeinsamen Kommuniqués anlässlich der Jo-Visite u.a., „formell den Koreakrieg zu beenden, indem das Waffenstillstandsabkommen von 1953 durch einen dauerhaften Friedensvertrag ersetzt wird“.

Während also zu Beginn des Jahres 2001 alle Zeichen auf Entspannung in Korea standen, geriet die Situation nach dem Amtsantritt von George W. Bush aus den Fugen. Er bezeichnete Nordkorea unverblümt als einen „Bedrohungsfaktor in Ostasien“, mit dem Gespräche ausgesetzt und erst nach einer kompletten Neubestimmung der US-Asienpolitik wieder aufgenommen würden. Den innerkoreanischen Dialog kanzelte er als „naiv“ ab. Vor allem die in Washington vor und nach der Irak-Invasion (2003) wiederholte Forderung notwendiger »Regimewechsel« ließ in Pjöngjang die Alarmglocken schrillen. Nachdem Präsident Bush bereits im Januar 2002 Nordkorea als Teil seiner ominösen »Achse des Bösen« ausgemacht hatte, verwies die Regierung Nordkoreas die Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde des Landes, belud den Atomreaktor in Yongbyon mit neuen Brennstäben und erklärte den Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag.

Der am 9. Mai 2017 gewählte Präsident Südkoreas, Moon Jae-In, ist das Beste, was seinem Land und der Entspannungspolitik auf der Halbinsel passieren konnte. Ohne seine neu inszenierte »Sonnenscheinpolitik« wäre eine um die Jahreswende 2017/18 erfolgte vierte Nord-Süd-Annäherung nicht zustande gekommen, vom gemeinsamen Besuch Moons und Kims im Grenzort Panmunjom am 27. April und eben dem Trump-Kim-Gipfeltreffen in Singapur ganz zu schweigen. Dort wurde immerhin vereinbart, ein »Friedensregime« auf der Halbinsel zu errichten, die bilateralen Beziehungen zu verbessern und die Denuklearisierung anzugehen. Mit »Friedensregime« ist zuvörderst die Schaffung vertrauenbildender Maßnahmen und die Überführung des Waffenstillstandsabkommens in einen Friedensvertrag im Sinne einer Folge »progressiver, aufeinander abgestimmter Etappen« gemeint.

Hardliner in Seoul wie Washington und in den letzten Wochen vor allem Medien in den USA, wie NBC News, CNN und The Wall Street Journal, beharren indes prioritär auf der alten CVID-Position (comprehensive, verifiable, irreversible denuclearization – umfassende, verifizierbare, unumkehrbare Denuklearisierung). Das kann bestenfalls das Resultat, mitnichten die Vorbedingung eines langwierigen Verhandlungsprozesses sein.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist mit den Schwerpunkten Ost- und Südostasien, ist u.a. Koautor des jüngst erschienenen Buches »Brennpunkt Nordkorea« (Berlin: edition berolina) und (Nord-) Korea-Dozent an der Akademie für Internationale Zusammenarbeit (AIZ) in Bonn-Röttgen.