Wirtschaftskooperation auf Koreanisch

Wirtschaftskooperation auf Koreanisch

von Rainer Werning

In Nordkoreas Gaeseong Industrial Complex wird ungeachtet heftiger Debatten über das Nuklearprogramm der Volksrepublik im Gleichschritt mit südkoreanischem Kapital marschiert.

Auf der koreanischen Halbinsel liegt unweit des 38. Breitengrads und der sog. Entmilitarisierten Zone (DMZ) die nordkoreanische Stadt Gaeseong. Während des Koreakrieges (1950-53) wurde sie größtenteils zerstört. Ausgerechnet dort befindet sich heute mit dem Gaeseong Industrial Complex (GIC) ein Kronjuwel der innerkoreanischen Kooperation. Im GIC ist Südkorea mit Kapital (das Investitionsvolumen beträgt umgerechnet etwa zwei Milliarden US-Dollar) und technologischem Know-how präsent, während der Norden Grund und Boden sowie vergleichsweise billige Arbeitskräfte bereitstellt. Treffen auch nur annähernd die Prognosen von Experten diesseits und jenseits des 38. Breitengrads zu, dürfte der GIC zum gigantischen Laboratorium eines auch innerhalb der Volksrepublik langfristig weit reichenden ökonomischen Transformationsprozesses werden.

Die Vorgeschichte

Auf dem historischen Gipfeltreffen zwischen den Staatschefs Kim Dae-Jung und Kim Jong-Il wurde im Juni 2000 die »Gemeinsame Nord-Süd-Erklärung« unterzeichnet, die eine enge Zusammenarbeit auf nahezu sämtlichen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens vorsieht. Im wirtschaftlichen Bereich wurde nach intensiven Beratungen vereinbart, eben diesen GIC aufzubauen. Im April 2004 trafen das südkoreanische Unternehmen Hyundai Asan und das Asia-Pacific Peace Committee Nordkoreas ein entsprechendes Abkommen, wobei die nordkoreanische Seite ein insgesamt 66,1 Quadratkilometer großes Areal für 50 Jahre verpachtete, das in drei Phasen entwickelt werden soll. Das Pilotprojekt, das 2007 abgeschlossen sein soll, umfasst eine Fläche von 3,3 Quadratkilometern.

Bald auch westliche Modenschauen?

Waren 2004 zwei Firmen im GIC tätig, so betrug deren Zahl im Frühjahr 2006 bereits 15 – meist mittelständische – südkoreanische Unternehmen. Bis Ende 2007 sollen dort etwa 300 Firmen präsent sein. Ende 2004 wurden im GIC Waren im Wert von umgerechnet 14 Mio. US-Dollar produziert, drei Jahre später soll das Volumen bereits zirka zwei Milliarden Dollar betragen. Die Zahl der dort beschäftigten nordkoreanischen Arbeiter/innen soll sich von derzeit etwa 20.000 auf insgesamt 730.000 im Jahr 2012 erhöhen. Die im GIC gezahlten Monatslöhne sind mit umgerechnet 57,50 bis 75 US-Dollar vergleichbar den Löhnen in China (abgesehen von den Sonderwirtschaftszonen an der Südküste) und in Vietnam. Bei Überstunden erhalten die Arbeiter einen Bonus von 50 bis 100 Prozent. Während das südkoreanische Vereinigungsministerium die Arbeiter gern direkt ausbezahlt sähe, vermochte die nordkoreanische Seite eine temporäre Lösung durchzusetzen. Diese sieht vor, dass die Arbeiter ihre Lohnabrechnungen lediglich überprüfen, sie unterschreiben und danach nordkoreanische Won ausbezahlt bekommen. Geplant ist, im GIC zumindest Geldwechselstuben einzurichten, woran die südkoreanische Seite die Erwartung knüpft, dass es zur direkten Lohnauszahlung an die Beschäftigten kommt. Im Februar 2006 fand im GIC überdies ein – für nordkoreanische Verhältnisse ungewöhnliches – Symposium über für Investitionen relevante Themen statt. Dabei wurde auch vereinbart, künftig westliche Modenschauen auszurichten.

Verbesserung der Infrastruktur

Ein noch ungelöstes Problem im GIC bleibt die Frage, ob oder wie Transporte strategischer Güter stattfinden können, und wer das Ursprungsland der dort hergestellten Produkte ist. Die USA betrachten die im GIC produzierten Erzeugnisse als nordkoreanische, während Seoul da anderer Meinung ist und für die Öffnung des GIC auch und gerade für internationales Kapital plädiert.

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass 2006 im Osten und Westen des Landes zwei Bahn- und Straßenverbindungen eröffnet wurden, um zu ermöglichen, dass bald bis zu 4,3 Millionen Menschen jährlich die Volksrepublik besuchen können. Im Jahre 2003 passierten gerade einmal 3.600 Personen die Grenze, zwei Jahre später waren es bereits 66.000. Deutlich stieg im Zuge dieser Entwicklung auch der innerkoreanische Handel, von umgerechnet 222 Mio. US-Dollar 1998 auf 1,055 Mrd. Dollar 2005 – Tendenz steigend. Mittlerweile ist Südkorea nach der Volksrepublik China der zweitgrößte Handelspartner Nordkoreas.

Zweifellos ist mit dem GIC der Grundstein für eine Nord-Süd-Annäherung gelegt. Sie könnte florieren und dann auch Impulsgeber sein für ein langfristiges Projekt, das da hieße: Nordostasiatischer Gemeinsamer Markt.

Davor liegen aber noch Stolpersteine:

  • Seit dem Ende des Koreakriegs gibt es lediglich einen Waffenstillstand, den Südkorea nicht einmal unterzeichnete, und keinen Friedensvertrag;
  • Nordkoreas Nuklearprogramm und seine Raketentests;
  • Südkoreas seit Ende1948 bestehendes (wenngleich mehrfach revidiertes) Nationales Sicherheitsgesetz, in dem Nordkorea nicht als Staatswesen, sondern als »regierungsfeindliche Organisation« charakterisiert wird.

Doch die Tatsache, dass man heute einen »industrial« anstelle eines »security complex« pflegt, lässt hoffen.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist, ist u.a. Vorstandsvorsitzender des Korea-Verbands e.V. (Berlin) und Ko-Herausgeber des Ende 2006 im Kölner PapyRossa Verlag erschienenen Bandes »Korea – Entfremdung und Annäherung«.

Nordkorea – Washingtons »Next Target«?

Nordkorea – Washingtons »Next Target«?

von Hans J. Giessmann

Die Vorbereitungen der USA auf einen massiven Waffengang gegen das irakische Regime Saddam Husseins haben vorübergehend die seit Monaten schwelende Krise um das Atomwaffenprogramm Nordkoreas aus den Schlagzeilen verdrängt. Dabei sind die Beweise für den Bruch rechtskräftiger Vereinbarungen im letzteren Falle bei weitem eher evident, als dies Washington für den Fall des Iraks plausibel machen konnte. Dass die Bush-Regierung bisher jedoch das nordkoreanische Vorgehen abwiegelnd als ein diplomatisch lösbares Problem bezeichnete, während sie gleichzeitig alle ihre Anstrengungen darauf richtete, die Weltgemeinschaft von der zwingenden Notwendigkeit eines militärischen Vorgehens gegen den Irak zu überzeugen, hat mehrere Ursachen. Doch welche Gründe dabei letztlich für die Haltung Washingtons auch ausschlaggebend sind, sie belegen allemal eine zweifelhafte Doppelmoral in der Bewertung und Behandlung vergleichbarer Krisensymptome durch die Bush-Regierung.
Fest steht, dass das Risikopotenzial eines militärischen Vorgehens gegen einen Staat und ein in seinen Handlungen politisch schwer auszurechnendes Regime, das zudem mutmaßlich über Massenvernichtungsmittel und über eine vergleichsweise schlagstarke Streitmacht in einem hochverwundbaren strategischen Umfeld verfügt, offenbar weitaus höher bewertet wird, als im Falle des Iraks, mit seiner deutlich dezimierten und hochwahrscheinlich demoralisierten Armee, seiner maroden rüstungswirtschaftlichen Basis und seiner unter dem jahrelangen Druck der Sanktionen angeschlagenen Herrschaft.

Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass eine eine halbe Million US-Soldaten umfassende US-Streitmacht in einen Krieg gegen Nordkorea binnen 90 Tagen mit mindestens 50.000 Gefallenen allein auf Seiten des Expeditionskorps zu rechnen hätte. Dies wären annähernd so viele US-Kriegstote wie im Koreakrieg (55.000) und im Vietnamkrieg (58.000). Fest steht auch, dass die 40 Kilometer von der Demarkationslinie entfernte Elf-Millionen-Metropole Seoul militärisch praktisch nicht zu verteidigen ist. Hinzu kommt, dass der riesige Ölreichtum Iraks den USA eine vergleichsweise sehr viel wertvollere Kriegstrophäe sein dürfte als das arme Nordkorea.

Schließlich liegt die koreanische Halbinsel anders als der Irak im Zentrum eines hochsensiblen strategischen Kräfteparallelogramms zwischen den USA, Japan, Russland und der VR China. Jeder Versuch einer »militärischen Lösung« seitens der USA würde von den anderen drei Mächten nicht nur als Verletzung der eigenen jeweiligen regionalen und nationalen Sicherheitsinteressen in Nordostasien angesehen werden, er dürfte zugleich das ohnehin komplizierte Beziehungsverhältnis der Mächte in der Region zueinander extremen Belastungen aussetzen – mit unvorhersehbaren Folgen für die strategische Stabilität weltweit.

Manches spricht dafür, dass die USA ein künftiges militärisches Vorgehen gegen Nordkorea trotz der genannten Einwendungen noch nicht völlig ausschließen. Fügen sich etwa die Feldzüge gegen Afghanistan und Irak in eine imperiale Strategie, so markieren sie vielleicht lediglich die ersten Etappenziele eines Weges, dessen Weiterungen durch die in der »Axis of Evil«-Rede George W. Bushs am 29. Januar 2002 genannten Staaten Nordkorea und Iran bereits vorbestimmt wurden. Allerdings könnte die zurückhaltende Reaktion im Falle Nordkoreas auch bereits ein Indiz für die mangelnde Tauglichkeit dieses Weges insgesamt sein, und zwar im doppelten Sinne. Zum einen wirkt erhöhtes Risikopotenzial einer militärischen Eskalation offensichtlich zügelnd auf die Option, politischen Druck auszuüben. Die deutliche Kurswende der USA gegenüber Pakistan, insbesondere die Betrachtung dieses Regimes als wohlfeiler Partner der »weltweiten Koalition gegen Terror«, trotz dessen erwiesener Verwicklung in die Vorbereitung terroristischer Anschläge, wurde kaum zufällig nach der Durchführung von fünf pakistanischen Atomwaffenversuchen im Mai 1998 vollzogen. Ermutigt durch dieses Beispiel und zugleich alarmiert durch die neue Präventivkriegsdoktrin des Pentagons könnten sich nicht nur Nordkorea, sondern auch weitere Staaten veranlasst sehen, ihrerseits nach dem Besitz von »abschreckenden« Massenvernichtungswaffen zu streben. Washingtons erklärte Absicht, die Weiterverbreitung solcher Waffen auch um den Preis der (präventiven) Gewaltanwendung zu verhindern, würde auf diese Weise zum Gegenteil dessen führen, was eigentlich erreicht werden soll. Die noch durch Abkommen wie den Nichtweiterverbreitungsvertrag (NPT), den Teststoppvertrag (CTB) oder auch das Kontrollsystem für Trägertechnologien (MTCR) weitgehend eingehegte Proliferation wäre entfesselt.

Nordkoreas Atomprogramm: Verhandlungschip oder Erpressungsknüppel?

Wie aber kann eine solche Aussicht angesichts der jüngsten Entwicklungen überhaupt noch vermieden werden? Der weitere Umgang mit der nordkoreanischen Atomkrise wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Lackmustest bei der Beantwortung dieser Frage. Insofern ist sowohl ein Blick zurück als auch nach vorn hilfreich.

Bereits Anfang der neunziger Jahre wurde Nordkorea verdächtigt, sein Atomwaffenprogramm entgegen vertraglicher Vereinbarungen heimlich weiter vorangetrieben zu haben. Insbesondere ging es um mutmaßliche Verletzungen des NPT, dem Nordkorea bereits 1985 als Mitglied beigetreten war, ferner des mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) im Januar 1992 geschlossenen »Safeguard-Agreements« sowie der bilateral mit Südkorea im Dezember 1991 eingegangenen Selbstverpflichtung der beiden koreanischen Staaten, auf den Besitz und die Herstellung von Atomwaffen zu verzichten und ein gemeinsames Inspektionsregime einzurichten. Vor allem drei Projekte boten Anlass zur internationalen Sorge:1

  • Ein in den Jahren 1980 bis spätestens 1987 errichteter Atomreaktor mit einer Kapazität von 5 eMW, der nach Expertenauffassung imstande war, bis zu sieben Kilogramm Plutonium im Äquivalent von einer Atomwaffe im Jahr herzustellen. Bereits 1989 wurde der Reaktor für 70 Tage abgeschaltet und mutmaßlich wurden abgebrannte Brennstäbe zur Wiederaufbereitung entnommen. Der Vorgang wiederholte sich 1994. Damals wurden etwa 8.000 Brennstäbe entfernt, genug Material zur Herstellung von vier bis fünf Bomben.
  • Die Errichtung zweier größerer Reaktoren mit einer Gesamtleistung von je 50 eMW bzw. 200 eMW, die nach ihrer Fertigstellung imstande gewesen wären, Material für bis zu 30 Atombomben im Jahr zu erzeugen.
  • Der Aufbau eines Gebäudes für eine Wiederaufbereitungsanlage, in der nach Angaben von Hans Blix, möglicherweise waffenfähiges Plutonium-239 gewonnen werden sollte. Eine erste Produktionslinie wurde 1993 fertig gestellt.

Die Ursprünge des nordkoreanischen Atomprogramms reichen zurück bis in die sechziger Jahre. Damals rüsteten sowjetische Ingenieure Nordkorea mit einem kleineren, für zivile Zwecke vorgesehenen, Versuchsreaktor aus. Der Beginn erster atomarer Waffenprojekte Mitte der achtziger Jahre fiel einerseits zusammen mit der allmählichen Erwärmung der Beziehungen zwischen der früheren Schutzmacht China und den USA und den hieraus resultierenden Sorgen hinsichtlich des dauerhaften Fortbestandes der ohnehin bereits bröckelnden Allianz China-Nordkorea und andererseits mit den unter US-Präsident Reagan forcierten Plänen eines atomaren Schutzschirmes für die USA (SDI), der in Pyöngyang offenbar als Hinwendung zu Kriegsführungsdoktrinen interpretiert wurde.

Mangelnde Transparenz der internen Entscheidungsvorgänge in der Führung Nordkoreas sowie anhaltende Geheimniskrämerei überlassen die Motive des Nuklearprogramms freilich weitgehend der Spekulation. In den USA und auch in Südkorea und Japan war man Mitte der neunziger Jahre jedenfalls überzeugt, nicht zuletzt angesichts der sich katastrophal entwickelnden binnenwirtschaftlichen und sozialen Umstände (Hungersnöte, Epidemien usw.), dem Regime das Programm im Austausch für ökonomische und humanitäre Hilfen abhandeln zu können. Ob dem Atomprogramm jedoch im Norden jemals die Funktion eines Verhandlungschips zugedacht war, ist nach den Enthüllungen über den Fortgang des Programms nach 1995 unklar.

1994 keimten jedenfalls Hoffnungen in diesem Sinne auf. Am 21. Oktober 1994 unterzeichneten die USA und Nordkorea das sogenannte »Agreed Framework« (AF), ein umfassendes Rahmenabkommen, das Nordkorea für die Aufgabe des Atomwaffenprogramms ein Paket von Unterstützungsleistungen versprach. Das AF sah vor, dass im Gegenzug für die Einstellung des Atomwaffenprogramms und der Erprobung von Langstreckenraketen Nordkorea unter anderem bis zum Jahre 2003 zwei Leichtwasserreaktoren mit einer Gesamtleistung von 2000 MW für Zwecke der zivilen Energieversorgung erhalten würde, deren Finanzierung im Umfang von bis zu sechs Milliarden US-Dollar über ein internationales Konsortium namens KEDO – Korean Peninsula Energy Development Organization – gewährleistet werden sollte. Der bereits betriebene Forschungsreaktor, die Brennelementefabrik und die im Bau befindliche Wiederaufbereitungsanlage sollten umgehend stillgelegt, der Bau der beiden neuen Reaktoren gestoppt werden. Ferner verpflichtete sich Nordkorea zur Offenlegung aller weiteren nuklearen Programme, zur Einhaltung des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT) und zur Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Die USA wiederum erklärten sich bereit, bis zur Inbetriebnahme der LW-Reaktoren jährlich 500.000 Tonnen schweres Heizöl und Lebensmittel an das von permanenter Energieunterversorgung betroffene Land zu liefern und bestehende Handelsbeschränkungen zu lockern.

Obwohl Nordkorea die Auflagen des AF weitgehend erfüllte, blieben Zweifel an der Bereitschaft des Regimes zur Vertragstreue. Verschiedentlich lieferten nachrichtendienstliche Informationen entsprechende Hinweise unter anderem über geheime unterirdische Anlagen im Berg Chon’ma bei Kum’changri.2 Diese scheinen sich nun durch die Angaben zu bestätigen, die der stellvertretende US-Außenminister James A. Kelly angeblich aus Regierungskreisen in Pyöngyang im Oktober 2002 erhalten hat und die auf seit 1995 durchgeführte Programme zur Urananreicherung hindeuten.3 Zwar hat die Führung in Nordkorea inzwischen das kolportierte Eingeständnis eines fortgeführten Atomprogramms bestritten, jedoch klingt dieser Widerruf angesichts des angekündigten Rückzugs aus dem NPT und der Aufkündigung der Zusammenarbeit mit der IAEO wenig glaubwürdig.

Die Lage ist aber noch komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Denn auch die USA und die im KEDO versammelten Geberstaaten, insbesondere Japan und Südkorea, haben ihre Verpflichtungen nur teilweise erfüllt. Die 1997 über Japan und Südkorea hereinbrechende Asienkrise hat das Finanzierungskonzept für KEDO trudeln lassen. Selbst wenn das Abkommen weiter Gültigkeit behielte, wäre eine Inbetriebnahme der beiden LW-Reaktoren vor 2010 nicht zu realisieren. Die USA wiederum haben ihrerseits eingegangene Lieferverpflichtungen und Handelszusagen – maßgeblich auf Druck des Kongresses – nur zögerlich, teilweise oder auch gar nicht erfüllt. Die Hoffnungen des Regimes zur wirtschaftlichen Sanierung haben sich in den zurückliegenden Jahren zerschlagen. Dass Nordkorea in den zurückliegenden Wochen Gesprächsangebote Südkoreas zwar angenommen hat, jedoch auf direkte Verhandlungen allein mit den USA drängt, könnte dahingehend interpretiert werden, dass Pyöngyang wie schon 1994 das Mittel atomarer Erpressung zu nutzen sucht, um weitergehende Hilfszusagen und vor allem Bestandsgarantien für das Regime zu erhalten. Die Tragfähigkeit eines solchen auf Vabanque gegründeten politischen Kalküls ist freilich ebenso skeptisch zu beurteilen, wie die amerikanischen Signale, die »Atomkrise Nordkorea« diplomatisch beizulegen. Denn dass das Regime trotz der im Raum stehenden hohen Sanktionsrisiken auch nach Abschluss des AF an seinem Kernwaffenprogramm festgehalten und allenfalls Prioritäten neu definiert hat, dürfte tiefer liegende Gründe haben.

Politisch ein Gespenst, wirtschaftlich am Boden, militärisch ein Riese

Das von Hanns Maul als »Zombi-Staat«4 bezeichnete Regime ist seit langem zwar wirtschaftlich am Boden und politisch ein Gespenst, militärisch jedoch nach wie vor ein Riese. Fast jeder achte männliche Erwachsene gehört den Streitkräften an, die (ohne Reservisten) mit mehr als einer Million Soldaten zu den mit Abstand größten Armeen in der Welt zählen. Hinzu kommen bewaffnete Sicherheitsdienste und ein starker interner Repressionsapparat. Das Militär bildet unverändert das soziale Rückgrat einer von der Außenwelt weitgehend abgeschotteten, streng hierarchisch organisierten und ideologisch indoktrinierten Gesellschaft. Mit jährlich knapp zwei Milliarden US-Dollar fließt fast ein Sechstel des Bruttosozialprodukts direkt in den Unterhalt des militärischen Sektors.5 Im konventionellen Bereich zwar weitgehend ausgerüstet mit technisch veralteten Systemen (so befinden sich unter den ca. 3.500 Kampfpanzern noch immer zahlreiche des mehr als 60 Jahre alten Typs T-34), begründet neben der vergleichsweise starken Luftwaffe (mehr als 600 Jagdflugzeuge und jeweils mehr als 300 Transportflugzeuge und Hubschrauber) die hochentwickelte Raketentechnik und eben auch das Atomwaffenprogramm den Stolz der Herrschenden auf ihre überproportionierte Streitmacht.

Zwischen 100 und 500 Scud-Raketen besitzt Nordkorea, darüber hinaus noch Dutzende neuerer Mittelstreckenraketen (No-dong und Taep’o-dong-1). Seit Jahren wird an der Entwicklung ballistischer Raketen mit einer Reichweite zwischen 1.000 und 4.500 km gefeilt. Zwar schlug der Test mit einer Taep’o-dong-2 am 31. August 1998 fehl, jedoch wird seither unvermindert an neuen Raketengenerationen gearbeitet, die grundsätzlich für eine Sprengkopfbestückung mit Massenvernichtungsmitteln geeignet sind. Neben Kernsprengköpfen kommen hierfür auch chemische und biologische Waffen in Frage. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Seoul lagern davon in den nordkoreanischen Arsenalen zwischen 2.500 und 5.000 Tonnen. Nordkorea steht ferner im Verdacht des illegalen Erwerbs und der Verbreitung von Raketentechnologien. Zugleich ist es in den zurückliegenden Jahren selbst als Lieferant von Blaupausen, Raketen und -teilen an eine ganze Reihe von Staaten in Erscheinung getreten, die mutmaßlich internationale Rechtsnormen missachten, darunter Syrien, Libyen, Pakistan, Irak, Iran und Nigeria. Pakistan erweist sich dabei erneut als ein für die USA besonders heikler Fall. So gibt es Anlass zur Vermutung, dass Nordkorea im Austausch für die Lieferung von Raketentechnologien an Pakistan von diesem wissenschaftliches und technisches Know How für das neue Programm zur Urananreicherung erhalten hat.

Problematische Alternativen

Welche Alternativen gibt es angesichts dieses düsteren Bildes? Die Analyse drängt geradezu den Schluss auf, dass weder die »Axis of Evil«-Rhetorik noch präventive Kriegführungskonzepte geeignet sind, die Lage zum Besseren zu wenden. Der in Washington offenbar präferierte Weg, Regimewechsel wenn nötig gewaltsam herbeizuführen, taugt schlecht als Fundament für Vertrauensbildung und Interessenausgleich durch Verhandlungen. Wer durch die führende Weltmacht als ehrloser Schurke hingestellt wird, mag im Schurkendasein erst recht seine einzige Chance erkennen, sich drohendem Machtverlust zu entziehen. Dies gilt um so mehr, wenn ein einander ähnelndes Verhalten von Staaten offenbar ungleich behandelt wird, wenn kernwaffenbesitzende Staaten anderen Maßstäben unterliegen als kernwaffenfreie. Der Vorwurf mangelnder Prinzipientreue und moralischer Inkonsequenz erschüttert nicht nur die Glaubwürdigkeit der westlichen Führungsmacht. In Nordkorea wird er offenbar als Freibrief gedeutet, wider alle Rechtsgrundsätze des Friedens und der Sicherheit handeln zu dürfen.

Es gibt nach Lage der Dinge weder kurzfristig noch mittelfristig eine plausible Alternative zur Entspannungspolitik, so mühsam sie auch sein wird und so sehr rasche Erfolge auf sich warten lassen. Nordkorea ist durch den rigiden »Demokratisierungskurs« der Bush-Regierung zutiefst irritiert und verunsichert. Man glaubt in Pyöngyang das »nächste Opfer« der »offensiven Verteidigung« der USA zu werden. Diese Sorge wird nicht durch kleine Schritte abgebaut werden können, egal wie viele es sind und in welcher Frequenz. Erforderlich ist eine plausible politische Vision, die über den vermutlichen Zeithorizont der Bush-Regierung (2008) hinausreicht. Je stärker diese ist, um so geringer die Anreize in Pyöngyang, auf Konfrontation zu setzen. Der neue südkoreanische Präsident Roh könnte, ähnlich wie sein Vorgänger Kim, ein politisches Signal zur Stabilisierung der Sicherheitslage setzen, etwa durch die Bildung einer gemeinsamen und umfassenden Plattform für eine regional verankerte Sicherheitsstruktur auf der Halbinsel, die sicherheitspolitische, politische, wirtschaftliche und humanitäre Komponenten enthält, und innerhalb derer beide Seiten unter der Patronage der vier umliegenden Mächte die von Kim Dae-Jung entwickelte »Sonnenscheinpolitik« Schritt für Schritt ausgestalten können. Ob dies gelingt, hängt allerdings entscheidend davon ab, ob die Bush-Regierung bereit ist, ihren Worten Taten folgen zu lassen, und eine »diplomatische Lösung« wirklich ernsthaft betreiben will.

Anmerkungen

1) Larry A. Niksch: North Korea’s Nuclear Weapons Program, Issue Brief for Congress, Congressional Research Service, The Library of Congress. Updated Version 21 October, 2002, S. 3f.

2) Vgl. Hat Nordkorea bereits eine Atombombe?, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 8 v. 11. Januar 2003, S. 5. Angeblich hat Nordkorea seit 1994 ca. 70 Sprengversuche im Rahmen des Atomprogramms durchgeführt. Vgl. Netzeitung v. 18. 12. 2002, in: http://www.netzeitung.de/servlets/page?section=3item=219740.

3) Vgl. U.S. Department of State: Press Statement, Richard Boucher, Oct. 22, North Korean Nuclear Program, in: http://www.state.gov/r/pa/prs/ps/2002/14432pf.htm.

4) Hanns W. Maull: Nordkorea – Ein Staat vor dem Aus? Trierer Arbeitspapiere zur Internationalen Politik, Nr. 6/August 2002, S. 2.

5) Vgl. http://www.globaldefence.org.

Dr. Hans J. Giessmann ist stellv. Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Chinas »Zwei-Korea-Politik«

Chinas »Zwei-Korea-Politik«

Schlüssel für den Frieden?

von Hans Scheerer

Die koreanische Halbinsel gehört seit jeher zur Interessenssphäre Chinas. Wenn es seine Ressourcen bzw. die militärische Macht in der Vergangenheit zuließen, dann übte das Reich der Mitte auch die Kontrolle über die koreanische Halbinsel aus. Im zurückliegenden Jahrhundert sah sich China verschiedentlich in Konkurrenzsituationen mit anderen Mächten, die den Einfluss und die Interessen Chinas auf der koreanischen Halbinsel gefährdeten. Im Koreakrieg (25.06.1950 – 27.07.1953) griff die erst 1949 gegründete Volksrepublik China daher zugunsten des nordkoreanischen Regimes ein, beeinflusste das weitere Kriegsgeschehen maßgeblich und schien bis in die 1980er Jahre einer der letzten Verbündeten des nordkoreanischen Regimes Kim Il-Songs zu sein.1 Betrachtet man die politischen Entwicklungen in den Beziehungen der VR China zu den beiden koreanischen Teilstaaten im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, dann wird ersichtlich, dass die Beziehungen Beijings zu Pjöngjang keineswegs so unverbrüchlich waren, wie dies die offizielle Rhetorik lange Zeit Glauben machen wollte. Ersichtlich wird auch, dass die VR China im Vergleich zu anderen Staaten (etwa Japan, USA, UdSSR/Russland) recht erfolgreich in ihren Bemühungen war, eine »Zwei-Korea-Politik« zu etablieren. Mit Blick auf eine Reihe sicherheitspolitischer Probleme, die auf Nordkoreas undurchsichtigem Agieren hinsichtlich einer nuklearen Option und dem Handel mit Trägertechnologie gründe(te)n, ist umstritten, inwieweit die VR China hierbei tatsächlich einen mäßigenden Einfluss auf Pjöngjang ausüben kann oder will und damit in der Lage ist, zu einer sicherheitspolitischen Stabilisierung auf der nordkoreanischen Halbinsel beizutragen.2

Nach dem Koreakrieg erkannte Beijing die Demokratische Volksrepublik Korea (DPRK) mit dem Regime Kim Il-Songs als einzigen rechtmäßigen koreanischen Staat an. Kontakte zwischen Beijing und Seoul gab es – zumindest offiziell – keine. Ende der 1970er und Mitte der 1980er Jahre sollten zwei Ereignisse dies grundlegend ändern:

  • Die innenpolitischen Veränderungen in der VR China, wie sie sich Ende 1978 manifestierten, führten auch zu einer Kurskorrektur in der Außenpolitik und in den außenwirtschaftlichen Beziehungen. In der Folgezeit wurden, wenngleich indirekt, inoffiziell und zögerlich, Handelskontakte zu Seoul aufgebaut. Bis Mitte der 1980er Jahre hatte die VR China entgegen der offiziellen Rhetorik und der diplomatischen Beziehungen zu Nordkorea schließlich de facto eine »Zwei-Korea-Politik« etabliert, in der die Beziehungen zu Seoul auf kulturellem, akademischen und sportlichen Terrain sukzessive ausgebaut wurden.
  • Die »Tauwetterphase« im Verhältnis zwischen Beijing und Moskau ab 1985 relativierte unter anderem auch das Konkurrenzverhältnis beider Länder auf der koreanischen Halbinsel und räumte so der VR China einen größeren Handlungsspielraum ein.

1986 nahm die VR China an den in Südkorea ausgerichteten Asian Games teil, 1988 an den ebenfalls in Seoul stattfindenden Olympischen Spielen. Im gleichen Jahr kündigte Seoul eine umfassende diplomatische Initiative an, die unter dem Schlagwort »Northern-Diplomacy« bzw. »Nordpolitik« bekannt wurde. Sie zielte darauf ab, günstige Rahmenbedingungen für eine (Wieder-)Vereinigung der beiden koreanischen Staaten zu schaffen und die Beziehung Seouls zu den sozialistischen Ländern, vor allem die zur VR China, zu verbessern: Im Januar 1989 nahm Seoul diplomatische Beziehungen zu Ungarn auf, es folgte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur UdSSR im September 1990 und schließlich zur VR China im August 1992.

Beijings Rolle im Rahmen der nordkoreanischen Nuklearkrise 1993/94

Aufgrund seiner geostrategischen Lage – die VR China grenzt über eine Länge von ca. 450 km an Nordkorea – und den daraus resultierenden sicherheitspolitischen Interessen setzt Beijing auf internationalem Parkett auf die Diplomatie und auf eine Politik des Dialogs, wenn es um Korea geht. Dies gilt sowohl, was die Beziehungen zwischen den beiden koreanischen Staaten als auch was den Umgang mit Nordkorea in der internationalen Politik betrifft. China hat ein vitales Interesse daran, dass der Staat Nordkorea, gewissermaßen als Pufferstaat, erhalten bleibt und versucht daher, wo immer dies möglich ist, Tendenzen, die eine Destabilisierung der Regimes in Pjöngjang nach sich ziehen könnten, entgegenzuwirken.

Auch auf internationaler Ebene wurde der VR China hinsichtlich der Krise um die angebliche Produktion waffenfähigen Spaltmaterials in nordkoreanischen Reaktoranlagen 1993/943 – ganz unabhängig von deren Interessenlage – eine Schlüsselrolle beigemessen. Die USA versuchten hier – trotz der angespannten Beziehungen zwischen Beijing und Washington – die VR China in Verhandlungen zu einer Entschärfung der Krise mit einzubinden. Als sich die Krise im Frühjahr 1994 weiter zuspitzte, wurde auch von japanischer Seite betont, dass es wichtig sei, die VR China dafür zu gewinnen, mäßigend auf Nordkorea einzuwirken. Im Rahmen eines japanisch-südkoreanischen Gipfeltreffens Ende März stimmten die Delegationen beider Länder ihre Positionen insbesondere hinsichtlich einer möglichen Einbindung der VR China ab. Am 31. Mai 1994 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat eine Resolution, in der Nordkorea zur Kooperation mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) aufgerufen wurde. Beijing hatte zuvor angedeutet, eine gegen Nordkorea gerichtete Resolution mit ihrem Veto zu blockieren. Dass dies nicht geschah, wird vor allem darauf zurückgeführt, dass die USA und Südkorea Beijing davon überzeugen konnten, dass es sich um eine inhaltlich sehr gemäßigte Resolution handeln würde.4

Wenngleich unklar ist, inwieweit es tatsächlich der Einflussnahme Beijings zu verdanken ist, dass Nordkorea schließlich auf seine »nukleare Option« verzichtete, so machte diese Situation auf jeden Fall deutlich, dass Beijings politische Führung darin reüssierte, diese externe Krisensituation zur Wahrung seiner eigenen sicherheitspolitischen Interessen zu nutzen und das eigene Standing auf diplomatischem Parkett zu verbessern. Dass die VR China ihre sicherheitspolitischen Interessen auf der koreanischen Halbinsel bzw. den Erhalt Nordkoreas keineswegs mit einem Fortbestand der »Kim-Dynastie« verknüpft, macht folgende Aussage deutlich: „Beijing’s ultimate concern in North Korea is not who will be the next Great Leader, but whether the DPRK will remain as a stable and friendly buffer state. From Beijing’s point of view, although Kim Jr. may loose the international power struggle, there should be no reason why China cannot come out as a winner.“5

Beijings Beziehungen zu den koreanischen Staaten in den 1990er Jahren

Aus der Perspektive Beijings betrachtet, boten die seit 1992 nunmehr offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Südkorea eine Reihe von Vorteilen:

  • Verbesserte ökonomische Beziehungen: Waren die Beziehungen zu Nordkorea in dieser Hinsicht für die VR China ein Verlustgeschäft (weshalb Beijing wie auch die Sowjetunion seit Beginn der 1990er Jahre Waren nur noch gegen Devisen und nicht im Tauschhandel nach Nordkorea lieferte), bot der Handel mit Südkorea ungleich bessere Aussichten.
  • Eine Ausdehnung des diplomatischen Einflusses. Das war für Beijing vor dem Hintergrund der – vorübergehenden – diplomatischen Isolierung infolge des Tian’anmen-Massakers in den Jahren 1989/90 von großer Bedeutung.
  • Gleichzeitig verkleinerte Beijing damit erneut den Kreis der Staaten, die diplomatische Beziehungen zur Republik China auf Taiwan unterhalten, die von der VR China nach wie vor als abtrünnige Provinz und »unabtrennbarer Teil« der Volksrepublik China betrachtet wird. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China machte es für Seoul notwendig, die – offiziellen – diplomatischen Beziehungen mit Taibei6 zu beenden.

Kurz- und mittelfristig scheint Beijings »Zwei-Korea-Politik« daher darauf abzuzielen, gegenüber Seoul eine geo-ökonomische, gegenüber Pjöngjang eine geostrategische Politik zu verfolgen.

Wenig überraschend dürfte sein, dass diese Maßnahmen das Verhältnis der VR China zu Pjöngjang sehr strapazierten und China in den Augen des ehemaligen Bundesgenossen in Pjöngjang zunehmend als wenig vertrauenswürdiger Partner betrachtet wurde. Die Weigerung Nordkoreas wiederum, ihr marodes ökonomisches System nach dem Vorbild der VR China umzustrukturieren, stieß in Beijing auf Befremden und Unverständnis. Hinter vorgehaltener Hand wurde die Haltung Pjöngjangs als unrealistisch, das politische System der Demokratischen Volksrepublik Korea gar als »bizarr« bezeichnet.

Während sich der Einfluss auf bzw. das Interesse Beijings an Nordkorea bis Mitte der 1990er Jahre vor allem punktuell in Krisensituationen manifestierte, scheint sich ab 1997 eine gewisse Kontinuität in den Beziehungen zwischen beiden Ländern abzuzeichnen – bedingt vor allem durch die sich in Nordkorea ständig verschlechternde Versorgungssituation, deren Auswirkungen unter anderem auch die VR China mit umfangreichen Hilfsgüterlieferungen entgegenzuwirken versucht. 1997 lieferte die VR China Nahrungsmittel, Energie und andere Güter, die für den Fortbestand des Regimes überlebensnotwendig waren. 1998 lieferte Beijing 5.000 t Rohöl sowie 25 % aller Nahrungsmittelimporte in die Demokratische Volksrepublik Korea.

Gleichzeitig fungierte die VR China in den ausgehenden 1990er Jahren auch als Mittler zur Anbahnung von Kontakten zwischen Nord- und Südkorea sowie als neutraler Treffpunkt für innerkoreanische Treffen, die dem offiziellen Treffen zwischen Nord- und Südkorea im Juni 2000 vorausgingen.

Als sicherer Indikator für die Verbesserung der Beziehungen zwischen der VR China und Nordkorea kann der Besuch des nordkoreanischen Staatschefs Kim Jong-Il in der chinesischen Botschaft Pjöngjangs im März 2000 gewertet werden. Diesem Besuch folgten zwei als »geheim« eingestufte Besuche Kims in der VR China im Mai 2000 und im Januar 2001. Im Rahmen des ersten Besuches soll in erster Linie das damals bevorstehende innerkoreanische Treffen zwischen Kim Dae-Jung und Kim Jong-Il im Juni 2000 auf der Tagesordnung gewesen sein. Unklar ist, inwieweit die VR China hier maßgeblich Einfluss auf die Positionen Nordkoreas in dem bevorstehenden Gipfeltreffen zwischen Pjöngjang und Seoul hat nehmen können. Es darf jedoch angenommen werden, dass Beijing auf jeden Fall versucht hat, Nordkorea die chinesische Perspektive zu diesem Thema näher zu bringen. Die zweite Reise hatte hingegen einen eindeutig ökonomischen Fokus, in deren Verlauf sich Kim einen Eindruck von den Errungenschaften der Ökonomie im sozialistischen System chinesischer Prägung verschaffte und diese explizit guthieß. Auch wenn dies Anzeichen für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Beijing und Pjöngjang sind, wäre es ein Trugschluss, hieraus die Wiederherstellung der in den 1950er Jahren »mit Blut besiegelten« Beziehung beider Länder abzuleiten. Hierzu ist zum einen das Misstrauen auf nordkoreanischer Seite zu groß, vor allem jedoch entspräche eine Wiederbelebung dieses Bündnisses keinesfalls den Interessen Beijings.

Das Interessenprofil der VR China

Die VR China verfolgt im Zuge ihrer »Zwei-Korea-Politik« – unter Einbeziehung intensiverer Beziehungen zu Pjöngjang – vor allem die folgenden Interessen:

  • Den Staat Nordkorea als Pufferstaat unbedingt am Leben zu erhalten – dies kann, muss aber nicht unter dem Regime Kim Jong-Ils sein. Eine instabile Situation in Nordkorea oder ein Zusammenbruch des nordkoreanischen Staates birgt aus der Sicht Beijings in sicherheitspolitischer Hinsicht folgende Risiken:
  • Einen möglicherweise auf die chinesischen Grenzprovinzen Jilin und Liaoning übergreifender Bürgerkrieg,
  • Flüchtlingsströme in Richtung Nordchina mit der Folge eines erhöhten Krisenpotentials in den betroffenen Gebieten,
  • eine erhöhte US-Militärpräsenz,
  • die Perspektive, dass die VR China am Ende unter Umständen eine Grenze zu einem unter südkoreanischer Ägide vereinigten Korea unterhält – mit den Truppen der Republik Korea, vielleicht auch mit denen der USA an der Grenze.
  • Aus den oben genannten Aspekten ergibt sich daher fast zwangsläufig, dass Beijing ein vitales Interesse daran hat, dass das Regime in Pjöngjang keine Nuklearwaffenambitionen hegt7, d.h. weder die Herstellung dieser Waffentechnologie anstrebt noch in diesbezügliche Handelsbeziehungen involviert ist. Pjöngjangs Ambitionen auf Nuklearwaffen und eigene Trägerraketen – seien sie nun real oder nur ein camouflierter Erpressungsversuch – sie wirken potenziell destabilisierend, weil sie die Sicherheit in der Region gefährden und damit die USA als Schutzmacht auf den Plan rufen. Zudem erhielte hierdurch das Argument der USA für die Notwendigkeit des NMD-Programms neue Nahrung; nichts dergleichen liegt in Beijings Interesse.8 Insofern macht es für die VR China sicherheitspolitisch durchaus Sinn, von dem zu Beginn der 1990er Jahre eingeschlagenen Weg, Waren nur noch gegen Devisen zu liefern, abzurücken und Pjöngjang in großen Umfang Wirtschaftshilfe (Lieferung von Energie und Nahrungsmitteln) zu leisten – um eben einer Destabilisierung der Situation in Nordkorea entgegen zu wirken.
  • Es ist für Beijing auch wichtig, einen möglichst großen Einfluss auf den innerkoreanischen Entwicklungsprozess nehmen zu können, um
  • bilateralen Gesprächen, wie sie zwischen den USA und Nordkorea stattgefunden haben, wenn nicht die Existenzberechtigung zu nehmen, so doch zumindest deren Bedeutung zu relativieren, und der Entstehung bilateraler Beziehungen, die den Interessen Beijings zuwiderlaufen könnten, entgegenwirken zu können;
  • auf eine eventuelle Vereinigung der beiden koreanischen Staaten – so diese denn kommen sollte – Einfluss nehmen zu können. Kurzfristig betrachtet ist diese Befürchtung Beijings jedoch eher unbegründet. Keiner der beiden koreanischen Staaten dürfte dieses Ziel in naher Zukunft anstreben: Pjöngjang nicht, weil es einem politischen Suizid gleichkommen würde, Seoul nicht, weil es fürchtet, an den ökonomischen Konsequenzen einer solchen Wiedervereinigung zu zerbrechen.
  • Neben diesen sicherheitspolitisch und mit Blick auf Südkorea ökonomisch motivierten Interessen zeigt Chinas Vorgehensweise in den 1990er Jahren hinsichtlich Nordkorea, dass Beijing den ehemaligen Bündnispartner auch als eine Art »bargaining chip« betrachtet, der dazu dienen soll, auf internationalem Parkett das politische Gewicht der Volksrepublik China zu mehren.

Fazit

Vor dem Hintergrund des oben geschilderten Sachverhalts spricht durchaus einiges dafür, dass Beijing auf der koreanischen Halbinsel eine stabilisierende Rolle ausübt. Freilich darf dies nicht isoliert, sondern kann nur im weiteren Kontext chinesischer Diplomatie und Außenpolitik betrachtet werden. Ein Blick auf das Verhältnis Chinas zu einigen anderen Nachbarstaaten, vor allem jedoch auf die gespannten Beziehungen zu Taiwan, relativiert das Bild genauso, wie das Agieren Beijings im Südchinesischen Meer. Bei einer umfassenderen Betrachtung entsteht eher der Eindruck, dass die Volksrepublik China die von ihr einst postulierten fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz9 sehr individuell auslegt und von Fall zu Fall neu interpretiert.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu unter anderem Cumings, Bruce (1981): The Origins of the Korean War. Liberation and the Emergence of Separate Regimes, 1945-1947, Princeton, Princeton University Press; ders. (1990): The Origins of the Korean War, Volume II, The Roaring of the Cataract, 1947-1950. Princeton, Princeton University Press sowie Chen Jian (1996): China’s Road to the Korean War. The Making of the Sino-American Confrontation. New York, Columbia University Press.

2) Han, Yong-Sup (1994): China´s Leverages over North Korea, in: Korea and World Affairs, Summer 1994, pp. 233-248.

3) Zu Nordkoreas nuklearen Ambitionen siehe unter anderem Bayer, James / Robert E. Bedeski (1993): North Korea‘s Nuclear Option. Observations and Reflections on the Recent NPT Crisis, in: Korea Journal of Defense Analysis 5 (1993) 2, pp. 107-113; Bermudez, Joseph S. (1991): North Korea‘s Nuclear Programme, in: Jane‘s Intelligence Review, September 1991, pp. 404-411; Maull, Hanns W. (1994): Nordkoreas Atomwaffenprogramm. Genese, Motive, Implikationen, in: Außenpolitik 45 (1994) 4, S. 354-363 und Mazarr, Michael J. (1995): North Korea and the Bomb. A Case Study in Nonproliferation, Houndsmill, MacMillan.

4) Siehe hierzu unter anderem Harnisch, Sebastian / Hanns W. Maull (1997): Zivilmächte und Nukleare Non-Proliferation. Die USA und Japan in der Nordkoreakrise 1989-1995, Fallstudie im Rahmen des DFG-Projekts »Zivilmächte«. Eine moderate Ausgestaltung der Resolution war keinesfalls nur ein Zugeständnis an die VR China sondern auch ganz im Sinne der USA, Japans und Südkoreas, was vermuten lässt, dass die Drohung Pjöngjangs, es werde eine Resolution als feindlichen Akt werten, mit einem gewissen Unbehagen zur Kenntniss genommen wurde.

5) Yi, Xiaoxiong: China‘s Korea Policy. From »One Korea« to »Two Koreas«, in: Asian Affairs, Summer 1995, p. 133.

6) Teilweise wird anstatt dieser auch noch die Schreibweise »Taipeh« benutzt, die der amerikanischen Transskription nach Wade-Giles entspricht. In diesem Artikel werden alle chinesischen Namen in der international gebräuchlichen pinyin-Umschrift der VR China transskribiert (so z.B. auch »Beijing« anstatt »Peking«), daher die Verwendung der Schreibweise »Taibei«.

7) „We do not want to see the existence of nuclear weapons on the Korean Pensinsula. We hope to see the parties concerned engage in effective consultation to find a solution to this problem, but we do not wish to see any international pressure“, so der damalige Außenminister der VR China, Qian Qichen, im Rahmen des APEC-Treffens bereits im November 1991, zit. nach Friedman, Thomas L.: China Stalls Anti-Atom Effort On Korea, in: New York Times, 15. November 1991.

8) NMD = National Missile Defense. Ein Interesse, das Nord- und Südkorea und die VR China überdies eint, ist die Ablehnung des Raketenschutzprogramms NMD der USA.

9) Die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz wurden von der VR China 1955 im Rahmen der Konferenz von Bandung postuliert und dienten – auf deklaratorischer Ebene – fortan als Richtschnur für die Gestaltung der Beziehungen zu anderen Ländern. Die 5 Prinzipien umfassen 1) die gegenseitige Achtung der territorialen Unverletzlichkeit und Souveränität, 2) den gegenseitigen Nichtangriff, 3) die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, 4) gegenseitigen Nutzen und Gleichheit und 5) die friedliche Koexistenz. Siehe hierzu u.a. Wiethoff, Bodo (1977): Grundzüge der neueren chinesischen Geschichte, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 152 und Hsü, Immanuel C. Y. (1990): The Rise of Modern China, 4th Ed., New York/Oxford, Oxford University Press, S. 730.

Hans Scheerer, M.A, . Studium der Sinologie und Politikwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, dem Centre of Asian Studies in Durham (1992) und der Furen University in Taibei (1993/94). Arbeitsschwerpunkte: Außen- uns Sicherheitspolitik der VR China, Sicherheitspolitik im asiatisch-pazifischen Raum (APR), Chinas Beziehungen zu den Ländern Südostasiens.

Hoch gepokert

Hoch gepokert

Nordkorea: Kleines Land, große Chuzpe

von Rainer Werning

2002 von US-Präsident Bush als Teil einer »Achse des Bösen« gescholten, setzt Nordkoreas Regime mit Beginn der zweiten Amtszeit seines Erzrivalen ebenfalls auf Stärke und den Besitz von Atomwaffen. So weit sind die führenden Politiker und Diplomaten der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) bislang noch nicht gegangen. Beharrte Pjöngjang zuvor lediglich auf seinem Recht, auch über eine »militärische Abschreckungskraft« zu verfügen, so erklärte das nordkoreanische Außenministerium in einer am 10. Februar von der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA verbreiteten Stellungnahme: „Wir haben Nuklearwaffen zur Selbstverteidigung hergestellt, um mit der immer unverhohleneren Politik der Bush-Regierung zur Isolierung und Erstickung (Nordkoreas) fertig zu werden. (…) Die gegenwärtige Realität beweist, dass nur mächtige Stärke Gerechtigkeit und Wahrheit schützen kann.“ Zugleich gab die Regierung der Volksrepublik bekannt, der sogenannten Sechser-Runde, den von Beijing initiierten und seit 2003 in der chinesischen Hauptstadt stattfindenden internationalen Verhandlungen, über Nordkoreas Atomprogramm einstweilen fern zu bleiben. Neben Nordkorea und der VR China nahmen an den Gesprächen in Beijing auch Südkorea, Japan, Russland und die USA teil.

Seit dem 10. Februar ist somit der – aus westlicher Perspektive – dritte Atomkonflikt auf der koreanischen Halbinsel eingeläutet. Unabhängig davon, ob Nordkorea nunmehr tatsächlich im Besitz von Atombomben und technisch ausgereiften Trägersystemen ist, was selbst Siegfried Hecker, einst Direktor des Atomwaffenlabors in Los Alamos, New Mexico, nach einem Besuch des nordkoreanischen Reaktorkomplexes Yongbyon im vergangenen Jahr bezweifelte, pokert Pjöngjang diesmal hoch.

Eins, zwei, drei Atomkonflikte

Der erste Atomkonflikt (1993/94) war durch die Vermittlung des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter beigelegt worden. Im Oktober 1994 vereinbarten die USA und Nordkorea in Genf das »Agreed Framework«. Gemäß diesem Rahmenabkommen verzichtete Pjöngjang auf sein laufendes Nuklearprogramm. Als Gegenleistung sicherten die USA zu, den Nordkoreanern bis zur Fertigstellung zweier Leichtwasserreaktoren zwecks ziviler Nutzung im Jahre 2003 jährlich 500.000 Tonnen Schweröl zu liefern und die Souveränität des Landes anzuerkennen. Eine Sicherheitsgarantie also, was Nordkorea als Vorstufe einer möglichen friedensvertraglichen Regelung mit den USA werten konnte. Denn seit dem Ende des Koreakrieges (1950-53) existiert lediglich ein Waffenstillstands-, jedoch kein Friedensabkommen für die koreanische Halbinsel. Zur Umsetzung des »Agreed Framework« wurde eigens im März 1995 von den USA, Südkorea und Japan die Korean Peninsula Energy Development Organisation (KEDO) gegründet, an der sich auch die EU von 1996 bis 2000 mit damals umgerechnet rund 150 Millionen DM beteiligte. Aufgrund dieser Vereinbarung kehrte Nordkorea wieder vollumgänglich unter das Kontrollsystem der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien zurück.

Zwar erregte damals in Washington das von der nordkoreanischen Führung mehrfach praktizierte Junktim – erhöhte Nahrungsmittellieferungen im Austausch für IAEA-Inspektionen – Ärgernis. Das jedoch hielt die Clinton-Administration nicht davon ab, den früheren Verteidigungsminister William Perry mit der Ausarbeitung von Richtlinien einer künftigen US-amerikanischen Nordkoreapolitik zu beauftragen. Nach intensiver Ostasien-Shuttle-Diplomatie kam Perry in seinem am 12. Oktober 1999 veröffentlichten Report zu dem Ergebnis, dass das »Agreed Framework« unbedingt Bestand haben müsse, wenngleich kooperative und konfrontative Elemente im Umgang mit Pjöngjang fortan stärker aufeinander abgestimmt werden sollten. Die Bedeutung des Perry-Reports lag darin, dass er auf der Basis intensiver, für sämtliche Protagonisten in der Region Gesicht wahrender Gespräche verfasst wurde, die ursprünglich angenommene Prämisse eines kurz- bis mittelfristigen Zusammenbruchs Nordkoreas revidierte, die von Südkoreas Präsidenten Kim Dae-Jung seit 1998 verfolgte »Sonnenscheinpolitik« vis-à-vis Pjöngjang ausdrücklich befürwortete und das seit dem Koreakrieg wichtigste Entspannungssignal aussandte. Konkretes Ergebnis dieses Berichts war ein für beide Seiten zeitweilig immerhin vorteilhaftes Arrangement. Erklärte sich Nordkorea zum Verzicht weiterer Raketentests bereit, lockerte Washington im Gegenzug einige seiner Wirtschaftssanktionen und setzte sich für die Fortführung und Aufstockung von Hilfslieferungen an die Volksrepublik ein. Die Normalisierung zwischen beiden Ländern verlief auf einmal so reibungslos, dass sich US-Außenministerin Madeleine Albright und General Cho Myoung-Rok, damals die Nummer drei in der Nomenklatur der Volksrepublik, gegenseitige Besuche in Pjöngjang und Washington abstatteten. In beiden Hauptstädten waren sogar Vorbereitungen für US-Präsident Clintons letzten Auslandsbesuch vor Ablauf seiner Amtszeit im Januar 2001 getroffen worden. Diese Reise hätte Clinton nach Nordkorea führen sollen, was zumindest im Anschluss von Albrights Besuch in der Volksrepublik Ende Oktober 2000 avisiert war.

Seitdem George W. Bush ins Weiße Haus einzog, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Washington und Pjöngjang ebenso rasch wie tiefgreifend. Ausschlaggebend dafür waren zunehmende Konflikte zwischen dem State Department und dem Pentagon über die Richtlinienkompetenz in der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Oberhand behielt das Pentagon, dessen harte Linie dann sowohl von der damaligen Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und Vizepräsident Dick Cheney unterstützt und schließlich von George W. Bush vollumfänglich mitgetragen wurde. Bereits im Frühjahr 2001 nannten Rice und Bush die Volksrepublik China eine „aufstrebende Macht“ beziehungsweise einen „strategischen Gegner“, während der innerkoreanische Entspannungsprozess konterkariert wurde. Südkoreas Präsident Kim Dae-Jung wurde Anfang März 2001 anlässlich seines USA-Besuchs buchstäblich vorgeführt und brüskiert. Während dieses ersten Staatsbesuchs eines asiatischen Regierungschefs beim neuen Mann im Weißen Haus nannte Präsident Bush Nordkorea am 7. März 2001 ohne Umschweife einen Bedrohungsfaktor in Ostasien, mit dem weitere Gespräche ausgesetzt und erst nach einer kompletten Neubestimmung der US-amerikanischen Asienpolitik wieder aufgenommen würden. Als er dann auch noch den innerkoreanischen Dialog ernsthaft in Zweifel zog und signalisierte, die USA würden dessen Unterstützung einstellen, ließ das den südkoreanischen Staatsgast als naiven Eiferer und seine Entourage wie begossene Pudel dastehen. Noch einen Tag zuvor hatte US-Außenminister Colin Powell den noch zuversichtlich gestimmten Gästen aus Seoul versichert, sein Land werde die „vielversprechenden Elemente“ der Nordkorea-Politik seiner Vorgängerin weiterführen und da anknüpfen, wo die Clinton-Administration aufgehört habe.

Bushs Ende Januar 2002 erstmalig aufgestellte Behauptung, Nordkorea sei Teil einer „Achse des Bösen“, erboste die politische Führung in Pjöngjang. Dort fuhr man derbe Retourkutschen, schimpfte den US-Präsidenten einen „Schurkenbandenchef“ und warf den USA vor, von „moralischer Lepra“ (allesamt O-Töne der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA) befallen zu sein. Der zweite Atomkonflikt war programmiert, als der Abteilungsleiter für Ostasien-Angelegenheiten im Außenministerium, James A. Kelly, im Oktober 2002 Pjöngjang besuchte. Entgegen den Erwartungen der Gastgeber, sein Besuch könnte endlich eine Wende in den bilateralen Beziehungen einleiten, hinterließ das Treffen zwischen Kelly und dem stellvertretenden Außenminister Kang Suk-Ju einen Scherbenhaufen. Kelly legte »Beweise« vor, die angeblich das heimliche Atombombenprojekt in Nordkorea belegten. Diesen Vorwurf wies Kang scharf zurück und warf Kelly einen „arroganten Verhandlungsstil“ vor.

Nach dem Treffen im Oktober 2002 forderten die USA Nordkorea zum sofortigen Stopp des Nuklearprogramms auf. Im Dezember 2002 kappte Washington seine zugesicherten Heizöllieferungen an Pjöngjang, was dessen Führung in einem drastischen Gegenzug dazu bewog, am 10. Januar 2003 endgültig die Zusammenarbeit mit der IAEA aufzukündigen und deren Mitarbeiter des Landes zu verweisen. Zuvor hatten Pakistan und Indien (beide Nichtunterzeichner des Atomwaffensperrvertrags) erklärt, Atomwaffen zu besitzen. Während die USA selektiv ihren Druck auf den Irak ständig erhöhten, kochte die Bush-Administration ihren Konflikt mit Nordkorea zwischenzeitlich auf Sparflamme, obgleich Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die USA in der Lage wähnte, zwei Kriege – im Irak und gegen Nordkorea – gleichzeitig führen und gewinnen zu können.

Angst vor Straßenräubern …

Im Sommer 2003 konstatierte ein Autorenkollektiv des (staatlichen) Instituts für die Wiedervereinigung des Vaterlandes in Pjöngjang: „Die USA verprügeln wie ein Straßenräuber rücksichtslos schwache Gegner im Kosovo, in Afghanistan und im Irak, nur gegenüber Nordkorea vermeiden sie den ‚Präventivschlag’. Dies geschieht nicht etwa aus Gnade, sondern aufgrund des Besitzes militärischer Abschreckungskraft durch Nordkorea. Im Übrigen garantiert dies Eigenständigkeit und den Frieden auf der koreanischen Halbinsel und widerspricht auch nicht der von Nord- und Südkorea 1992 unterzeichneten Gemeinsamen Erklärung zur Denuklearisierung, die ja ihrerseits den vollständigen Abzug der in Südkorea dislozierten US-amerikanischen Atomwaffen zur Voraussetzung hat.“ Als der »Präventivschlag« gemäß der seit September 2002 gültigen National Security Strategy (NSS) gegen den Irak näher rückte, vertraten die »Falken« in den USA lautstark das Argument, Nordkorea sei für den Weltfrieden weitaus bedrohlicher als der Irak. Einige Hardliner im Pentagon und in den Medien (z.B. das Wall Street Journal) befürworteten gar eine totale Seeblockade Nordkoreas sowie einen „chirurgischen Eingriff“ in die umstrittene Atomanlage in Yongbyon. Doch: Nordkorea besitzt keine Erdölvorkommen wie der Irak, und zu dem Zeitpunkt waren gut 37.000 GIs in Südkorea stationiert, die sich – gemeinsam mit den Bewohnern der nur knapp 50 Kilometer von der Demarkationslinie entfernt gelegenen Metropole Seoul – in Reichweite nordkoreanischen Artilleriefeuers befunden hätten. Gary E. Luck, einst kommandierender General der US-Streitkräfte in Südkorea, äußerte in Hearings des US-Kongresses und – Senats die Befürchtung, dass im Falle einer Irak-ähnlichen Operation gegen Nordkorea mit Hunderttausenden Toten gerechnet werden müsste.

Ein solches Risiko war der Bush-Regierung dann doch zu hoch. Selbst deren Verbündete in Tokio und Seoul zeigten sich alarmiert. In Südkorea setzt die politische Führung des Landes unbeirrt auf intensiven Dialog mit dem Norden und profitiert auch wirtschaftlich von einer regulierten Kooperation auf Staatsebene. So entstand erst vor wenigen Wochen der mit finanzieller sowie technischer Hilfe aus Seoul gebaute Industriepark Kaesong in Nordkoreas südlichster Stadt nahe der »entmilitarisierten Zone« am 38. Breitengrad, wo nunmehr eine Art kleiner Grenzverkehr täglich pendelnder Fachkräfte aus dem Süden existiert. Der Architekt der »Sonnenscheinpolitik«, der dafür im Jahre 2000 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Ex-Präsident Südkoreas, Kim Dae-Jung, hatte noch Mitte Juni 2003 unverblümt erklärt, dass sich Nordkoreas Atomwaffen, besäße es sie denn tatsächlich, im Vergleich zum US-amerikanischen Atomwaffenarsenal wie Spielzeuge ausnähmen. Und der in Pjöngjang für Südkoreafragen zuständige ranghohe Parteikader Ahn Byung-Ho hat mehrfach und deutlich die Position seines Landes bekräftigt, in dem Moment endgültig und definitiv aus dem Atomwaffenprogramm auszusteigen, sobald die USA das Existenzrecht Nordkoreas mit einem Nichtangriffsabkommen garantierten. Diese Position bezeichneten die chinesischen Gastgeber der Sechser-Gespräche in Beijing noch Anfang 2004 als „neues mutiges Angebot“.

… und einem erzwungenen Regimewechsel

Was also steckt hinter der weit reichenden Erklärung des nordkoreanischen Außenministeriums? Warum wurde sie zu diesem Zeitpunkt lanciert? Beabsichtigt Pjöngjang, den von Beijing gesponserten Sechser-Gesprächen tatsächlich fern zu bleiben?

Zeitpunkt und Inhalt der Erklärung stehen in direktem Zusammenhang mit Präsident Bushs zweiter Amtszeit. Wenngleich er in seiner Antrittsrede direkte Attacken gegen Nordkorea vermied, nährten seine weiteren Ausführungen, „die Fackel der Freiheit in alle Winkel der Welt zu tragen“, in Pjöngjang die Auffassung, dass Washington auf Kontinuität setzt, direkte bilaterale Verhandlungen kategorisch ablehnt und auch in den kommenden vier Jahren an seiner kompromisslosen Politik gegenüber »Schurkenstaaten« festhält. Schließlich bezeichnete die neue US-Außenministerin Condoleezza Rice Nordkorea als einen „Vorposten der Tyrannei“. Spekulierten die USA lange Zeit auf das Zusammenbrechen oder eine Implosion der Volksrepublik, vergleichbar den Prozessen in der DDR und anderen realsozialistischen Regimes, so arbeitet die Bush-Regierung entsprechend ihrem Postulat des »Systemwechsels« weiterhin aktiv auf den Bruch der »Achse des Bösen« hin. Der Besitz oder die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ist da, wie im Irak eindeutig demonstriert, von untergeordneter Bedeutung. Wäre Nordkorea militärisch so schwach wie der Irak, hätte vielleicht bereits vor dem Irak ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel stattgefunden. Dass den unilateral handelnden USA weder mit Logik, Bitten, Goodwill, Reaktorinspektionen und internationalem Recht beizukommen ist, bestärkt das ohne militärische Schutzmacht und ohne »atomaren Schutzschild« allein dastehende Regime in Pjöngjang in seinem Kalkül, unter allen Umständen anzustreben, mit den USA auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Und das schließt die Drohung mit beziehungsweise den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Besitz von »starker militärischer Abschreckungskraft« ein – ein risikoreiches Unterfangen.

Auch innenpolitisch verfehlt die Strategie des Pjöngjanger Außenministeriums ihre Wirkung nicht. Erklärtes Ziel ist seit Jahren die Politik des »starken Staates« und das Postulat »Die Armee zuerst!« Im Interessenkonflikt zwischen militärischer Stärkung des Landes und der Verbesserung der regional desolaten Lebenssituation der Bevölkerung hat sich die Führung eindeutig für die erste Option entschieden. Obgleich die Volksrepublik nach westlichen Schätzungen einen exorbitanten Anteil – etwa 30 Prozent – ihres Bruttoinlandprodukts in den Militärsektor investiert, entspricht diese Summe gerade mal einem Drittel der entsprechenden Ausgaben in Südkorea, wo überdies noch mit modernsten Waffen ausgerüstete 37.000 GIs stationiert sind. Atomare Abschreckungsmittel hätten aus Pjöngjanger Sicht den Vorteil, weitaus kostengünstiger als konventionelle Waffen zu sein. So könnten Ressourcen verstärkt für die Wiederbelebung der – streckenweise maroden – Wirtschaft mobilisiert werden. Weil es dazu auf die Erdöllieferungen aus der VR China angewiesen ist, wird sich Nordkorea (notfalls) politisch-diplomatischem Druck aus Beijing nicht verschließen (können), dorthin erneut an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Pjöngjang weiß letztlich nur zu gut, dass es momentan keinen besseren Vermittler zwischen den USA und Nordkorea gibt als den »älteren Bruder« China. China ist nicht daran gelegen, an seinen Grenzen mit Nordkorea einen Dauerkonflikt schwelen zu lassen, der zudem die Stabilität und Sicherheitslage in Nordostasien gefährdet. Solange international auf den »nordkoreanischen Sack« eingedroschen wird, ist damit auch und gerade der »chinesische Esel« gemeint. Schon deshalb hat China ein handfestes Interesse daran, sich als erfolgreicher diplomatisch-politischer Krisenbroker zu empfehlen und damit die Voraussetzungen zu schaffen, in der gesamten Region langfristig und strategisch zur wirtschaftlichen, politischen und militärischen Führungsmacht aufzusteigen.

Schließlich beging der »Geliebte Führer« Kim Jong-Il am 16. Februar seinen 63. Geburtstag – im Jahre Sechzig nach dem Ende des Krieges und langjähriger japanischer Kolonialzeit. Da hat der Verweis auf Antikolonialismus und Antiimperialismus hohen symbolischen Gehalt, um das (Über-)Leben von Staat und Gesellschaft zu garantieren. Gleichzeitig stärkt dies Nordkoreas wichtigste Institution, nämlich das Militär, dessen Stellung Kim Jong-Il zu würdigen weiß. Wenn immer er öffentlich auftritt und ausländische Gäste empfängt, tut er dies in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Nationalen Verteidigungskommission.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist, ist Vorstandsvorsitzender des Korea-Verband e.V. im Asienhaus (Essen). Gemeinsam mit Hyondok Choe und Du-Yul Song ist er Ko-Herausgeber des Buches Wohin steuert Nordkorea? Soziale Verhältnisse, Entwicklungstendenzen und Perspektiven (Köln 2004: PapyRossa Verlag), aus dem auch die im vorliegenden Text verwendeten Zitate stammen.


Nordkorea und der Atomwaffensperrvertrag

Der Atomwaffensperrvertrag von 1968, offiziell Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen (Non-Proliferation Treaty/NPT) genannt, ist das wichtigste internationale Regelwerk zur Kontrolle von Nuklearwaffen. Er trat 1970 in Kraft und verbietet die Weitergabe von Atomwaffen und atomwaffenfähigem Material. Nach Artikel 3 des Vertrags soll die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) sicher stellen, dass die Nichtkernwaffenstaaten kein spaltbares Material zum Bau von Atombomben abzweigen oder aus anderen Ländern beschaffen. Über die Einhaltung des Vertrags wacht die in Wien ansässige IAEA.

Dem NPT gehören 189 Staaten an. Von den Staaten mit Atomwaffenkapazitäten sind nur Indien, Pakistan und Israel nicht beigetreten. Nordkorea trat dem Atomwaffensperrvertrag 1985 bei und ratifizierte im Jahre 1992 umfangreiche Sicherheitsvereinbarungen mit der IAEA. Im Dezember 2002 kündigte Pjöngjang an, sein Atomprogramm zur friedlichen Nutzung wieder aufzunehmen, weil die USA ihren Verpflichtungen aus dem 1994 geschlossenen »Agreed Framework« nicht nachgekommen seien. Nachdem Pjöngjang bereits 1993/94, auf dem Höhepunkt des ersten Atomkonflikts, mit einem Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag gedroht hatte, scherte es im Januar 2003 endgültig aus. Ein sehr weitreichender Schritt, denn kein anderes Land zuvor gemachte hat.

Seit August 2003 trafen sich bislang dreimal Diplomaten aus Nord- und Südkorea, Japan, Russland, China und den USA – die sogenannte Sechser-Runde – unter der Schirmherrschaft der VR China zu Gesprächen in Beijing, um den Atomkonflikt mit Pjöngjang beizulegen.


Schöne heile Feindwelt

Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist die Demokratische Volksrepublik Korea für die Vereinigten Staaten von Amerika geblieben, was es in der Sicht Washingtons immer war – »das Böse« schlechthin. Die US-Regierung sieht in der Volksrepublik nicht nur einen »Schurkenstaat«. Im Jahre 2002 erklärte Präsident George W. Bush das Land sogar als Teil einer »Achse des Bösen«. Auch cineastisch sorgte der letzte James Bond-Film »Stirb an einem anderen Tag« – dafür, dass dieses Feindbild nicht nur intakt bleibt sondern noch kräftig geschürt wird. Die USA, konterte prompt die staatliche nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA, wollten das Land „absichtlich verspotten und beleidigen.“

Pjöngjang und Washington waren nie zimperliche im Umgang miteinander. Das ist einerseits das Resultat des Koreakrieges, der zwischen 1950 und 1953 das Land verwüstete und als erster »heißer Konflikt« in der Ära des Kalten Krieges fast einem neuen Weltkrieg entfesselt hätte. Zum anderen ist es die bis heute in Washington nicht verwundene Schmach über den so genannten USS Pueblo-Vorfall, der sich Ende der sechziger Jahre, auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, in nordkoreanischen Gewässern ereignete.

Am 23. Januar 1968 nämlich griffen nordkoreanische Patrouillenboote das US-amerikanische Schiff USS Pueblo vor der Küste Nordkoreas auf, nahmen die gesamte 83-köpfige Besatzung gefangen und bezichtigten sie der Spionage. Zwölf Tage zuvor hatte die Pueblo, einst ein Frachtschiff, das die U.S. Navy für ihre Zwecke umbauen ließ, den Hafen im japanischen Sasebo verlassen, um im Ostmeer, das die Japaner das Japanische Meer nennen, routinemäßig Erkundungstrips durchzuführen und ozeanographische Daten zu sammeln. So jedenfalls stellte es der damalige Marineminister John Chafee dar. US-amerikanischen Berichten zufolge sei die Pueblo nicht mit der neuesten Navigationstechnik ausgestattet und die junge Besatzung unerfahren gewesen, so dass das Schiff möglicherweise irrtümlich die international anerkannte 12-Seemeilen-Zone überschritten habe.

Für die US-Marine war das Ganze eine herbe Schlappe. Mit der Pueblo nämlich fielen den Nordkoreanern strategisch sensible Daten in die Hände, die es unter anderen der damals mit ihnen befreundeten Sowjetunion ermöglichte, nachrichtendienstlich relevante Kodes zu knacken. Die Pueblo wurde in die nordkoreanische Hauptstadt geschippert und dort auf dem Taedong-Fluss wie eine Trophäe ausgestellt und zur Besichtigung freigegeben. Während in den USA die Stimmen lauter wurden, die auf Rache sannen und ein offensives militärisches Vorgehen gegen Nordkorea befürworteten, setzte die damalige US-Administration unter Präsident Lyndon B. Johnson auf eine politisch-diplomatische Lösung des Konflikts. Gegenüber Pjöngjang räumte die US-Regierung ein, die Pueblo habe die Hoheitsrechte der Volksrepublik verletzt und entschuldigte sich dafür. Johnson wollte ein weiteres Fiasko in Asien vermeiden.

Jedenfalls landeten Heiligabend 1968 – nach elfmonatiger Gefangenschaft – 82 Mann der Pueblo-Besatzung – einer war seinen Verletzungen erlegen, die er während des Schusswechsels beim Aufgreifen der Pueblo erlitten hatte – im kalifornischen San Diego.

Rainer Werning

Friedensgeflüster in Korea

Friedensgeflüster in Korea

von Rainer Werning

Wenn das Attribut »historisch« berechtigt ist, dann war der 13. Juni auf der koreanischen Halbinsel ein gewiss geschichtsträchtiger Moment mit großem Symbolgehalt. Offiziell noch im Kriegszustand, tauschten die Staatschefs beider Teilstaaten, Kim Dae Jung und Kim Jong Il, erstmals Freundlichkeiten per Handschlag aus. Vorrangig ging es bei diesem ersten innerkoreanischen Gipfel um Familienzusammenführung und den Ausbau bilateraler Wirtschaftsbeziehungen. Nicht wenig, bedenkt man, dass gegenseitig hochgeschaukelte Feindbilder und Feindseligkeiten ein halbes Jahrhundert lang den Umgang miteinander prägten. Eine friedliche Ära der Entspannung kann nunmehr vermutet, eine dauerhafte Annäherung erwartet, doch eine (Wieder-)Vereinigung keineswegs problemlos auf die Agenda gesetzt werden.
Der Gipfel begann, wie sich das Verhältnis zwischen Seoul und Pjöngjang seit 1945 gestaltet hatte – verspätet, unter strikten Sicherheitsbedingungen und, von ausgewählten südkoreanischen Journalisten abgesehen, weitgehend unter Abschottung von der Öffentlichkeit. Noch in der Nacht des 10. Juni hatte der Sprecher des südkoreanischen Präsidenten Kim Dae Jung, Park Joon Young, erklärt, Pjöngjang habe vorgeschlagen, den Gipfel um einen Tag zu verschieben – aus „einigen kleinen technischen Gründen“. Park begründete die Verzögerung für koreanische Verhältnisse nachvollziehbar: Der Präsident glaube halt, „dass ein zusätzlicher Tag des Wartens kein Problem darstellt, haben doch beide Seiten darauf ein halbes Jahrhundert gewartet“. Umso größer war dann die Freude der Bevölkerung diesseits und jenseits des 38. Breitengrades, als sie am 13. Juni die Begrüßungszeremonie auf dem Flughafen von Pjöngjang im Fernsehen live miterleben konnte. Für die nordkoreanische Führung ein besonderer diplomatisch-politischer Coup, hatten ihr doch Anfang der neunziger Jahre hochdotierte Analysten von der Londoner »Economist Intelligence Unit« bis hin zu Experten im Washingtoner State Department eine ähnlich rasche Implosion wie in der Sowjetunion und Osteuropa prognostiziert.

Eigentlich war ein solcher Gipfel bereits vor sechs Jahren vorgesehen. Die damaligen Präsidenten, Kim Young Sam und Kim Il Sung, hatten sich, teils eingefädelt vom US-amerikanischen Expräsidenten Jimmy Carter, auf ein gemeinsames Treffen verständigt und bereits das Protokoll abstimmen lassen. Doch Mitte Juli 1994 starb der »Große Führer« Kim Il Sung, und Washington hatte Nordkorea wegen seiner vermeintlichen Gewinnung waffenfähigen Plutoniums in dessen Kernkraftkomplex Yongbyon kurzerhand zum »Schurkenstaat« erklärt. Stillschweigend sah indes die im Frühjahr 1995 in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur getroffene US-amerikanisch-nordkoreanische Vereinbarung vor, Umrüstungen in Yongbyon durchzuführen, Leichtwasser-Reaktoren und Kohle an Pjöngjang im Wert von umgerechnet ca. vier Mrd. US-Dollar zu liefern sowie Liaison-Büros in beiden Hauptstädten einzurichten. Wenngleich die Clinton-Administration erneut ihren »Schurkenstaat«-Vorwurf bekräftigte, setzte Seoul seit dem Amtsantritt Kim Dae Jungs im Februar 1998 auf eine »Sonnenscheinpolitik« gegenüber Pjöngjang. Dort erhofft man sich im Gegenzug Hilfe für die seit Jahren infolge verheerender Naturkatastrophen von Hungersnot geplagte Bevölkerung. Beide Kims, der südliche vom früheren Staatsfeind Nummer Eins zum Führer in Seoul und der nördliche vom Sohn zum politischen Landesvater in Pjöngjang aufgestiegen, setzen schließlich auf einen Legitimationsgewinn im Prozess der vorsichtigen Loslösung von dominanten ausländischen Mächten.

Verhängnisvolle Teilung

Mit dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft (1910-45) erhofften die Koreaner, wieder selbst die eigenen Geschicke zu lenken. Doch bereits vor Kriegsende hatten sich die USA und die Sowjetunion darüber verständigt, Korea auch nach einem Sieg über Japan eine Zeitlang treuhänderisch zu verwalten. Der 38. Breitengrad wurde zur Demarkationslinie. Diese wurde umso undurchlässiger, je schroffer die Eigeninteressen der Groß- und Siegermächte aufeinander prallten. Die Staatsgründungen der Republik Korea und der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik am 15. August bzw. 9. September 1948 markierten die imperial begründete Teilung des Landes. Doch während die Sowjetunion ihre letzten Truppenkontingente bereits 1948 aus dem Norden abzog, blieb mit ca. 37.000 stationierten GIs die Präsenz der USA im Süden des Landes bis heute ungebrochen.

An dieser sensibelsten Nahtstelle der Ost-West-Blockkonfrontation auf dem asiatischen Festland kam es zum ersten »heißen« Konflikt des Kalten Krieges (1950-53). Vorangegangen waren auf beiden Seiten (Konter-)Attacken sowie militärische Provokationen, die zum Bürgerkrieg mit häufig wechselnden Frontverläufen und durch das Eingreifen von UN-Truppen und chinesischen Freiwilligenverbänden eskalierten. Die Konsequenzen waren verheerend: Sämtliche Strategien der Kriegführung – einschließlich der bakteriologischen – wurden angewandt, modernste Waffen wurden eingesetzt und ein Ausmaß von Zerstörung angerichtet, das die US-Luftwaffengeneräle mit wehleidigem Unterton zu der Feststellung veranlasste, in Korea gebe es partout keine Angriffsziele mehr. Zwischenzeitlich gar hatte General Douglas MacArthur, in Personalunion Chef der US-Streitkräfte und Oberkommandierender der UN-Verbände, erwogen, das Kriegsgeschehen durch die „Pulverisierung“ – sprich: atomare Zerstörung – der jenseits der nordkoreanischen Grenze gelegenen chinesischen Städte abzukürzen. Entlang des 38. Breitengrads entstand schrittweise die weltweit undurchlässigste Grenze, die, mit Stacheldrahtverhauen und Minenfeldern gesäumt, das Land in einer Länge von 240 km durchschnitt – ohne Möglichkeiten gegenseitigen Besucheraustausches, ohne Post-, Telefon- und Verkehrsverbindungen.

Massenmobilisierungen sorgten nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens von Panmunjom im Juli 1953 im nördlichen Landesteil dafür, dass die Grundbedürfnisse der Bevölkerung erfüllt und zeitweilig hohe Wachstumsraten erzielt wurden, was bis Ende der sechziger Jahre auf gerade unabhängig gewordene Länder des Trikonts faszinierend wirkte und für diese Vorbildcharakter hatte. Im Süden herrschte bis Ende der achtziger Jahre eine Militärdiktatur, die auf dem Rücken einer staatsterroristisch zugerichteten Arbeiterklasse das »Modell Südkorea« begründete und als dessen Vorzug die Erzwingung von sozialem und nationalem Konsens pries. Antiimperialismus und »Dschutsche« – etwa: das Schaffen aus eigener Kraft – im nördlichen und eine Entwicklungsdiktatur mit teils paranoid antikommunistischen Zügen im südlichen Teil der Halbinsel bildeten die ideologischen Leitplanken des jeweiligen Kurses in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und dienten den Eliten drüben wie hüben als Instrumente der eigenen Herrschaftssicherung. Auffällig war dabei, dass sich Nordkorea mit Hilfe der Dschutsche-Ideologie weitaus größere außenpolitische Handlungsspielräume verschaffte als Südkorea, das sein Schicksal weitgehend der »Schutzmacht« USA überantwortete. Stets auf Eigenständigkeit im großen sino-sowjetischen Konflikt um die Hegemonie in der internationalen sozialistischen und Arbeiterbewegung bedacht und sich einer Aufnahme in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) verweigernd, was der Führung um Kim Il Sung wiederholt die Kritik des »Zentrismus« im realsozialistischen Lager eintrug, gelang Pjöngjang eine, rückblickend betrachtet, kluge Politik der gleichermaßen gegenüber Moskau und Peking praktizierten Äquidistanz. So gelang es Pjöngjang zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichem Maße, das aus seiner Sicht Beste im Umgang mit den beiden großen Anrainern herauszuholen. Die außergewöhnliche Kontinuität der um Kim Il Sung und seinen Sohn gruppierten Führungsschicht, in die zunehmend im eigenen Land ausgebildete Kader hinzustießen, war mitverantwortlich dafür, dass das nordkoreanische Regime nicht nur nicht implodierte, sondern sich im Sog weitreichender Neukonstellationen in Nordostasien sowie in Südkorea gar zu stabilisieren vermochte.

Vorsichtige Avancen

Lange war man in Seoul davon ausgegangen, seine wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber dem Norden eines Tages auch politisch in die Waagschale zu werfen und sich den Norden einzuverleiben. Doch spätestens zu Beginn der neunziger Jahre verflog angesichts der exorbitanten Kosten in Südkorea die anfängliche Euphorie, dem »deutschen Vorbild« in der (Wieder-)Vereinigungspolitik zu folgen. Eigene technologische und Modernisierungsdefizite in Landwirtschaft und Industrie, die plötzliche Umstellung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Russland und der VR China auf Devisenbasis sowie verheerende Hungerkatastrophen infolge lang anhaltender Dürre-, Kälte- und Überschwemmungsphasen hatten zur potenziellen Destabilisierung Nordkoreas beigetragen. Doch anstatt diese zu fördern, gingen nunmehr sämtliche Regionalmächte und Seoul dazu über, politisch, diplomatisch und wirtschaftlich alles zu tun, um Pjöngjang zu stützen, da keiner Partei an einem neuerlichen Konflikt auf der koreanischen Halbinsel gelegen sein konnte. Dieser Stabilisierungs- und Deeskalationspolitik verlieh der südkoreanische Präsident zusätzliches Gewicht durch seine seit dem Frühjahr 1998 vertretene »Sonnenschein-Politik« vis-à-vis dem Norden. Damit begann die dritte Phase eines bilateralen Entspannungsprozesses, der mit dem Gipfeltreffen am 13. Juni seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte.

Die bis dato herausragenden innerkoreanischen Annäherungen, die gemeinsamen Rote-Kreuz-Gespräche, die in dem Nord-Süd-Kommuniqué vom Juli 1972 gipfelten, und der im Dezember 1991 von Seoul und Pjöngjang unterzeichnete Aussöhnungsvertrag geschahen jeweils in Situationen internationaler Umbrüche. Im ersten Fall war kurz zuvor die Feindschaft zwischen der VR China und den USA beigelegt worden, so dass die antikommunistische Propaganda ihr Bedrohungspotenzial einbüßte. Und im zweiten Fall verschwand 1991 mit der Sowjetunion ein Bündnispartner Nordkoreas von der politischen Bühne, mit dem es seit Beginn der 60er Jahre qua gemeinsamem Beistandspakt verbunden war. Beide Male waren innerkoreanische Prozesse verantwortlich dafür, dass der Dialog abrupt endete. Im Herbst 1972 begann mit der Verhängung des Kriegsrechts im Süden die bleierne Zeit der Park Chung Hee-Militärdiktatur, während 1991 Pjöngjang – so wörtlich – »ideologische Kontaminierungen« im Zuge des Berliner Mauerfalls und der Gorbatschow-Ära witterte und plötzlich sein Autarkiekonzept gefährdet sah.

Das von den USA wiederholt vorgetragene Argument, Nordkorea stelle aufgrund seiner Raketenproduktion und -exporte in Staaten des Mittleren Ostens ein Bedrohungspotenzial dar und sei deshalb als unberechenbarer »Schurkenstaat« zu klassifizieren, wird zunehmend brüchiger. Wieso auch sollte ausgerechnet jetzt ein »Schurke« international geächtet werden, da doch Berlin, London, Madrid und Brüssel die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Pjöngjang als flankierende Maßnahme im innerkoreanischen Entspannungsprozess angekündigt haben, Tokio dadurch in Zugzwang geriet, seinerseits das Verhältnis zur früheren Kolonie zu normalisieren, und mit US-Außenministerin Madeleine Albright am 23./24. Oktober erstmalig eine hochrangige Repräsentantin der US-Regierung zum Staatsbesuch in die Volksrepublik reiste? Mehr noch: Bereits zuvor war Seoul mitnichten von der »Schurkenstaat«-Theorie überzeugt, befürwortete es doch etliche gegenseitige Besucherprogramme von Wirtschaftsmanagern, Politikern und Militärs – darunter die vor Jahresbeginn kaum für möglich gehaltene Zusammenkunft der Verteidigungsminister beider Länder auf der südkoreanischen Insel Cheju.

Kein »Quick Fix« in Sicht

Um die seit dem Juni 2000 bilateral in Gang gesetzte Dynamik beizubehalten und eine wirkliche Nord-Süd-Verständigung zu vertiefen – von dauerhaftem Frieden und (Wieder-)Vereinigung zu schweigen, ist folgendes notwendig:

  • Regelmäßige Konsultationen auf höchster diplomatischer Ebene auf der Basis von Gleichberechtigung im Geiste des Aussöhnungsvertrages, der ein entsprechendes Regelwerk vorsieht.
  • Die Schaffung eines Runden Tisches, an dem im Sinne vertrauensbildender Maßnahmen Vorurteile abgebaut und nach gegenseitigem Besuchsprogramm (Stichwort: »Kleiner Grenzverkehr«) ein umfassender Wirtschafts-, Handels- und Kulturaustausch ausgehandelt werden.
  • Die Einbindung anerkannter Persönlichkeiten und relevanter sozialer Kräfte aus Nord wie Süd in den offiziellen Dialog: Die jeweils staatliche Monopolisierung der Friedens- und Wiedervereinigungsproblematik erschwert diesseits und jenseits der Grenze noch immer entsprechende Initiativen. Vor allem das seit 1948 im Süden bestehende, wenngleich mehrfach modifizierte Nationale Sicherheitsgesetz ist anachronistisch und widerspricht der postulierten segyehwa (Globalisierung).
  • Bilateral abgestimmte Schritte, um frühere bzw. noch präsente »Schutzmächte« (USA, China und Russland) in eine regionale Friedenssicherung – als ostasiatisches Pendant zur OSZE – einzubeziehen. Ziel: Ein Friedensvertrag der das bislang bestehende Waffenstillstandsabkommen ablöst. Das erforderte die Einstellung südkoreanisch/US-amerikanischer Manöver und den schrittweisen Abzug der in Südkorea stationierten US-Truppen. Im Gegenzug ist es an Pjöngjang, seinerseits die Truppenstärke und Militärausgaben zu senken.
  • Sodann wäre zu klären, wie in sämtlichen Sphären des gesellschaftlichen Lebens ein geregeltes Miteinander gewährleistet und ein Vereinigungsprozess (als befristete Föderation oder Konföderation) jenseits von Unterwerfungen realisiert werden kann.

All das schüfe die Bedingungen für zivile Umgangsformen zwischen Nord und Süd – in etwa vergleichbar mit der innerdeutschen Situation nach dem Anfang der siebziger Jahre ausgehandelten Grundlagenvertrag. Bis Stacheldrahtverhaue geräumt, »Mauerreste« geschliffen sowie gravierende Bürgerkriegstraumata und Systemunterschiede überwunden sind, wird eine aufreibende Dialogphase unumgänglich sein.

D. J. als Peacebroker?

Friedensnobelpreis für Südkoreas Präsident

Kim Dae Jung (74), von Freunden kurz D. J. genannt, hat sämtliche Tiefen und Höhen durchlebt: Bauernsohn, Underdog aus der von traditionellen Ostküsten-Politikern abschätzig behandelten Provinz Süd-Cholla im Südwesten des Landes, Parlamentsabgeordneter, streitbarer Demokrat, von der Militärjunta geächteter und zum Tode verurteilter Oppositioneller, langjähriger politischer Häftling, mehrfach gescheiterter Präsidentschaftskandidat, Elder Statesman, knapper Sieger der Präsidentschaftswahl vom 18. Dezember 1997 und Friedensnobelpreisträger 2000.

Geboren in der Nähe der südlichen Hafenstadt Mokpo, in relativ ärmlichen Bedingungen aufgewachsen, durch Heirat zu Geld gelangt, avancierte Kim Dae Jung zum Zeitungsverleger und Chefredakteur, dessen Leitartikel glühende Pro-Demokratie-Funken sprühten. 1961 glückte ihm der Sprung in die Nationalversammlung. Doch als der junge Abgeordnete nach feucht-fröhlichem Zechgelage über seinen Erfolg in der Hauptstadt seinen Parlamentssitz einnehmen wollte, musste er ernüchtert feststellen, dass sich kurz zuvor der Fallschirmjägergeneral Park Chung Hee an die Macht geputscht hatte.

18 lange Jahre hielt sich die von Park geführte Militärjunta an der Macht. Als Kim erstmalig 1971 für das Präsidentenamt kandidierte, entging er nur knapp einem Attentat. Als mittlerweile landesweit bekanntester Oppositionspolitiker verschleppten ihn Schergen Parks husarenstreichartig aus einem Hotel in Tokio. Nur die Intervention Washingtons rettet Kim damals das Leben, die Todesstrafe wurde in eine lange Haftstrafe umgewandelt.

Als im Mai 1980 ein Volksaufstand gegen die Militärdiktatur in der südwestlich gelegenen Stadt Kwangju vom Militär blutig unterdrückt wurde – offizielle Stellen sprechen von 200, oppositionelle Stimmen indes von 2.000 Toten, galt Kim Dae Jung als Rädelsführer. Auch diesmal bewahrten ihn US-amerikanische Politiker vor größerer Unbill. Insgesamt verbrachte Kim 14 Jahre im Gefängnis und unter Hausarrest. Für die zwischenzeitlich erstarkte außerparlamentarische Widerstandsbewegung war er zur Galionsfigur geworden. Als solche sah er sich legitimiert, auf dem Höhepunkt der Demokratiebewegung 1987 seinen Anspruch auf das höchste Staatsamt anzumelden. Der Schönheitsfehler: Sein Kollegen-Rivale und Amtsvorgänger Kim Young Sam (1993-98) trat ebenfalls an. Lachender Dritter war damals ausgerechnet der Ex-General Roh Tae Woo (Amtszeit von 1988-93), der in Kwangju an der Wiederherstellung von »Ruhe und Ordnung« beteiligt war und deshalb sowie wegen Korruption im Sommer 1996 zur lebenslangen Haft verurteilt wurde.

Nachdem gar Kim Young Sam 1993 als Regierungschef ins »Blaue Haus« eingezogen war, verabschiedete sich Kim Dae Jung schmollend von der »offiziellen« Politik. Doch bereits im Sommer 1994 gefragt, ob es ihn nicht gelüste, in die Arena der »großen« Politik zurückzukehren, antwortete er mit einem knappen „Nur wenn sich die Politik des Präsidenten (Kim Young Sams; R.W.) als schlecht erweist.« Es war dann lediglich eine Frage der Zeit, sein politisches Comeback vorzubereiten.

Und das organisierte der Ex-Oppositionelle professionell und er hatte das Geschäft politischen Taktierens und Lavierens zwischenzeitlich meisterhaft gelernt. Von den Militärdiktatoren – zu Unrecht – als kommunistenfreundlich und unwägbarer Geselle gescholten, nutzte er in Verfolgung seiner eigenen Ambitionen skrupellos deren Erbe. Da übernahm er nicht nur den Vorsitz einer Organisation zum Gedenken an den Ex-Diktator Park Chung Hee, er verbündete sich auch mit dem südkoreanischen Fossil des Kalten Krieges par excellence, mit Kim Jong Pil. Dieser Kim hat nicht nur in all den Jahren der Militärdiktatur den Herrschenden als Korsettstange gedient, er hat auch den wegen notorischer Menschenrechtsverletzungen im In- wie Ausland heftig attackierten KCIA – den koreanischen CIA und Vorläufer der jetzigen Agency for National Security Planning (ANSP) – aus der Taufe gehoben und als deren erster Chef fungiert. Ausgerechnet dieser Kim Jong Pil hat denn auch Kim Dae Jung im Dezember 1997 aus dem konservativen, rechten Lager die für dessen knappen Sieg (40,27 gegenüber 38,74 Prozent) entscheidenden Stimmen zugeführt.

Mit dem Friedensnobelpreises erhält Kim Dae Jung am 10. Dezember eine der größten internationalen Ehrungen. Verwunderlich ist nur, dass das Osloer Komitee entgegen seiner Usancen, beide Parteien im Prozess einer Friedens- oder Entspannungspolitik zu würdigen und auszuzeichnen, wie beispielsweise in den Fällen Vietnam/USA, Israel/Palästina und Südafrika, im Jahr 2000 von dieser Praxis abweicht. Auch auf der koreanischen Halbinsel hat die Entspannung und Annäherung zwei Väter und der diesmal leer ausgehende war immerhin Mitte Juni Gastgeber des ersten gemeinsamen, wahrlich historischen Gipfels in Pjöngjang.

Rainer Werning

Dr. Rainer Werning war von 1986 bis 1995 Herausgeber und Chefredakteur des »Korea Forum« (Asienhaus/Essen). Er hat Süd- und Nordkorea seit 1970 mehrfach bereist.