Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit

Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit

Kunst und Kultur in der sudanesischen Revolution

von Christina Hartmann

Die im Dezember 2018 gestarteten Proteste der sudanesischen Bevölkerung gegen das seit 30 Jahren herrschende Regime von Präsident Baschir führten im April zu dessen Sturz. Am 17. August 2019 einigten sich Militär und zivile Revolutionsführer*innen schließlich auf die Einsetzung einer Übergangsregierung, bis freie Wahlen abgehalten werden. Ziel dieses Artikels ist es zu zeigen, wie künstlerische Widerstandsformen und Symbole der Friedfertigkeit in der Revolution genutzt wurden, den Zusammenhalt der Demonstrant*innen stärkten und letztlich eine Übergangsregierung mit
paritätischer Beteiligung der Opposition erkämpften.

Im Dezember 2018 brachen in Atbara im nördlichen Sudan Proteste aus, die sich auf mehrere Städte ausbreiteten. Zunächst eine spontane Reaktion auf gestiegene Brotpreise und Mangel an Weizen, Benzin und Bargeld, richteten sich die Proteste bald gegen das Regime des seit fast 30 Jahren herrschenden Präsidenten Umar al-Baschir. Versuche der Sicherheitskräfte, die sich mehrenden Demonstrationen mit Tränengas und scharfer Munition zu stoppen, schlugen fehl. Immer mehr Sudanes*innen schlossen sich den Demonstrationen an.

Am 6. April marschierten in der Hauptstadt Khartum mehrere Zehntausend Protestierende zum Hauptquartier der Armee und riefen die Soldaten dazu auf, sich auf die Seite der Demonstrant*innen zu stellen. Die Demonstrierenden blieben vor dem Hauptquartier, bis das Militär schließlich am 11. April Präsident Baschir entmachtete und selbst die Herrschaft übernahm. Für die nächsten zwei Monate bildete sich auf den Straßen vor dem Militärhauptquartier ein riesiges Protestcamp, mit dem die Militärführung dazu bewegt werden sollte, die Macht an eine zivile Regierung abzugeben. Nach dem Scheitern der
Verhandlungen ließ das Militär den Platz am 3. Juni gewaltsam räumen. Mehr als hundert Menschen kamen nach Angaben eines sudanesischen Ärztekomitees bei der Räumung ums Leben; weitere wurden vergewaltigt und verletzt. Für die nächsten Wochen wurde das Internet landesweit abgestellt.

Trotz des gewaltsamen Vorgehens des Regimes rief die »Sudanese Professionals Association«, ein Gewerkschaftsdachverband, der maßgeblich an der Organisation der Proteste beteiligt war, für den 30. Juni landesweit friedliche Demonstrationen aus, an denen mehrere Hunderttausend Menschen teilnahmen. Auf internationalen Druck und unter Mediation der Afrikanischen Union sowie Äthiopiens einigten sich Militär und Zivilist*innen am 17. August auf eine Übergangsregierung. Obgleich der weitere Verlauf bis zu den für 2022 vorgesehenen freien Wahlen abzuwarten bleibt, sind der Sturz von Machthaber
Baschir und die zivile Repräsentation im Übergangsrat Erfolge der Demonstrant*innen.

Ziviler Widerstand als Erfolgsmodell

Die Friedensforscherinnen Chenoweth und Stephan (2011) und ihr Team untersuchten über 200 Kampagnen für einen Regimeumbruch. Das Ergebnis: Friedliche, gewaltfreie Kampagnen waren im Untersuchungszeitraum von 1900 bis 2006 doppelt so erfolgreich wie gewaltsame Umsturzversuche. In 53 % der Fälle führten sie zu politischem Wandel. Dabei waren die gewaltfreien Revolutionen nicht nur erfolgreicher, sie waren langfristig auch stabiler als gewaltsame. Eine Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass gewaltfreie Revolutionen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine größere Anzahl Unterstützer*innen aus
breiten Teilen der Gesellschaft gewinnen. Physische und psychische Barrieren sind bei gewaltfreien Aktionen deutlich niedriger als bei gewaltsamen und erlauben so mehr Menschen eine Beteiligung.

Je größer die Anzahl von Unterstützer*innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das öffentliche Leben durch zivilen Ungehorsam beeinträchtigt wird und die Machthaber zum Einlenken gezwungen werden. Je größer der Bevölkerungsanteil, der an den Protesten teilnimmt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich unter diesen Familienangehörige oder Freund*innen der Sicherheitskräfte und Regimevertreter*innen befinden, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für ein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstrierende senkt. Dabei äußert sich Protest
nicht nur durch die Teilnahme an Demonstrationen und Streiks, sondern auch durch Stellungnahmen in sozialen Medien.

Demonstrationen, Proteste, Sit-ins und Streiks

Chenoweth und Stephan (2011) weisen in ihrer Studie darauf hin, dass für den Erfolg eines friedlichen zivilen Widerstands nicht nur eine möglichst große Mobilisierung maßgeblich ist, sondern auch eine angepasste und diversifizierte Strategie. So werden durch Demonstrationen, Sit-ins und Streiks verschiedene Teile des Staates getroffen; außerdem haben sie unterschiedliche Teilnahmeschwellen und damit ein unterschiedliches Mobilisierungspotential; sie sprechen also verschiedene Bevölkerungsschichten an.

Im Sudan wurden mehrere Formen des friedlichen zivilen Ungehorsams angewandt. Von Dezember 2018 bis Anfang April 2019 kam es hauptsächlich zu organisierten Demonstrationen in den großen Städten des Landes sowie in der Hauptstadt Khartum. Obwohl bis April mehrere Dutzend Menschen durch Sicherheitskräfte getötet wurden, blieben die Proteste friedlich. Demonstrierende, die Gebäude verwüsten oder Steine auf Sicherheitskräfte werfen wollten, wurden von den anderen Teilnehmenden zurückgehalten. Die Slogans Tasqut bas“ (Fall einfach!) und „huriya, salama, adala“ (Freiheit,
Frieden, Gerechtigkeit) wurden während der Protestmärsche als Motivationsgesänge gerufen und später von mehreren Künstler*innen musikalisch verarbeitet.1 Auch bei dem Sit-in vor dem Armeehauptquartier, das sich über eine Länge von ca. 3 Kilometer erstreckte, achteten Demonstrierende darauf, den Sicherheitskräften und dem herrschenden Militärrat keinen Anlass zu liefern, die Straßen zu räumen. Protestierende organisierten Eingangskontrollen und nahmen Eintretenden spitze Gegenstände sowie Waffen ab. So sollte Gewalt verhindert werden.

Selbst nach der gewaltsamen Auflösung des Sit-in am 3. Juni blieben die Organisator*innen der Protestbewegung bei ihrer gewaltfreien Strategie. Als Gruppen einer paramilitärischen Einheit kurze Zeit später in der Krisenregion Darfur mehrere Menschen töteten, kam in den sozialen Medien der Hashtag Wir sind alle Darfur“ auf. Durch die Gewalt in der Hauptstadt entstand eine Solidarisierung und Identifikation mit Menschen in anderen Landesteilen, die schon länger staatlicher Gewalt zum Opfer fielen. Zum ersten großen landesweiten Protestmarsch nach Auflösung des Protestcamps
am 30. Juni setzte sich der Hashtag #KeepEyesonSudan durch. Dieser rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, in Zeiten, in denen das Internet im Sudan abgeschaltet war, auf Gewalt gegen Demonstrierende zu achten.

Nachdem der Militärrat Unterstützung durch Saudi-Arabien und die Emirate erhielt, prangerte die Protestbewegung die Regimegewalt an und betonte die eigene Friedfertigkeit, um sich ihrerseits Unterstützung zu sichern. Insgesamt wurde versucht, bei allen Protestformen dem Revolutionsslogan Silmiya“ (Frieden/friedlich) gerecht zu werden und das Konzept der Gewaltfreiheit mit der Identität der Bewegung zu verknüpfen.

Kunst und künstlerischer Widerstand

Kunst und Kultur begleiten gesellschaftlichen Wandel; durch die Ansprache von Emotionen kann das Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Darüber hinaus können durch Kunst und Kultur die Geschehnisse in Richtung gesellschaftlichen Wandels eingeordnet werden (Lee & Lingo 2011). Kunst und Kultur sind eine Mobilisierungsstrategie, die mehr Menschen anspricht als textbasierte Aufrufe zu Demonstrationen und zivilem Ungehorsam. Durch Kunst sowie die Konstruktion einer gemeinsamen Identität und eines Gefühls der Zugehörigkeit kann ein positives emotionales Verhältnis zur Revolution und ihren
Zielen sowie ihren Unterstützer*innen aufgebaut werden. Diese gemeinsame Identität kann selbst auf die Sicherheitskräfte übergehen, mit der Folge, dass diese Hemmungen haben, Gewalt gegen Demonstrierende anzuwenden.

Kunst und Künstler*innen waren treibende Kräfte hinter der Revolution im Sudan. Spielte sich sich die Kunst in der Anfangsphase hauptsächlich in den sozialen Medien ab, so drang sie im Laufe des Sit-in ins Straßenbild vor. Während der Protestmärsche verbreiteten sich vor allem Symbole des friedlichen Widerstands. Neben politischen Cartoons bekannter Künstler, wie Khalid Elbeih oder Boushra, die Humor als verbindendes Element einsetzten, wurden auch Bilder neuer digitaler Künstler*innen online geteilt.

In den sozialen Medien verbreiteten sich insbesondere solche Bilder, die den sozialen Zusammenhalt der Protestgemeinschaft widerspiegeln und beispielsweise die gegenseitige Unterstützung der Demonstrant*innen zeigen. Sogar die Flagge des Sudan war Gegenstand der digitalen Kunst. Mehrere Künstler*innen animierten das Foto eines Demonstranten, der auf einem Pick-up liegend von Sicherheitskräften abtransportiert wurde und dabei weiter die sudanesische Flagge hochhielt. Der Slogan Tasqut bas“ wurde vielfach künstlerisch in den Alltag eingebaut, und entsprechende Bilder wurden in
den sozialen Netzwerken geteilt. So wurde der Slogan aus Steinen gelegt, auf Hochzeiten mit Gewürzen auf Speisen des Buffets geschrieben oder aus leeren Tränengasdosen und Patronenhülsen gestaltet, womit gleichzeitig eine friedliche Umdeutung der Gewaltinstrumente stattfand. Tränengasdosen wurden zu Blumenvasen oder Stifthaltern umfunktioniert, während aus gefeuerter Munition Ringe gebastelt wurden. Mit der Verbreitung solcher Fotos in sozialen Medien wurde die Notwendigkeit eines friedlichen Vorgehens bei den folgenden Demonstrationen beworben.

Auf dem Sit-in wurde Kunst ins öffentliche Straßenbild gebracht, wobei ebenfalls auf friedliche Symbole geachtet wurde, etwa in einer Wandmalerei, in der Projektile von Bäumen abgefangen, also im Bild unschädlich gemacht wurden. Ebenfalls wurden Zukunftsvorstellungen dargestellt. Wandgemälde bildeten viele Frauen ab sowie Angehörige ethnischer Minderheiten, insbesondere afrikanischer, die bisher unter der ethnisch arabischen Regimeführung unterdrückt wurden. Dies beförderte ein Gemeinschaftsgefühl und verstärkte das Bild eines vereinten Sudan, der sich friedlich gegen das Regime wehrt.

Neuinterpretation des Märtyrerbegriffs

Wie im »Arabischen Frühling« fand auch im Sudan eine Umdeutung des Märtyrerbegriffs statt, weg vom Religiösen hin zum Sich-opfern für den Umbruch und die Gesellschaft. Das alte Regime verlor die Deutungshoheit darüber, wer als Märtyrer angesehen wird, an die Protestbewegung. Der Märtyrer gilt nicht mehr als Held, der sich für eine Ideologie opfert, sondern als unnötiges Opfer staatlicher Gewalt (Buckner und Khatib 2014). Märtyrerportraits und ihre Geschichten werden zur weiteren Mobilisierung verwendet. Dabei ist besonders wichtig, dass die Märtyrer gewöhnliche Menschen repräsentieren.
Durch die (mehr oder weniger) zufällige Gewalt des Regimes und die Tatsache, dass auch andere Demonstrierende in der Rolle eines Märtyrers hätten enden können, wird erneut das Gemeinschaftsgefühl gestärkt.

Die künstlerische Darstellung und das Porträtieren von Opfern der Gewalt der Sicherheitskräfte fand im Sudan im öffentlichen Raum ebenso wie in den sozialen Medien statt. Die einen tauschten in den sozialen Netzwerken ihr Profilbild gegen das Portrait eines »Märtyrers« aus; die anderen zeichneten die Gesichter von Opfern auf Wände des Sit-in-Geländes. Ein Statement wurde über die Landesgrenzen bekannt: Freund*innen und Familienangehörige von Mohamed Mattar, der während der gewaltsamen Auflösung des Protestcamps am 3. Juni von einer paramilitärischen Einheit erschossen wurde, färbten ihr
Profilbild in dessen Lieblingsfarbe blau. Mehrere Millionen Nutzer*innen sozialer Medien taten es ihnen weltweit gleich (#BlueForSudan). So wurde mit einem einfachen Symbol – der Farbe blau – Solidarität und Einigkeit ausgedrückt. Die internationale Unterstützung, selbst wenn diese nicht immer politisch war, motivierte viele Mitglieder der Protestbewegung, erneut auf die Straßen zu gehen.

Eine andere Variante der Verehrung von im Protest Getöteten durch die Bewegung ist die Einbeziehung der Familien von »Märtyrern«, vor allem ihrer Mütter. Regelmäßig wurde bei Demonstrationen oder dem Sit-in gefilmt, wie die Mütter der »Märtyrer« die Menge dazu aufriefen, nicht auf die Gewalt der Sicherheitskräfte einzugehen, sondern friedlich zu bleiben. Mit dem Slogan „Die Mutter des Märtyrers ist auch meine Mutter“ solidarisierten sich die Demonstrierenden wiederum mit den Verstorbenen und stifteten ein Zusammengehörigkeitsgefühl.

Die genannten Beispiele zeigen, wie sich die Protestbewegung im Sudan selbst verstand und versteht: als friedliche und gewaltfreie Bewegung, als Gegenbild zum Regime, das gestürzt werden sollte. Durch friedlichen Widerstand erreichte die sudanesische Protestbewegung mit der Einigung auf eine Übergangsregierung einen vorläufigen Teilerfolg. Ob der Sudan die These von Chenoweth und Stephan stützt, nach der ein friedlicher Widerstand längerfristig die Ziele der Protestierenden erreicht, bleibt abzuwarten.

Anmerkung

1) Beispielsweise NasJota feat. Mista D. »Tasgot Bas«, Voice of Sudan »System must fall«, Ahmed Amin »madania, huriya, salama«.

Literatur

Chenoweth, E.; Stephan, M. (2011): Why Civil Resistance Works. New York: Columbia University Press.

Buckner, E.; Khatib, L. (2014): The Martyrs’ Revolution – The Role of Martyrs in the Arab Spring. British Journal of Middle Eastern Studies, Vol. 41, Nr. 4, S. 368-384.

Lee, C.W.; Long Lingo, E. (2011): The “Got Art?” paradox – Questioning the value of art in col­lective action. Poetics, Vol. 39, S. 316-335.

Christina Hartmann ist Promotionsstudentin im Fach Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Die Schönheit der Bombe

Die Schönheit der Bombe

Zur Ästhetik im nuklearen Diskurs

von Aicha Kheinette

Kann eine Massenvernichtungswaffe ästhetisch sein? Kann ein Atompilz sexy wirken? Können nukleare Sprengköpfe romantische Gefühle auslösen? Die Atombombe steht für Tod und Zerstörung und wurde doch zu einem Faszinosum der Moderne. Ihre Ästhetik umfasst apokalyptische Bilder, ikonische Symbole sowie sexuelle Metaphern und ist geprägt von ambivalenten Gefühlen – bis heute, denn die Atombombe ist kein Relikt des Kalten Kriegs, sondern brandaktuell.

Die Atombombe wurde in der Kunst schon gedacht, bevor Otto Hahn und Lise Meitner im Jahr 1938 die Kernspaltung entdeckten. Den Begriff prägte H.G. Wells 1914 in »The World Set Free« (dt. »Befreite Welt«); dieser Science-Fiction-Roman knüpft an eine lange Geschichte menschlicher Faszination für die Ästhetik apokalyptischer Szenarien an. In der Kunst und Unterhaltungsbranche finden sich unzählige Beispiele dafür. 1945 wurde die Atombombe zur Realität. Mit dem »Trinity«-Test in New Mexico im Juli und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki im August
begann endgültig das Atomzeitalter.

Seitdem sorgt »die Bombe« für große Emotionen. Während sich die meisten Menschen vor einem Atomkrieg und der Zerstörung von ganzen Regionen oder gar der ganzen Welt fürchten, wird die Atombombe auch als Symbol für Macht und die Moderne gefeiert. Zwischen Schrecken und Faszination ergeben sich dabei ganz unterschiedliche Bilder – auch ästhetische, auch schöne. Erste Beobachter*innen beschrieben poetisch, ihre Explosion strahle wie tausend Sonnen, und der Atompilz wurde in den Werken großer Künstler*innen zu einem Motiv. Unter den frühen Beispielen finden sich »Die drei Sphinxe von
Bikini« (Salvador Dali, 1947), »Atom Burst« (Roy Lichtenstein, 1965) und »Atomic Bomb« (Andy Warhol, 1965). Die Ästhetik der Atombombe ist jedoch umstritten. Darf denn ihre Explosion schön sein? Vielleicht „furchtbar schön“ (Dax 2005)?

Es ist kaum vorstellbar, dass Bilder der nuklearen Explosionen von ihrer Zerstörungskraft, dem Tod und Schrecken, den sie über Hiroshima und Nagasaki brachten, getrennt werden können. Auch die unzähligen Detonationen zu Testzwecken weltweit bringen irreparable Schäden für Mensch und Umwelt mit sich; die Atomprogramme verschlingen immense Ressourcen. Nichtsdestotrotz finden sich positiv konnotierte Darstellungen der Bombe. Woher rührt diese Ambivalenz?

Im Krieg herrscht keine ästhetische Abstinenz. Die Ästhetik des Kriegerischen ist sogar ein integraler Bestandteil militärischer Institutionen und zeigt sich in Waffen, Uniformen oder Militärparaden. Waffen dienen dabei als Symbol für Macht oder Tapferkeit – dies gilt letztlich auch für Atomwaffen. Ihre symbolische Wirkung ist ein integraler Bestandteil ihrer Existenz.

Nuke Pop – Die Antwort der Populärkultur

Seit Beginn des Atomzeitalters werden Atombomben nicht immer auf die gleiche Weise perzipiert. Ihre Ästhetik ist abhängig von Zeit und Raum, und so fließen ganz unterschiedliche Bilder in ihre Symbolik ein. In den 1950er und 1960er Jahren, zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Kuba­krise, entwickelte sich in den USA ein regelrechter Hype um die Atomwaffe, die als Symbol der Moderne und des technischen Fortschritts gefeiert und als »Geschenk des Himmels« verehrt wurde. Sie wurde sogar zur Vermarktung eingesetzt: Spielzeug, Partys, Getränke, Miss-Wahlen – alles ließ sich
mit Atompilzen und Atombomben bewerben (vgl. Paul 2016, S. 251). Im Überschneidungsbereich von Militär- und Populärkultur entstand der »nuke pop«.

Die Atombombe scheint in der US-Populärkultur der 1950er Jahre eine ähnliche Anziehungskraft zu haben wie beispielsweise Raumschiffe für die Neue Deutsche Welle der 1980er. In zahlreichen Musikhits, Comics oder Filmen wurde sie zu einem zentralen Motiv ihrer Epoche. Atomenergie – die zivile Nutzung der Kernkraft – wurde dabei weitestgehend außer Acht gelassen. Ihr fehlte die nötige Dramatik, welche sich im Kontext der Atomwaffen in der Sinnlichkeit ihrer Explosion und in apokalyptischen Bildern der Zerstörung manifestiert.

Besonders populär wurden Bilder von Atompilzen, die sich, auf ganz unterschiedliche Weise dargestellt, zum Symbol für das Atomzeitalter und zur Ikone des Kalten Kriegs entwickelten. »Mushroom clouds«, die bei den Atombombentests in der Wüste Nevadas in den Himmel schossen, wurden wie ein Naturspektakel aus vermeintlich sicherer Entfernung verfolgt. Über radioaktive Strahlung machte man sich bei den regelmäßig veranstalteten Familien-Picknicks und Paraden keine Sorgen – man staunte.

Ästhetisierung in Populär- und Militärkultur

Doch der ästhetischen Wahrnehmung der Bombe wurde auch nachgeholfen. Objekte, die per se nicht als ästhetisches Objekt gesehen werden, können durch Kontextualisierung zu einem solchen werden. Die Ästhetisierung von Atombomben und »mushroom clouds« in der US-amerikanischen Populärkultur (und ihren Einzugsgebieten) fand auf ganz unterschiedliche Weise statt – immer wieder auch mit Hilfe des weiblichen Körpers und sexualisierender Metaphern und Bilder.

In Las Vegas wurden in den 1950er Jahren atomare Schönheitsköniginnen mit dem Titel »Miss Big Bang« oder »Miss A-Bomb« gekürt und in Atompilz-Bikinis abgelichtet. Auch in der Popmusik wurde die Explosivität der Bombe zu einem Sinnbild für Sexappeal. In ihrem Hit »Fujiyama Mama« sang Wanda Jackson Ende der 1950er Jahre: „I’ve been to Nagasaki, Hiroshima too / The things I did to them baby, I can do to you.“ 1 Auch in Songs von Bill Haley, Doris Day oder Fay Simmons werden Atomwaffen metaphorisch mit Sexualität verknüpft (Stöver
2017, S. 483).

Die Akzentuierung der Anziehungskraft von Waffen durch weiblichen Sexappeal zeigt sich besonders deutlich in den Pin-up-Bildern, die unter anderem auf Militärflugzeugen oder Bomben zu finden waren. Die ursprünglich im Militär verbreiteten Zeichnungen und Fotografien wurden zu einem Teil der Populärkultur und machten die Kombination von Waffen und teilweise pornographisch inszenierten Frauenkörpern salonfähig. In zahlreichen Formen und Farben, auf Stickern, Plakaten oder Tätowierungen finden sich Pin-up-Girls, die auf herabfliegenden Atombomben reiten. Als »Bomb Babes«, »Bomb Girls« oder
»Atom Bomb Baby« sitzen die Figuren auf Bomben, deren ohnehin phallische Form teilweise durch zeichnerische Ergänzungen noch hervorgehoben wird.

Auch in der Sprache werden diese Bilder aufgegriffen. Carol Cohn zeigte in den 1980er Jahren eindrucksvoll, dass der nukleare Diskurs unter US-Verteidigungsstrategen von radikaler sprachlicher Ästhetisierung geprägt war. Besonders auffällig sind jedoch auch hier die zahlreichen sexuellen Anspielungen und Metaphern. Die Rede ist von Streicheln, Penetration, orgastischen Stößen oder „Mehr Bums fürs Geld“. Die vielfältigen und meist männlichen Namen der Bomben und immer wiederkehrende Geburtsmetaphern suggerieren eine emotionale Bindung zu den Atomwaffen. Durch liebevolle und
häusliche Umschreibungen werden sie domestiziert und zu ungefährlichen Alltagsobjekten. Die Sprache der Verteidigungsstrategen ist leichtfüßig und soll Spaß machen. Durch ein technokratisches Vokabular, starke Abstraktion und Euphemisierung wird erreicht, dass Bilder des Schreckens fast völlig ausgeblendet werden können. So wird es möglich „das Undenkbare zu denken“ (Cohn 1987, S. 715).

Kontranarrative

Während der Atompilz in den USA bereits sehr früh zu einer Ikone wurde, war die öffentliche Darstellung von Atombombendetonationen in der Sowjetunion lange tabu (Renner 2016, S. 215). Die sowjetische Propaganda beschränkte sich auf das Narrativ eines atomaren Friedensprojektes2 – ein bewusstes Kontranarrativ, das sich auch in einer eigenen Ästhetik widerspiegelte. Bis zum Ende der 1970er Jahre spielte der Atompilz als Symbol keine Rolle und wurde nicht einmal zu Zwecken der Stigmatisierung der Atombombeneinsätze durch die USA verwendet (Renner
2016, S. 216). Die US-amerikanische Begeisterung über seine Schönheit wurde von sowjetischer Seite als „Perversion kapitalistischer Kriegstreiber“ angeprangert (Renner 2016, S. 235).

In Europa überwog indessen die Angst. Der Atompilz stand von Beginn an für die atomare Bedrohung und fand so als Symbol Einsatz in der Kunst, Publizistik und auf politischen Plakaten. Die Positivkonnotation der Atompilze in den USA wird vor allem mit der Entfernung zur Realität erklärt: Anders als in Europa, wo Atompilze als Symbol einer realen und an der Nahtstelle der Machtblöcke des Kalten Krieges örtlich nahen Bedrohung galten und mit den jüngsten Erfahrungen der Bombenkriege assoziiert wurden, bildeten sie in der US-amerikanischen Populärkultur eine fiktive Bedrohung ab (Paul 2006, S.
254-258).

Natürlich war man sich auch in den USA der Gefahr bewusst. Robert J. Oppenheimer, der als Vater der Atombombe in die Geschichte einging und selbst zwischen Forschungswillen und moralischen Skrupeln zerrissen wurde“ (Stöver 2017, S. 464), zitierte beim Anblick der ersten Atombombendetonation eine Stelle aus der hinduistischen Schrift Bhagavad Gita: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welt.“ (vgl. Rosenthal 1991, S. 73) Dies ist eine dramatische Erkenntnis, die doch von weit verbreiteter Faszination begleitet wurde.

Woher rührt die Begeisterung? Eine Erklärung findet sich im US-amerikanischen Narrativ, die Atombombe habe den Zweiten Weltkrieg beendet und Tausenden US-Soldaten das Leben gerettet (Rosenthal 1991, S. 76). Auch die eigene, nationale Vormachtstellung wird als Erklärung für den US-amerikanischen Enthusiasmus herangezogen (Rosenthal 1991, S. 82). Für eine Weile besaßen nur die USA die neue Wunderwaffe und damit eine hegemoniale Machtstellung im internationalen System. Alle anderen Großmächte eiferten ihnen nach. Zudem wurden die Bilder aus Hiroshima und Nagasaki (die Realität) zunächst vor
der Öffentlichkeit zurückgehalten, sodass sich sprachlich ein positiv konnotiertes Bild entwickeln konnte (Paul 2006, S. 249). Das Bild der Bombe, symbolisiert durch spektakuläre Atompilze, blieb zunächst losgelöst von ihrem eigentlichen Schrecken.

Im Jahr 1963, kurz nach der Kubakrise, in der die Welt für ein paar Tage am Rande eines Atomkriegs stand, verschwand der Atompilz-Tourismus in Las Vegas. Mit einem internationalen Vertrag wurde das Ende der oberirdischen Atomwaffentests beschlossen, und die Bilder der Atompilze wurden Geschichte – nicht aber ihre Bedeutung und die Bomben selbst. Weltweit entstanden Kampagnen für nukleare Abrüstung. Das heute als Peacezeichen bekannte Symbol wurde bereits 1958 im Rahmen der britischen Campaign for Nuclear Disarmament gestaltet und steht bis heute für die internationale Friedens- und
Abrüstungsbewegung. Auch in den USA entwickelten sich breite gesellschaftliche Protestbewegungen, die auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in beeindruckender Größe auftraten – bis zu eine Million Menschen versammelten sich. Der Atompilz symbolisierte nicht mehr allein Macht und Moderne, sondern die nahende Bedrohung durch einen Atomkrieg.

Zunehmend wurde die Anti-Atomkraft-Bewegung durch ein ökologisches Bewusstsein geprägt, und mit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 rückt die Atomenergie vollends in den Fokus der Proteste. Nach dem Ende des Kalten Krieges verliert das Symbol Atompilz auch in Europa an unmittelbarer Bedrohung und wird bildnerisch umgewandelt. Auf politischen Plakaten erwuchsen aus dem Atompilz Bäume oder Blätter – an die Stelle von Zerstörungskraft wurde Lebenskraft gesetzt (Abb. 1). Dem Atompilz als Zeichen für das Böse stellte man hoffnungsvoll das Gute entgegen (Paul 2006, S. 7).

Nukleare Ästhetik und der politische Diskurs

Was die Betrachtung nuklearer Ästhetik freilegt, ist eine enorme Fülle verschiedenartiger Bilder, die in die Wahrnehmung der Atombombe einfließen. Es finden sich sowohl positive Konnotationen als auch starke Kontranarrative. Die Macht der Bilder ist dabei nicht zu unterschätzen. Ob visuell oder sprachlich, sie beeinflussen unser Denken, unsere Emotionen und Ideen. Nukleare Ästhetik geht deshalb über die Kunst und Populärkultur hinaus. Sie betrifft auch das Politische.

Im rund 45 Jahre andauernden Kalten Krieg schwankte man zwischen „Normalitätsgefühl und Krisenbewusstsein“ (Stöver 2017, S. 483), und der sinnliche Atompilz wurde zur ambivalenten Ikone des Atomzeitalters. Dem ikonischen Symbol wird auch eine abschreckende Wirkung zugesprochen: Es stellt die sinnlich wahrnehmbare Zerstörungskraft der Atombombe ins Zentrum – eine Sinnlichkeit und Symbolkraft, die anderen Waffen (vielleicht auch in Zukunft) fehlt. „Der Atompilz ist ein komplexes Symbol, aber kein subtiles.“ (Rosenthal 1991, S. 89)

Im nuklearen Diskurs bilden Ästhetisierung und Verharmlosung zentrale Mechanismen. Dabei sind Sprache und Bildsprache oft geprägt von heterosexueller militärischer Männlichkeit, die in den militärischen Institutionen betont und gefördert wird. Neben phallischer Symbolik wird dazu auch der weibliche Körper eingesetzt. Die gesichtslose Maschinerie wird animiert, der Umgang mit Waffen romantisiert oder durch andere Bilder ersetzt. Was hinter technokratischer oder metaphorischer Sprache und sexualisierten Bildern verborgen bleiben soll, ist die Grausamkeit der Atombombe: Bilder und Berichte aus
Hiroshima und Nagasaki, die Schäden für Menschen und ihre Umwelt.

Die Dominanz militärischer Männlichkeit hat zudem Auswirkungen auf den Diskurs. Gedanken über humanitäre oder ökologische Auswirkungen wurden insbesondere im Militär und auf politischer Ebene als »unmännlich« und dadurch als unvernünftig und unrealistisch dargestellt. Damit wurde der Diskurs beschnitten, und Macht, Stärke und Dominanz schienen die letztlich gültigen Kategorien darzustellen (Cohn 1993).

Bis heute stehen den breiten Protestbewegungen und den Nichtatomwaffenstaaten Regierungen entgegen, die ihre atomare Macht verteidigen. Die Anzahl der Atommächte wächst stetig (wenn auch langsam), und das internationale Abrüstungsregime gerät immer wieder in Krisen. Nach wie vor wird die Atombombe als Sicherheitsgarant und friedensschaffende Kraft inszeniert, und Abrüstungsforderungen werden als politischer Eskapismus abgetan. Die »Liebe zur Bombe« ist keine historische Erzählung; ein umfassender Diskurs ist nötig.

Anmerkungen

1) Tatsächlich landet sie damit zunächst nur außerhalb der USA einen Erfolg. Die Thematisierung von Sexualität ist in der US-amerikanischen Öffentlichkeit der 1950er Jahre den Männern vorbehalten.

2) Atomkraft als Friedensprojekt (»Atoms for ­Peace«) wurde bereits 1953 von US-Seite in einer Rede Eisenhowers vor den Vereinten ­Nation propagiert (Stöver 2017, S. 485).

Literatur

Cohn, C. (1987): Sex and Death in the Rational World of Defense Intellectuals. Signs – Journal of Women in Culture and Society, Vol. 12, No. 4, S. 687-718.

Cohn, C. (1993): Wars, Wimps, and Women – Talking Gender and Thinking War. In: Cooke M.; Woollacott, A. (eds.): Gendering War Talk. Princeton: Princeton University Press, S. 228-246.

Dax, M. (2005): „Furchtbare Schönheit der ­Bombe“. Welt am Sonntag, 24.7.2015.

Paul, G. (2006): Visual History – Ein Studienbuch. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

Renner, A. (2016): Globale Ikone des Kalten Kriegs? Der Atompilz und die sowjetische ­Nuklearkultur. OSTEUROPA, Vol. 66, Nr. 6-7, S. 215–236.

Rosenthal, P. (1991): The Nuclear Mushroom Cloud as Cultural Image. American Literary History, Vol. 3, Nr. 1, S. 63-92.

Stöver, B. (2017): Geschichte der USA – von der ersten Kolonie bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck.

Aicha Kheinette studierte Internationale Beziehungen in Dresden und lebt in Berlin. In ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit feministischen Perspektiven auf die Atombombe.

Politik und Ästhetik

Politik und Ästhetik

von Tim Bausch

In jeder guten Redaktion gibt es trotz eines gemeinsamen Wertekanons unterschiedliche Interessen. Die Redaktion von W&F ist hier keine Ausnahme. Nur durch eine Pluralität an Meinungen kann es gelingen, das thematisch breite Spektrum der Friedensforschung und der Friedenspolitik möglichst adäquat abzudecken. Kulturwissenschaftliche Aspekte kommen in diesem Bereich jedoch eher am Rande vor. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Thema unserer Ausgabe 4-2019, »Ästhetik im Konflikt«, anfangs von Skepsis begleitet wurde. Würden sich auf unseren »Call for Papers« genügend Autor*innen
finden, die das Heft mit ihren Gedanken bereichern? Und würde es jenen Autor*innen gelingen, den ästhetischen Raum hinsichtlich seiner politischen Implikationen ausreichend zu vermessen?

Weit mehr als dreißig Artikelvorschläge ließen die anfänglichen Zweifel verschwinden, und es fiel der Redaktion schwer, aus dieser Fülle auszuwählen. Vielleicht lässt sich an dieser starken Resonanz ein neuer Trend, ein neu erwachendes Interesse an kulturwissenschaftlichen Zugängen erkennen.

Die Autor*innen des vorliegenden Heftes wandten sich den Fragen unseres Calls auf ganz unterschiedlicher Weise zu. Zunächst widmen sich Christine Andrä und Berit Bliesemann de Guevara so genannten »Konflikttextilien« und diskutieren deren Nutzen für Fragestellungen der Friedensforschung und Friedensarbeit. Claudia Maya und Stefan Peters legen in ihrem Beitrag dar, wie das Medium Fotografie als Anwalt für den Frieden fungieren kann. Christina Hartmann erläutert, wie künstlerische Widerstandsformen und Symbole der Friedfertigkeit in der sudanesischen Revolution genutzt wurden. Aicha Kheinette
rekonstruiert in ihrer Analyse den vermeintlichen »Sex-Appeal« der Atombombe und zeigt auf, wie eben diese sexualisierte Ästhetik zur Verharmlosung des Schreckens führt. Ich selbst mache in einer szenischen Darstellung von Hauszerstörungen im Westjordanland sichtbar, welche Rolle der Ästhetik im Spannungsverhältnis von Herrschaft und Widerstand zukommt. Michaela Zöhrer thematisiert die Wirkmächtigkeit von Friedensbildern und legt dabei einen Schwerpunkt auf ethische Begleitfragen. Maximiliane Jäger-Gogoll befasst sich mit Erinnerungskultur und beschreibt, wie die Auseinandersetzung mit
Kriegsdenkmälern auf kritisch-ästhetische Weise gelingen kann. Michael Jenewein arbeitet am Beispiel einer Werbekampagne der Bundeswehr heraus, wie Kriegserfahrungen als Individualisierungsprozess ästhetisiert werden. Dieter Senghaas wiederum verdeutlicht das friedenspolitische Potential klassischer Musik.

Bei aller thematischen Breite eint die Beiträge, dass im Kern die Suche nach den politischen Implikationen des Ästhetischen steht. Der Nexus politisch/ästhetisch wird hier verstanden als etwas, das gesellschaftliche Wirklichkeit prägt oder zumindest in Frage stellt. Dabei wird der Diskurs rund um das Ästhetische von einer gewissen intellektuellen Abstraktion getragen. Umso bemerkenswerter erscheint eine weitere Gemeinsamkeit der Beiträge: Allesamt entwickeln sie ihre Argumentation anhand konkreter Fallbeispiele und weisen dadurch eine empirische Bodenhaftung auf, die in weiterer Konsequenz
die politische Faktizität des Ästhetischen offenbart.

Weiterhin wird deutlich: Ästhetisch ist nicht das Schöne und Erhabene, vielmehr ist Ästhetik ein Modus des Empfindens. Etwas ist dann ästhetisch, wenn es unsere Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprozesse prägt. Ästhetik kann emanzipieren (siehe z.B. Bausch und Andrä/Bliesemann de Guevara) oder disziplinieren (Kheinette und Jenewein). Im konzeptionellen Kern ist Ästhetik, wie hier deutlich wird, Form und Wirkung, Darstellung und soziale Folge zugleich. Aus einer kritisch-emanzipatorischen Perspektive gilt dann zu fragen: Wem dient die Welt, die hier erzeugt wird?

Im gegenwärtigen politischen Diskurs sind allerlei ästhetische Szenarien auszumachen, etwa dann, wenn Emmanuel Macron und Donald Trump vor dem Weißen Haus eine Eiche pflanzen, wenn sich Kim Jong-un auf einem weißen Ross ablichten lässt, wenn Greta Thunberg mit einem Segelboot in die stürmische See sticht oder wenn Protestierende in Hong Kong vor einem übermächtigen Gegner bunte Regenschirme aufspannen. Ästhetik, wird dabei deutlich, ist eine Form der Theatralik und der Inszenierung. Entsprechend muss jede Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen mit einer herrschaftskritischen Perspektive
einhergehen. Ästhetik ist im Kern also weniger Romantik denn Politik. Korrespondieren verschiedene ästhetische Szenen miteinander, wird die Wirkkraft des Ästhetischen sichtbar und mündet an ihrem wirkungsvollsten Punkt in die Erzeugung einer anderen Welt. So können ganze Räume ästhetisch umfunktioniert werden. Der Hambacher Forst etwa ist letztendlich mehr als eine Ansammlung von Baumhäusern, sondern vielmehr die ästhetische Verkörperung einer politischen Utopie, welche das Gegenwärtige übersteigt und abseits der Herrschaftspfade sicht- und erfahrbar macht. Gerade durch die besondere
Wirkkraft des Ästhetischen wird die so konstruierte (Erfahrungs-) Welt eindringlich und in weiterer Konsequenz mobilisierend. Ästhetik ist so gesehen eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Ihr Tim Bausch

Die Minga aus den Anden


Die Minga aus den Anden

Praktiken der Partizipation zur Gemeinschaftsbildung

von Kuymi Thayari Tambaco Díaz und Andrea Sempértegui

In diesem Artikel versuchen die Autorinnen, aus eigener Erfahrung und einer ethnographischen, historischen und theoretischen Perspektive1 am konkreten Beispiel der indigenen Kichwa aus Ecuador über die »Minga« als eine Praxis der ständigen Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung zu reflektieren.

Die Minga ist eine Form der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit, die Gemeinschaftsbeziehungen und territoriale Bindungen fördert und in vielen Orten Lateinamerikas praktiziert wird. Dieses »Gemeinschaft schaffen«, das die Minga charakterisiert, hat unserer Ansicht nach großes Potenzial, um den Begriff der »Partizipation« aus einer Perspektive neu zu denken, die über die sowohl in der liberalen als auch in der radikalen demokratischen Tradition vertretene Perspektive hinausgeht, in der Partizipation auf die formale Praxis der Einbeziehung von Individuen in Entscheidungsprozesse reduziert wird (Habermas 1975; Mouffe 2000). Innerhalb der Minga-Praxis hingegen ist es unmöglich, Partizipation außerhalb von Gemeinschaftsbeziehungen zu denken. Dies macht aus der Minga eine sehr interessante und relevante Alternative für politische Projekte, die darauf abzielen, jenseits des Staates nachhaltige Verbindungen für die Reproduktion des Gemeinsamen zu schaffen.

Im Folgenden wollen wir zunächst darstellen, wie die Minga-Praxis aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa in Ecuador verstanden wird. Anschließend wollen wir zeigen, wie sich diese Praxis in den letzten Jahren verändert hat. Damit wollen wir die Minga als eine lebendige Praxis veranschaulichen, die sich in einer ständigen Transformation befindet und ungeachtet ihres Potentials von kapitalistischen, patriarchalischen und kolonialen Machtlogiken durchdrungen ist. Zum Schluss wollen wir über die Rezeption dieser Praxis innerhalb zeitgenössischer indigener und nicht-indigener politischer Gruppen nachdenken, die die Minga als eine Praxis verstehen, die die Möglichkeit bietet, alternative politische Horizonte der Solidarität, der Demokratie und zum Aufbau von Gemeinschaft zu schaffen.

Die Minga aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa-Gemeinschaften Ecuadors

Die Minga wird in der Anthropologie zumeist entweder als ein System der kooperativen Arbeit in der Andenregion definiert oder als ein Mechanismus zur Unterordnung und Regulierung indigener Gemeinschaften, der sowohl von den Inkas als auch von den spanischen Kolonisatoren und den kreolischen Grundbesitzern genutzt wurde (Faas 2018). In diesem Artikel möchten wir jedoch über diese Praxis aus dem historischen Gedächtnis der Kichwa-Gemeinschaften von Cotacachi, Cayambe und den Bobonaza- und Curaray-Flussgebieten reflektieren. Damit wollen wir die Funktion der Minga als Schöpferin und Fördererin von Gemeinschaftsbeziehungen und territorialen Bindungen betonen.

Im Gedächtnis der Bewohner*innen sowohl der ecuadorianischen Anden als auch des Amazonas waren Mingas immer im Gemeinschaftsleben präsent. Für eine Einwohnerin von Cotacachi bedeutet das Wort »Minga« in Kichwa „lasst uns zusammenarbeiten, lasst uns mit Emotion und Kraft arbeiten“ (Kichwa-Frau aus einer Gemeinschaft von Cotacachi, Quito, 16.2.2019). Für eine Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet ist die Minga eine „Angewohnheit vieler von uns, die Minga existiert seit der Geburt unserer Vorfahren, seit den »Rucus«2 […], als eine Form der gemeinschaftlichen Arbeit“ (Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet, Quito, 21.2.2019). Der Zweck dieser »gemeinsamen Arbeit« ist vielfältig. Es kann zum Beispiel dazu dienen, ein Haus, eine »Chakra«3 oder einen kommunalen Friedhof aufzubauen. In diesem Sinne muss man zwischen individuellen und kommunalen Mingas unterscheiden: Während erstere für den familiären Gebrauch von den Gastgeber*innen organisiert werden, werden letztere von den »Kurakas« und »Varayus«4 für den gemeinsamen Gebrauch organisiert. An dieser beteiligen sich alle Mitglieder der Gemeinschaft, manchmal sogar Jungen und Mädchen ab zehn Jahren.

Aus einer westlichen Sicht kann man die Minga wegen ihres Nutzens als eine Praxis zur Erleichterung des Familien- und Gemeinschaftslebens verstehen, insbesondere in ländlichen Kontexten oder wo der Staat nicht präsent ist und keine Grundversorgungen leistet. Aus der Sicht der Kichwa wird die Minga jedoch nicht nur zur Erzielung des Familien- oder Gemeinschaftsnutzens praktiziert, sondern ist eine Praxis in sich, die Beziehungen, Gemeinschaft und das Zusammenleben schafft. In diesem Sinne ist es wichtig zu erwähnen, dass die Gegenseitigkeit, die in der Minga-Praxis präsent ist, streng auf dem Kichwa-Gemeinschaftsgefühl und der Gemeinschaftspraxis basiert. Damit ist die Minga, insbesondere im Gebiet des Kichwa-Amazonas, an sich nicht »obligatorisch«, sondern wird als eine grundlegende Praxis des »Gemeinschaftslebens« verstanden (Kichwa-Frau aus dem Bobonaza-Flussgebiet, Quito, 21.2.2019).

Laut der Co-Autorin dieses Artikels, Kuymi Tambaco, spiegelt die Minga auch das Leben und die Verwurzelung in einem bestimmten Gebiet wieder: Da die Minga alle Menschen miteinbezieht, die in einem bestimmten Gebiet leben oder dort Land besitzen, erzeugt diese Praxis auch Verwurzelung und territoriale Positionierung. In anderen Worten: Durch ihre Teilnahme an kommunalen Mingas gewinnen die Einwohner*innen einer bestimmten Gemeinschaft ein Zugehörigkeitsgefühl. Im Fall der Kichwa-Einwohner*innen von Cotacachi erzeugt die Minga eine Verwurzelung und territoriale Positionierung ungeachtet der Unterschiede in Herkunft, Ethnizität, Alter oder Geschlecht.

Transformationen der Minga als lebendige Praxis

Ungeachtet der Relevanz der Minga für das Gemeinschaftsleben und für die territoriale Positionierung hat sich diese alltägliche Praxis im Laufe der Zeit stark verändert. Dies ist ein Zeichen dafür, dass keine Praxis statisch ist und außerhalb von dominanten Logiken der Macht, d.h. kapitalistischen, patriarchalischen und kolonialen Logiken, existieren kann, sondern unsere Körper und Territorien auch heute noch durchdringt.

Im ecuadorianischen Amazonasgebiet wird die Transformation der Minga vor allem am erhöhten Alkoholkonsum nach Abschluss der Gemeinschaftsarbeit wahrgenommen. Die Zunahme des Konsums alkoholischer Getränke, wie Bier oder »Puntas«,5 in Kichwa-Gemeinschaften, bedingt durch den größeren Verkehr von Menschen und Produkten aus den Städten, hat die traditionellen Sozialisierungspraktiken der Minga stark verändert. Wie eine Bewohnerin des Curaray-Flussgebiets uns mitgeteilt hat, lädt der Gastgeber oder die Gastgeberin der Minga nach Abschluss der Gemeinschaftsarbeit normalerweise zum Essen und zum Trinken der »Chicha«6 ein. Heutzutage jedoch „essen [die Teilnehmer*innen] und dann trinken sie Chicha und Alkohol bis zum nächsten Tag! Deswegen kommen wir nicht voran […] Das gefällt mir nicht. […] Wir sind mit der Arbeit um 12 Uhr am Tag fertig und dann sind wir bis 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 oder 8 Uhr [am Trinken], anstatt andere Dinge zu tun, nicht wahr?“ (Kichwa-Frau aus dem Curaray-Flussgebiet, Lorocachi, 10.11.2018)

Diese Kritik an der Zunahme des Alkoholkonsums während der Minga wird von den Bewohner*innen der ecuadorianischen Anden geteilt, insbesondere von den Frauen, die den höheren Alkoholkonsum mit dem Anstieg häuslicher Gewalt gegen Frauen verbinden. In der Provinz von Imbabura ist es üblich, dass alle Teilnehmer*innen der Minga, hauptsächlich Männer‚ »Cucabi«7 und alkoholische Getränke mitbringen. Laut einer Gemeinschaftsvertreterin betrinken sich einige Männer bereits während der Minga und arbeiten nicht gut: „Es wäre gut, wenn sie gut während der Mingas arbeiten und sich nicht betrinken würden. Dennoch ist meistens der Fall, dass einige nicht mal die Hälfte der Minga-Arbeit erreicht haben und schon betrunken sind.“ (Kichwa-Frau aus einer Gemeinschaft von Cotacachi, Cotacachi, 16.2.2019) Außerdem kommen vielen Männer am Tag der Minga nicht nach Hause, weil sie zum Trinken bleiben, und wenn sie nach Hause kommen, schlagen sie ihre Partner*innen.

Eine aktuelle Analyse zur indigenen Bevölkerung aus Pasto an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze zeigt, dass die Minga eine Vielfalt unterschiedlicher Menschen miteinbezieht (López 2018). Im Fall einer Gemeinschaft aus Cotacachi ist diese Vielfalt jedoch auch Quelle von Diskriminierung: Obwohl die Anwesenheit von Frauen und Jugendlichen in der Minga nicht völlig geleugnet wird, neigen vor allem erwachsene Männern dazu, den Frauen mit Verweis auf ihre geringere physische Leistungskraft von der Partizipation an der Minga abzuraten. Dies führt zu einer Aberkennung der Arbeit von Jugendlichen und Frauen. Während den Männern die Ganztagsarbeit anerkannt wird, wird die Ganztagsarbeit von Frauen und Jugendlichen als Halbtagsarbeit gewertet, obwohl sie die gleiche Anzahl von Stunden gearbeitet und die gleiche Tätigkeit ausgeübt haben (Feldforschungsnotizen über eine Gemeinschaftsversammlung, Cotacachi, 16.2.2019).

Im Fall der Sierra wurde die Minga außerdem weitgehend von der institutionalisierten Politik übernommen. Die Praxis wird also nicht mehr nur von den Gemeinschaftsbehörden praktiziert, sondern auch von den Bürgermeister*innen in Großstädten, wie Quito, genutzt, um ihre Entwicklungspolitik zu »vermarkten« (Chumpi 2002, S. 17). Diese institutionelle Vereinnahmung, die meistens von einer multikulturellen Interpretation indigener Praktiken ausgeht, ohne jedoch ihre tieferliegenden Bedeutungen zu respektieren, haben die Minga zweifellos transformiert. In ländlichen Gebieten hat beispielsweise die sichtbarere Präsenz des Staates die Praxis der Minga durchgedrungen und sie stärker von klientelistischen und monetären Logiken abhängig gemacht. Im Fall von Cayambe hat die Verfügbarkeit von Geld den gemeinschaftlichen Sinn dieser Praxis verdrängt und die Teilnahme von Einzelpersonen und Familien an der Minga reduziert. In Cotacachi hingegen haben der staatliche Bau von Straßen und Autobahnen und die Veränderungen beim Bau von Häusern, die heute aus Zement sind, die Minga als notwendige Praxis zur Erleichterung des Gemeinschaftslebens ersetzt beziehungsweise obsolet gemacht.

Vor diesem Hintergrund muss die Minga als eine dynamische, transformierende und rekonfigurierbare Praxis verstanden werden, die auch von der Globalisierung, dem Markt und dem Konsum durchgedrungen wird. In einer Gemeinschaft von Cotacachi schlugen daher einige, vor allem junge, Menschen vor, keine Mingas mehr zu organisieren, da diese Praxis einen Rückschritt bedeute und die Modernisierung und den Fortschritt bremse. Anstatt der Minga fordern sie, dass der Staat in den autonomen Kichwa-Gemeinschaften eine größere Präsenz zeigen sollte oder dass Geld gesammelt werden soll, um qualifizierte Arbeitskräfte für die Arbeiten einzustellen, die bislang durch Mingas und im Kollektiv durchgeführt wurden. Diese Szenarien, die das »Städtische« und die moderne »Entwicklung« als Ideal positionieren, sind Zeugnis der Verinnerlichung von Minderwertigkeitsgefühlen und von einem disqualifizierenden Denken gegenüber dem Ländlichen, dem Indigenen und den Kichwa-Praktiken der Vorfahren.

Die Minga als alternativer Horizont für das Verständnis von Partizipation

Das oben Beschriebene ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie sich die Minga innerhalb der Kichwa-Gemeinschaften verändert hat, sondern auch dafür, wie sie von der nicht-indigenen Welt übernommen wurde. Damit ist die Minga nicht mehr nur eine »Kichwa-­Praxis«. Diese Veränderung der Minga fand in einem Kontext statt, in dem die kulturellen Praktiken der indigenen Gemeinschaften in der Andenregion institutionalisiert wurden (Andolina et al. 2005, S. 136), was jedoch oft das politische Transformationspotenzial dieser Praktiken zunichte gemacht hat. Parallel zu diesem Prozess gibt es dennoch einige politische, sowohl indigene als nicht-indigene, Projekte, die versuchen, die Minga in ihrem gemeinschaftlichsten Sinne zu nutzen, um alternative Horizonte der Demokratie, Solidarität und Reproduktion des Gemeinsamen aufzuzeigen.

Ein Beispiel dafür ist, wie die ecuadorianische indigene Bewegung die Minga nutzt, um ihre Kritik am westlichen Konzept der Demokratie, wie es vom modernen Staat praktiziert wird, zu äußern. Sie kritisieren, dass die vom ecuadorianischen Staat geförderte Praxis der Demokratie keine effektive Partizipation der gesamten Bevölkerung ermöglicht, da dieses Demokratieverständnis immer noch von einem individualisierten und rassistischen Partizipationsverständnis »kolonisiert« ist (Chumpi 2002, S. 15). Dieses Verständnis erkennt nicht an, dass der einzige Weg, sich den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Gesellschaft zu stellen, nur darin bestehen kann, eine gemeinschaftliche Vision von Partizipation zu verfolgen. Dieses weitere und gemeinschaftliche Verständnis der Minga zielt nicht nur auf die Notwendigkeit ab, die Idee der Demokratie epistemisch zu transformieren, sondern appelliert an konkrete Praktiken der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit, die von den indigenen Gemeinschaften praktiziert werden, um ein System der sozialen Partizipation aufzubauen.

Die Minga wurde auch von urbanen politischen Gruppen adoptiert, die in dieser konkreten Praxis der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit eine reale gemeinschaftsbasierte Alternative zum Aufbau von Solidarität gefunden haben. In diesem Fall liegt das politische Potenzial der Minga darin, dass die Praxis nur dann Sinn macht, wenn sie mit dem »Ayllu«8 verbunden ist; d.h. wenn sie aus der Gemeinschaft entsteht und für sie praktiziert wird. Dies ist der Fall beim Antibergbau-Kollektiv »Minka Urbana« in Ecuador, das den Begriff der Minga übernommen hat, um zu unterstreichen, dass stärkere Solidaritätsbeziehungen zwischen den ländlichen und urbanen Gebieten aufgebaut werden müssen. Für dieses Kollektiv liegt der einzige Weg, Mega-Bergbauprojekte in Ecuador zu verhindern, darin, die Solidarität der Stadt mit dem Wunsch der ländlichen, bäuerlichen und indigenen Territorien, in Würde zu leben“ zu verbinden (Minka Urbana 2016).

Diese indigenen und nicht-indigenen Beispiele der Minga-Praxis laden uns dazu ein, über die Partizipation als eine kollektive Praxis neu nachzudenken. Die zugrundeliegende Rolle von Beziehungen und »Gemeinschaft schaffen« in der Minga zeigt uns, dass es keine politische Praxis der effektiven Partizipation geben kann, wenn man nicht auch ein aktiver Teil des Kollektivs ist. Auf diese Weise stellt die Praxis der Minga eine wirkliche dekoloniale Alternative zu üblichen Formen der hegemonial praktizierten Partizipation dar, die nach wie vor diejenigen Menschen und Bevölkerungsgruppen, die historisch als »Andere« konstituiert wurden, von politischen Entscheidungsprozessen und Institutionen ausschließt.

Anmerkungen

1) Für den vorliegenden Artikel haben wir historische und theoretische Forschung zur Minga mit unseren Erfahrungen und ethnographischen Erkenntnissen kombiniert. Die Co-Autorin Kuymi Tambaco, die aus einer Kichwa-Gemeinschaft in Cotacachi stammt, nahm aktiv an der Praxis der Minga und einem alltäglichen Austausch mit ihrer Gemeinschaft teil. Beide Autorinnen reflektieren über diese Praxis aus ihren unterschiedlichen ethnographischen Forschungsprojekten: Kuymi Tambaco führte ethnographische Forschung in Cayambe und Cotacachi durch, Andrea Sempértegui in den Kichwa-Amazonasgebieten an den Flüssen Bobonaza und Curaray.

2) »Rucu« ist ein Kichwa-Begriff, der alt oder uralt bedeutet. Der Begriff »Rucus« wird heute in Kichwa und Spanisch verwendet und bezieht sich auf sehr alte Menschen.

3) »Chakra« ist ein Kichwa-Begriff und bezeichnet eine landwirtschaftliche Anbaufläche.

4) »Kurakas« und »Varayus« sind Autoritätspersonen in Kichwa-Gemeinschaften.

5) »Puntas« ist ein Zuckerrohrschnaps.

6) »Chicha« ist ein Maniokbier.

7) »Cucabi« ist ein Kichwa-Wort für Essen, das von der indigenen Bevölkerung der Provinz Imbabura verwendet wird. Der Cucabi ist jedoch nicht irgendein Lebensmittel, sondern ein Lebensmittel, das aus verschiedenen Andenkörnern und Kohlenhydraten besteht. Jede Person, die zur Minga geht, bringt eigenen Cucabi mit und teilt ihn mit den anderen, wenn die Gemeinschaftsarbeit fertig ist (Lema 2007).

8) »Ayllu« ist ein Kichwa-Begriff für Gemeinschaft und Familie.

Literatur

Andolina, R.; Radcliffe, S.; Laurie, N. (2005): Gobernabilidad e Identidad: Indigenidades Transnacionales en Bolivia. In: Dávalos, P. (Hrsg.): Pueblos Indígenas, Estado y Democracia. Buenos Aires: CLACSO, S. 133-170.

Chumpi, M. (2002): Reflexiones Iniciales sobre la Participación Democrática Ciudadana en los Acontecimientos de Enero de 2002 – Encrucijadas y Ambigüedades. In: La Minga de la Democracia Indígena. Instituto para el Desarrollo Social y de las Investigaciones Científicas (INDESIC), YamaiPacha Especial, S. 13-21.

Faas, A.J. (2017). Reciprocity and Vernacular ­Statecraft – Andean Cooperation in Post-disas­ter Highland Ecuador. The Journal of Latin American and Caribbean Anthropology, Vol. 22, Nr. 3, S. 495-513.

Habermas, J. (1975): Legitimation Crisis. Boston: Beacon Press.

Lema, S. (2007): Tumarina y el Maíz. Quito: Universidad San Francisco de Quito.

Lopez Cortes, O. (2018): Significados y representaciones de la minga para el pueblo indígena Pastos de Colombia. Psicoperspectivas, Vol. 17, Nr. 3, S. 1-13.

Minka Urbana (2016): Únete a la Minka Urbana por Territorios Libres de Minería; facebook.com/MinkaUrbana.

Mouffe, C. (2000): On the Political. New York: Routledge.

Kuymi Thayari Tambaco Díaz (M.A. in Lokaler und Territorialer Entwicklung, FLACSO), indigene Kichwa-Frau aus Cotacachi, Ecuador, studiert zurzeit Geschlechter- und Entwicklungsstudien (Master) an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) in Quito. Kuymi, indigene feministische Aktivistin und Mutter eines jugendlichen Sohnes, ist außerdem Dozentin für Kichwa-Sprache an der San Francisco University in Quito und an der Nationalen Bildungsuniversität. Ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf Geschlecht, Klasse, Ethnizität, indigene Jugendliche und Territorium.
Andrea Sempértegui (M.A. Politische Theorie an der J.W. Goethe Universität in Frankfurt a.M.), Mestiza-Frau aus Ecuador, lebt seit 2009 in Deutschland. Zur Zeit ist sie Doktorandin und Lehrbeauftragte am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-­Liebig-Universität Gießen. Sie ist Mitglied des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) und des Forschungsnetzwerks »Queer Studies, Decolonial Feminisms and Cultural Transformations«. Ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf territoriale Kämpfe, Extraktivismus und populäre feministische Bewegungen in Lateinamerika.

Kultur(en) des Friedens

Kultur(en) des Friedens

Tagung des AK Friedenspädagogik der AFK, 15.-17. Oktober 2018, Salzburg

von AFK

Über 150 Personen fanden sich im Oktober 2018 im Bildungszentrum St. Virgil ein, um die Vielfalt der Friedensarbeit kennenzulernen und Impulse für ihre beruflichen und privaten Wirkungsfelder zu erhalten. In der gemeinsam vom Friedensbüro Salzburg, St. Virgil Salzburg, dem Arbeitskreis Friedenspädagogik in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. und der Stille Nacht 2018 GmbH veranstalteten Tagung »Kulturen des Friedens – Harmonie. Spannung. Widerstand« wurden Zugänge und Initiativen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar gemacht und Möglichkeiten der ganzheitlichen Verschränkung und Vernetzung aufgezeigt. Dabei zeigte sich, dass die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Zugängen nicht reibungsfrei verläuft, sondern Dilemmata und Spannungsfelder entstehen lässt. Diese wurden in den Vorträgen, Diskurs­panels und vorgestellten Praxisbeispielen aufgegriffen und konstruktiv thematisiert.

Nach der offiziellen Eröffnung der Tagung durch Martina Berthold und Landeshauptmann Wilfried Haslauer ging Isolde Charim in ihrem Eröffnungsvortrag »Der andere Name des Friedens« der Frage nach, was Frieden im politischen Sinn bedeutet. Frieden, so betonte sie, ist mehr als ein bloßer Zustand des Nicht-Krieges: Frieden ist die Hegung von Konflikten. Diese gehegten Konflikte muss eine Demokratie nicht nur aushalten und in eine politische Form übersetzen können; vielmehr lebt sie von ihnen. In Demokratien, so Isolde Charim weiter, ist Konflikt daher nicht »das Andere« des Friedens, sondern vielmehr dessen Bedingung. Konstruktiver Dissens – und nicht soziale Harmonie – ist ihr Kitt.

Am zweiten Tag umriss die Friedens- und Konfliktforscherin Hanne-Margret Birckenbach die Grundlagen einer friedenslogischen (Europa-) Politik. Wie kann es gelingen, dem Leitbild des Friedens zu folgen, ohne legitime Interessen, wie die eigenen Sicherheit und das eigene Wohlergehen, zu gefährden? Die Antworten darin sieht sie vor allem im gewaltfreien, konstruktiven und dialogischen Umgang mit Problemen. Im Anschluss skizzierte der Friedenspädagoge Werner Wintersteiner den Zusammenhang zwischen Bildung und den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, in die sie eingebettet ist. Er sieht in einer »Kultur des Friedens« die Möglichkeit, diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen klarer herauszuarbeiten. Der dritte Vortrag des Tages wurde von Ingo Bieringer gehalten. Er näherte sich der Frage, wie man mit Ambivalenzen und Spannungen umgehen kann, aus systemischer Sicht.

Anliegen der Tagung war es, verschiedene Standpunkte zum Thema aufzugreifen und in einem Dialog zu vergleichen und zusammenzuführen. Dementsprechend war die Tagung diskursorientiert angelegt: Jeweils drei hochkarätige Referent*innen führten kontroverse, aber konstruktive Diskussionen zu Grundfragen der politischen Bildung, Arbeitspolitik, Medien, Populismus, dem Spannungsfeld zwischen Frieden, Freiheit und Sicherheit und zur Globalen Agenda 2030. Dabei wurde deutlich, dass Frieden kein Nischenthema einer überholten Bewegung ist. Moderne Friedensarbeit muss vielmehr neue Formen der Artikulation und des Aktionismus finden und breit gefächerte Initiativen in ganz unterschiedlichen Bereichen setzen. In den anschließenden praxisorientierten Workshops bot sich für die Teilnehmenden die Möglichkeit, Handwerkzeug für solch eine Friedensarbeit kennenzulernen und bestimmte Themen zu vertiefen.

Der dritte und letzte Tag der Veranstaltung stand ganz im Zeichen der Praxis: Im Rahmen von Good-Practice-Panels wurden jeweils drei Projekte zu einem bestimmten Thema vorgestellt, diskutiert und kritisch verglichen. Im Kern stand die Frage, in welchen Spannungsfeldern sich die Projektverantwortlichen bewegen und wie sie mit diesen konstruktiv umgehen.

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion mit dem Karikaturisten Gerhard Haderer, der Volkskundlerin Elsbeth Wallnöfer und dem Präsidenten der Stille Nacht Gesellschaft, Michael Neureiter. Alle drei sprachen sich für mehr Mut in der Friedensarbeit aus. „Schärft eure Sprache, traut euch mit eurer Arbeit nach außen“, so Wallnöfer. Michael Neureiter fügte hinzu: „Vielleicht finden sich heute andere Wege als die Demonstrationen in den 1980ern“.

In diesem Sinne lieferte die Tagung zahlreiche Impulse und Aktionsformen für ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Bereiche, die eines eint: der unermüdliche Einsatz für den Frieden.

Im Rahmen der Tagung fand auch ein Theoriearbeitskreis des Arbeitskreises Friedenspädagogik der AFK statt, der bereits ein Jahr läuft. Dort wurden folgende Fragen gestellt:

  • Was verstehen wir heute unter Frieden (vertiefende Auseinandersetzung, die in Salzburg begann)?
  • Vertiefung der interdisziplinären Ausein­andersetzung im Kontext der Friedensbildung mit Texten aus der Friedenspädagogik und verwandten Feldern, Friedensforschung, Gewaltforschung, Psychologie, Soziologie, Kriminologie, Globales Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung …
  • Was brauchen die Praktiker*innen an Theorie für ihre konkrete Arbeit, was wäre ihnen hilfreich seitens der Wissenschaft?

Die nächste Jahrestagung findet von 11. bis 13. November 2019 in Hamburg im Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation e.V. (IKM) statt. Thema: »Lernen in der globalisierten Welt – Herausforderungen für die Friedenspädagogik«.

Die Diffusion der Zivilisationen

Die Diffusion der Zivilisationen

von Peter Nitschke

Die Dimensionen und Funktionen von Zivilisationen sind seit dem Bestseller »Kampf der Kulturen« von Samuel P. Huntington (2002) in der internationalen Debatte. Dabei rückt die Bedeutung von Wertvorstellungen in den Blick, insbesondere von denen, die sich scheinbar unverrückbar durch religiöse Werte ergeben. Die einzelnen Zivilisationen ordnen Politik, Staaten und Gesellschaften als Kulturkreise, und zwar in Abgrenzung voneinander. Daraus ergeben sich Konflikte, insbesondere dann, wenn Raumordnungsansprüche mit einer kulturellen Hegemonialvorstellung verbunden werden.

Eine »Zivilisation« ist nach dem Verständnis im angelsächsischen Raum ein Kulturkreis, der aus mehreren Teilkulturen bzw. Kulturen besteht. Dieser kann, muss aber nicht mit einer einzelnen Nation identisch sein. In der Regel ist dies auch nicht der Fall. Im Gegensatz zur deutschen Tradition, die seit Herder und Goethe die Zivilisation als »Kultur« betrachtet, ist im heutigen globalen Verständnis die angelsächsische Interpretationslinie die ausschlaggebende Version. Ein Kulturkreis (= Zivilisation) ist dann so etwas wie eine Hochkultur.

Diese Interpretation geht u.a. auf Oswald Spengler zurück, der im »Untergang des Abendlandes« (1923) die Zivilisationen im Sinne von Hochkulturen als grundlegende Erscheinungsformen quer durch die Epochen der Menschheit stilisiert hat (Spengler 2007). Mehr noch aber hat dann die Interpretation des englischen Historikers und Diplomaten Arnold J. Toynbee in seinem mehrbändigen Werk »A Study of History« (1934-54 u. 1959/61) zur Systematik in der Terminologie beigetragen (vgl. dt. in Auszügen Toynbee 1970), auf die sich dann insbesondere die englischsprachige Forschung nach 1945 in immer neuen Ansätzen stützte. Eine Zivilisation ist demzufolge durch kulturelle Handlungspraktiken gekennzeichnet, die raum- und zeitübergreifend bei Völkern existieren – und zwar in einem nachhaltigen, mitunter sogar über Jahrtausende reichenden Identitätsformat. Toynbee rechnete hierzu vor allem das Christentum, den Islam, die konfuzianische Gesellschaft Chinas und den Hinduismus in Indien.

Huntingtons »Clash of Civilizations«

Auf diese Tradition bezog sich der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington (1927-2008), als er 1993 in der renommierten Fachzeitschrift »Foreign Affairs« einen Aufsatz veröffentlichte, der unter der Überschrift »The Clash of Civilizations?« die Frage nach dem Sinn und den Funktionen von Zivilisationen in den Mittelpunkt der Erörterungen über die Gestaltung der Internationalen Beziehungen rückte. Das war neu; Huntington vollzog damit einen kulturalistischen Paradigmenwechsel für die Lehre von den Internationalen Beziehungen, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Schwierigkeiten hatte, die Lage der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts mit den Chiffren der Nachkriegszeit und der Blockbildung zwischen den Supermächten realistisch zu deuten. Statt weiterhin Ideologien und Ökonomiestrukturen als Kriterien für die Analyse der Beziehungen zwischen den Staaten und den Völkern heranzuziehen, plädierte Huntington für die nahe Zukunft (d.h. für das 21. Jahrhundert) für ein anderes Erkenntnismodell. Bei diesem solle die Kulturfrage im Mittelpunkt stehen, da er das Aufeinanderprallen unterschiedlicher zivilisatorischer Standards und damit unterschiedlicher Kulturkreise als neuen Faktor für das Entstehen von Konflikten verstanden wissen wollte.

Diese paradigmatische Empfehlung in seinem Aufsatz von 1993 rief (auch international) ein derart starkes Echo in der Fachwelt hervor, dass sich Huntington wegen massiver Kritik und Zustimmung veranlasst und ermutigt sah, seine Diagnose zu konkretisieren und auszuweiten und sie 1996 in einem voluminösen Buch unter dem gleichen Titel (allerdings nun ohne Fragezeichen) zu publizieren. »Kampf der Kulturen« (so die deutsche Titelfassung) wurde erst recht zum weltweiten Bestseller und bestimmt seitdem in immer neuen Interpretationswellen die internationale Debatte (Nitschke 2014a).

Religion als Kern von Zivilisation

Furore hat Huntingtons Diagnose vor allem deshalb gemacht, weil sie im Kern auf etwas verweist, was als identitäre Einheit für die Sinnbildung von Hochkulturen (= Kulturkreisen = Zivilisationen) für diese selbst nicht hintergangen werden kann. Alle üblichen Interpretationen sehen in der ökonomischen Struktur, der damit verbundenen Wirtschaftskraft sowie dem ideologischen Sinnzusammenhang, den ein politisches System für seine Anhänger bereitstellt, den Identitätsbezug von Menschen in ihrer jeweiligen Ordnung. Demgegenüber favorisiert Huntington die Kultur als Zivilisationsfrage.

In seinem Modell entscheidet nicht die Wirtschaftskraft über die Nachhaltigkeit (politischer) Ordnungen auf der Welt, auch nicht der über Ideologien hergestellte Macht- und Herrschaftsanspruch. Entscheidend ist vielmehr die Matrix der Zivilisation, die als Hochkultur alle Normierungen und Funktionen des täglichen Lebens für die Bürger ordnet und damit erst den Sinn und die Dauerhaftigkeit der Ordnung selbst vermittelt. Eine Zivilisation kann aus allen möglichen Normierungen bestehen, aber sie hat stets einen Identitätskern, der kulturell nicht austauschbar ist. Im Gegensatz zu vielen traditionellen Deutungen von Kultur und Zivilisation sieht Huntington diesen Identitätskern nicht in der Sprache oder etwa in der Auslegung des nationalen Rechts, sondern in der Religion begründet. Denn Religion besteht (in der jeweiligen Formulierung des Heilsanspruchs) im Glauben an einen absoluten Wahrheitsanspruch, der als solcher nicht verhandelbar ist. Gerade weil dieser Hoheitsanspruch der religiösen Botschaft so weltlich umfassend ist, gehen hieraus substanzielle ethische und funktionale Standardisierungen für den Lebensbezug in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hervor. In dieser Hinsicht lassen sich Zivilisationen dann auch deutlich voneinander abgrenzen.

Das Zivilisationsmodell in der Globalisierung

In Anlehnung an Toynbee geht Huntington von einem Schema aus, demzufolge sich die Welt am Ende des Kalten Krieges und im Hinblick auf das 21. Jahrhundert in insgesamt neun Kulturkreise formatiert. Dies sind im Einzelnen:

1. der Westen (mit dem transatlantischen Wertemodell von Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Demokratie und Christentum),

2. die islamische Welt (mit der Bevorzugung eines Supremats der religiösen Botschaft vor jeglicher säkularen Politik­auffassung),

3. die sinische Welt (womit das konfuzianische, weitgehend auf China ausgerichtete Ethikmodell mit der Bevorzugung des Kollektivs vor dem Individuum gemeint ist),

4. die hinduistische Welt Indiens (mit einer theologisch-dogmatischen Ausrichtung sozialer Schichtenzugehörigkeit im Kastensystem),

5. die buddhistische Welt Südostasiens (mit einer religiösen Betonung der Gemeinschaft vor dem Individuum),

6. der orthodoxe Osten des Christentums (der sich gegenüber dem lateinischen Westen in der Bewertung des Individualismus unterscheidet),

7. die japanische Zivilisation (die sich aufgrund der Insellage historisch bedingt weitgehend als ein kultureller Sonderfall darstellt),

8. die afrikanische Welt (mit ihrer traditionalen Orientierung auf Stammesverbände) und

9. die lateinamerikanische Welt (die sich als Erbe europäischer Kolonialsysteme aufgrund einer hybriden Mischung mit indianischen Ureinwohnern und als Sklaven auf den Kontinent gelangten Afrikanern vom Westen und vom orthodoxen Osten unterscheiden lässt).

Auffällig an dieser Einteilung ist, dass Huntington nur bedingt der Religion als Leitlinie einer Hochkultur folgt. Afrika (südlich der Sahara) und Lateinamerika werden von ihm vielmehr über eine ethnische Klassifikation als Kulturkreise abgegrenzt. Auch China ist nicht durch einen religiösen Kern definiert, sondern durch das ethische Programm des über Jahrhunderte erfolgreich existierenden Konfuzianismus (vgl. auch Paul 2014). Wäre die Religion wirklich der zentrale Indikator, dann hätte die jüdische Kultur mit in die Klassifikation einmünden müssen.

Ganz offensichtlich folgt Huntington vielmehr einem geopolitischen Verständnis, das sich für den Bereich der Zivilisationen an großen Raumordnungskonzepten (also eigentlich an Imperien) orientiert. Nicht zufällig findet die Imperiumsdiskussion über Sinn und Zweck großer Reiche auch etwa zeitgleich zu Huntingtons Modellierung der Zivilisationen statt (vgl. hier u.a. Münkler 2013). Die oben aufgelisteten Zivilisationen umfassen jeweils mehrere nationale Kulturen, nur bei Japan stimmen Staatlichkeit, Nation und Kultur mit dem Zivilisationsbegriff überein. Huntington ordnet den einzelnen Kulturkreisen überdies jeweils ein Machtzentrum zu, von dem quasi die Deutungshoheit über die spezifischen zivilisatorischen Standards ausgeht.

Wenig überrascht in diesem politikwissenschaftlichen Ansatz dann, dass das jeweilige zivilisatorische Machtzentrum zugleich auch über eine hegemoniale In­frastruktur an ökonomischen und militärischen Mitteln verfügt. Für den Westen sind dies die USA, für den orthodoxen Osten ist es Russland mit Moskau in der sakralen Überhöhung als dem »Dritten Rom« (vgl. auch Kozyrev 2011). Peking ist zweifellos das Epizentrum der sinischen Welt und verweist, wenn auch verklausuliert, mit seinem historischen Leitbild vom »Reich der Mitte« auf eine universale Ordnungsvorstellung als Zivi­lisation. Indien ist unstrittig das Zentrum des Hinduismus und Tokio für die japanische Welt. Die übrigen Zivilisationen in diesem System bereiten allerdings massive Ordnungsprobleme. Die anderen Hochkulturen (2, 5, 8 und 9) zeichnen sich in der Gegenwart dadurch aus, dass sie gerade nicht über ein eindeutiges Machtzentrum für den jeweiligen Kulturkreis verfügen, oder aber, dass verschiedene nationale Kulturen (im Sinne von Staaten) sich untereinander in einer massiven Konkurrenz befinden. Das gilt ganz besonders für die islamische Welt, in der Ägypten und Saudi-Arabien, aber auch die Türkei, im Wettbewerb um die Deutungshoheit (zumindest) für die sunnitische Glaubensgemeinschaft rivalisieren, während Teheran für die Schiiten das hegemoniale Zentrum darstellt, damit aber insgesamt auch ein Problem für den islamischen Heilsauftrag anzeigt.

Zivilisationen im Dauerkonflikt?

Für Huntington sind Zivilisationen „die ultimativen menschlichen Stämme, und der Kampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt im Weltmaßstab“ (S. 331). Diese grundsätzlich an einem kriegerischen Format orientierte Sicht auf die Zivilisationen rief auch jenseits ihrer strukturellen Ungenauigkeiten hinsichtlich der schematischen Einteilung massive Kritik hervor (vgl. u.a. Mokre 2000). Dies gilt besonders für die Beurteilung der Rolle des Islam in der globalen Konstellation, wie sie Huntington darstellt. Von allen anderen Zivilisationen hebe sich der Islam gegenüber dem Westen in besonderer Weise ab, weil er die einzige Zivilisation sei, „die das Überleben des Westens hat fraglich erscheinen lassen“ (S. 336). Mit dem historischen Verweis auf die Jahrhunderte währenden Kriege zwischen einem imperialen Islam und einem ebenso imperialen Christentum aus dem lateinischen Westen sieht diese Diagnose den zivilisatorischen Grundkonflikt für das 21. Jahrhundert vorgezeichnet. Denn im Kern geht es hierbei nicht um ökonomische Güter, sondern um kulturelle Bestimmungsmuster, die ihren Ursprung in den sich widersprechenden religiösen Grundauffassungen haben. In der programmatischen Zuspitzung bei Huntington lautet dies Koran versus Menschenrechte bzw. Theokratie versus Demokratie.

Dieses Modell ist jedoch keineswegs islamfeindlich ausgelegt. Huntington ging es darum, ein analytisches Bewusstsein für kulturell kodierte Wertvorstellungen zu schaffen, die ganze Gesellschaftssysteme scheinbar über Nacht in Aufruhr und in eine global betrachtet gefährliche existentielle Konkurrenzsituation bringen können. Angesichts der Terrorformate islamistischer Gruppierungen, die tatsächlich einen Krieg im Weltmaßstab gegen alle Ungläubige propagieren, existiert für diese Deutung eine empirische Plausibilität. Aber Huntingtons Diagnose trifft auch auf alle übrigen Zivilisationen zu. Eine vordergründig geopolitische, letztlich aber kulturell auf Werte bezogene Rivalität besteht im Grundsatz auch zwischen der sinischen und der hinduistischen Welt, ebenso zwischen der hinduistischen und der islamischen.

Diffusion der Zivilisationen

Mit dem diagnostischen Abstand von nunmehr 20 Jahren erweist sich die Programmatik vom »Kampf der Kulturen« einerseits als richtig, was die Bedeutung kultureller Identität angeht, andererseits aber auch als zu schematisch, was die ordnungspolitischen Raumzuweisungen betrifft.

Tatsächlich ist der »Clash« nicht notwendigerweise ein Kampf, sondern eher durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Wertvorstellungen gekennzeichnet. Diese Konfrontation ergibt sich in der globalisierten Welt nicht nur zwischen den Zivilisationen, sondern als Konfliktkonstellation auch innerhalb der Zivilisationen selbst. Zum einen ist der jeweilige ordnungspolitische Zivilisationsraum hegemonial nicht eindeutig, zum anderen ergeben sich genau daraus Überlappungen, Verschiebungen und Verschmelzungen zwischen den Zivilisationen in Bezug auf ihre scheinbar festgefügten Wertepräferenzen. Der Kollektivismus, der sich im Wertekern von Zivilisationen andeutet, wird zugleich durch den Individualismus, der mit den technischen Möglichkeiten der Globalisierung einhergeht, relativiert bzw. verändert (Nitschke 2014b). Insofern ist heute eher die Diffusion der Zivilisationen das vorherrschende Erscheinungsbild auf der Welt.

Literatur

Huntington, S.P. (1993): The Clash of Civilizations? Foreign Affairs, Vol. 72, No. 3 (Summer), S. 22-49

Huntington, S.P. (1996); The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster. Deutsche Ausgabe 1996: Kampf der Kulturen – Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europa-Verlag; die Zitate in diesem Artikel wurden der 7. Auflage von 2002 (Goldmann-Verlag) entnommen.

Kozyrev, I. (2011): Moskau – das dritte Rom. Eine politische Theorie mit ihren Auswirkungen auf die Identität der Russen und die russische Politik. Göttingen: Cuvillier.

Mokre, M. (Hrsg.) (2000): Imaginierte Kulturen – reale Kämpfe. Annotationen zu Huntingtons »Kampf der Kulturen«. Baden-Baden: Nomos.

Münkler, H. (2013): Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Köln: Anaconda.

Nitschke, P. (2014a): Zivilisationskonflikte – Samuel P. Huntingtons »Clash of Civilizations« in der Retroperspektive. In: Nitschke, P. (Hrsg.): Der Prozess der Zivilisationen – 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert. Berlin: Frank & Timme, S. 13-44.

Nitschke, P. (2014b): Formate der Globalisierung – Über die Gleichzeitigkeit des Ungleichen. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2. aktualisierte u. erweiterte Ausgabe.

Paul, G. (2014): Konfuzianismus im 21. Jahrhundert und Huntingtons These vom »Clash of Civilizations«. In: Nitschke, P. (Hrsg.): Der Prozess der Zivilisationen – 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert. Berlin: Frank &Timme, S. 253-281.

Spengler, O. (2007): Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Düsseldorf: Albatros.

Toynbee, A. J. (1970): Der Gang der Weltgeschichte – Aufstieg und Verfall der Kulturen, 2 Bde. München: dtv.

Prof. Dr. Peter Nitschke lehrt Politikwissenschaft an der Universität Vechta.