Militarisierung oder Zivilisierung?
Ambivalenz der Wissenschaft in der Krise
von Jürgen Scheffran
Die zivil-militärische Ambivalenz hat die Wissenschaftsgeschichte geprägt. Ging es vor dem 20. Jahrhundert noch darum, die Relevanz der modernen Wissenschaft für das Militär unter Beweis zu stellen, so brachten die beiden Weltkriege die staatlich geförderte Kriegswissenschaft und der Kalte Krieg die systematische Einbindung von Großtechnologien in den militärisch-industriellen Komplex. Mit der Auflösung des Ost-West-Konflikts und der zunehmenden Globalisierung ging eine enge Verbindung von rüstungsbezogener und kommerzieller Hochtechnologie einher, die zu geplanten Dual-use-Strategien führte. Vernetzte Kriege im Kontext der Globalisierung führten zu neuen zivil-militärischen Strukturen und Anreizen für Aufrüstung. Eine mögliche Antwort ist eine stärkere Zivilisierung der Wissenschaft.
Bei Ambivalenz geht es um widersprüchliche Wahrnehmungen und konfliktive Bewertungen von Phänomenen. Ist dies vereinbar mit einer Wissenschaft, die nach verbreitetem Verständnis doch nach Wahrheit und Eindeutigkeit strebt, ungeachtet subjektiver Werte? Tatsächlich ist Wissenschaft nicht wertfrei, sondern unterschiedlichen (Be-) Wertungen unterworfen. Das wirft die Frage auf, um welche und wessen Werte es geht, wobei im vorliegenden Text die Akteure und Motive militärischer Forschung im Vordergrund stehen. Dabei liegt der Blick auf den Wissenschaftler*innen selbst, deren »Suche nach Wahrheit und Erkenntnis« hinsichtlich der Suchrichtung und der Untersuchungsmittel von individuellen, immanenten und gesellschaftlichen Antriebsfaktoren geformt wird:
1. Individuelle Eigeninteressen beeinflussen die Entscheidung, Wissenschaft zu betreiben, die den eigenen Fähigkeiten und Erkenntnisinteressen entsprechen, darunter auch das Bedürfnis, eine dauerhafte Beschäftigung bei gutem Einkommen zu sichern.
2. Wissenschaftsimmanente Kriterien im »System Wissenschaft« fordern dazu auf, gute, korrekte und der Wahrheit verpflichtete Forschung zu betreiben, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und methodisch abgesicherte Erkenntnisse produziert. Diese können frei publiziert werden, sofern sie einem Begutachtungsprozess in der wissenschaftlichen Community genügen. Bei hoher Qualität und Relevanz der Ergebnisse steigen wissenschaftliches Ansehen, Reputation und Einfluss, was die Chancen für Projekt- und Fördermittel erhöht.
3. Gesellschaftliche Relevanz bemisst sich an praktisch allen denkbaren Bewertungskriterien und Zielsetzungen, wobei hier unterschieden wird zwischen sicherheitspolitischen (Verteidigung, militärischer Vorsprung, Sicherheit, Frieden), wirtschaftlichen (Profit, Konkurrenzfähigkeit, Wohlstand) und anderen gesellschaftlichen Zielen (Energie- und Ressourcensicherheit, Umwelt- und Klimaschutz, Gesundheit und Nachhaltigkeit).
Zwischen diesen Motiven kann es Übereinstimmung geben, wenn hochwertige und gesellschaftlich relevante Forschung betrieben wird, die wissenschaftliches Ansehen und finanzielle Absicherung bietet. Es sind auch Widersprüche und Ambivalenzen möglich, wenn das Bemühen um gesellschaftlich relevante Forschung nicht gefördert wird, z.B. weil sie zu kritisch ist, und damit individuelle Nachteile bringt, oder wenn Mittel für Rüstungsforschung und kommerzielle Forschung vergeben werden, die zwar hohes Einkommen bringen, aber in Widerspruch stehen zu gesellschaftlichen Werten (z.B. Frieden und Nachhaltigkeit) oder wissenschaftlichen Prinzipien (z.B. durch Geheimhaltung, wissenschaftliche Unredlichkeit, Negativbegutachtung von Konkurrenten, Verkrustung des Mainstreams). Offenkundig ist der Widerspruch zwischen Wissenschaft und Technik, die als »Produktivkraft« zum Wohle der Menschheit beitragen soll, und der »Destruktivkraft« Rüstung, die auf die Entwicklung zerstörerischer Mittel ausgerichtet ist.
In welcher Richtung der wissenschaftlich-technische Möglichkeitsraum erkundet wird, beeinflussen auch Mittelgeber, die durch Vorgabe von Suchzielen und Vergabe von Fördermitteln in den Prozess eingreifen, um bestimmte Innovationen für eigene Ziele zu ermöglichen und Kosten im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation zu rechtfertigen. Hierzu gehören militärische und kommerzielle Förderer, für die Investitionen der Verfolgung ihrer Partikularinteressen dienen: einen Vorsprung gegenüber Gegnern auf Schlachtfeldern oder Konkurrenten auf Märkten zu erringen. Ihr Einfluss verstärkt die ohnehin vorhandene Konkurrenzsituation im Wissenschaftssystem.
Eine Frage ist, wodurch Rüstungsforschung getrieben wird: durch staatliche Steuerung, privatwirtschaftliche Interessen oder wissenschaftliche Dynamik? Dies hängt auch davon ab, ob Rüstungsforschung als anerkanntes Mittel der Politik gilt oder als überflüssige, kostspielige, gar friedensgefährdende Unternehmung. Teile des Wissenschaftsbetriebs haben hier eine treibende Rolle und sehen keine Probleme, an Rüstungsforschung aktiv mitzuwirken. Sie genießen die Vorteile – Geld, Einfluss und Anerkennung – unter Inkaufnahme gewisser Einbußen (Geheimhaltung, Abschottung, Amoralität) (Marischka 2015).
Andere geraten in eine Dilemma-Situation, wenn sie in Prozesse involviert sind, die sie im Grunde ablehnen. Dies gilt insbesondere für die militärischen Implikationen der eigenen Arbeit, die aufgrund unscharfer Grenzen zwischen zivil und militärisch nicht immer leicht zu erkennen sind, zumal wenn die Arbeit Teil eines größeren Programms ist (Scheffran et al. 1993; Liebert et al. 1994). Hier gilt das bekannte Zitat Carl Friedrich von Weizsäckers: „Ambivalenz nennen wir die Erfahrung, daß wir, gerade wenn wir etwas Angestrebtes erreicht haben oder verwirklicht haben, entdecken müssen, daß es eigentlich nicht das Angestrebte, sondern vielleicht sogar dessen Verhinderung war.“ (von Weizsäcker 1977)
Ambivalenz kann auch bewusst ausgenutzt werden, wenn militärische Forschung als zivil deklariert und als dual-use gefördert wird. Dann lassen sich die eigentlichen Motive hinter anderen Begründungen verstecken. Es kann eine Diskrepanz zwischen Zielen und Mitteln entstehen, wenn z.B. behauptet wird, ein Rüstungsprogramm diene bestimmten sicherheitspolitischen Aufgaben, obwohl es dafür im Vergleich zu Alternativlösungen ungeeignet oder zu teuer ist. Durch die Ausweitung des Sicherheitsbegriffs werden überdies immer neue Motive für Rüstungsprojekte geschaffen, selbst wenn sie zur Problemlösung nicht geeignet sind.
Entsprechende Ambivalenzen werden im Folgenden an einigen historischen und aktuellen Entwicklungen verdeutlicht.
Anfänge der Rüstungsforschung
Im Verlauf der Geschichte war Kriegsführung ein wenig ambivalentes Mittel der Machtpolitik; Angriffskriege waren üblich. Wissenschaft und Technik spielten eine eher marginale Rolle, auch wenn einzelne Erfindungen im Krieg zum Einsatz kamen, wo sie von Vorteil waren (etwa im Wechselspiel von Katapulten und Befestigungstechnik). Forschung wurde oft unter schwierigen Bedingungen und Abhängigkeiten betrieben. Der Beitrag bekannter Personen, wie Archimedes, Leonardo, Galileo, Tartaglia und Newton, schwankte zwischen philosophisch-mathematischen Betrachtungen und praktisch-experimentellen Fertigkeiten. In den kriegerischen Verhältnissen ihrer Zeit erdachten sie auch militärische Mittel, die sie den herrschenden Kreisen anboten, meist mit geringem Erfolg und begleitet von Skrupeln (Scheffran 2005). Die Entdeckung des Schwarzpulvers und die Ausbreitung der Feuerwaffen beförderte die Technisierung des Krieges, besonders bezüglich Fragen der Mechanik und Chemie. Komplexere Maschinen kamen zum Einsatz beim Transport und in der Produktion militärischer Güter.
Der englische Philosoph Francis Bacon sah Wissenschaft im Wechselspiel von Empirie und Theorie als neues Werkzeug (novum organum) für den Fortschritt, zur Wohlstands- und Herrschaftssicherung, unter rationaler Anwendung der auf Wirkungssteigerung gerichteten Wissenschaftsmethode. Die effiziente Kontrolle von Materie, Energie und Information erweiterte den Möglichkeitsraum auch für das Militär; die neue Wissenschaft wurde, auch auf Betreiben ihrer Akteure, zunehmend in das Kriegsgeschehen hinein gezogen.
Mit der Verwissenschaftlichung von Technik und Produktion in der Industriellen Revolution ging eine Versicherheitlichung der Wissenschaft einher, was zu Ambivalenzen führte, wenn waffentechnische Innovationen und Industrieproduktion miteinander verquickt waren. Der Umgang mit der komplexer werdenden Rüstungstechnik erforderte eine Professionalisierung und Spezialisierung, die sich in Militärakademien, Ingenieurschulen und Forschungslabors niederschlug. So wurde im deutsch-französischen Krieg 1871 die Biologie in die Konkurrenz zwischen dem deutschen Robert Koch und dem Franzosen Louis Pasteur hinein gezogen (Marischka 2015). Die Mechanisierung und Standardisierung ermöglichte die Massenproduktion von Rüstungsgütern. Zugleich stieg die Zahl der Opfer durch das Maschinengewehr, die Artillerie und neue Sprengstoffe rapide an.
Die Weltkriege: Mobilisierung der Vernichtungswissenschaft
Die von Clausewitz früh erkannte Tendenz des totalen Krieges, alle Bereiche der Gesellschaft zu erfassen, entfaltete sich im 20. Jahrhundert durch die von Wissenschaft und Technik getriebene Steigerung der Vernichtungsmittel. Schon der Erste Weltkrieg forcierte die wissenschaftliche Kriegsführung und brachte waffentechnische Neuerungen (Panzer, U-Boot, Giftgas, Maschinengewehr, Flugzeug, Motorisierung), die die Zerstörung steigerten, ohne jedoch den Krieg zu entscheiden. Nach anfänglicher Kriegsbegeisterung, die Fritz Haber zur Giftgasentwicklung trieb, bei Albert Einstein und Rudolf Diesel hingegen eine Verweigerungshaltung auslöste, überwog bei vielen am Kriegsende die Kritik (Neuneck 2014). Danach gab es eine der fruchtbarsten Perioden von Naturwissenschaft und Technik, aber auch die totale Mobilisierung der Kriegswissenschaften. Dies wurde unterstützt durch die „Selbstmobilisierung und Aneignung des Krieges durch zivile Akteure“ aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft (zit. nach Marischka 2015), z.B. in der 1937 gegründeten Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen, wo die „Ausrichtung auf die Bedürfnisse von Militär und Krieg […] von Anfang an konstitutiv“ war (Tollmien 1990).
Auch in den USA entwickelte sich eine totale Wissenschaft vom Krieg, die Natur- und Gesellschaftswissenschaften vernetzte. Aufgrund des enormen Mitteleinsatzes brachte das durch den Zweiten Weltkrieg angetriebene und im Geheimen erfolgende Wettrüsten der Gehirne neue Quantensprünge hervor, allen voran die Atombombe im Manhattan-Projekt der USA – mit bis zu 130.000 Beschäftigten auf über 50.000 Hektar Landfläche das umfangreichste Großforschungsprojekt –, ebenso die Raketenentwicklung des deutschen Reichs, die Erfindung des Radars und die Entschlüsselung des deutschen Geheimcodes im britischen Bletchley Park, die Schaffung neuer Fachgebiete, wie Operations Research und Informationsverarbeitung, sowie den ersten Computer. Solche wissenschaftlich-technischen Errungenschaften dürften für den Kriegsausgang allerdings weniger entscheidend gewesen sein als die Massenproduktion von Waffen und Munition, die von ökonomischen Ressourcen und industriellen Kapazitäten abhing.
Die Ambivalenzfrage stellte sich bei den Kriegsparteien unterschiedlich. Während in Nazi-Deutschland der faschistische Angriffskrieg Unterstützung fand (symbolisiert durch Wernher von Braun, der vorgeblich das Militär nutzte, um in den Weltraum zu gelangen), aber auch zögerliches Mitmachen und Selbstzweifel (die einigen Beteiligten im deutschen Atomprogramm zugeschrieben wurden), gab es bei den Alliierten eine nahezu rückhaltlose Bereitschaft, zum Sieg über Hitler-Deutschland beizutragen, von Robert Oppenheimer über Alan Turing bis zu John von Neumann. Dies ging so weit, dass selbst Pazifisten und kritische Geister, wie Albert Einstein oder John Desmond Bernal, zeitweise von ihren Prinzipien abwichen, um dem Faschismus zu begegnen. Nach dem Einsatz der Atombombe plagte einige das schlechte Gewissen, andere wollten oder konnten die Widersprüchlichkeit des selbst Erschaffenen nicht auflösen, wie John von Neumann, dem folgendes Zitat zugeschrieben wird: „Was wir gerade erschaffen, ist ein Ungeheuer, das den Lauf der Geschichte verändern wird, vorausgesetzt, es bleibt uns noch eine Geschichte [.].. Aber es wäre undenkbar, es nicht zu Ende zu bringen, nicht nur aus militärischen Gründen; es wäre auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unethisch, etwas, von dem wir wissen, dass es machbar ist, nicht zu machen, ungeachtet der furchtbaren Folgen, die es nach sich ziehen mag.“ (zit. nach Marischka 2015).
Der militärisch-industrielle Komplex im Kalten Krieg
Die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs waren bestimmend für den Kalten Krieg. Angesichts der gegenseitig gesicherten nuklearen Vernichtung entstand die paradoxe Situation, dass die beiden Supermächte zwar allmächtige Waffen in ihren Händen hielten, sie aber praktisch nicht einsetzen konnten. Zudem wurden Angriffskriege völkerrechtlich geächtet, was die Legitimität der Kriegsapparate in Frage stellte, die sich hinter Verteidigung und Abschreckung versteckten. Die Großforschungsanlagen läuteten ein neues Stadium staatlich geförderter Wissenschaft ein, die im militärisch-industriellen Komplex ihren Ausdruck fand. Neben der Bedrohung durch den Systemgegner wurden ökonomische Lobby-Strukturen für ein kostspieliges und gefährliches Wettrüsten geschaffen, in das wissenschaftliche und gesellschaftliche Ressourcen in großem Stil eingebunden wurden. Ideologien und umfangreiche Finanzmittel machten es Wissenschaftlern wie Edward Teller oder Andrej Sacharow leicht, in den Waffenlabors mitzuwirken und weitere »Ungeheuer« hervorzubringen, wie die Wasserstoffbombe. Einige der Wissenschaftler*innen, die auf ihren eigenen Vorteil aus waren, beriefen sich auf die Freiheit der Forschung, trotz ihrer Abhängigkeit von militärischen Vorgaben, oder versteckten sich hinter der unpolitischen Argumentation, wonach sie nur für die fachliche Korrektheit ihrer Ergebnisse verantwortlich seien, während die Ziele und Folgen Aufgabe der Politik seien. Andere propagierten die »friedliche« Forschung im staatlich geförderten Nuklear- und Raumfahrtbereich, auch um der militärischen Nutzung entgegenzuwirken, ungeachtet enger Verflechtungen zwischen ziviler und militärischer Forschung.
Wenige bemühten sich, ihrer Verantwortung gegen die Gefahren der Nuklearrüstung gerecht zu werden. Sie setzten im Bulletin of the Atomic Scientists, der Union of Concerned Scientists oder der Federation of American Scientists wissenschaftliche Erkenntnisse für Abrüstung und Rüstungskontrolle ein und zeigten die Widersprüchlichkeiten der Abschreckung und neuer Rüstungsprogramme auf. Aus dem Russell-Einstein-Manifest 1955 gegen die Atomkriegsgefahr ging die Pugwash-Bewegung hervor, der auch Joseph Rotblat als Aussteiger aus dem Manhattan-Projekt angehörte. Aus dem Appell der 18 Göttinger Atomforscher 1957 entstand die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Proteste gegen Atomwaffentests wurden durch Wissenschaftler wie Linus Pauling unterstützt, der dafür 1963 den Friedensnobelpreis erhielt. In den 1960er Jahren wurde in einigen Ländern die Friedens- und Konfliktforschung gegründet.
Eine neue Stufe der Debatte über die Rüstungsforschung wurde durch die von US-Präsident Ronald Reagan in seiner Star-Wars-Rede 1983 initiierte Strategic Defense Initiative (SDI) angestoßen, mit der die Vision eines Abwehrschirms im Weltraum gegen einen sowjetischen Nuklearangriff propagiert wurde. Während Physiker auf technische Grenzen von Raketenabwehrsystemen und Gegenmaßnahmen hinwiesen, wurden die Probleme und Risiken eines solchen Programms und der damit verbundenen Bewaffnung des Weltraums von vielen anderen Fachdisziplinen und berufsbezogenen Initiativen beleuchtet, was sich in zahlreichen Konferenzen niederschlug (z.B. 1984 in Göttingen oder 1986 in Hamburg). In diese Zeit fiel auch die Gründung der Zeitschrift, in der dieser Artikel erscheint: Wissenschaft und Frieden.
Deutlich wurde, dass die Ambivalenz zwischen offensiven und defensiven Funktionen, zwischen angeblich guten Absichten und fatalen Konsequenzen nicht auflösbar war. Der Vorschlag des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow, alle Atomwaffen abzuschaffen, scheiterte beim Gipfel in Reykjavik 1986, trug aber zu den Abrüstungsverträgen der USA und Russlands bei. Es ist kein Zufall, dass der Kalte Krieg zu Ende ging, als die technische Entwicklung just seine Überwindung in den Bereich des Möglichen rückte und der Siegeszug der globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft der sozialistischen Welt die Existenzgrundlage entzog. Die gesamte Hochtechnologieentwicklung drohte in ein Wettrüsten hineingezogen zu werden, unter Ausnutzung ihrer Dual-use-Potentiale (Scheffran 1986).
Dual-use und globalisierte Kriegführung
Nach dem Ende der Blockkonfrontation geriet die Forderung nach Abbau der Rüstungsarsenale (die in die Bewegung zur Abschaffung aller Atomwaffen einmündete) in Widerspruch zu einer qualitativen Aufrüstung durch einen weiter starken Rüstungskomplex, um jederzeit und an jedem Ort der Erde und im Weltraum Krieg führen zu können. Dies wurde getrieben von den Macht- und Gewaltprojektionen der Hegemonialmacht USA gegenüber potentiellen Konkurrenten in Europa, Russland und China, aber auch gegen missliebige Länder des Globalen Südens, deren Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Raketen eingedämmt werden sollte. Die fortgesetzte Modernisierung betraf Waffensysteme ebenso wie die sozio-ökonomische Infrastruktur. Rüstungstrends bedingten die räumliche Ausweitung von Waffeneinsätzen und Verkürzung von Entscheidungszeiten, Verbesserung der Zielgenauigkeit und Schadensbegrenzung beim Waffeneinsatz, Anwachsen der Informationsflut und Komplexität, Computerisierung und Automatisierung der Kriegführung. Die Revolution in Military Affairs umfasst nahezu den gesamten High-tech Sektor (Mikrocomputer, Biotechnologien, Computer- und Kommunikationssysteme, Sensorik, Weltraumtechnik, Laser, Materialwissenschaften).
Angesichts politischer Widerstände und knapper Haushaltsmittel wurde die zivile wissenschaftlich-technische Entwicklung militärischen Interessen unterworfen, unter Ausnutzung der Ambivalenz der Wissenschaft und des Dual-use-Charakters der Technik, (Scheffran et al. 1993, Liebert et al. 1994), ohne dass dies für Wissenschaft und Öffentlichkeit transparent war. Die Forschung verschob sich von der staatlichen zur privaten Förderung, die große Stückzahlen für den Massenmarkt produzierte. Militärs profitierten von dieser Entwicklung, indem sie zivile Güter mitnutzen und Entwicklungskosten einsparen konnten. Allerdings waren zivile Produkte nicht für militärische Ansprüche optimiert und ein Vorteil gegenüber Gegnern nicht gewährleistet, da die Technik auf dem internationalen Markt verfügbar war. Im Anpassungsprozess an die Globalisierung, in der die Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund stand, spitzte sich auch in der Wissenschaft der globale Konkurrenzkampf zu und verdrängte andere Kriterien, wie Wahrheitsverpflichtung, Risikovermeidung, Friedensförderlichkeit, soziale und ökologische Verträglichkeit. Eine kritische Betrachtung findet sich in einem von der Darmstädter Forschungsgruppe IANUS vorgestellten Memorandum, das auf die Gefahren ambivalenter Forschung und Technologie für die horizontale und vertikale Proliferation hinweist, Maßnahmen zur Kontrolle militärtechnologischer Innovation vorschlägt und Wege zur Umsteuerung in Forschungs- und Technologiepolitik aufzeigt (IANUS 1993).
Vernetzte Konflikte und zivil-militärische Zusammenarbeit
Zu den Ambivalenzen von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen gehört der Wandlungsdruck, dem Gesellschaften ausgesetzt sind (Imbusch 2005). Die Konsequenz ist „ein problematischer, überdies konfliktträchtiger Prozess“ (Senghaas 1998). Tatsächlich sind durch die neoliberale Globalisierung komplexe Krisenerscheinungen und diffuse Feindbilder aufgetreten, denen ein modernisiertes Militär mit Konzepten »erweiterter Sicherheit« entgegentreten soll. Mit der militärischen Bekämpfung der Folgen der Globalisierung wird die Eskalationsspirale fortgesetzt und zieht Gesellschaften in vernetzte Kriege hinein, die eine Rechtfertigung von Aufrüstung liefern und zivile und militärische Infrastrukturen verbinden.
Dies gilt für Interventionen nach außen, in den »Bürger«-Kriegen in Ruanda und Ex-Jugoslawien, in Afghanistan, in Libyen, Syrien oder im Irak, die die Gesellschaften dieser Länder massiv trafen. Der Versuch der USA 2003, den Irak militärisch zu besetzen, entfachte eine Kette von Gewaltereignissen, die zur Entstehung des »Islamischen Staates« beigetrugen. Ohne klare Fronten agieren Streitkräfte in entgrenzten Kriegen, allen Versuchen der Abgrenzung zum Trotz. Damit einher ging eine Privatisierung von Sicherheitsdiensten und modernen Söldnerheeren. Die Fraktionierung der Gewaltstrukturen brachte großes Leid über die Zivilbevölkerung, zerstörte soziale und politische Strukturen und schuf neue Quellen von Unzufriedenheit und Gewalt, die sich von der lokalen bis zur globalen Ebene vernetzten.
So finden Interventionen mit Hochtechnologie-Rüstung ihren Widerpart in post-modernen Gewaltformen und Terrornetzen, die zivile Strukturen für destruktive Zwecke nutzen (Scheffran 2015). Flugzeuge, Fahrzeuge, Schiffe, Reaktoren, die Chemieindustrie, das Internet oder Stromnetze können nicht nur Ziel von Gewalthandlungen sein, sondern auch selbst zur Waffe werden, ermöglicht durch den Verstärkereffekt technischer Systeme. So trafen die Anschläge auf das World Trade Center 2001 in das Herz der Globalisierung. Entsprechend durchzieht der »Krieg gegen den Terror« die Zivilgesellschaften auch des Westens. Durch das Internet erhalten Zivilisten Zugriff auf riesige Informationsmengen, die sie zu Kombattanten im Cyberkrieg machen. Flüchtlinge aus Krisengebieten, die nach Europa »vordringen«, werden zu unfreiwilligen Gegnern an einer »Heimatfront«, an der innere und äußere Sicherheit verschmelzen, was in der Heimatverteidigung (Homeland Defense) zum Ausdruck kommt.
Wenn die gesamte Gesellschaft von Konflikten betroffen ist, verliert die klassische Trennung zwischen Soldat (lat. miles) und Bürger (lat. civilis) an Bedeutung. Die zivil-militärische Zusammenarbeit eröffnet dem Militär neue Spielräume zur Einbeziehung ziviler Ressourcen in die Militärplanung, von der Polizei bis zum Zivil- und Katastrophenschutz. So ging es beim Ersten Trinationalen Workshop Zivil-Militärische Zusammenarbeit in Hamburg im November 2017 u.a. um die Frage, wie Streitkräfte zivile Sicherheitskräfte beim Schutz kritischer Infrastrukturen unterstützen können, wozu etwa die Kontrolle von Flughäfen, Interbanken-Zahlungsverkehr und Strom- und Gastransport gehört. Fraglich ist allerdings die Eignung militärischer Einrichtungen für die Staatenbildung und Demokratisierung, den Aufbau einer Volkswirtschaft, die nachhaltige Ressourcensicherung oder den Umweltschutz.
Neue Aufrüstung
Wurde nach dem Ost-West-Konflikt noch um Rechtfertigungen für das Militär gerungen, so schaffen heutige Krisenerscheinungen und ein neuer Kalter Krieg immer neue Begründungen für Aufrüstung und Militärinterventionen. Dazu passt, dass die Zahl bewaffneter Konflikte seit 2010 deutlich gestiegen ist und wieder etwa das Maximum zum Ende des Kalten Krieges erreicht hat. Das Wechselspiel von individueller und staatlicher Gewalt perpetuiert die Gewaltspirale auch im 21. Jahrhundert, bei immens gesteigerten technischen Kapazitäten, die sich zum Brandbeschleuniger der Krise entwickeln können.
Die technisierten Kriege der Zukunft projizieren eine umfassende Vernetzung, Robotisierung und Automatisierung der Gefechtsfelder zu Luft, Wasser und Boden, im Weltraum und im Cyberspace, bis hin zu den hybriden Kriegen an der Heimatfront, in sozialen Netzen und in der Medienwelt. Dies betrifft moderne Transport-, Informations- und Kommunikationssysteme ebenso wie Mikro-, Nano- und Biotechnologien in kleinsten Räumen. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verknüpfen die Globalisierung mit der Miniaturisierung von Gewalt, was in den Informationskriegen auf unseren Computern ebenso zum Ausdruck kommt wie im Krieg von Mini-Robotern und Killer-Mikroben (Scheffran 2015). Dadurch hält der Krieg Einzug in unseren Nahbereich, unsere Wohnung, in den menschlichen Körper, der über technische Systeme mit globalen Strukturen verwoben ist. Globale (Un-) Sicherheit und menschliche (Un-) Sicherheit werden so eng verbunden. Fast scheint es, als sei die wissenschaftlich-technisch geprägte Zivilisation unaufhaltsam dabei, im Sinne von Neumanns immer neue Ungeheuer zu erschaffen, weil sie machbar sind, allen Warnungen zum Trotz.
Zugleich steigen weltweit die Rüstungsausgaben wieder, allen weit voran in den USA mit 610 Mrd. Dollar, gefolgt von China (228 Mrd.), Saudi Arabien (69,4 Mrd.) und Russland (66,3 Mrd.), obwohl dessen Ausgaben um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken sind (Tian et al. 2018). In Trumps US-Budget-Vorschlag für 2018 müssen fast alle Ministerien teilweise drastische Einbußen hinnehmen, bis auf die Rüstungsprogramme, die mehr Mittel erhalten. Damit sind die Rüstungsausgaben der USA in absoluten Zahlen (inflationsbereinigt) deutlich höher als in den Hochzeiten des Kalten Krieges in den 1980er Jahren und fast wieder so hoch wie zu Spitzenzeiten des Zweiten Weltkriegs. Der deutsche Verteidigungsetat stieg von knapp 33 Milliarden Euro 2015 auf 35,1 Milliarden Euro 2016 und 36,7 Milliarden Euro (44,3 Mrd. US Dollar) 2017. Ein weiterer Anstieg ist geplant, mit dem in der NATO vereinbarten Ziel von 2 % des BIP, nahezu eine Verdopplung bei steigendem BIP. Dies schlägt sich auch nieder in neuen Programmen zur Rüstungsforschung. Alle NATO-Staaten zusammen kommen auf rund 900 Mrd. US Dollar oder 52 % der Ausgaben.
Die EU-Kommission schafft einen europäischen Fonds zur Verteidigungsforschung, zunächst mit einem Anstieg auf rund 500 Millionen Euro ab 2021 (Haerdle 2017). Der Kommissionsvorschlag für den neuen EU-Rüstungshaushalt 2021 bis 2027 ist noch höher: 4,1 Mrd. Euro für die Erforschung und 8,9 Mrd. für die Entwicklung von Rüstungsgütern, ergänzt um die Beiträge der Mitgliedsstaaten insgesamt 48,6 Mrd. Euro (Lösing und Wagner 2018). Die Protagonisten dieser Aufrüstung begrüßen die von ihnen seit Jahren geforderte Steigerung des Rüstungsetats und nehmen die Krisen und Konflikte als Vorwand für eine militärische »Ertüchtigung«. So sieht der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, Reimund Neugebauer, der in einer Expertengruppe Vorschläge zur Verteidigungsforschung erarbeitete, „große Herausforderungen in den Bedrohungen, die von international agierendem Terrorismus, organisierter Wirtschaftskriminalität, Großunfällen oder extremen Wetterereignissen ausgehen“ (zit. nach Haerdle 2017). Im neu gegründeten Fraunhofer-Verbund Verteidigungs- und Sicherheitsforschung wird ein direkter Zusammenhang zwischen Krisen und Technologien hergestellt: „In Zeiten gesellschaftlicher und politischer Turbulenzen ist Sicherheit ein Zukunftsmarkt mit enormem Wachstumspotenzial. Moderne Technologien, Produkte und Dienstleistungen sind gefragt wie nie zuvor.“ (Fraunhofer IOSB 2018)
Von der ambivalenten zur zivilisierten Wissenschaft
Um aus den Logiken vernetzter Kriege auszubrechen, sind Alternativen erforderlich, die Ambivalenzen aufbrechen. Da der Kritik an militärischen Intentionen oft mit dem Verweis auf den möglichen zivilen Nutzen begegnet wird, ist zu fragen, welche Alternativen statt dessen gefordert werden können, die eine geringere militärische Relevanz und einen höheren zivilen Nutzen aufweisen (Scheffran 1997). Dazu ist eine Ambivalenzanalyse hilfreich, die zu mehr Transparenz an der Schnittstelle zivilmilitärischer Forschung und Entwicklung beiträgt und Knotenpunkte aufzeigt, an denen sich Entwicklungspfade anhand konkreter Parameter trennen lassen, wie sie etwa in der Rüstungs- und Exportkontrolle üblich sind (EC 2015). Um Allianzen mit dem Militär aufzulösen, sollten Unterschiede zwischen zivil und militärisch deutlicher gemacht werden, statt sie zu verwischen, und die gesellschaftlichen und internationalen Rahmenbedingungen von Entscheidungsprozessen aufgezeigt werden (Liebert et al. 1994). Wichtige Fragen, die anhand konkreter Einzelfallanalysen zu untersuchen sind, betreffen die Stichhaltigkeit, Konsistenz und Effizienz von Rüstungsprogrammen für die vorgebrachten Ziele, z.B. den Einsatz von Militär für die Lösung von Flüchtlings- und Umweltproblemen, im Vergleich zu zivilen Alternativen.
Dabei ist das Zivile zu stärken, denn angesichts „der um sich greifenden Barbarei ist es Zeit auf eine neue Zivilisierung zu setzen“ (Imbusch 2005). Nach Senghaas geht es bei Zivilisierung darum, „Formen und Formeln der friedlichen Koexistenz zu finden, unter deren Prämissen anhaltende unausweichliche Konflikte ohne Androhung und Anwendung von Gewalt ausgetragen werden“ (Senghaas 1994, S. 12). Das zivilisatorische Hexagon von Senghaas bietet hier vielfältige Ansatzpunkte, ohne eurozentrische Vorstellungen zu universalisieren. Hierzu gehören auch Maßnahmen zur Zivilisierung von Wissenschaft und Technik, wie die präventive Rüstungskontrolle (Altmann et al. 1998). Auch wenn der Einfluss der Kräfte begrenzt ist, die den aufklärerischen Impuls der Wissenschaft für eine nachhaltige Friedenssicherung und Entwicklung nutzen wollen, gibt es in Wissenschaftskreisen durchaus eine verbreitete Ablehnung gegenüber der offenen Rüstungsforschung. Schon der Verdacht, an einem militärisch relevanten Projekt zu arbeiten, schreckt viele ab. Wichtig ist die öffentliche Diskussion über solche Fragen, die Unruhe im Wissenschaftsbereich schafft.
Eine Grundlage hat die Zivilklausel-Bewegung gelegt, die an vielen Universitäten militärische Forschung transparenter gemacht und eine Ablehnung organisiert hat, um Bildung und Forschung auf friedliche Ziele zu konzentrieren (Braun et al. 2015). Erfahrungen deutscher Initiativen wurden am 19. März 2017 in Tokio auf einer Veranstaltung über die Militarisierung der Forschung vorgetragen (Scheffran 2017). Wenige Tage später, am 24. März, rief der Science Council of Japan, ein Beratungsgremium der Regierung, das 850.000 Wissenschaftler vertritt, zum Boykott der militärischen Forschung in Japan auf, eine Reaktion auf japanische Militarisierungstendenzen (Cyranoski 2017; Hummel 2017). Weitere Anknüpfungspunkte bieten die weltweiten Marches for Science, die sich explizit gegen die Ankündigungen von Donald Trump richten, die Forschung zum Klimawandel und anderen Bereichen einzuschränken, und gegen eine auf »Fake News« und »alternative Fakten« gegründete Politik. In einer NatWiss-Erklärung werden kritische Fragen zur Ausrichtung der Forschung für eine friedliche, nachhaltige und gerechte Welt angesprochen (NatWiss 2017). Statt nur auf das Ungeheuer der Rüstungsforschung zu starren, ist es besser, auch an den gesellschaftlichen Aufgaben und Alternativen zu arbeiten, die es überflüssig machen.
Literatur
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Braun, R. et al. (2015): Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden. W&F Dossier Nr. 78.
Cyranoski, D. (2017): Japanese scientists call for boycott of military research. Nature, 6. April 2017.
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Haerdle, B. (2017): Raus aus dem Windschatten. Deutsche Universitätszeitung 3/2017, S. 17-18.
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Liebert, W.; Rilling, R.; Scheffran, J. (Hrsg.) (1994): Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz. Marburg: BdWi-Verlag.
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Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.